[Einleitung.]

[6] In dieser fast tausendjährigen Periode beschäftigt sich die jüdische Geistestätigkeit vorzüglich und fast ausschließlich mit dem theoretischen Ausbau des religiösen Lebens, mit der Feststellung der als Überlieferung überkommenen Lehrsätze nach allen Verzweigungen und Anwendungen. Im Anfang dieser Periode ist zwar das Streben sichtbar, noch einmal einen Versuch zu wagen, das verlorene politische Leben wieder zu erlangen. Dieses Streben erzeugt Reibungen, Aufstände, Kriege und neue Niederlagen. Aber bald tritt diese politische Bewegung zurück, um der rein geistigen Tätigkeit den ganzen Spielraum zu überlassen. Dann beginnt die bienenartige Emsigkeit, die Überlieferung zu sammeln, zu sichten, zu erläutern und anzuwenden, die neuhinzugekommenen Erläuterungen und Anwendungen zu ordnen und zu einem Ganzen abzuschließen, endlich aus diesem riesenhoch aufgeschichteten Material Auszüge für den Lebensgebrauch anzulegen. Diese Riesenarbeit des talmudischen Baues, woran mehr denn zwanzig Geschlechter, Lehrer und Schüler, Beamte und Handwerker, Palästinenser wie auswärtige Juden mit ihrer ganzen Geisteskraft, mit Aufopferung der Lebensfreuden gearbeitet haben, darf nicht als Geistesspiel müßiger Gelehrten oder als ein Kettenschmieden herrschsüchtiger Priester betrachtet werden, sondern es ist ein echtes Nationalwerk geistigen Strebens, woran, wie an dem Bau einer Volkssprache, nicht dieser und jener, sondern das ganze Volk Anteil hatte. Dies bekundet zugleich die veränderte Richtung in dem Entwicklungsgang der jüdischen Geschichte, nämlich das Hervortreten der Denktätigkeit und das Sichversenken in den Schacht der Forschung. Überliefern, erklären, vergleichen und unterscheiden, überhaupt theoretische Beschäftigung, bildet von jetzt an die Hauptrichtung für ein Jahrtausend. [6] die sich durch nichts von dem eingeschlagenen Wege abbringen und stören läßt. Auf einen Augenblick zurückgedrängt, tritt dieser Trieb um so gewaltiger hervor, je größer der Druck war, der auf ihm lastete. Aber diese Tätigkeit war in ihrem ersten Anlaufe so überwiegend und ausschließlich talmudisch, daß keinerlei Wissenszweig, nicht einmal ein solcher, der ihr als Stütze zu dienen geeignet wäre, neben ihr Raum finden konnte. Selbst die Exegese, das richtige Verständnis des heiligen Textes aus dem Bewußtsein formaler Sprachkunde, wurde nur obenhin berührt. Eine jüdische Philosophie, das freie Forschen nach dem Grundwesen des Judentums, nach dem ewig Wahren und ewig Gültigen in dem Gesetze, konnte in einer Zeit, da es galt, sich nach dem Schiffbruch zu sammeln und vor neuen Stürmen zu schützen, gar nicht aufkommen, ungeachtet bereits die Alexandriner, mit Philo an der Spitze, einige Grundsteine zu dem Anbau einer solchen gelegt hatten. Um Exegese mit hebräischer Sprachkunde und Philosophie mit in den Kreis des Wissenswürdigen hineinzuziehen, dazu bedurfte es eines Anstoßes von einem neuen, der talmudischen Richtung feindlichen Elemente. Das Karäertum war dieses neue, gärende Element, das neue Gestaltungen und Lagen hervorbrachte. Mit Recht kann man daher die erste Periode dieses Zeitraums die talmudische nennen, weil die Hauptrichtung der Geschichte sich auf den Ausbau des talmudischen Lehrinhaltes und auf den Talmud, als auf das Grundbuch, bezieht. Erst am Ende dieser Periode erwachte, angeregt und gefördert durch die karäische Spaltung, auch der Sinn für Hilfswissenschaft, für Exegese, Grammatik und sogar für den Aufbau einer jüdischen Philosophie, aber ohne daß es darin zu einer gediegenen Reife gekommen wäre. Äußere und innere Störungen stellten sich inzwischen ein, welche den Strom der jüdischen Geschichte in ein anderes Bett leiteten, und sie änderte seitdem äußerlich wie innerlich ihre Gestalt. Judäa und Babylonien, die Städte am Jordan und Euphrat, bisher der einzige Schauplatz der Geschichte, verlieren ihre Bedeutung. Das jüdische Geistesstreben wandert von dem äußersten Osten nach dem äußersten Westen, von Babylonien nach Spanien, entfaltet dort neue Blüten und bringt neue Früchte zur Reife. Die erste Periode des Zeitraums der Zerstreuung (Diaspora) ist ihrem Inhalte nach talmudisch, der geographischen Lage nach judäisch-babylonisch.

Das talmudische Zeitalter zählt 970 Jahre und zerfällt in vier kleinere Abschnitte oder Epochen:

1. Die Tannaiten-Epoche, von dem Untergange des Staats und der Einführung des Synhedrions in Jamnia bis zum Abschlusse der Mischna (70-200).

[7] 2. Amoräer-Epoche, vom Abschlusse der Mischna und der Gründung der Amora-Akademien in Babylonien bis auf den Abschluß des ganzen Talmuds (200-500).

3. Die Saburäer-Epoche, vom Abschlusse des Talmuds bis zur Entwicklung des Gaonats unter der Herrschaft der Araber (500 bis 650).

4. Die Gaonen-Epoche, von dem Beginne des Gaonats bis zum Untergang desselben (650-1040).


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 6-9.
Lizenz:
Faksimiles:
6 | 7 | 8 | 9
Kategorien: