Einleitung.

Die Anfänge eines Volkes sollen hier erzählt werden, das aus uralter Zeit stammt und die zähe Ausdauer hat, noch immer zu leben, das, seitdem es vor mehr denn drei Jahrtausenden auf den Schauplatz der Geschichte getreten ist, nicht davon weichen mag. Dieses Volk ist daher zugleich alt und jung; in seinen Zügen sind die Linien grauen Altertums nicht zu verwischen, und doch sind diese Züge so frisch und jugendlich, als wäre es erst jüngst geboren. Lebte ein solcher steinalter Volksstamm, der sich in ununterbrochener Reihenfolge der Geschlechter bis auf die Gegenwart erhalten, und unbekümmert um andere und unverkümmert von anderen, sich von der Barbarei des Urzustandes losgewunden, sonst aber nichts Besonderes geleistet und keinen Einfluß auf die übrige Welt ausgeübt hätte, lebte ein solcher Stamm in einem entlegenen Winkel der Erde, so würde er als eine außerordentliche Seltenheit aufgesucht und erforscht werden. Ein Stück Altertum aus urdenklicher Vorzeit, das Zeuge der Gründung und des Zerfalles der ältesten Weltreiche war, und das noch in die unmittelbare Gegenwart hineinragt, verdiente allerdings volle Aufmerksamkeit. Nun hat aber das Volk, dessen Urgeschichte hier erzählt werden soll, das hebräische oder israelitische, nicht in umfriedeter Einsamkeit und beschaulicher Weltflucht sein Dasein zugebracht, sondern es wurde zu allen Zeiten in den Strudel der weltgeschichtlichen Sturmflut hineingerissen, hat gekämpft und gelitten, ist in seinem mehr denn dreitausendjährigen Bestande oft hin und her gestoßen und verwundet worden, es trägt viele Ehrenwunden, und die Krone des Märtyrertums versagt ihm niemand – und lebt noch. Es hat auch manches geleistet, was ihm nur wenige Pessimisten und Böswillige absprechen. Und hätte es auch nur den gesitteten Teil der Menschen von dem Wahne des wüsten Götzentums und von dessen Folgen, der sittlichen und gesellschaftlichen Fäulnis, geheilt, so verdiente es schon deswegen eine besondere Beachtung. Es hat aber noch viel mehr für das Menschengeschlecht geleistet.

[18] Welchen Ursprung hat denn die Höhe der Gesittung, deren sich die Kulturvölker der Gegenwart rühmen? Sie sind nicht selbst die Erzeuger dieser Gesittung, sondern die glücklichen Erben, die mit der Hinterlassenschaft aus dem Altertume gewuchert und sie vermehrt haben. Zwei schöpferische Völker waren die Urheber der edlen Gesittung, die den Menschen aus dem Urzustande der Barbarei und der Wildheit emporgetragen haben: das hellenische und das israelitische; ein drittes gibt es nicht. Das lateinische Volk hat nur eine strenge Polizeiordnung und eine ausgebildete Kriegskunst geschaffen und überliefert; nur zuletzt in seiner Greisenzeit hat es noch dazu den Dienst des Käfers verrichtet, der den vorgefundenen Blütenstaub dem empfänglichen Fruchtboden zuträgt. Schöpfer und Gründer der höheren Kultur waren die Griechen und Hebräer ganz allein.

Nehmet den romanischen, germanischen und slawischen Völkern der Gegenwart diesseits und jenseits des Ozeans das, was sie von dem hellenischen und israelitischen Volke empfangen haben, so würde ihnen viel, sehr viel fehlen. Doch man kann diesen Gedanken nicht vollenden; man kann diesen Völkern nämlich das Entlehnte gar nicht mehr nehmen und aus ihrem Wesen ausscheiden. Es ist so tief in Blut und Saft ihres Organismus eingedrungen, daß es einen Teil ihrer selbst bildet und sie dadurch zu seinem Träger und Fortpflanzer geworden sind. Es war die Leiter, auf der diese Völker die Höhe erklommen haben, oder richtiger: es bildete den elektrischen Strom, der die in ihnen schlummernden Kräfte entbunden hat. Das Griechentum und das Israelitentum oder – um ohne Zimperlichkeit zu sprechen – das Judentum, beide haben eine ideale Atmosphäre geschaffen, ohne welche Kulturvölker gar nicht denkbar sind. Wie gering auch die Dosis war, welche die Wandervölker nach dem Untergange der sogenannten alten Welt aus der Idealfülle dieser beiden Quellen vermittelst der Römer empfangen haben, wie verdorben auch die Gefäße waren, die ihnen diesen Lebenssaft zugeführt haben, die spärliche Einsickerung hat doch Wunder an ihnen getan und allmählich eine durchgreifende Umwandlung in ihrem Wesen hervorgebracht. Zur Zeit der wilden Kreuzzüge haben dieselben Völker aus denselben Quellen, allerdings verdünnt und geschwächt, neue Erfrischung erhalten. Erst als diese Quellen, welche von den Mönchen, Derwischen und Klausnern jeder Art verschüttet worden waren und verschüttet bleiben sollten, von neuem geöffnet und in Fluß gebracht waren, begann die Neuzeit, und weder Loyola, noch die Inquisition, weder die verknöcherte Buchstabengläubigkeit, noch der sich selbst vergötternde Despotismus vermochten den Segen zu hemmen, den die [19] griechischen und hebräischen Humanisten zunächst für Europa gebracht haben.

Der Anteil, den das Griechentum an der Wiedergeburt der Kulturvölker gehabt hat, daß es nämlich die Blüten der Künste und die Früchte der Erkenntnis ausgestreut, daß es das Reich der Schönheit eröffnet und olympische Gedankenklarheit darüber ausgegossen, daß sich diese ideale Seele in seiner Gesamtliteratur verkörpert hat, und daß aus dieser Literatur und den Überbleibseln seiner Kunstideale noch immer eine verjüngende Kraft strömt, wird volltönig und neidlos zugestanden. Die klassischen Griechen sind tot, und gegen Verstorbene ist die Nachwelt gerecht. Mißgunst und Haß verstummen am Grabe eines großen Toten; seine Verdienste werden in der Regel sogar noch überschätzt. Anders verhält es sich mit dem anderen schöpferischen Volke, mit dem hebräischen. Gerade weil es noch lebt, werden seine Verdienste um die Gesittung nicht allgemein anerkannt, oder es wird daran gemäkelt, es wird ein anderer Name dafür untergeschoben, um den Urheber in den Schatten zu stellen oder gar zu beseitigen. Wenn die Billigdenkenden ihm auch einräumen, daß es die monotheistische Idee und eine höhere Moral ins Völkerleben eingeführt hat, so würdigen nur sehr wenige die große Tragweite der gemachten Zugeständnisse. Man macht sich nicht klar, warum das eine schöpferische Volk mit der ganzen Fülle seiner Begabung gestorben ist, und warum das andere, so oft dem Tode nahe, noch immer auf Erden wandelt und sich einigemal verjüngen konnte.

Wie anmutig auch die Götterlehre der Griechen, wie belebend ihre Weisheit, wie süß ihre Kunstschöpfungen waren, sie bewährten sich nicht in den Tagen der Drangsale, als die mazedonischen Phalangen und die römischen Legionen ihnen statt der heiteren die ernste Seite des Lebens zeigten. Da verzweifelten sie an ihrem lichten Olymp, und ihre Weisheit wurde zur Torheit; sie gab ihnen höchstens den Mut zum Selbstmorde. Wie der einzelne Mensch, so bewährt sich auch ein Volk nur im Unglücke. Die Griechen besaßen aber nicht die Standhaftigkeit, das Unglück zu überdauern und sich selbst treu zu bleiben. Weder die olympischen Spiele noch die großen Erinnerungen schlangen ein gemeinsames Band um sie; ebenso wenig fachte ihre Weisheit Trost und Hoffnung in ihrem Herzen an. Sobald das Exil über sie verhängt wurde, sei es in der Fremde, sei es in ihrem eigenen Lande, wurden sie sich selbst entfremdet und gingen in einem Gemisch barbarischer Völkerschaften unter. Woher kam dieser vollständige Untergang? Daß die Römer, das mächtigste Volk des Altertums, ebenso wie die ihnen vorangegangenen mächtigen Völker dem Tode verfielen, lag daran, daß sie sich auf das[20] Schwert stützten; denn auch bei Völkern tritt das Vergeltungsgesetz ein: Wer dem Schwerte vertraut, verfällt dem Schwerte. Warum hat aber der Tod auch die Griechen hinweggerafft, sie, die doch neben dem Kriegshandwerk auch ideale Zwecke verfolgten? Sie hatten keine bestimmte, selbstbewußte Lebensaufgabe.

Das hebräische Volk hatte aber eine Lebensaufgabe, und diese hat es geeint und im grausigsten Unglück gestärkt und erhalten. Auch ein Volk, das seinen Beruf kennt, weil es sein Leben nicht träumerisch und tastend zubringt, ist in sich gefestigt und stark. Die Aufgabe des israelitischen Volkes war darauf gerichtet, an sich selbst zu arbeiten, die Selbstsucht und die tierische Gier zu überwinden und zu regeln, Hingebungsfähigkeit zu erlangen oder, mit der Sprache der Propheten zu reden, »die Vorhaut seines Herzens zu beschneiden«, mit einem Worte, heilig zu sein. Die Heiligkeit bedeutete für dieses Volk zunächst Enthaltsamkeit von tierischer Gemeinheit und von geschlechtlichen Verirrungen. Die Heiligkeit legte ihm Selbstbeschränkung und Pflichten auf, erhielt aber auch Leib und Seele gesund. Die Weltgeschichte hat die Probe darauf gemacht. Sämtliche Völker, die sich durch Unzucht befleckt und durch Gewalt verhärtet haben, sind dem Tode verfallen. Nenne man diese Lebensaufgabe des israelitischen Volkes höhere Moral – das Wort deckt zwar den Begriff nicht, aber man kann sich darüber verständigen. Wichtiger ist es zu betonen, daß das israelitische Volk seine Aufgabe darin erkannt hat, mit dieser höheren Moral Ernst zu machen. Mitten in eine lasterhafte, geschlechtlich unflätige Welt hineingestellt, sollte es einen Gegensatz gegen sie bilden und die Fahne sittlicher Lauterkeit aufpflanzen.

Die Lebensanschauung der alten Völker hing aber mit der Anschauung vom Göttlichen aufs engste zusammen; sie bedingten einander. War die verkehrte Sittenlehre die Tochter der verkehrten Götterlehre oder ihre Mutter? Wie auch ihr Verhältnis von Ursache und Wirkung gewesen sein mag, es änderte nichts an den verderblichen Folgen. Die Vielgötterei an sich, mag sie poetisch noch so sehr verklärt worden sein, nährte Zwiespältigkeit, Leidenschaftlichkeit und Haß. Im Rate vieler Götter kann der Streit nicht fehlen, sie müssen in Gegensatz und Feindschaft zueinander geraten. Wenn die von den Menschen göttlich verehrten Wesen auch nur in eine Zweizahl auseinandergehen, so entsteht für sie ein feindlicher Gegensatz: ein Gott der Schöpfung und ein Gott der Zerstörung, oder ein Gott des Lichtes und ein Gott der Finsternis. Die schöpferische Gottheit wird noch dazu in zwei Geschlechter zerlegt, und damit besitzt sie alle Schwächen der Geschlechtlichkeit. Man sagt zwar: [21] die Menschen haben die Götter in ihrem Ebenbilde geschaffen; aber die einmal fest ausgeprägte Mythologie bedingte denn doch das sittliche Verhalten der Götterverehrer; diese wurden ebenso lasterhaft wie die Vorbilder, die sie verehrten. Da trat das Volk Israel mit einem Gegensatz auf und verkündete einen Gott, der mit sich eins ist und sich nicht verändert, einen heiligen Gott, der von den Menschen Heiligkeit fordert, einen Schöpfer des Himmels und der Erde, des Lichtes und der Finsternis, der zwar hoch und erhaben, aber doch den Menschen nahe ist und ganz besonders sich der Armen und Bedrängten annimmt, einen Gott des Eifers zwar (nicht einen Gott der Rache), dem das sittliche Verhalten der Menschen nicht gleichgültig ist, aber auch einen Gott der Barmherzigkeit, der alle Menschen mit Liebe umfaßt, weil sie seiner Hände Werk sind, einen Gott, dem das Böse ein Greuel ist, einen Gott der Gerechtigkeit, einen Vater der Waisen, einen Annehmer der Witwen. Das war ein weltwichtiges Wort, das tief in die Herzen der Menschen drang und die schönen und starken Götter später in den Staub schleuderte.

Weltwichtig wurde dieser Kerngedanke erst durch die sittliche Gesinnung, die aus ihm abgeleitet wurde. Es ist wahrlich nicht gleichgültig für das moralische Handeln der Menschen im kleinen oder großen, ob sie die Erde, den Schauplatz ihrer Tätigkeit, von einer in sich einheitlichen Macht oder von mehreren einander feindlichen Mächten beherrscht glauben. Die eine Vorstellung verbürgt ihnen in allem Einklang und Frieden und sänftigt sie, die andere zeigt ihnen in allem Zerrissenheit und Zwietracht und macht sie verwildert. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, im Gegensatz zu der lästerlichen Menschenähnlichkeit Gottes, dieser Folgegedanke aus der Einheitslehre, prägt dem Menschen Achtung vor sich selbst und Achtung vor seinesgleichen ein und stellt das Leben auch des Geringsten unter religiösen und sittlichen Schutz. Ist das Aussetzen von Neugeborenen durch die Hand ihrer Eltern ein Verbrechen? Bei den alten Völkern, selbst bei den Griechen, galt es keineswegs als ein solches. Die Berge hallten öfter von dem Wimmern weiblicher Kinder wieder, oder die Flüsse trieben Leichen solcher Wesen, welche die Eltern ohne Gewissensbisse hineinwarfen, sobald sie ihnen lästig geworden waren. Die Menschen des Altertums empfanden keinen Schmerz beim Anblick eines solchen Kindermordes, und noch weniger hat ein Gerichtshof eine solche Untat geahndet. Einen Sklaven getötet zu haben, machte so wenig Aufsehen, wie ein Wild erlegt zu haben. Warum empfinden die gesitteten Menschen der Gegenwart schon bei dem Gedanken an solche Untaten einen Schauder? Weil das israelitische Volk das Gesetz: »Du sollst nicht töten, denn im Ebenbilde [22] Gottes ist der Mensch erschaffen!« in die Welt hinausgerufen hat; auch nicht ein junges Leben, auch nicht einen der Dienstbarkeit Verfallenen sollst du töten. Man hat behauptet, daß die Einsicht der Menschen Riesenfortschritte gemacht, daß aber die moralische Gesittung der Menschen weit, weit hinter ihr zurückgeblieben sei und seit urdenklichen Zeiten nur um ein weniges zugenommen habe. Man muß aber bedenken, daß die Roheit der Menschen erst viel später abgenommen hat, als ihre Unwissenheit. Das schlummernde Gewissen, der unwillkürliche Abscheu vor einer Reihe von Lastern ist erst sehr spät geweckt worden, und das israelitische Volk war einer der Wecker. Der Gedanke und die Gesinnung, daß alle Menschen vor dem Gesetze, wie vor Gott gleich seien, daß der Fremde wie der Einheimische behandelt werden soll, ist ebenfalls aus dem Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen hervorgegangen und ist vom israelitischen Volke als ein Staatsgrundgesetz aufgestellt worden. Es war die erste Anerkennung eines Teiles der Menschenrechte. Die alten Völker dagegen, auch die Tonangeber der Zivilisation, haben dieses gegenwärtig als selbstverständlich anerkannte Recht1 durchaus nicht anerkannt. Wenn die Fremden, die in ihr Gebiet verschlagen wurden, nicht mehr geopfert wurden, so wurden sie doch unterdrückende Ausnahmegesetze, nur um eine Stufe höher als die Sklaven gestellt. Diese Lieblosigkeit gegen Fremde hat sich zur Schmach der Völker auch noch nach dem Untergang der alten Welt erhalten. Die Milde gegen Sklaven und selbst die erste Anregung zu ihrer Emanzipation ist vom israelitischen Volke ausgegangen.

Noch weniger kannten die alten Völker die keusche Selbstheiligung der Menschen. Sie waren in Unzucht und fleischliche Verirrungen versunken. Die jüdischen Sibyllinendichter haben die alten Völker, als sie noch auf der Höhe ihrer Macht standen, oft und nachdrücklich genug gewarnt, daß sie durch die unnatürliche Selbstbefleckung, durch ihre Lieblosigkeit, durch ihre verkehrte Götterlehre und die daraus erwachsene Sittenlehre dem Tode entgegengehen würden. Sie verspotteten die mahnende Stimme, sie fuhren fort, sich selbst zu schwächen und gingen unter. Ihre Kunst und ihre Weisheit vermochten sie nicht vom Tode zu retten. Das israelitische Volk hat also einzig und allein die Erlösung gebracht, indem es die Selbstheiligung, die Gleichheit aller Menschen, die Ebenbürtigkeit der Fremden mit den Eingeborenen und das, was man Humanität nennt, verkündet hat. Es ist nicht überflüssig, [23] zu erinnern, daß der Grundstein der Gesittung: »Du sollst deinen Nächsten wie dich selbst lieben« von diesem Volke gelegt wurde. Wer hat die Armen aus dem Staube, die Notleidenden, die Verwaisten und Hilflosen aus dem Aschenhaufen erhoben? Das israelitische Volk. Wer hat den ewigen Frieden, »daß ein Volk gegen das andere nicht mehr das Schwert zücken, daß sie nicht mehr die Kriegskunst erlernen werden« als heiliges Ideal für die Zukunft aufgestellt? Israels Propheten. Man hat dieses Volk ein wandelndes Geheimnis genannt, man sollte es vielmehr eine wandelnde Offenbarung nennen. Es hat das Geheimnis für das Leben geoffenbart, es hat die Kunst aller Künste gelehrt. Es hat gelehrt, wie ein Volk sich vor dem Untergang bewahren kann.

Es ist nicht wahr, daß dieses Volk die Entsagung, die Selbstkasteiung, eine düstere, schwermütige Lebensanschauung eingeführt, die mönchische Asketik angebahnt und das blühende Leben mit einem Leichentuch bedeckt habe. Ganz im Gegenteil. Sämtliche Völker des Altertums, mit Ausnahme der Israeliten, haben auf den Tod ein Hauptgewicht gelegt, haben Totenopfer gebracht und sich dabei einer andächtigen, trüben Stimmung hingegeben. Das waren ihre Mysterien, die, wie jede Übertriebenheit, in ihr Gegenteil, in die Ausgelassenheit der Orgien, umschlugen. Ihre Götter selbst standen mit dem Tode in Verbindung, sie galten nicht als Erlöser von ihm, sondern als seine Opfer; auch sie mußten eine Todesfahrt antreten, und hier und da wurde der Sarg oder das Grab oder die Schädelstätte eines Gottes gezeigt. Das israelitische Wesen, das in Gott »die Quelle des Lebens« verehrte, legte gerade auf das Leben so viel Gewicht, daß es alles, was an den Tod erinnert, aus dem Kreis des Heiligen verbannt wissen wollte, und über das, was im Grabe und jenseits desselben eintreten wird, hat es so wenig gegrübelt, daß ihm auch entgegengesetzt der Vorwurf gemacht wurde, es habe lediglich dem irdischen Leben gefrönt. Und es ist wahr. Seine Propheten haben kein höheres Ideal gekannt, als daß »die Erde voll von lauterer Gotteserkenntnis werde, so wie das Meer sein Bette bedeckt.« Es schätzte das Leben hoch, freilich ein sittliches, würdiges und heiliges Leben. Erst nach langem, unglücklichem Geschichtsgange hat sich von außen her die düstere asketische Lebensanschauung in seine Mitte eingeschlichen, hat einen düsteren, lebensfeindlichen Orden erzeugt, der allgemach auch die reine Freude als Sünde gestempelt und die Erde als ein Jammertal angesehen und zum Teil auch dazu gemacht hat. Nein, das israelitische Volk hat nichts gemein mit seinen Blutsverwandten, die man Semiten nennt, weder mit ihrer sich selbst zerfleischenden Raserei zu Ehren des einen, noch mit ihrem fleischlichen [24] Taumel zu Ehren des anderen Gottes. Es hat sich von ihnen geschieden und in einer harten Zucht von ihren Verkehrtheiten entwöhnt. Man verkennt es auch vollständig, wenn man überklug seine Eigenart aus dem Wesen der Semiten erklären will, so wie man es verkennt, wenn man es nach dem Verhalten der beiden aus seinem Schoße geborenen Töchter beurteilt; diese sind Mischehen eingegangen und haben viel von ihrem angestammten Wesen abgestreift.

Gewiß, das israelitische Volk hat auch seine großen Fehler, es hat viel gesündigt und ist auch infolge seiner Sünden hart genug gezüchtigt worden. Die Geschichte soll eben diese Fehler, ihren Ursprung, ihre folgenreiche Verkettung und die daraus entstandenen Verirrungen aufdecken. Manche Fehler waren allerdings angenommen, gewissermaßen aus der Umgebung eingeschleppt, aber es zeigte auch eigene und ursprüngliche Gebrechen, und auch Mängel in der Charakteranlage. Warum sollte es auch vollkommener als alle übrigen Volksorganismen sein, von denen noch keiner nach allen Seiten hin Vollkommenheiten gezeigt hat? Die, welche eifrig bemüht sind, die Fehler und Mängel des israelitischen Volkes mit dem Vergrößerungsglase zu suchen, erweisen ihm unüberlegt eine große Ehre, indem sie von ihm mehr als von jedem anderen Volke verlangen.

Manche der ihm vorgeworfenen Mangelhaftigkeiten sind ungerecht. Man macht ihm zum Vorwurf, daß es keine gute Staatsverfassung gehabt oder ausgebaut habe. Dieser Tadel ist aus Unklarheit entsprungen. Eine Staatsverfassung ist tatsächlich nur nach dem Erfolge zu beurteilen oder nach der Dauer, die sie dem Gemeinwesen verliehen. Nun hat sich das israelitische Gemeinwesen eben so lange behauptet wie die meisten Großstaaten der alten Welt, länger noch als der babylonische, persische, griechische und mazedonische Staat, schlecht gerechnet mehr als sechs Jahrhunderte in seinem ersten Gange, den zweiten Gang nicht dazugezählt. Nur zwei oder drei Staaten haben sich länger behauptet, der ägyptische, römische und byzantinische. Zieht man bei diesen die Jahrhunderte der Greisenhaftigkeit, des Siechtums und des allmählichen Zerfalles ab, so wird ihre Dauer bedeutend vermindert. Macht man dem israelitischen Staate zum Vorwurf, daß er sich auf der Höhe, die er unter David und Salomo eingenommen, nicht behauptet hat, und daß er öfter unterjocht wurde? Er teilte dieses Geschick mit manchen Großstaaten. Oder legt man es als Mangel aus, daß es sich in zwei Reiche zerspalten und die Einheit nicht wieder gewinnen konnte? Griechenland hat es niemals zu einem Einheitsstaate gebracht, sondern war vom Anfang bis zu Ende in mindestens zwei feindliche Hälften [25] getrennt, und auch das römische Reich zerspaltete sich in zwei gegensätzliche Staaten.

Indessen die Bitterkeit des Tadels ist eigentlich gegen die Staatstheorie des israelitischen Volkes gerichtet. Man bezeichnet sie als träumerisch, chimärisch, utopisch. Allerdings ist es richtig, daß die Staatsverfassung, die das Gesetzbuch des Volkes aufstellt, utopisch ist, wie jedes Ideal, das, weil es die Verwirklichung erst in einer besseren Zukunft anstrebt, so lange unausführbar erscheint, als diese nicht eingetreten ist. Man verurteilt also das Ideal, wenn man die Theorie der israelitischen Verfassung geringschätzt. Denn sie hat zuerst, wie schon gesagt, die Menschenrechte festgestellt, hat zuerst den Bau des Staates auf demokratischer Grundlage errichtet, hat nicht bloß sämtliche eingeborene Bürger, sondern auch die Fremden gleichgestellt und die Kasten-, Standes- und Klassenunterschiede aufgehoben. Sie hat selbst die Sklaven gegen die Launen und die Roheit ihrer Herren in Schutz genommen. Sie hat als Staatsgrundsatz ausgesprochen, daß es »keine Armen im Lande geben soll« und hat der Anhäufung des Reichtums und dem Laster des Luxus auf der einen Seite und der Anhäufung des Elends und dem Laster der Armut auf der anderen entgegengearbeitet. Durch das System des Erlaß- und Jobeljahres hat sie die Verjährung der veräußerten Freiheit und des veräußerten Grundbesitzes verhüten wollen. Kurz diese Verfassungstheorie hat das ideale Ziel angestrebt, die Übel, an denen noch heute die Kulturstaaten der Gegenwart kränkeln, nicht um sich greifen zu lassen. Will man das Ideal verspotten, so tue man es, aber man bedenke wohl, daß es das Salz ist, welches die Gesellschaft vor Fäulnis schützt.

Allerdings liegt eine Mangelhaftigkeit in der Charakteranlage des israelitischen Volkes auch darin, daß es keine Riesenbauten und keine architektonischen Kunstwerke hinterlassen hat. Es mag keine Fähigkeit für die Baukunst besessen haben; allein dieser Mangel kann auch in dem Umstande gelegen haben, daß es von seinem Gleichheitsideale aus seine Könige nicht so hoch gestellt hat, um ihnen Riesenpaläste und Pyramidengräber zu erbauen. Es hat die Hütte des Armen höher gestellt. Es hat auch seinem Gotte nicht Tempel erbaut – den Salomonischen Tempel haben Phönizier errichtet – weil es das Herz zum Tempel Gottes machen wollte. Es hat Götter weder gemeißelt, noch gemalt, weil die Gottheit ihm nicht Gegenstand des anmutigen Spieles, sondern andächtiger, ernster Verehrung war.

Das israelitische Volk hat es allerdings nicht zu einem künstlerischen Epos und noch weniger zur Gattung des Trauer- und Lustspiels gebracht; [26] es mag ein Mangel in der Anlage gewesen sein, aber dieser Mangel hängt damit zusammen, daß es eine entschiedene Abneigung gegen mythologische Göttergeburten und Göttergeschichten und ebenso gegen Spiel, Schaustellung und Schaulust hatte. Es hat aber dafür zwei andere poetische Gattungen geschaffen, welche die ganze Fülle seines idealen Lebens abspiegeln, den Psalm und die poetisch gegliederte Beredsamkeit der Propheten. Beide haben das gemein, daß ihr Grundzug die Wahrheit ist, nicht die Erdichtung, daß die Poesie dadurch vom bloßen Spiel und Reiz für die Phantasie zum Mittel für sittliche Hoheit erhoben wird. In dieser Literatur waltet, wenn auch nicht das Drama, so doch dramatische Lebendigkeit, und wenn auch nicht der komische Spott, so doch jene Ironie, welche von der idealen Höhe stolz auf alles Scheinwesen herabblickt. Die israelitischen Propheten und Psalmisten haben auch eine schöne poetische Form ausgeprägt, aber sie haben den Inhalt und die Wahrheit nicht der Form zu Liebe geopfert. Das israelitische Volk hat auch eine eigene Geschichtsform geschaffen, die den Vorzug hat, daß sie das Unwürdige und Unsittliche an den Helden, den Königen und Völkern nicht verschweigt, vertuscht oder beschönigt, sondern die Vorgänge stets der Wahrheit gemäß erzählt.

Diese eigenartige hebräische Literatur, dergleichen kein Volk auf Erden aufzuweisen hat – höchstens Nachahmungen – hat eben wegen ihres Vorzugs moralische Eroberungen gemacht. Die bildsamen Völker konnten der Innigkeit und Wahrhaftigkeit, die in ihr weht, nicht widerstehen. Wenn die griechische Literatur das Reich der Kunst und der Erkenntnis verklärt hat, so hat die hebräische das Reich der Heiligkeit und Sittlichkeit idealisiert. Sie hat aber noch den Vorzug vor jener, daß sie stets einen lebendigen Träger behalten hat, der sie auch unter den ungünstigsten Zeitlagen gepflegt hat. Die Geschichte eines solchen Volkes verdient allerdings einige Beachtung.

Äußerlich und oberflächlich betrachtet, kann der Geschichtsverlauf von dem Einzug der Israeliten in Kanaan bis tief in die Königsepoche hinein leicht irre führen. Denn die augenfälligen Vorgänge haben lediglich einen politischen Charakter. Einfälle, Streifzüge, Kriege und Siege nehmen den ganzen Vordergrund der Geschichte ein; auf dem Schauplatz bewegen sich Volksführer, Helden, Könige und Feldherren; Bündnisse werden geschlossen und gelöst. Eine geistige Regsamkeit ist kaum im Hintergrunde wahrnehmbar. Die Richterhelden, welche zuerst den Geschichtsstoff liefern, Ehud, Gideon, sein Sohn Abimelech, und ganz besonders Jephtah und Simson, tragen so wenig israelitische [27] Züge, daß man sie eben so gut für Kanaaniter oder Philister oder Moabiter halten könnte. Man hat daher von Simson behauptet, er sei nach dem Bilde des tyrischen Herakles geschaffen. Die meisten Könige, ihre Söhne und ihr Hof bewegten sich so ungebunden, als hätte es kein Gesetz gegeben, das ihrer despotischen Willkür eine Schranke setzte, als wüßten sie nicht einmal etwas von dem Zehnworte des Sinaï. Das Volk selbst ist jahrhundertelang in wüstem Götzentum befangen und unterscheidet sich wenig von der es umgebenden heidnischen Welt. War es wirklich von Hause aus nichts Besonderes? Hat es eine geraume Zeit hindurch gleichen Schritt mit seinen semitischen Stammesbrüdern gehalten, und erst später, viel später, in einer bestimmbaren Zeit seine Eigenart und den Gegensatz gegen die es umgebende Welt ausgeprägt? Hat der Sinaï nicht an seiner Wiege geflammt, sondern ist er erst später in die Geschichte hineingetragen worden? Zweifler haben es behauptet, aber die Überbleibsel der israelitischen Poesie aus uralter Zeit strafen sie Lügen. Mehrere Jahrhunderte vor der Entstehung des Königtums, in der ersten Zeit der Richterhelden, in den Tagen der Deborah, »der Mutter in Israel«, besang ein Dichter schon die großartige Erscheinung der Offenbarung am Sinaï, schilderte dieser schon das »Volk Gottes« als wesentlich verschieden von seiner Umgebung und führte schon dessen Schwäche auf die Ursache zurück, daß es sich fremde Götter erwählt und von seinem andersgearteten Ursprunge abgefallen sei. Wenn man auch der Geschichtserzählung nicht trauen will, so muß man durchaus der Poesie glauben. Sie ist eine untrügliche Augenzeugin. Man kann nicht daran zweifeln, daß die geistige Geburt des Volkes Israel mit seiner leiblichen zugleich begonnen hat, daß der Sinai die Geburtsstätte der einen, wie Ägypten die der anderen war, und daß die Bundeslade mit den hochheiligen Zehnworten von seiner Kindheit an seine stete Begleiterin gewesen ist. Der Kern seiner gegensätzlichen Überzeugung von Gott und seiner sittlichen Aufgabe, die Grundlehre, die in steinerne Tafeln eingegraben war, ist uralt und gleichaltrig mit dem Träger. Auserwählte des Volkes, die mit dem werktätigen Tun und Treiben des Gesamtvolkes nichts zu tun hatten, bildeten die Cherubim, das geistige Heiligtum vom Sinaï zu beschützen. Dieses Heiligtum hat nur scheinbar die religiöse Form, ist nur scheinbar theokratisch; sein Grundwesen ist das Sittengesetz. Gott ist der Ursprung der Lehre, aber nicht ihr Zweck. Dies ist vielmehr der einzelne Mensch und das Gemeinwesen mit ihren berechtigten Ansprüchen. Gott ist in dieser Lehre der heilige Wille, der das Sittliche und Gute bestimmt, das heilige Vorbild, das den Weg dazu zeigt, aber nicht der Zweck, um dessentwillen es geschehen [28] soll, damit ihm dadurch etwas zugute käme. Die israelitische Lehre ist daher keineswegs eine Glaubenslehre, sondern eine Pflichtenlehre für die sittliche Tat und die sittliche Gesinnung; sie ist auch eine Heilslehre, aber ohne mystischen Beigeschmack. Man hat sie die »Religion des Geistes« genannt: sie ist es insofern, als sie das Göttliche rein geistig darstellt, von ihm jede sittliche Beschränkung fernhält und ihm nur Krafttätigkeit und einen heiligen Willen beilegt.

Allerdings war diese Religion oder diese Heilslehre zu hoch, um vom ganzen Volke in seiner Kindheit schon begriffen werden zu können. Das Ideal, welches ihm Bedeutung und Lebensdauer gewähren sollte, blieb ihm selbst lange ein Rätsel. Erst seine Propheten haben ihm das Rätsel lösen müssen. Es verstrich eine geraume Zeit, auch nachdem die Propheten mit Feuerzungen gesprochen hatten, bis das Volk Hüter der am Sinaï vernommenen Lehre geworden ist und ihr einen Tempel im eigenen Herzen erbaut hat. So bald aber diese Reife eingetreten war, sobald »sein Herz von Stein in ein Herz von Fleisch« umgewandelt war, sobald das Prophetentum die Mittlerschaft des Priestertums überwunden hatte, konnten die Propheten vom Schauplatz abtreten, sie waren überflüssig geworden; das Volk hatte selbst volles Verständnis für sein Wesen und seinen Beruf erlangt.

Die Geschichte veranschaulicht, wie diese doppelte Umwandlung vor sich gegangen ist, wie eine winzige Scheichfamilie zu einem Volksansatze gewachsen, wie dieses Völkchen zu einer Horde erniedrigt und diese Horde zu einem künftigen Gottesvolke erzogen wurde, indem ihm die Lehre der Selbstheiligung und Selbstbeherrschung in Verbindung mit dem erhabenen Gottesbegriff als Seele eingehaucht wurde. Diese Volksseele ist ebenfalls wie der Volksleib gewachsen, hat sich ausgebildet, in Gesetze ausgeprägt und sich, wenn auch der Zeit und ihrem Wechsel nicht unterworfen, doch der Zeitlage angepaßt. Die Umwandlung vollzog sich unter harten Kämpfen. Innere und äußere Hindernisse mußten überwunden, Verirrungen wieder gut gemacht, Rückfälle geheilt werden, bis der Volksleib ein gefügiges Organ für die Volksseele wurde. Das Verborgene mußte offenbar, das Dunkle erhellt, die unbestimmte Ahnung zur Klarheit des Bewußtseins gebracht werden, damit das von den Propheten in der weiten Ferne geschaute Israel (das sie nach drücklich von dem mit Mängeln behafteten Israel in der Wirklichkeit unterschieden haben) »zum Lichte für die Völker« werden könnte. Gewiß, es gibt kein zweites Volk auf dem Erdenrunde oder in der Zeiten Fluß, das gleich dem israelitischen eine bestimmte Lehre mit sich herumgetragen hätte. Dieses Volk war aber nicht bloß in ihrem Besitze, sondern [29] hatte auch das volle Bewußtsein, daß es nur um dieser Lehre willen bestehe, daß es selbst bloß Mittel und Organ für sie sei, daß es nur durch den Beruf, sie als Heilswahrheit zu verkünden, Bedeutung habe, daß es diese Heilswahrheit nicht mit Gewalt und Zwang, sondern durch das Beispiel und die eigene Betätigung und Verwirklichung der von ihr aufgestellten Ideale verkünden solle. An den Griechen hat erst die tiefere Geschichtserkenntnis ergründet, daß sie die Aufgabe hatten, das ideale Leben der Kunst und des Wissens zur Anschauung zu bringen; sie selbst hatten nicht das Bewußtsein davon. Das griechische Volk lebte daher nur für die Gegenwart, nicht für die Zukunft, und lebte nur für sich, nicht für andere. Nicht so das israelitische Volk. Ihm ist nicht nur seine Aufgabe aufgegangen, sondern auch die Erkenntnis klar geworden, daß sie seine Aufgabe sei, daß es nur durch sie etwas bedeute, ohne sie aber nichts sei »ein Tropfen im Eimer, ein Stäubchen an der Wage«. Seine Gottesmänner haben es nur deswegen als das auserwählte Volk bezeichnet. Sie haben damit keineswegs in ihm Dünkel erwecken und nähren wollen. Haben sie es denn als ein besseres, als ein vorzüglicheres, als ein edleres Volk betrachtet? Nein! Dieselben Gottesmänner haben es wiederholentlich ob seiner Ungefügigkeit, Halsstarrigkeit und Schlechtigkeit nur allzu herb getadelt.2 Die Ausgewähltheit sollte ihm lediglich eine größere und schwerere Verantwortlichkeit, ein volleres Maß von Pflichten auflegen. Es sollte sich als »Knecht Gottes«, als Vollstrecker seiner Lehre, als Heilsbote einer höheren sittlichen Weltordnung betrachten, es sollte dafür ein Märtyrertum bestehen, und es hat es ruhmreich und mit Bewußtsein bestanden. Seitdem ihm seine Aufgabe, als Träger einer eigenen, religiös-sittlichen Weltanschauung, klar geworden ist, hat es diese über alles geschätzt, höher als Vaterland und Nationalität, höher selbst als das Leben. Und weil es sich selbst als Opfer dargebracht hat, erlangte es Lebensdauer und Unsterblichkeit. Es war das erste Volk, das den Mut einer Meinung hatte und für seine innere Überzeugung die Lebensgüter eingesetzt hat. Es war das erste Volk, welches bewiesen hat, daß eine [30] fördersame Wahrheit nur durch Blutzeugen besiegelt werden kann. Die Überzeugungstreue gab ihm diese Standhaftigkeit und Ausdauer. Sein Kern kann nicht gar zu schlecht gewesen sein, da es der zerstörenden Gewalt von beinahe vier Jahrtausenden und einer ganzen Welt von Feinden hat trotzen können.

Die Geschichte des israelitischen Volkes in seinen Anfängen hat daher einen durchaus abweichenden Charakter. Zweierlei Faktoren bestimmen ihren Auf-und Niedergang, ein körperhafter und ein geistiger, oder ein politischer und ein religiös-sittlicher. Zuerst vertreten die Volksführer, die Richterhelden und die Könige im allgemeinen die eine und die Leviten und Propheten die andere Richtung. Je mehr aber die Überzeugung von der eigenartigen Lehre Gemeingut des Volkes wird, desto mehr nähern sich beide Strömungen und fließen zuletzt zusammen. Anfangs ist die politische Strömung stärker und verdeckt die andere so sehr, daß von ihr lediglich vereinzelte schwache Spuren und auch diese nur für das geschärfte Auge sichtbar werden. Bis tief in die Königsepoche hinein kommt nur der politische Charakter der israelitischen Geschichte zum Vorschein. Daher der trügerische Schein, daß dieser ihr ausschließlicher Faktor sei. Plötzlich scheint die geistige Strömung hervorzusprudeln, gewaltig und schäumend wie ein Bergquell, der sich unterirdisch und dem Auge verdeckt allmählich angesammelt hat, dessen Dasein aber doch nicht erst mit dem Durchbruch des Felsenschoßes beginnt. Das Auftreten der künstlerischen Propheten und Psalmisten von Amos bis Jesaia gleicht in seiner Gewaltigkeit und seiner Befruchtungskraft vollständig dem Ausbruch eines Bergstromes. Die Propheten und Psalmisten, die große, stets wahre Gedanken in künstlerischer, fesselnder Form ausgestreut haben und die edelste Blüte des israelitischen Volkstums bilden, hätten aber nicht auftreten und wirken können, wenn nicht günstige Vorbedingungen vorhanden gewesen wären. Entstanden sind sie aus dem vorher geistig befruchteten Boden und verstanden wurden sie nur, weil sie mit ihrer sittlich-hohen Lebensanschauung nicht etwas Neues und dem Volke Fremdes verkündet, sondern lediglich das Alte und Bekannte schwunghaft und dichterisch verklärt und mit Eifer, Opferfreudigkeit und Mannhaftigkeit gepredigt haben. Ihre gewaltige Kraft scheint in der nachjesajanischen Zeit abzunehmen, aber auch nur gleich dem Bergstrom, der mit seiner Verflachung in der Ebene klarer und durchsichtiger wird und mehr Nutzen gewährt.

Auch wer nicht an Wunder glaubt, muß das Wunderähnliche im Geschichtsverlaufe des israelitischen Volkes zugeben. Er zeigt nicht [31] bloß wie bei anderen Völkern den Wechsel von Wachsen, Blühen und Welken, sondern auch die außerordentliche Erscheinung, daß auf das Welken abermals ein neues Grünen und Blühen folgte, und daß sich dieser Auf- und Niedergang dreimal wiederholt. Die Geschichte von der Kristallisierung der israelitischen Familiengruppen zu einem Volke und dem Einzug in das Land Kanaan bis zur Entstehung des Königtums bildet die erste Epoche, das Wachstum. Die zweite Epoche, die der Blüte, bildet die Regierungszeit der beiden Könige David und Salomo, die das israelitische Volk zu einem Staate erster Größe erhoben haben. Kurz war die Blütezeit, und es folgte darauf allmähliche Kraftabnahme und zuletzt der Untergang des Volkstums. Aber es erstand wieder, wuchs allmählich unter Perser- und Griechenherrschaft, entfaltete wieder durch die Makkabäer prangende Blüte, um durch die Römer wieder unterzugehen. Aber es ist nur scheinbar untergegangen, um unter einer anderen Gestalt wieder eine Auferstehung zu erleben. Doch diese Wandlung gehört nicht mehr zur älteren Geschichte des israelitischen Volkes. Nicht minder wunderbar ist die Erscheinung, daß dieses Volk sein erstes Wachstum zweimal in der Fremde in scheinbarer Erstorbenheit begonnen hat; das erste Mal in Ägypten, das zweite Mal in Babylonien und, wenn man will, sogar das dritte Mal im Römer- und Partherreiche. Einer der israelitischen Propheten stellt das Wachstum der israelitischen Nation in Ägypten unter dem Bilde eines auf dem Felde verlassenen, mit Blut und Schmutz bedeckten weiblichen Kindes dar, das sich trotz seiner Verlassenheit und seinem Elend zu einer blühenden Jungfrau entwickelt hat. Ihr Wachstum in Babylonien stellt ein an derer Prophet unter dem Bilde einer aller ihrer Kinder beraubten, unglücklichen, trauernden Witwe dar, die durch das plötzliche Zusammenströmen ihrer zahlreichen Kinder aus allen Enden und Winkeln getröstet wird und sich mit ihnen verjüngt. Auch für die dritte Verjüngung des jüdischen Stammes ist ein treffendes Gleichnis aufgestellt worden. Gleichnisse hinken zwar; aber sie geben doch eine annähernde Vorstellung von einer Erscheinung, die über das Alltägliche hinausgeht. Eine außergewöhnliche Erscheinung ist jedenfalls dieses Volk, das aus dem grauen Altertum stammt und noch jugendliche Frische zeigt, das viele Wandlungen durchgemacht hat und doch stets sich selbst treu geblieben ist.


Fußnoten

1 So konnte der Verfasser vor einem Menschenalter schreiben. Er konnte damals nicht ahnen, wie heute der ausländische Jude von dem inländischen Nichtjuden ungefähr angesehen werden würde.


2 Weil Uneingeweihte so oft dem israelitischen Volke Hochmut ob seiner Auserwähltheit vorwerfen, so seien hier einige Stellen zusammengetragen, in denen die Propheten ihm einen inneren Vorzug absprechen. Deuteron. 9, 4-5. »Nicht wegen deines Verdienstes und deiner Herzensgradheit sollst du das Land in Besitz nehmen.« Amos 9, 7: »Ihr seid mir nur eben so viel wie die Äthiopier.« In demselben Sinne ist auch Amos 6, 1-2 zu nehmen. Jesaia 42, 19: »Wer ist so blind, wie mein Knecht, so taub wie mein Bote, den ich ausgesendet?«


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1908], Band 1.
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