23. Kapitel. (427-500.)

[368] Fünftes Amorageschlecht. Exilarch Mar-Sutra. Schulhäupter Mar bar Aschi und R. Achi aus Difta. Sinken der babylonischen Lehrhäuser. Verfolgung der Juden unter Jesdigerd III.


Sechstes und letztes Amorageschlecht. Exilarchen Huna Mari und R. Huna, Schulhäupter Rabina von Sura und R. José von Pumbadita. Verfolgung der Juden unter Firuz. Auswanderung jüdischer Kolonisten nach Indien. Jüdisches Vasallenreich in Cranganor. Abschluß des babylonischen Talmuds. Geist und Bedeutung desselben.


Im Verlaufe des fünften Jahrhunderts fand das römische Reich, insoweit es an Rom oder das dasselbe vertretende Ravenna oder Mailand geknüpft war, seinen völligen Untergang. Die Teilung desselben in zwei Präfekturen mit zwei aufeinander eifersüchtigen Höfen, die Stöße, welche ihm junge Völker mit frischen Kräften wiederholentlich und von allen Seiten versetzten, zerschlugen es in Trümmer, aus welchen sich neue Königreiche mit neuen Bestrebungen und Interessen bildeten. Wie die alte Welt durch diese Vorgänge ihr Ende fand, so schloß auch das Judentum in dieser Zeit sein Altertum ab und trat in eine neue Richtung. Auch in Babylonien, wo die Juden bisher eine nur selten gestörte Ruhe und Selbstständigkeit genossen, häuften sich Leiden und Verfolgungen, und diese Drangsale legten den Führern des Judentums die Notwendigkeit auf, das Erbe der Väter in Sicherheit zu bringen. Dieses Erbe war der Talmud, in welchen alles niedergelegt war, was die jüdische Nation seit dem Abschnitt der biblischen Literatur gefühlt, gedacht, erstrebt und geleistet hat. Ein merkwürdiges Zusammentreffen fand hierbei statt, welches zwar den Charakter des Zufalles an sich trägt, aber doch einen höhern Zusammenhang ahnen läßt. Der Talmud im weitern Sinne, der seinen Ausgangspunkt von Hillel I. hat, begann gerade mit der Umwandlung der römischen Republik in das Kaiserreich unter Augustus und erhielt seinen Abschluß zugleich mit dem Untergang des römischen Reiches unter Romulus Augustulus. Diese Zeit des Abschließens ist im Vergleich [368] zur frühern arm an Persönlichkeiten und Begebenheiten. Die Schöpferkraft nahm ab und machte der Richtung Platz, das früher Geschaffene zu reproduzieren und festzustellen; die jüdische Geschichte bewegt sich in einem engen Kreis, Schulhäupter werden gewählt, lehren und sterben, und nur durch die eintretenden Verfolgungen erhält sie eine traurige Abwechslung.

Nach R. Aschis Tod wählte das suranische Kollegium einen Genossen R. Aschis, R. Jemar oder Mar Jemar (zusammengezogen Maremar), der ohne Zweifel bereits im Greisenalter stand. Er wandte dem Lehrhause vier oder fünf Jahre zu (427 bis 432). Sein Nachfolger war Idi bar Abin, der noch weniger bekannt als sein Vorgänger ist; er führte die suranische Schule zwanzig Jahre, war also vermutlich einer von R. Aschis Jüngern. R. Idi hatte zum Nachfolger R. Nachman bar Huna (452-455), dessen Mittelmäßigkeit daraus hervorgeht, daß sein Name nicht ein einziges Mal im Talmud genannt wird, während viel spätere Amoräer noch einen klangvollen Namen in ihm haben. Während der dreißig Jahre nach Aschis Tod hatte das noch bedeutungslosere pumbaditanische Lehrhaus zwei Schulhäupter gewechselt. Auf R. Gebiha, Zeitgenossen R. Aschis, folgte Rafrem II. (433-443) und auf diesen R. Rachumaï oder Nachumaï (443-456).1

Nach dem Tode R. Nachmans war das suranische Kollegium im Begriffe, die Vakanz mit R. Acha aus Difta zu besetzen. Warum R. Aschis Sohn Mar bei der Wahl übergangen werden sollte, bleibt ein Rätsel; denn allzu jung war er damals nicht mehr, da er bei seines Vaters Leben schon ein unterscheidungsfähiger Zuhörer war, und also zur Zeit der Wahl ein Vierziger gewesen sein mag. Vielleicht machte sich dabei der Einfluß des Resch-Galuta geltend, der einem Sohn R. Aschis, dem sein Vorgänger untergeordnet war, seine Zustimmung nicht gegeben haben mochte. R. Acha hingegen war Hausgenosse des Exilarchen Mar-Sutra, und wurde wahrscheinlich bei der Wahl von demselben unterstützt.2 Mar, der auch den Namen Tabjome führte, war in Machuza, als er die Nachricht von der Erledigung der suranischen Metibta hörte. Eine Sage erzählt, er sei durch den Ausspruch eines Wahnsinnigen darauf aufmerksam gemacht worden; er habe die Worte vernommen: »Der Resch-Metibta von Mata Mechasia zeichnet sich Tabjome.« Worte von Wahnsinnigen hingeworfen, galten als bedeutungsvoll und gewissermaßen prophetisch. Von diesem Omen [369] geleitet, eilte er nach Sura und kam gerade zur rechten Zeit an, als die Mitglieder der Hochschule wegen der Neuwahl versammelt waren. Sie schickten Abgeordnete an ihn, sich mit ihm wegen der Wahl des R. Acha zu beraten, er aber hielt sie zurück und auch die andern, die nachgeschickt wurden, bis ihrer zehn waren; dann hielt er einen Vortrag und wurde von den Anwesenden als Resch-Metibta begrüßt (455). R. Acha war über diese Zurücksetzung außerordentlich gekränkt und wandte auf sich den Satz an: »Wer einmal Unglück hat, der kann nimmermehr zum Glücke gelangen.«3 In demselben Jahre brach eine in den babylonischen Ländern bis dahin unerhörte Verfolgung der Juden aus, welche der Anfang einer langen Reihe blutiger Auftritte war, die sie von den letzten neupersischen Königen zu erdulden hatten; ihre Lage ward dadurch nicht besser als die ihrer Stammverwandten im römischen Reiche.

Jesdiǵerd III.4 (440-457), seinem gleichnamigen Vorgänger unähnlich, war es, der eine religiöse Verfolgung über die Juden verhängte, welche zunächst gegen die Sabbatfeier gerichtet war; es war nämlich verboten, den Sabbat zu feiern (456).5 Die Veranlassung zu einer solchen Sinnesänderung der persischen Herrscher gegen die ihnen stets mit Treue zugetanen Juden ist wahrscheinlich in dem Fanatismus der Magier zu suchen, die manche persische Könige nicht weniger beherrschten als die geistlichen Ratgeber die morgenländischen Kaiser. Die Magier scheinen in dieser Zeit von den Christen Bekehrungseifer und Religionsverfolgungen gelernt zu haben. Amemar, das letzte Schulhaupt von Nahardea, hatte eine Unterredung mit einem Magier, der ihm sein Religionsprinzip von der Doppelgottheit, dem Lichtgott Ormuzd und dem Nachtgott Ahriman, an dem menschlichen Organismus beweisen wollte. »Der obere Teil deines Körpers,« sagte der Magier, »gehört dem Ormuzd, und der untere Teil dem Ahriman an,« d.h. wie der Mensch zweiteilig und gegensätzlich ist, ebenso die Welt und die Gottheit; oben der Sitz des Verstandes und Gefühls, unten der Sitz der Sinnlichkeit. Schlagend entgegnete ihm Amemar, auf das Bild eingehend: »Wenn dem so wäre, so sollte Ahriman nicht Ormuzd gestatten, einen Kanal durch sein Gebiet zu ziehen.« Er wollte hiermit die unzertrennliche Einheit des menschlichen Wesens dartun.6 Religionsgespräche pflegen selten zum Frieden zu führen, denn [370] siegend oder besiegt, will sich die Anhänglichkeit durch verdoppelten Eifer betätigen; religiöse Polemik war daher stets der Vorläufer von Verfolgungen und Religionskriegen. Ohnehin hatte das Christentum mit seinem Bekehrungseifer die Magier zur Gegenwehr herausgefordert. Die Manichäer, die jüdische, christliche und persische Religionsansichten zu einem eigenen Gemische verbunden hatten, machten in Persien Verketzerungen ebenso einheimisch wie im römischen Reiche. Jesdiǵerd verfolgte Manichäer und Christen. Früher oder später mußte der persische Lichtkultus am Judentum Anstoß nehmen und es auf die Liste seiner Feinde setzen. Über das Verhalten der Juden dem Verbote gegenüber, den Sabbat zu feiern, schweigen die Chroniken; es wird indessen den Gewissenhaften nicht an Gelegenheit gefehlt haben, es zu umgehen, daher werden keine Märtyrer aus dieser Verfolgung namhaft gemacht. Ohnehin dauerte der Zwang etwa ein Jahr, da Jesdiǵerd bald darauf getötet wurde, und seine Söhne Chodar-Warda und Firuz um den Besitz der Krone einen Bürgerkrieg führten.7 Eine Sage erzählt, er sei infolge der inbrünstigen Gebete von Mar und R. Sama auf seinem Bette von einem Drachen verschlungen worden. Dieser R. Sama ben Rabba, das vorletzte amoräische Schulhaupt von Pumbadita, war der Nachfolger Rachumaïs und fungierte fünfzehn Jahre (456-471), ohne eine Spur seiner Wirksamkeit zu hinterlassen.8 Aber auch Mar bar Aschi, obwohl die einzige Autorität dieser Zeit, dessen Entscheidungen bis auf zwei Fälle Gesetzeskraft erhielten, scheint in der suranischen Metibta keinen besondern Glanz entwickelt zu haben. Er setzte die Tätigkeit seines Vaters fort, indem er die Talmudsammlung vervollständigte, wobei er auch dessen Entscheidungen aufnahm, aber diejenigen verwarf, von denen er wußte, daß er im Alter von ihnen abgekommen war.9 Er und seine Zeitgenossen mochten sich um so eher zur Sammlung und zum Abschluß gedrängt fühlen, als die erlebte Verfolgung die Zukunft unsicher gemacht hatte. Von seinem Charakter ist weiter nichts bekannt als ein Zug von Gewissenhaftigkeit, welcher von Rabas Parteilichkeit für die Standesgenossen grell absticht. Er erzählte [371] von sich: »Wenn ein Genosse bei mir zu Gericht erscheint, so lehne ich die Funktion ab, weil ich einen solchen als Blutsverwandten betrachte und ich unwillkürlich zu seinen Gunsten parteiisch sein könnte.«10 Sein nicht seltener Zuname Tabjome (glückliche Zeit) gab der spätern Sage Veranlassung, nachdem das Andenken an Jesdiǵerds Gewissens zwang aus dem Gedächtnis entschwunden war, seine Zeit als eine besonders glückliche für die jüdische Nation zu preisen.

Nach Mar, welcher dreizehn Jahre fungierte (455-468), wurde Rabba Tusfah suranisches Schulhaupt, von dem aber, wie von den letzten Amoräern überhaupt, durchaus keine individuellen Züge aufbewahrt sind, aus denen sich ein Charakterbild entwerfen ließe. Die eingetretene Leidenszeit im jüdischen Babylonien hatte für Persönlichkeiten kein Gedächtnis. Die Verfolgung, welche die Juden des persischen Reiches unter Firuz (Pheroces 458-485) erduldeten, übertraf bei weitem diejenigen, die sein Vater Jesdiǵerd über sie verhängt hatte. Die Veranlassung zu ihr soll die Rache gewesen sein, die dieser von den Magiern beherrschte König an sämtlichen Juden ausüben wollte, weil einige von ihnen in Ispahan zwei Magier getötet und diesen die Haut abgeschunden haben sollen. Firuz ließ dafür die Hälfte der jüdischen Einwohner von Ispahan töten und die jüdischen Kinder im Tempel von Horvan gewaltsam für den Feuerkultus erziehen.11 Die Verfolgung erstreckte sich aber auch über die babylonischen Gemeinden, wo sie mehrere Jahre bis zu des Tyrannen Tod dauerte. Der Exilarch Huni-Mari, Sohn Mar-Sutras, mit zwei Gesetzeslehrern, Amemar bar Mar-Janka und Mescherschaja bar Pacod, wurden in den Kerker geworfen und später hingerichtet (469-470). Es waren die ersten Märtyrer auf babylonischem Boden, und es ist bedeutsam, daß auch ein Exilsfürst für das Judentum blutete. Einige Jahre später nach Rabba Tusfahs Tod wurden die Feindseligkeiten noch mehr gesteigert, die Lehrstätten zerstört, die Lehrversammlungen verboten, die jüdische Gerichtsbarkeit aufgehoben und die Jugend zum Magierkultus angehalten (474).12 Die Stadt Sura scheint in dieser Zeit zerstört worden zu sein.13 Firuz, dessen Verfolgungssystem an Hadrian erinnert, erfand etwas Neues, woran jener Kaiser nicht gedacht hat, die Jugend dem Judentum zu entziehen und sie durch Gewaltmittel [372] an den persischen Kultus zu gewöhnen; er wird daher gleich Hadrian von der jüdischen Nachwelt mit dem Namen »der Böse« (Piruz Reschia) gebrandmarkt.14

Die nächste Wirkung dieser Verfolgung waren Auswanderungen jüdischer Kolonisten und ihre Verbreitung südwärts bis Arabien und ostwärts bis Indien. Wiewohl auf der ganzen arabischen Halbinsel von jeher jüdische Stämme wohnten und, wie später erzählt werden wird, unabhängige kleine Republiken bildeten, so erhielten sie erst durch die neuen Ankömmlinge aus Babylonien das ausgeprägte religiöse Leben, talmudische Kenntnisse, und dadurch auch eine höhere Gesittung. Die Auswanderung der Juden nach Indien wird ausdrücklich um die Zeit der Firuzi schen Verfolgung angegeben. Ein sonst Unbekannter, mit Namen Joseph Rabban (schon durch diesen Titel als Babylonier kenntlich), kam mit vielen jüdischen Familien an die frucht- und handelsreiche Küste Malabar im Jahre 4250 der jüdischen Zeitrechnung, muß demnach früher die Reise unternommen haben, und also unter Firuz ausgewandert sein. Der bramanische König Airvi (Eravi) von Cranganor nahm die jüdischen Ankömmlinge freundlich auf, schenkte ihnen in seinem Lande Wohnsitze und erlaubte ihnen, nach eigenen Gesetzen zu leben und von ihren eigenen Häuptlingen (Mardeliar) regiert zu werden. Ihr erster Häuptling war ihr Führer Joseph Rabban, dem der indische König besondere Rechte und fürstliche Ehren, erblich für seine Nachkommen, gewährte. Er durfte gleich den indischen Fürsten auf einem Elefanten reiten, unter Musikbegleitung von Trommeln und Zimbeln einen Herold vor sich hergehen lassen und auf Teppichen sitzen. Joseph Rabban soll eine Reihe von 72 Nachfolgern gehabt haben, welche die indisch-jüdischen Kolonisten regierten, bis Streitigkeiten unter ihnen entstanden, viele von ihnen umkamen, Cranganor zerstört wurde und der Rest sich in Mattachery (eine Stunde von Cochin) ansiedelte, das davon den Namen Judenstadt bekommen hat.15 Die Privilegien, die Airvi den jüdischen Ankömmlingen erteilt hatte, wurden in eine Erztafel mit altindischen (tamulischen) Schriftzügen und einer schwerverständlichen hebräischen Übersetzung eingegraben, welche sich noch heutigen Tages vorfindet.16

Der Inhalt der kupfernen Tafel, Chempeada genannt, lautet: »Swastri Sri, der König der Könige hat es verordnet! Von [373] Jussuf Rabban und seinem Volke erhalten wir den Tribut der unserer Hoheit gebührenden Treue und Ehrfurcht und des uns zukommenden üblichen Geschenkes. Wir gewähren ihnen daher die Vorrechte, fünf verschiedene Farben zu tragen, am Tage Lampen zu brauchen, lange Gewänder zu tragen, sich der Sänften, Schirme, kupfernen Gefäße, Trommeln und Kränze an ihrem Körper zu bedienen, auch Kränze in ihren Straßen anzubringen. Alle Taxen und Gebühren haben wir für sie sowohl, wie für andere Wohnungen und Bethäuser erlassen. Diese Vorrechte sollen fünf Geschlechter, nämlich Jussuf Rabban und seine Nachfolger in gerader Linie, seine männlichen und weiblichen Kinder, seine Enkel von seinen Söhnen und Töchtern als erbliches Recht genießen, so lang die Erde und der Mond dauern. Unterzeichnet Swastri Sri und andere Fürsten.«17

Die Auswanderer unter Joseph Rabban fanden aber allem Anscheine nach bereits früher angesiedelte Familien in Indien vor, welche ebenfalls aus Persien in einer Zeit (231) eingewandert sein wollen, in der auch China seine jüdische Bevölkerung erhalten haben soll. Die Juden Ostindiens bestehen noch jetzt aus zwei Klassen, richtiger Kasten, welche durch Hautfarbe, Gesichtszüge, Gesittung und andere Eigentümlichkeiten so sehr voneinander verschieden sind, daß man sie kaum für Söhne eines und desselben Stammes erkennen kann. Es gibt an der Küste Malabar, im benachbarten Binnenland und auf der Insel Ceylon Juden mit weißer Hautfarbe, welche sich von Jerusalem nennen, und schwarze Juden, die sich in nichts von den Urbewohnern Indiens unterscheiden; diese betrachten sich als die ältesten. Zwischen diesen beiden Klassen besteht keinerlei Gemeinschaft, und die weißen jüdischen Familien sehen mit jenem Stolze, den die weiße Hautfarbe in allen Erdteilen als die bevorzugte besitzt, verächtlich auf ihre schwarzen Religionsgenossen herab. Die letztern sind allerdings sehr vernachlässigt, selbst in der Religion ihrer Väter unwissend, besitzen nur wenige Exemplare von der heiligen Schrift, und von der Tradition, sowie von ihrer eigenen Geschichte wissen sie gar nichts.18 Die weißen Juden Indiens glauben, lange vor Joseph Rabban, schon zur Zeit des assyrischen Königs Salmanassar, aus Jerusalem eingewandert zu sein und zu den zehn Stämmen zu gehören; in dem Gangesflusse erblicken sie das biblische Gosan, wohin die assyrischen Eroberer einen Teil der zehn Stämme versetzt hatten, und den Wunderfluß Sambation oder Sabbation, der sechs Tage fließen und am Sabbat ruhen soll, wollen sie in der Nähe der indischen Stadt Calicut entdeckt haben.

[374] Sobald nach Firuz' Tod der Schrecken der Verfolgung aufgehört hatte (485)19, kehrte im jüdischen Babylonien die alte Ordnung wieder zurück, die Lehrhäuser wurden geöffnet, die Schulhäupter ernannt, Sura und Pumbadita erhielten ihre letzten amoraïschen Führer, jenes in Rabina, dieses in R. Jos. Diese zwei Resch-Metibta und ihre Beisitzer kannten kein anderes Ziel, als die von R. Aschi begonnene Sammlung des Talmuds zu vollenden und abzuschließen. Die sich häufenden Leiden, die wahrscheinlich dadurch verringerte Teilnahme an den Studien, die Ungewißheit der Zukunft drängten zu diesem Abschluß. Rabina (fungierte 488-499) und R. José (471 bis um 520) werden in den alten Chroniken ausdrücklich als »das Ende der Amorazeit« (Sof Horaah) bezeichnet.20 Doch haben ohne Zweifel die Mitglieder der beiden Lehrhäuser, deren Namen noch erhalten sind, auch Hand an dieses Werk gelegt und werden daher als die letzten Amoräer betrachtet. Der bedeutendste unter ihnen war R. Achaï ben Huna aus Be-Chatim in der Nähe Nahardeas (starb 506), dessen Entscheidungen und Diskussionen sich durch eine eigene Wendung auszeichnen und von einer nüchternen Klarheit des Geistes und Scharfsinn zeugen. Wegen dieser Eigenschaften war R. Achaï auch außer Babylonien bekannt und geschätzt. Ein Sendschreiben, welches von Judäa an die babylonische Metibta gelangte und, so viel geschichtlich bekannt ist, wohl das letzte des verwaisten Mutterlandes an die Tochterkolonie war, spricht von ihm mit der größten Verehrung: »Vernachlässigt R. Achaï nicht, denn er erleuchtet die Augen der Golah.«21 – Nächst ihm war R. Samuel bar Abbahu (starb 507) aus Pumbadita geachtet, dessen Entscheidung in dem erwähnten Sendschreiben aus Judäa sanktioniert wurde. Die übrigen Amoräer dieser Zeit waren R. Rachumaï (starb 506), Rabina von Umza (starb 508), R. Acha ben Abuha (starb 511), die Brüder Techinah (oder Katina) und Mar-Sutra, Söhne R. Chaninas (starb 515). Diese bildeten den Schluß der Amoraperiode und den Anfang der saburäischen Zeit.22 Selbst der Exilsfürst R. Huna-Mar muß talmudische Kenntnis besessen haben, weil die den Exilarchen gar nicht holde Chronik ihn unter diese Reihe der Gesetzeslehrer aufzählt und ihm den Titel Rabbi einräumt.23 Seine Geschichte, [375] an welche sich bedeutende Vorgänge knüpfen, gehört in die nächstfolgende saburäische Periode.

Mit diesen Männern vereint, vollendeten Rabina und R. José den Ausbau des Talmuds, d.h. sie sanktionierten die von ihnen veranstaltete Sammlung aller vorangegangenen Verhandlungen und Entscheidungen als ein Fertiges und Abgeschlossenes, zu dem keine Zusätze und Erweiterungen hinzukommen sollten. Wenn auch spätere Einschiebsel im Talmud angetroffen werden, so charakterisieren sie sich als höchst unwesentlich und sind meist agadischer Natur, durch Sprache und Wendung dem Geübten so sehr kenntlich, daß sie mit den echten Bestandteilen nicht leicht verwechselt werden können.24 Dergleichen Zusätze waren allem Anschein nach ursprüngliche Randglossen, welche durch die Hand unkundiger Abschreiber die Ehre des Textes erlangt haben. Der Endabschluß des babylonischen Talmuds (auch Gemara genannt) fällt in das Todesjahr Rabinas (13. Kislew 2. Dez. 499), gerade in das Ende des fünften Jahrhunderts, als auf der arabischen Halbinsel Juden die ersten Keime zu einer neuen Religion und einem neuen Weltreiche legten, in Europa aus den Trümmern des alten Rom gothische und fränkische Königreiche entstanden. Der Talmud bildet einen Wendepunkt in der jüdischen Geschichte und wird von jetzt an ein wesentlicher Faktor in ihr.

Der Talmud ist nicht als ein gewöhnliches Schriftwerk, aus zwölf Bänden bestehend, zu betrachten, hat überhaupt mit keinem einzigen Literaturerzeugnis irgend eine innere Ähnlichkeit, sondern bildet, ohne Redefigur, eine eigene Welt, welche nach ihren eigenen Gesetzen beurteilt sein will. Es ist darum so außerordentlich schwer, eine Charakteristik desselben zu entwerfen, weil dazu alle Maßstäbe und Analogien fehlen. Eine solche dürfte daher kaum dem Begabtesten gelingen, wenn er auch tief in sein Wesen eingedrungen und mit seinen Eigentümlichkeiten innigst vertraut wäre. Allenfalls könnte man ihn mit der Literatur der Kirchenväter vergleichen, die sich zur selben Zeit gebildet hat. Allein bei näherer Betrachtung fällt auch dieser Vergleich weg. Es kommt hier aber auch weniger darauf an, was der Talmud an sich ist, sondern was er in der Geschichte, d.h. für die nachfolgenden Generationen war, deren Erziehung er hauptsächlich geleitet hat. Man hat den Talmud vielfach und zu verschiedenen Zeiten aus den entgegengesetztesten Gründen verurteilt, den Stab über ihn gebrochen und Scheiterhaufen für ihn angezündet, weil man nur seine Schattenseite ins Auge gefaßt hat, ohne auf seinen Wert Rücksicht zu nehmen, der allerdings erst durch den Gesamtüberblick über die ganze jüdische Geschichte aus Licht [376] tritt. Es ist nicht zu leugnen, daß der Talmud, d.h. der in Babylonien entstandene, mit einigen Mängeln behaftet ist, wie jedes Geistesprodukt, das eine einzige Richtung mit unerbittlicher Konsequenz und ausschließlicher Einseitigkeit verfolgt. Diese Mängel lassen sich in vier Rubriken zusammenfassen. Der Talmud enthält manches Unwesentliche und Kleinliche, welches er mit vieler Wichtigkeit und ernster Miene behandelt; er hat ferner aus seiner persischen Umgebung abergläubische Praktiken und Anschauungen aufgenommen, welche die Wirksamkeit von dämonischen Mittelwesen, von Zauberei, Beschwörungsformeln, magische Kuren und Traumdeutungen voraussetzen und dadurch mit dem Geiste des Judentums im Widerspruch stehen; er enthält manche lieblose Aussprüche und Bestimmungen gegen Glieder anderer Völker und Religionsbekenner, endlich begünstigt er eine schlechte Schriftauslegung, geschmacklose, oft wahrheitswidrige Deuteleien. Kein noch so leiser Hauch von Poesie weht durch seine Blätter, und man muß beim Lesen des Talmuds die Poesie der Bibel vergessen, ihre schmucklose und doch fesselnde Formenschönheit, die lebensvolle Beredsamkeit der Propheten, den himmelan tragenden Schwung der Psalmen, das gedankentiefe Buch Hiob, das alles muß man vergessen, wenn man dem Talmud nicht grollen und im Groll ihm nicht Unrecht tun will. Für diese Mängel hat man den ganzen Talmud verantwortlich gemacht und ihn als Kleinigkeitskram, als einen Quell der Unsittlichkeit und Unwahrheit verdammt, ohne in Erwägung zu ziehen, daß er nicht das Werk eines einzigen Verfassers ist, der für jedes Wort einstehen müßte. Über sechs Jahrhunderte liegen im Talmud versteinert in anschaulichster Lebendigkeit, in ihren eigenen Trachten, Redeweisen und Gedankenzügen, gewissermaßen ein literarisches Herkulanum und Pompeji, nicht geschwächt durch künstlerische Nachbildung, welche ein Riesenbild in verjüngtem Maßstabe auf einen engen Raum überträgt. Es ist demnach kein Wunder, wenn in dieser Welt Erhabenes und Gemeines, Großes und Kleines, Ernstes und Lächerliches, der Altar und die Asche, Jüdisches und Heidnisches nebeneinander angetroffen werden. Oft waren solche gehässige Aussprüche, an welche sich der Judenhaß angeklammert, weiter nichts als Äußerungen eines augenblicklichen Unmutes, die einem einzelnen entfahren und von allzu eifrigen Jüngern, welche keines der Worte von den verehrten Alten verloren gehen lassen mochten, aufbewahrt und dem Talmud einverleibt wurden. Sie werden aber reichlich von Lehren des Wohlwollens und der Menschenliebe gegen jedermann, ohne Unterschied der Abstammung und Religion, die nicht minder im Talmud aufbewahrt sind, aufgewogen. Als Gegengewicht gegen den wüsten Aberglauben finden sich scharfe Verwarnungen gegen die abergläubischen. [377] heidnischen Praktiken (Darke Amori), denen ein eigener Abschnitt unter dem Namen Perek Amoraï gewidmet war.25

Was den babylonischen Talmud besonders charakterisiert und ihn von dem jüdischen oder jerusalemischen unterscheidet, ist der Gedankenflug, die Verstandesschärfe, die Geistesblitze, die aufzucken und wieder verschwinden. Eine unendliche Fülle von Ge danken und Gedankenanregendes ist in dem Schacht des Talmuds niedergelegt, aber nicht wie ein fertiges Thema, das man sich halbschlafend aneignen könnte, sondern mit dem frischen Kolorit ihrer Entstehung. Der Talmud führt in die Werkstätte des Denkens ein, und man kann in ihm die Gedanken verfolgen, von ihrer ersten Regung an bis dahin, wo sie sich zuweilen in schwindelnder Höhe bis zur Unbegreiflichkeit erbeben. Aus diesem Grunde wurde er mehr als der jerusalemische das Grundbesitztum des jüdischen Volkes, sein Lebensodem, seine Seele. Er wurde den folgenden Generationen eine Familiengeschichte, in der sie sich heimisch fühlten, darin lebten und webten, der Denker in dem Gedankenstoffe, der Gemütsvolle in den verklärten Idealbildern. Die äußere Welt, die Natur und die Menschen, die Gewalten und Ereignisse, waren für die Generationen über ein Jahrtausend unwichtig, zufällig, ein bloßes Phantom, die wahre Wirklichkeit war der Talmud. Eine neue Wahrheit erhielt in ihren Augen erst dann den Stempel des Wahrhaften und Zweifellosen, wenn sie durch den Talmud belegt und sanktioniert schien. Selbst die Kenntnis der Bibel, die ältere Geschichte ihres Volkes, die Feuer- und Balsamworte ihrer Propheten, die Seelenergüsse ihrer Psalmisten waren für sie nur durch den Talmud und im Lichte des Talmud bekannt. Aber da das Judentum von seiner ersten Anlage an auf dem Boden des wirklichen Lebens beruht und der Talmud sich folglich mit konkreten Erscheinungen, mit den Dingen dieser Welt beschäftigen mußte, so konnte jenes Traumleben, jene Weltverachtung, jener Haß gegen die Wirklichkeit nicht aufkommen, die im Mittelalter das Einsiedlerleben der Mönche und Nonnen eingeführt und geheiligt haben. Freilich artete die im babylonischen Talmud vorherrschende Verstandesrichtung, durch klimatischen Einfluß und andere zufällige Umstände gefördert, nicht selten in Spitzfindigkeit und Scholastik aus, wie ja keine geschichtliche Erscheinung ohne Schattenseite besteht. Aber auch der Mißbrauch trug zur klaren Erfassung bei und ermöglichte den Aufschwung zur Wissenschaft. Die babylonischen Amoräer erzeugten jenen dialektischen, haarscharf denkenden jüdischen Geist, der die Zerstreuten in den schlimmsten Tagen vor Versumpfung und Verdummung [378] schützte. Es war der Äther, der sie vor Fäulnis bewahrte, die stets bewegende Kraft, welche die Trägheit und Lähmung überwand, ein ewig sprudelnder Quell, der den Geist immer frisch und regsam erhielt. Der Talmud war mit einem Worte der Erzieher des jüdischen Volkes, und diese Erziehung war keine schlechte, indem sie allen störenden Einflüssen der Ausnahmestellung, Erniedrigung und systematischer Entsittlichung zum Trotz im jüdischen Volke einen Grad von Sittlichkeit gepflegt, die selbst seine Feinde ihm nicht absprechen können. Er hat das religiöse und sittliche Leben des Judentums erhalten und gefördert, er hat den zonenweit zerstreuten Gemeinden eine Fahne gereicht und sie vor Zersplitterung und Sektiererei geschützt; er hat den Nachkommen die Geschichte ihres Volkes heimisch gemacht, endlich hat er ein tiefes Gedankenleben erzeugt, die Geknechteten und Gebrandmarkten vor Versumpfung bewahrt und für sie die Fackel der Wissenschaft angezündet. Wie sich der Talmud in das Bewußtsein der jüdischen Nation hineingelebt und den entfernten Gemeinden bekannt und zugänglich wurde, erzählt die Geschichte der folgenden Zeiten.


Fußnoten

1 Vergl. die talmudische Chronologie Note 1.


2 Note 37.


3 Baba Batra 12 b.


4 [So nach Mordtmann, l.c. Nach Nöldeke, Tabari Anfang A und Justi, Geschichte d. alten Persiens, p. 196 ff. war dies Jesdiǵerd II und dieser regierte 438-457].


5 Note 1.


6 Synhedrin 39 a.


7 Scherira berichtet nach einer alten Chronik, daß Jesdiǵerd (III.) getötet worden sei (Sendschreiben). Ähnliches referiert unter den morgenländischen Schriftstellern Eutychius (Annales I, 100): Yasdejerdo e medio sublato de regno contenderunt duo ipsius filii Phiruz et Ibernios (Hormuz III). Jesdiǵerd regierte nach Mordtmann 440-457 und sein Sohn Hormuz, oder wie er nach Mordtmanns Vermutung hieß אדרורדוח 457-458. Zeitschrift der deutschmorgenländischen Gesellschaft, VIII, S. 71.


8 [Vergl. die Bemerkung des Übers. S. 450].


9 Gittin 29 b.


10 Sabbat 119 a.


11 Hamza al-Isfahani, Annales, edit Gottwaldt, S. 56. [Vergl. Nöldeke, Tabari, p. 118, Anmerkung 4].


12 Note 1.


13 Sabbat 11 a.


14 Chullin 62 a.


15 Vergl. Ritters Erdkunde, Teil 5, S. 595 ff. nach den an Ört und Stelle angestellten genauen Forschungen von Buchanan.


16 Ein Faksimile der Inschrift dieser Erztafel befindet sich in der Universitätsbibliothek in Oxford.


17 Nach Jewish Intelligence, Jahrgang 1840, Februarheft.


18 Ritter das. Benjamin von Tudela, ed. Asher, hebräischer Text, S. 92.


19 Nach Mordtmann, a.a.O., S. 73.


20 Baba Mezia 86 a. Seder Tannaïm, Note 1. [Unsere Talmudausgaben haben אניבר und ישא 'ר. Der Verf. hat Lebrecht, Handschriften u. erste Ausgaben des babylonischen Talmuds, S. 2, A. 3 vor Augen. Vergl. jedoch Lewy, Interpretation des I. Absch. des palästinensischen Talmudtraktats Nesikin, S. 10, A. 1].


21 Note 38.


22 Note 38.


23 Seder Olam Sutta. Scherira.


24 Kerem Chemed, Jahrgang 1841, S. 249 ff.


25 Sabbat 66 a. Tosifta, c. 7, 8.



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 381.
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