13. Kapitel. (219-280.)

[220] Erstes Amorageschlecht. Patriarch R. Juda II. Der judenfreundliche Kaiser. Alexander Severus (Antoninus). Günstige Verhältnisse der Juden. Aufhebung früherer Bestimmungen. Hillel, Lehrer des Kirchenvaters Origenes. Pflege der hebräischen Sprache unter den Christen; Anlegung der Hexapla


Nach dem Aussterben der Tannaiten, der jüngern Zeitgenossen des Mischnasammlers und seines Sohnes Gamaliel II., trat eine glücklichere Zeit ein, glücklich im Äußern durch die günstige politische Stellung, die sich von einem freundlichen Verhältnis eines der besten römischen Kaiser zu den Juden herleitete, glücklich im Innern durch eine Reihe genialer Männer, die das Alte durch einen frischern Geist neu belebten. Die hervorragenden Männer und Träger dieser Zeit waren in Judäa der Patriarch R. Juda II., Sohn Gamaliels; R. Jochanan, die Autorität dieser Zeit; ferner R. Simon ben Lakisch, der hand- und geistesfeste Lehrer, und in Babylonien Abba-Areka und Samuel. – Durch diese Männer wurde eine neue Richtung angebahnt, die zwar mit der tannaitischen verwandt war und sie zum Ausgangspunkte hatte, aber doch über sie hinausging. Eine Charakteristik der leitenden Persönlichkeiten dürfte nicht überflüssig sein. Von R. Judas, des Patriarchen, früherem Leben und seinem Bildungsgange ist wenig bekannt. Seine Jugend fiel in die Zeit, in der die religiöse Strenge bereits so vorherrschend geworden war, daß das Patriarchenhaus selbst dem Tadel unterlag, wenn es sich etwas dagegen erlaubte. Mit seinem Bruder Hillel ging R. Juda einst in Biri am Sabbat in Schuhen mit goldenen Spangen aus, was dort für verboten galt, und sie wurden deswegen bekrittelt, wagten es nicht zu erklären, es sei nach dem Gesetze erlaubt und mußten ihre Schuhe den Sklaven übergeben. Ein andermal badeten die beiden Söhne des Patriarchen in Kabul zusammen, und man rief ihnen zu: »In unserer Stadt dürfen zwei Brüder nicht zusammen [220] baden.«1 Als R. Juda das Patriarchat von seinem Vater Gamaliel III. übernommen hatte (um 225), verlegte er dessen Sitz von Sepphoris nach Tiberias, und diese Stadt, früher wegen ihrer Unreinheit gemieden, empfing durch ihn eine höhere Bedeutung, überdauerte alle übrigen erinnerungsreichen Schauplätze Judäas und wurde die letzte Zufluchtsstätte uralter Traditionen. Die Anordnung des Neumondes, die früherhin wegen einer gewissen Vorliebe für Südjudäa von dort ausging, verlegte R. Juda nach Tiberias.2 Der Süden Palästinas, früher der Hauptschauplatz geschichtlicher Vorgänge, verlor fortan alle Bedeutung und mußte seine Rolle an das ehemals verachtete Galiläa abtreten. – Wie sein Großvater, genoß R. Juda II. bei seinen Zeitgenossen hohe Verehrung, und man nannte ihn schlechtweg Rabbi oder Rabbenu, er wurde allerdings auch scharf getadelt, nahm aber mehr als jener den Tadel geduldig hin.

Es war wohl der zweite R. Juda, welcher, wie die jüdischen Nachrichten mit voller Entschiedenheit behaupten, bei einem römischen Kaiser beliebt war, und von dem er mancherlei Begünstigungen erhielt.3 Der Zufall, der in der Gestalt der Prätorianer bei der Verleihung des Kaisermantels zumeist den Ausschlag gab, erhob Alexander Severus (222-235), einen unbekannten Syrer von sechzehn Jahren, zum Herrn der Welt, und dieser verlieh, wie keiner seiner Vorgänger, dem Judentum in der öffentlichen Meinung eine gewisse Anerkennung. In seinem Privatgemache hatte Alexander Sever neben den Abbildungen von Orpheus und Christus auch das Bild von Abraham. Den goldenen Spruch reiner Menschenliebe: »Was du nicht leiden kannst, tue auch andern nicht,« den ein jüdischer Weiser noch vor Jesus als den Inbegriff des ganzen Judentums ausgab, beherzigte dieser Kaiser so sehr, daß er ihn stets im Munde führte, ihn an den Kaiserpalast und an öffentliche Gebäude als Sinnspruch anbringen und durch einen Herold verkünden ließ, so oft er die Soldaten wegen Angriffe auf fremdes Eigentum zurechtweisen wollte.4 Juden und Christen stellte er überhaupt als Muster für die verderbten Römer auf und wollte die höchsten Staatswürden nach der Norm erteilt wissen, wie jüdische und christliche Religionsbeamte zur Ordination gelangen.5 Er hatte zwar auch Wohlwollen für die Christen, aber für Juden und Judentum scheint er mehr Vorliebe gezeigt zu haben. Antiochenser und [221] Alexandriner, deren leichtsinniger Charakter mehr Gefallen fand an sittenlosen Kaisern, als an sittenstrengen von der Natur des Alexander Sever, verhöhnten ihn daher in Epigrammen und gaben ihm den Spottnamen Syrischer Synagogenvorsteher (d.h. Rabbiner, Archisynagogus) und Hoherpriester. Des Kaisers Mutter Mammäa hatte allerdings eine Vorliebe für das Christentum und war eine Gönnerin des Kirchenvaters Origenes. Der Patriarch R. Juda genoß daher in dieser Zeit ein fast königliches Ansehen und durfte sogar wieder die peinliche Gerichtsbarkeit ausüben, zwar nicht ganz öffentlich, aber doch nicht ohne Vorwissen des Kaisers. Die Bekanntschaft mit dem jüdischen Patriarchen scheint der Kaiser während seines persischen Feldzuges bei seinem öftern Aufenthalte in Antiochien gemacht zu haben (231-233). R. Juda hat es wohl bei ihm durchgesetzt, daß die Privilegien der Juden geschützt oder vielmehr erneuert worden sind. Die jüdische Sage weiß viel von der innigen Anhänglichkeit des Kaisers Severus (Asverus), Sohn des Antoninus oder des Antoninus schlechtweg, an das Judentum und an die Juden zu erzählen. Aber wenn auch vieles darin übertrieben und ausgeschmückt ist, so ist doch manche talmudische Nachricht über das Verhältnis des Patriarchen zum Kaiser geschichtlich. So wird erzählt, der Kaiser habe für eine Synagoge, wahrscheinlich in Tiberias, einen goldenen Leuchter geweiht, dem Patriarchen Äcker in der Landschaft Gaulanitis geschenkt, vermutlich zum Unterhalt der Jünger. Es ist ganz im Sinne dieses Kaisers von syrischer Abkunft, der für fremde Kulte eingenommen war, wenn von ihm erzählt wird, er habe sich vom Patriarchen einen kundigen Mann ausgebeten, welcher ihm bei dem Bau eines Altars nach dem Muster des jüdischen Tempels und bei der Zubereitung des Räucherwerkes nach jüdischgesetzlicher Norm behilflich sein möge, zu welchem Zwecke R. Juda ihm seinen Hausfreund R. Romanus empfohlen habe. Die dreizehn Jahre, in welchen sich die römische Welt gefallen ließ, sich von einem guten Kaiser beherrschen zu lassen und die römische Majestät Gunstbezeugungen den ehemals Verachteten und Verfolgten gewährte, waren für die jüdische Nation sehr glückliche Zeiten. Man fühlte sich so behaglich, daß man der Meinung war, Daniel, der einen prophetischen Fernblick in die Aufeinanderfolge der Weltreiche getan, habe diesen Zustand mit den Worten verkündet: »Wenn sie (die Juden) auch erliegen, so wird ihnen eine kleine Hilfe zuteil werden,« was man auf Antoninus Severus bezog, der ihnen Liebe zugewendet.6 Diese günstige Stellung trug dazu bei, daß die tiefe [222] Spannung und Abneigung, die jahrhundertelang gegen Römer herrschte, einem milden Gefühle Platz machte. Die Christen beklagten sich zu dieser Zeit, daß die Juden den Heiden weit günstiger gesinnt seien als ihnen selbst, obwohl sie doch mit ihnen mehr gemeinsam hätten als mit den Heiden.7 Die Scheidewand, die infolge des Hasses gegen die Römer aufgeführt worden war, schwand zum Teil, die strenge Absonderung milderte sich. Man gestattete dem Patriarchenhause wegen seines Umganges mit den hohen Staatswürdenträgern, das Haar auf römische Art zu tragen, das Griechische zu erlernen und noch manches andere, was früher verboten war.8 Das Leben gestaltete sich überhaupt freundlicher; man fing an, die Zimmer mit Malereien zu zieren, und die religiöse Skrupulosität nahm keinen Anstoß daran.9

Dieser freundlichen Beziehung zu den Machthabern ist es wohl auch zuzuschreiben, daß der Patriarch manche Erschwerung aufhob oder aufzuheben gedachte, welche in früherer Zeit mit außerordentlicher Strenge festgehalten worden war.

In den stürmischen Tagen des ersten Aufstandes gegen die Römer, als die Wogen des Rassenhasses zwischen Juden und römischgriechischen Heiden hochgingen, untersagte eine Synode, um jeden Verkehr mit Heiden zu hemmen, von ihnen Öl und manche andere Nahrungsmittel zu kaufen oder zu genießen. In Palästina war diese Beschränkung für die jüdischen Bewohner nicht empfindlich, da das Land alles zum täglichen Bedürfnisse Nötige selbst hervorbrachte und der Ausfuhrhandel von Öl aus Galiläa nach den Nachbarländern sehr lebhaft war. Allein durch die hadrianischen Kriege war Judäa verwüstet und seiner Ölpflanzungen beraubt; das tägliche Bedürfnis nach Öl zwang daher, nach und nach von dem strengen Verbote abzugehen. Aber die gesetzliche Genußerlaubnis fehlte; einzelne hatten sich darüber hinweggesetzt, während andere an der bisherigen Strenge festhielten. R. Juda bemühte sich daher, eine Majorität für die Aufhebung des Ölverbotes zustande zu bringen. Er tat sich auf den Erfolg, diese Erlaubnis durchgesetzt zu haben, etwas zugute; wahrscheinlich hatte er harte Kämpfe dafür zu bestehen. Als R. Simlaï, der oft von Galiläa nach Babylonien hin und herreiste, den Juden der Euphratländer, denen jene Beschränkung noch empfindlicher war, die Nachricht mitbrachte, daß der [223] Genuß des Heidenöls gestattet sei, schien diese Neuerung Abba-Areka so kühn, daß er dem Referenten keinen Glauben schenkte. Samuel aber, der überhaupt die Autorität des Patriarchen auch in Babylonien nach wie vor anerkannt wissen wollte, zwang ihn durch die Drohung, er werde ihn wie einen Widersetzlichen gegen einen Synhedrialbeschluß behandeln, von der Erlaubnis Gebrauch zu machen.10 Eine andere Erleichterung, die der Patriarch beabsichtigte, die lästige Schwagerehe in gewissen Fällen durch einen vor dem Tode auszustellenden Scheidebrief zu umgehen, fand bei seinem Kollegium keine Zustimmung.11 Auch das Brot von Heiden wollte er gern zum Genuß gestatten. Als er einst auf dem Felde mit seinen Jüngern war, die zur Stillung ihres Hungers kein anderes als heidnisches Brot fanden, bemerkte R. Juda: »Wie schön ist dieses Brot, warum haben es die frühern Weisen verboten?« Einer von ihnen ermunterte ihn, auch diese Erleichterung zu sanktionieren, worauf er erwiderte: »Ich darf nicht, man würde mich den Erleichterer nennen.«12 Auch den neunten Ab, als Fasttag zur Erinnerung so vieler Katastrophen, wollte er nach einigen ganz, nach andern nur in dem Falle abschaffen, wenn er auf einen Sabbat fiele und der Regel nach auf den folgenden Tag verschoben werden sollte. Sein leitender Grundsatz dabei war, daß dieser Trauertag seine Bedeutung mit dem Aufhören grausiger Verfolgungen verloren habe; dieser Veränderung waren aber die zeitgenössischen Gesetzeslehrer entgegen.13 Hingegen waren sie mit ihm einverstanden, das Trauerzeichen aus der hadrianischen Unglückszeit aufzuheben; die Bräute durften wieder in Prachtsänften am Hochzeitstage getragen werden.14

Ungeachtet der Verehrung, welche die Gesetzeslehrer für den Patriarchen R. Juda empfanden, waren sie für seine Schwächen nicht blind und er mußte sich manche Angriffe von ihrer Seite gefallen lassen. Das Patriarchat hatte unter ihm eine fast königliche [224] Macht erlangt und war sogar mit einer Leibwache umgeben15, welche bereit war, den Befehlen des Patriarchen Nachdruck zu geben. Diese Macht, obwohl sie R. Juda nicht mißbrauchte, mißfiel den Gesetzeslehrern umsomehr, als er seinerseits den Gelehrtenrang nicht besonders begünstigte, sich vielmehr bestrebte, den Unterschied zwischen Gelehrten und Ungelehrten in bürgerlichen Verhältnissen aufzuheben. Er zog die Gesetzeslehrer auch zu Gemeindelasten herbei, z.B. zur Ausbesserung der Stadtmauern, zum Unterhalte der Stadtwächter, dem Gebrauche zuwider, der die Gelehrtenklasse davon befreit hatte. Jene verteidigten den Grundsatz, die Gesetzesbeflissenen können den Schutz der Mauern entbehren, da das Gesetz ihr Schutz sei. R. Simon ben Lakisch, einer jener freimütigen Männer, welche die Wahrheitsliebe bis zur Nichtachtung von Personen treiben, widersprach besonders dieser Gleichstellung16 und erlaubte sich überhaupt beleidigende Ausfälle gegen den Patriarchen. Einst trug ben Lakisch im Lehrhause den Satz vor, daß im Falle der Patriarch sich ein Vergehen zuschulden kommen ließe, man über ihn wie über den ersten besten Geißelstrafe verhängen müßte. Ein anderer, R. Chaggaï, machte dazu die Bemerkung, man müßte ihn dann gar absetzen und nicht wieder zum Amte zulassen, sonst würde er durch seine Macht sich an den Urhebern seiner Schande rächen. Diese Auseinandersetzung war ein offenbarer Angriff auf R. Judas größere Machtstellung. Dieser, anfangs ungehalten über diese Äußerung und vom ersten Eindruck hingerissen, sandte seine gothischen Sklaven, sich des Tadlers zu bemächtigen. Ben Lakisch, vorher davon unterrichtet, hatte sich aber nach Magdala (nach andern nach dem Bergflecken Kephar-Chitin) geflüchtet. Als R. Jochanan am andern Morgen in Gegenwart des Patriarchen den Lehrvortrag eröffnen sollte, schwieg er und bedeutete den erstaunten Patriarchen, er vermöge ohne Simon ben Lakisch nicht vorzutragen. R. Juda, die Unentbehrlichkeit des Flüchtlings einsehend, war bald besänftigt, verzieh die Beleidigungen, erkundigte sich nach dessen Aufenthalt und nahm sich vor, ihn selbst abzuholen. Das Zusammentreffen bei der war charakteristisch. R. Simon ben Lakisch, überrascht von der freundlichen Zuvorkommenheit, sagte dem Patriarchen anfangs etwas Schmeichelhaftes, daß er Gott nachahme, der sich selbst nach Ägypten begeben, sein geknechtetes Volk zu erlösen. Als ihn aber R. Juda fragte, was ihn bewogen habe, sich so schonungslos über ihn zu äußern, gab ben Lakisch eine noch schonungslosere Antwort: »Glaubt Ihr denn, daß ich aus Furcht vor Euch die Gotteslehre verschweigen [225] werde?«17 Ein anderes Mal beklagte sich der Patriarch beiben Lakisch über die Willkür der römischen Behörden, welche nach dem Tode des Kaisers Alexander Sever infolge der Anarchie eingetreten war, die in allen Provinzen des römischen Reiches durch ein halbes Jahrhundert herrschte. In den meisten Provinzen Kaiser, Gegenkaiser und Usurpatoren, die für die kurze Spanne ihrer Regierung sich in den Ländern ihrer Botmäßigkeit als Weltherrscher mit römischer Raubgier geberdeten. »Bete für mich,« sprach R. Juda zu ben Lakisch, »denn die römische Regierung ist sehr schlimm.« Jener antwortete ihm: »Nimm nichts, so wird dir nichts genommen werden!«18 Die Äußerung war ein Verweis wegen der Habsucht, von der R. Juda nicht freizusprechen war. Es scheint, daß in dieser Zeit die Patriarchen von den Gemeinden Einkünfte zu beziehen angefangen haben.19 Am derbsten sprach sich einst über diesen Punkt ein sonst unbekannter Volksredner, R. José aus Maon, in einem öffentlichen Vortrage in einer tiberiensischen Synagoge aus. »Höret, ihr Priester,« eiferte er, mit Anwendung eines Verses aus Hosea, »warum obliegt ihr nicht dem Gesetzesstudium, habe ich euch nicht dafür vierundzwanzig Priesterabgaben bestimmt? Ihr erwidert: wir bekommen nichts vom Volke; nun so vernimm es, Haus Israel, warum gebet ihr nicht den Priestern ihre Gebühr? Ihr antwortet mir: die Leute des Patriarchen nehmen es von uns mit Gewalt, so merke es, Haus des Patriarchen, denn über euch wird ein strenges Gericht gehalten werden.« R. Juda, unwillig über diese Rücksichtslosigkeit, dachte daran, den Tadler zu bestrafen; aber R. José entfloh. Am andern Tage begaben sich R. Jochanan und ben Lakisch zum Patriarchen, um ihn zu besänftigen; sie machten ihn darauf aufmerksam, daß es nicht ernst gemeint, sondern dem Redner eigentlich nur darum zu tun war, seine Zuhörer zu unterhalten, wie ja auch der Momus (komische Maske) in den Theatern die gute Seite habe, daß er das Publikum durch Unterhaltung von unsinnigen Streichen und Zänkereien abzuziehen suche. Auch, fügten sie hinzu, verdiene R. José wegen seiner ausgezeichneten Gelehrsamkeit einige Nachsicht. R. Juda ließ sich überreden, mit seinem Tadler zusammenzukommen und legte ihm einige Fragen vor, um ihn zu prüfen, unter anderem über den Sinn des Prophetenwortes: »Wie die Mutter so die Tochter« (Ezechiel 16, 44). R. José, den Freimut bis zur Beleidigung treibend, erwiderte: »Es bedeutet, wie der Naßi, so das Zeitalter, wie der Altar, so die Priester.«20 Obwohl [226] gereizt über diese Schmähungen, scheint ihm R. Juda verziehen zu haben. Sein versöhnlicher Charakter sah über ähnliche Angriffe hinweg.

Wenn die Habgier des Patriarchen, die so weit ging, daß Lehrämter für Geld zu haben waren, die sonst nur den Würdigsten, ja nicht selten auch solchen vorenthalten wurden, einen betrübenden Eindruck macht, so ist der Umstand erfreulich, daß es eine vereinzelte Erscheinung war, welche nicht nur keinen Einfluß auf die hervorragenden Zeitgenossen hatte, sondern bei ihnen eine sittliche Entrüstung hervorrief. Als R. Juda einst einen ganz unwissenden Menschen, der weiter kein Verdienst als die Zufälligkeit des Reichtums hatte, zum öffentlichen Volkslehrer befördert hatte, goß ein geistreicher Volksredner, R. Juda ben Nachmani, seinen ganzen Spott über diesen Mißbrauch aus. Das Los hatte ihn getroffen, bei diesem reichen Idioten als Meturgeman (Dolmetsch, Erklärer) öffentlich zu fungieren, und sein Geschäft bestand darin, das Thema des Vortrages, welches der Promovierte ihm satzweise ins Ohr flüsterte, den Zuhörern zu erläutern und verständlich zu machen. Vergebens hatte aber R. Juda ben Nachmani sein Ohr dem Munde des Vortragenden ganz nahe gebracht, sich das Thema zuflüstern zu lassen, er vernahm keinen Laut. Auf diese sonderbare Situation parodierte der Meturgeman sehr witzig einen Vers des Propheten Habakuk (2, 19), welcher die stummen Götzen verspottet: »Wehe, wenn man zum Block sprechen muß, erwache, rege dich, zum Stein! Der soll lehren? Er ist ja nur in Gold und Silber eingefaßt, und kein Geist ist in ihm!«21 – Dieser witzige Meturgeman war überhaupt ein origineller Improvisator und handhabte noch die im Erlöschen begriffene hebräische Sprache mit vieler Meisterschaft. Bei Trauerfällen pflegte man ihn zum öffentlichen Sprechen aufzufordern, um die Leidtragenden zu trösten, die Gerechtigkeit des Himmels zu retten, und den Beileidbezeugenden Dank zu sagen. Einige Improvisationen dieser Art haben sich von ihm erhalten; sie sind in einem fließenden Hebräisch gehalten. Ein Trostesspruch ben Nachmanis lautet:


»Brüder, von Trauer gebeugt und erschlafft,

Richtet euern Sinn darauf, eines zu ergründen:

Es besteht vom Anbeginn der Welt bis ans Ende der Tage,

Viele haben es gekostet, viele werden es kosten,

Wie das Los der Frühern, so das Los der Spätern.

Der Trostesspender möge euch trösten.«22


[227] Die Entrüstung über die Käuflichkeit der Lehrwürden teilten übrigens viele mit R. Juda ben Nachmani; man nannte solche, welche ihr Amt dem Gelde zu verdanken hatten, »silberne und goldene Götzen«, man erwies ihnen keinerlei Ehrenbezeugung, verweigerte ihnen den Titel Rabbi.23 Die öffentliche Meinung sprach sich gegen R. Juda aus, und es scheint, daß das Synhedrialkollegium von dieser Zeit an dem Patriarchat das Promotionsrecht genommen hat. Während früher seit R. Juda I. der Patriarch ohne Einwilligung des Kollegiums die Ordination erteilen konnte, wurde jetzt die Bestimmung getroffen, daß er fortan dazu die Zustimmung desselben einholen müsse.24 – Indessen, wie sehr auch R. Judas Handlungsweise vielfachen Tadel erfuhr, so stand er nichtsdestoweniger bei den Gesetzeslehrern und dem Volke in großer Achtung. Er galt als eine halachische Autorität, auf welche sich sogar ben Lakisch und andere öfter beriefen.25 Wäre er eine Drahtpuppe in den Händen von hierarchischen Finsterlingen gewesen, welche ihn zum Werkzeuge gebrauchten, um dem Volke noch mehr Fesseln anzulegen, so hätte er wohl schwerlich jene Erleichterungen durchsetzen können, die ausdrücklich auf seine Autorität zurückgeführt werden. Besonders beliebt war er wegen seiner Einfachheit in seinem Wesen und seinem Anzuge, die seine hohe, fast königliche Würde vergessen machte. Er pflegte sich in Linnen zu kleiden und alle Etikette beim Empfange von feierlichen Besuchen fernzuhalten, worüber ihm seine Freunde R. Chanina und R. Jochanan Vorwürfe machten, indem sie ihn bedeuteten, der Herrscher müsse sich in Pracht und imposanter Haltung zeigen.26 Wie groß die Verehrung für R. Juda war, zeigte sich bei seinem Tode; man erwies seiner Leiche nicht weniger Ehren als seinem gleichnamigen Großvater; man zwang einen Ahroniden, R. Chija ben Abba, sich dem Gesetze zuwider mit ihr zu beschäftigen, indem man die Heiligkeit des Priestertums für aufgehoben erklärte.27 Er starb noch vor R. Jochanan.28

Hillel, der Bruder des Patriarchen, scheint in der Halacha keinen Namen gehabt zu haben, er wird auf diesem Gebiete höchst [228] selten genannt; hingegen besaß er tiefere Kenntnis in der agadischen Schriftauslegung, und aus diesem Grunde suchte ihn wohl der philosophische Kirchenlehrer Origenes auf, um sich bei ihm über schwierige Stellen in der Bibel Rat zu holen. Origenes nennt ihn den Patriarchen Jullos oder Huillus.29 Der Forschergeist, der in der christlich-alexandrinischen Schule durch die Kirchenlehrer Pantäus und Clemens von Alexandrien geweckt war, der die gnostische Spielerei und den gnostischen Haß gegen das alte Testament überwand und den Zusammenhang zwischen diesem und dem neuen Testamente suchte, machte das Bedürfnis rege, sich mit der hebräischen Sprache bekannt zu machen, um aus der Kenntnis des Originaltextes die grellen Widersprüche zu lösen, in welchen die inzwischen starr gewordenen christlichen Dogmen zu den alttestamentlichen Anschauungen standen. Von diesem Bedürfnisse war der originelle Origenes am meisten durchdrungen und er war auch unverdrossen tätig, sich das Hebräische selbst anzueignen und dessen Pflege zu empfehlen. In der Kenntnis des Hebräischen und der richtigen Schriftauslegung betrachtete er die Juden als seine Lehrmeister. Origenes gestand ein, den richtigen Sinn schwieriger Bibelstellen während seines abwechselnden längern Aufenthaltes in Judäa (um 229-253) von Juden erfahren zu haben. Als er die Psalmen kommentieren wollte, gab er sich Mühe, sich von einem Juden deren Verständnis vermittelst der Traditionen eröffnen zu lassen.30 Das Halachastudium hatte damals die biblische Exegese noch nicht verdrängt. Es gab noch außer Hillel und Simlaï jüdische Lehrer, welche mit dem Grundtexte vertraut, über die kindisch-alberne Beweisführung christlicher Lehrer für die Dogmen aus der verdorbenen griechischen Übersetzung der Septuaginta lachten und sie beschämten. Sie machten sich namentlich über die Leichtgläubigkeit der Christen lustig, die jedes ihnen in die Hände gespielte apokryphe Buch im Gewande des Altertums, wie die Geschichte von Tobit, Judith, der Susanna, in den Kreis der heiligen Schriften zogen und auf diesem lockern Grunde ihr luftiges Gebäude aufführten.31

Um den Kirchenglauben vor dieser Lächerlichkeit zu schützen, unternahm Origenes das Riesenwerk, den verstümmelten, von Fehlern aller Art wimmelnden Text der Septuaginta neben den Urtext zu [229] setzen, um christlichen Lehrern einen Überblick über den Unterschied der Lesarten zu geben und sie besser instand zu setzen, mit Juden disputieren zu können. Er verglich zu diesem Zwecke die Übersetzungen zur bequemen Übersicht in Säulenreihen nebeneinander, den hebräischen Text mit der Aussprache desselben nach griechischen Lauten an der Spitze. Die Zusammenstellung führt den Namen Hexapla (das Sechsfache)32. Vergebliche Mühe, die schlechte und geflissentlich verderbte griechische Übersetzung dem hebräischen Grundtexte gegenüberzustellen! Die Septuaginta blieb in ihrer entstellten Gestalt, ja sie wurde gerade durch Origenes' Sorgfalt noch mehr verwirrt, indem manches zufällig in deren Text hineinkam, was einer andern Übersetzung angehörte.


Fußnoten

1 Tosifta Moed Katan II, jer. Pesachim 30 d; b. das. 51 a; an letzterer Stelle fehlt bei ןוסיקדרוק das Wort בהז לש.


2 Siehe Note 22.


3 S. Note 23.


4 Lampridius in Alex. Sever., c. 29, 51.


5 Das., c. 45.


6 Siehe Note 23.


7 Unde etiam nunc Judaei non moventur adversus gentiles et illos non oderunt, nec indignantur adversus eos, adversus Christianos vero insatiabili odio feruntur, qui utique relictis idolis ad deum conversi sunt (Origenes Homilia I in psalmum 36).


8 Siehe Note 24.


9 Jerus. Aboda Sara III, p. 42 d.


10 Aboda Sara 36 a. Jerus. das. II, 41 d. [Wie ich von Herrn Dr. Lewy hörte, war es wahrscheinlich Rabbi, der das Ölverbot aufhob].


11 Gittin 76 b.

12 Aboda Sara 35 a; Jer. p. 41 d.


13 Jerus. Megilla I, 70 b. Babli das. 5 b. In Babli sind zwei Fakta, von denen das eine R. Juda I., das andere R. Juda II. gehört, zusammengeflossen, in Jeruschalmi wird richtig באב 'ט רוקעל 'ר שקב R. Juda II. als Zeitgenossen R. Eleasars zugeschrieben, hingegen gehört ירופצ לש ינורקב ץחר 'ר R. J. I. an. [Auch im Jeruschalmi wird hier Eleasar nur als Zeitgenosse des 'ר ארכז רב אב des Tradenten im Namen Chaninas angeführt, dessen Schüler diese Beiden waren. Chanina stand aber nur zu R. Juda I. in Beziehung].


14 Sota 49 a. Der Ausdruck וניתובר weist nach Gittin 76 b auf R. Juda II. hin.


15 Note 23.


16 Baba Batra 7 b.


17 Jerus. Synhedrin II, Anf. Horajot III, Anf.


18 Genesis Rabba, c. 78.


19 Das., c. 100.


20 Das., c. 80. Jerus. Synhedrin II, Ende.


21 Synhedrin 7 b. Die witzige Pointe liegt in dem Doppelsinn des Wortes הרוי, welches befruchten und auch lehren, und חור, welches Odem und Geist bedeutet. In Jerus. Bikkurim Ende wird diese Parodie einem Jakob aus Kephar-Naburaja beigelegt.


22 Ketubbot 8 b.


23 Jerus. Bikkurim das.


24 Note 25.


25 Siehe die zahlreichen Belegstellen Seder ha-Dorot, Artikel: R. Juda Nessia II.


26 Jerus. Synhedrin I, 20 a.


27 Das. Berachot III, p. 6 a. Nasir VII, p. 66 b.


28 [Vergl. dagegen Frankel, Introductio, S. 92 ff., der das Todesjahr R. Judas II. später ansetzt und ihn auch das Patriarchat später antreten läßt. Demnach sind auch viele Fakta, die Verf., Note 22, auf R. Juda III. bezieht, noch auf R. Juda II. zu beziehen].


29 Origenes, Selecta in Psalmos I, S. 414. Hieronymus, Apologia adversus Rufinum. S. Note 22.


30 Origenes, das. epistola ad Africanum 7, contra Celsum I, 45., 55., 56. II. 31.


31 Epistola Africani ad Origenem und Epistola Origenis ad Africanum.


32 Vergl. die eingehende Monographie von Redepennig, Origenes, der richtig nachgewiesen (II, S. 272 f.), daß der Name Hexapla nicht von der sechsfachen Übersetzung, sondern von den sechs Kolumnen, welche durchschnittlich vorkamen, stammt.



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 231.
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