6. Der Ruf aus der Türkei an die Juden Deutschlands, das Land ihres Elends zu verlassen; Isaak Zarfati; Mardochaï Comtino und Obadja Bertinoro.

[437] Ein höchst interessantes Sendschreiben eines sonst unbekannten Schriftstellers, Isaak Zarfati, das sich in der Bibliothèque von Paris (abwechselnd royal, und impériale nationale genannt, ancien fonds No. 291) befindet, hat Jellinek veröffentlicht in einem Hefte ן"נ?ת תורזנ סרטניק, zur Geschichte der Kreuzzüge (Leipzig 1854, p. 14 ff.). Der Anfang lautet: לא תרגא ץרא בטימ םהל עידוהל זנכשאב םיאצמנה םידוהיה שדקה תולהק לאעמשי תוכלמ ןורתיו המרגות. Der Eingang giebt an, daß zwei deutsche Juden, welche einerseits das Elend und die Verfolgung der deutschen Juden gesehen oder mitempfunden und andererseits die Ruhe und glückliche Lage der Juden in der Türkei wahrgenommen hatten, den Verfasser, Isaak Zarfati, ermuthigt haben, ein Sendschreiben an die Juden von Schwaben, des Rheinlandes, von Steiermark, Mähren und Ungarn zu erlassen, um sie aufzufordern, ihre elende Heimath aufzugeben und nach der Türkei auszuwandern: וליחו תיראש לא בותכל (ןהכ דוד 'ר וריבח םע ןמלק 'ר רוחבה) ינפ םינכושה זנכשאב םיאצמנה םידוהיה שדקה תולהק הטילפה םהל עידוהל ןירגנואו ןירהרמ קרהמרייטש סונירו ןבאווש ירעב ץראה בטימ. Der Gegensatz zwischen dem Drucke in Deutschland und der Freiheit in der Türkei kann nicht drastischer geschildert werden, als in diesem Sendschreiben, das, obwohl in einem eigenartigen Musivstyl geschrieben, mit biblischen und talmudischen Phrasen durchzogen, wegen der Originalität einen sehr wohlthuenden Eindruck macht. Es ist nur Schade, daß sich darin kein Datum für die Abfassungszeit befindet, weil erst dadurch die Situation und das Colorit recht verständlich wären.

Die Ansichten über das Zeitalter dieses Sendschreibens gehen daher auseinander. Jellinek versetzt es sehr früh in den Anfang des dreizehnten Jahrhunderts, noch zur Zeit der Kreuzzüge (a.a.O. Einleitung S. VI). Einige reihen es in das sechszehnte Jahrhundert ein: im Anfange oder gegen die Mitte desselben (Kerem Chemed. IX, p. 49, Levy, Don Joseph Naßi, S. 32 f.). Beide Annahmen haben Vieles gegen sich. Gegen die erstere ist einzuwenden, daß das Sendschreiben den Bestand der europäischen Türkei voraussetzt; denn es fordert eben die deutschen Juden auf, nach der Türkei auszuwandern oder dieses Land zum freien Durchzuge zu benutzen, um nach Palästina überzusiedeln (p. 15): ךרד תרחא ךרד םשו ומע 'ה דקפ יכ (השודקה ץראל) המש םונל הבורקו החוטב השבי ךרד המרגות. Aber die Eroberung Konstantinopels fällt erst 1453. So kann diese Schrift nicht zur Zeit der Kreuzzüge verfaßt sein. Gegen die auf nichts begründete Ansicht, daß es erst im XVI. Saeculum verfaßt worden sei, spricht das gewichtige Bedenken, daß es kein Wort von der massenhaften Einwanderung der spanischen und portugiesischen Juden nach der Türkei enthält. Es hätte doch wohl am meisten Gewicht darauf legen sollen, wie gastfreundlich die unglücklichen Juden der pyrenäischen Halbinsel in der Türkei aufgenommen worden, wenn es nach 1492 und 1497 erlassen worden wäre. Wie anders lautet das Einladungsschreiben vom J. 1550 der Salonicher an die Gemeinden der Provence, ihr elendes Leben in der Christenheit mit dem glücklichen Dasein unter dem Islam zu vertauschen (Revue d. Et. XV. f.) Es erinnert an das Unglück der Verbannten aus der pyrenäischen Halbinsel.

[437] Zutreffender ist die Vermuthung, welche im Katalog der hebräischen Codices der Leydener Bibliothek aufgestellt ist (p. 262, Note 2), daß der Verfasser des Sendschreibens identisch ist mit jenem Isaak Zarfati, welcher mit Mardochaï Comtino17 correspondirt hat (Codex a.a.O. bei Wolf Bibliotheca III, p. 718, No. 3): Respondet ibi (Mardochaeus Comtino) ad epistolam Rabi Isaaci Galli (יתפרצ קחצי), qui ab ipso petierat, ut commentario illustraret ea, quae Aristoteles de Logica et Maimonides de vocibus logicis scripserint etc. Freilich ist dadurch für die Abfassungszeit unseres Sendschreibens nicht viel gewonnen. Einmal beruht die Identificirung dieses Isaak Zarfati mit Comtino's Correspondenten lediglich auf Conjectur, und dann ist das Zeitalter des Mardochaï Comtino nicht bestimmt genug umgrenzt. Seinen Pentateuch-Commentar verfaßte Comtino im Jahre 1460 (Wolf III, p. 718, IV, p. 904). Er scheint aber noch 1490 gelebt zu haben; denn der Karäer Elia Baschjazi, der ihn öfter als seinen Lehrer in seinem Werke והילא תרדא citirt, nennt ihn noch als einen Lebenden in der Abhandlung über Reinheit und Unreinheit (p. 78a): 'ר םכחה ירומו הרותה שוריפב רמא וניטמוכ יכדרמ. Nun schrieb Baschjazi diesen Theil kurz vor seinem Tode, 1490, wie sein Jünger Kaleb Afendopolo bemerkt zum Schlusse des genannten Werkes): רבח הרהטו האמוט ןינע רד?ש עדו ומילשה אלו ן"ר 'ה תנשב הזו וימי ףו?ב (יצישב הילא)). Es ist also möglich, daß Mardochaï Comtino oder sein vielleicht jüngerer Correspondent Isaak Zarfati noch bis in's sechszehnte Jahrhundert hinein gelebt haben, und daß das Sendschreiben erst im Anfange desselben verfaßt worden wäre.

Es läßt sich aber ein direkter Beweis führen, daß es noch im 15ten Jahrhundert erlassen worden, und man kann fast das Jahr seiner Abfassung fixiren. Denn Isaak Zarfati's Sendschreiben hebt besonders hervor, daß die deutschen Juden verhindert sind, über's Meer auszuwandern und eine Ruhestätte im heiligen Lande zu suchen. Gleich am Anfange: הריזגל הריזג הרזגנ ושכעז םייחה ץרא םלשורי לא אבל) רובעל ידוהי םוש םיחינמ םניאו (שדק תמדא. Es heiße unter den Christen, die Juden hätten den Tempelberg angekauft, und sie würden sich nicht scheuen, das sogenannte heilige Grab zu erwerben und es zu schänden (p. 18): ןויצ תיב רה ונק םידוהיה תיבז ללוגהו קפודה תרובק תונקל ושובי אל שוב םג ..... יוגב הנומא ןיא .ותרובק תא שיא [jedaʽ] עדי אל התעו ותבצחמ ירעשל האלהמ ךלשה בוחס רבקי רומח תרובק ,רבקב יליפא םלשורי. Darum haben die christlichen Völker einen Befehl erlassen, daß jeder Jude, der die Reise nach Jerusalem anträte, von den Schiffsleuten in's Meer geworfen werden sollte (p. 19): לע אתכלהכ אלד ורזג ןכא רשא ידוהי לכ לבוהו ריעבמב רוטפו לקלקמ תויהל לבוחה בר הנואש לאו םיה לא וליטהל הניפסה יתכריב םלשורי ךרד אצמי .... [438] Es sei mehr denn zehn Jahre, seitdem sich die Nachricht von diesem unmenschlichen Befehl verbreitet hat (das.): רתוי התע םינמז ןמז הז ונעמש הלא לכ תא הרס זאמ יכ וניהלא ריעב וניאר ןכ ונעמש רשאכו .םינש הרשעמ תא ולאש רומאל שרוד ןיאו אב ןיאו אצוי ןיא ... (?) הארונה םלשורי םולש.

Aufschluß über dieses Verbot, die Juden nach Palästina auswandern zu lassen, und über die Zeit seines Erlasses giebt ein anderes interessantes Sendschreiben, welches erst jüngsthin veröffentlicht wurde. Im Besitze des Herrn Uri Günzburg in Paris befinden sich nämlich zwei Briefe des bekannten Obadja da Bertinoro, die Neubauer im Jahrbuche des Literatur vereins edirt und übersetzt hat (von S. 195 ff.). Den ersten Brief hat der Verfasser an seinen Vater gerichtet und dadirt 8. Ellul 5248 = 1488, und den zweiten an seinen Bruder von dem darauf folgenden Jahre, 27. Ellul 1489. Die Echtheit der Obadjanischen Briefe ist unzweifelhaft. Der Inhalt ist durchweg historisch gehalten. Manches darin, wie über die Zustände Jerusalems, wird auch anderweitig von Israel Isserlein und Joseph Kolon bezeugt (vergl. oben Seite 278 ff.). Bezeugt wird eins dieser beiden Sendschreiben von Asulaï s.v. תוינשמה שרפמ הידבוע 'ר p. 46 a: בתכה ןגשתפ שיו הנממ קתעה יתיארז ויבאל םלשורי ק"העמ הידבוע וניבר חלשש ויבא רמ יבמ קיפנ יכמ ... דובעה תשרפ לכב העידי הב שיש תא ..... ןומא אנ דע םיב וגלפיגראה ךרד אבו םילשוריל ואוב דע ... ח"מר תנשב היה הז לכו. Factum und Datum sind also unzweifelbar.

Nun kommt im ersten Briefe des Obadja da Bertinoro folgender Bericht vor (p. 219). Die Franciskaner, welche damals eine Kirche oder Kapelle bei den Königsgräbern hatten, besaßen früher auch die sogenannten Königsgräber. Ein deutscher Jude wollte sie aber vom Sultan an sich kaufen, gerieth aber dadurch in einen Streit mit den Franciskanern. Zuletzt brachten sie die Mohammedaner an sich. Als die Nachricht davon, daß durch die Juden aus christlichen Ländern die Königsgräber den Christen entzogen worden waren, nach Europa gelangte, beschlossen die Venetianer, keinen Juden durch ihr Gebiet (und auf ihren Schiffen) nach Jerusalem reisen zu lassen. Gegenwärtig aber, bemerkt Obadja, ist dieser Befehl aufgehoben, und es kommen jedes Jahr auf venetianischen Schiffen und selbst mit christlichen Pilgern Juden in Jerusalem an; denn es ist die kürzeste und sicherste Route (über Venedig nach dem heiligen Lande). »Hätte ich das gewußt, so würde ich denselben Weg eingeschlagen und nicht eine so lange Zeit auf Umwegen zugebracht haben; denn in vierzig Tagen fahren die Schiffe von Venedig bis hierher«: םימיה רבכשבו יד םירמיכה די תחת) םדי תחת ויה ןכ םג םיכלמה תורבק םתינקל שקבו רישע דחא יזנכשא םלשוריב הפ אבו .(וקשיצנרפ םתוא וחקל אוהה םויהמו .םירמוכה םע טטוקתנו ךלמה תאמ רבדה עדויו ,םילאעמשיה די תחת התע םהו .םירמוכה תאמ םיכלמה תורבק תחקל ומרג םודאמ םיאבה םידוהיה יכ האיציניוב םלשוריב םידוהיל אבו אצוי תת יתלבל ורזג .םיימודא די תחתמ םידוהי םיאב הנשו הנש לכבו .הרזגה הלטב ושכעו .םצרא ךרד רצקו חטב רבעמ ןיאו םמצע ינירגלפה םעו ינאיציניו יאילגה םע יתמהמתה אל (זא) יכ .םהה תולילגב הז יתעדי ןתי ימו .והומכ יאילגה ואובי םוי םיעבראב יכ .יתבשי רשי רשא םימיה לכ ךררב הנה דע איציניומ רתויה לכל.

Dieser Bericht giebt nun Licht für das Sendschreiben des Isaak Zarfati. Als Obadja da Bertinoro seine palästinensische Reise antrat, Kislew 1486, bestand noch das Verbot, daß die Juden nicht auf venetianischen Schiffen zur Auswanderung nach Palästina auf dem kürzesten Wege zugelassen werden sollten, oder er glaubte es noch in Kraft. Daher machte er den Umweg über-Neapel, Sicilien, Rhodus und Alexandrien. Als er aber in Jerusalem angekommen war (Nissan 1488), erfuhr er, daß das Verbot bereits aufgehoben [439] war, und daß seit einigen Jahren Juden auf venetianischen Schiffen zur Uebersiedelung nach Palästina wieder, wie ehemals, zugelassen werden. Von diesem Verbote spricht nun ganz entschieden das Sendschreiben des Isaak Zarfati. Es ist also jedenfalls vor 1488 abgefaßt. Signore Mose Lattes in Venedig hat nun im venetianischen Archiv das Aktenstück gefunden, in welchem der Doge den Schiffscapitänen untersagt, Juden auf venetianischen Schiffen nach Palästina zu befördern, weil die Juden dem Mönchsconvent auf dem Berge Zion injuriae et extorsiones zugefügt hätten. Dieses Aktenstück ist datirt 4. Juni 1428. (Vergl. Frankel-Graetz, Monatsschr., Jahrg. 1873, S. 283). Eine Bagatellsache wurde von den Franciskanern und dem Papst in die Interessensphäre der Gesammtchristenheit gezogen. Der Guardian der Minoriten in Jerusalem hatte sich beklagt, daß, weil die Juden die sogenannte Davidskapelle ihnen entzogen, d.h. an sich gekauft hatten, dem Orden himmelschreiende Gewaltthat von denselben zugefügt worden sei: Guardiano et Coventui Montis Zion ordinis Minorum per Judaeos factae fuerunt multae iniuriae et extorsio nes auferentes eis monasterium et capellam David: Darauf erließ der Papst eine Bulle: qua inhibuit omnibus, qui mare navigant, sub pena excommunicationis, quod non possent supra eorum navigiis Judeum aliquem levare. Daraufhin haben der Doge und der Senat von Venedig allen ihren Agenten und Capitänen verboten, Juden aufzunehmen. Das Datum muß indeß richtig gestellt werden. Isaak Zarfati spricht von mehr als 10 Jahren seit dem Erlaß des Verbotes, das Aktenstück der venetianischen Behörden datirt 1428, so müßte das Sendschreiben um 1440 erlassen sein; allein damals gab es noch nicht eine europäische Türkei. Die Emendation in םירשע statt הרשע scheint mir hinterher unberechtigt, da die Zahl 10 Jahre zweimal vorkommt. Zu beachten ist aber die verschiedene Angabe über das Verbot. Der Papst und der Senat verboten lediglich, Juden auf christlichen Schiffen aufzunehmen. Zarfati berichtet aber noch, daß die Ordre gelautet habe, einen auf einem Schiffe der Levante betroffenen Juden in's Meer zu werfen: םיה לא וליטהל. Das ist offenbar eine Verschärfung. Diese muß wohl in den vierziger Jahren erlassen worden sein, und die »10 Jahre später« fallen zwischen 1453-1460. Das Sendschreiben ist demnach innerhalb dieser Zeit erlassen. Da nun dieser Epistolator Isaak Zarfati zu gleicher Zeit mit Mardochaï Comtino und zwar in der Türkei gelebt hat, so wird dadurch die Identität des selben mit dem Correspondenten Comtino's bestärkt. Die Thatsachen, welche in diesem Sendschreiben hervorgehoben werden, erhalten erst durch die chronologische Einreihung ihre bestimmte geschichtliche Bedeutung. Wir besitzen demnach an Zarfati's und Obadja's epistolarischer Hinterlassenschaft zwei Urkunden über die Zustände der Juden in einem Theile des christlichen Europa, in Aegypten, der Türkei und Palästina in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts, wie sie nicht authentischer gehalten sein können.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1890], Band 8, S. 437-440.
Lizenz:
Faksimiles:
437 | 438 | 439 | 440
Kategorien:

Buchempfehlung

Musset, Alfred de

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon