Die Entzifferung der Hieroglyphenschrift

[5] 148. Mit dem Siege des Christentums ist seit dem Ende des dritten Jahrhunderts n. Chr. das Verständnis der »heiligen« aegyptischen Hieroglyphenschrift sowohl in ihrer monumentalen Form wie in der ihr zur Seite gehenden Cursive, dem sogenannten Hieratischen, erloschen; und auch die aus diesem durch weitere Abkürzung im ersten Jahrtausend entstandene demotische Schrift, die zu geschäftlichen Dokumenten, Briefen, populären Literaturwerken verwendet wurde, verschwindet mit dem Siege der neuen Religion. An ihrer Stelle haben die Christen die in mehrere Dialekte zerspaltene Volkssprache der Kaiserzeit, die als Koptisch bezeichnet wird, mit einem aus dem Griechischen abgeleiteten Alphabet geschrieben und in ihr eine ziemlich umfangreiche, fast ausschließlich religiöse Literatur erzeugt. Seit dem siebzehnten Jahrhundert ist auch die koptische Sprache durch das Arabische völlig verdrängt; nur noch als Kirchensprache fristet sie, von wenigen Priestern notdürftig verstanden, ein kümmerliches Dasein. Von den gewaltigen Denkmälern des Niltals hat sich die Kunde immer erhalten; und die über Europa zerstreuten, mit Hieroglyphen bedeckten Denkmäler, die dann durch Reiseberichte und wenig zuverlässige Abbildungen einheimischer Monumente vermehrt wurden, haben seit dem siebzehnten Jahrhundert wiederholt zu Entzifferungsversuchen gereizt, die freilich vollständig mißglückten. Wie man an alle Kulturschöpfungen des alten Orients mit phantastischen Vorstellungen von uralter[5] geheimnisvoller Weisheit herantrat, die durch tiefsinnige Symbole dem profanen Auge verschleiert sei, so betrachtete man vollends die scheinbar von jeder anderen Schriftweise abweichende Bilderschrift Aegyptens als ein Mysterium, im Anschluß an die auf den Spielereien der aegyptischen Spätzeit und halbverstandener Kunde beruhenden Angaben griechischer Schriftsteller. Eine sichere Grundlage hat erst die Erschließung des Niltals durch die Expedition Napoleons, aus der das große Sammelwerk der Déscription de l'Egypte (1809ff.) hervorging, und die Auffindung des in hieroglyphischer, demotischer und griechischer Sprache und Schrift abgefaßten Priesterdekrets für Ptolemaeos V. (197 v. Chr.) auf einem Stein in Rosette geschaffen. Nach manchen tastenden und nicht zum Ziel führenden Versuchen Anderer gelang es im Jahre 1822 dem genialen Franzosen FRANÇOIS CHAMPOLLION, nicht nur die in Hieroglyphen geschriebenen griechischen (und dann auch die älteren) Eigennamen richtig zu lesen, sondern sofort auch mit der Intuition des Genius, der sich durch langjährige methodische Vorbereitung und Durcharbeitung des Materials eine feste Grundlage geschaffen hatte, zu einem in den entscheidenden Punkten zutreffenden Verständnis aller ihm erreichbaren Inschriften und Papyri vorzudringen. Seine Leistung hat in aller Geschichte der Wissenschaften kaum ihresgleichen: als ihn nach der Rückkehr von einer Forschungsreise nach Aegypten im Jahre 1832 ein früher Tod hinwegraffte, standen ihm die Grundzüge nicht nur der Sprache sondern auch der Geschichte des alten Aegyptens klar und richtig vor Augen.


CHAMPOLLION hat nur einen Bruchteil seiner Ergebnisse selbst veröffentlichen können; anderes ist aus seinem Nachlaß nur unvollständig und zum großen Teil erst spät veröffentlicht worden. So hat erst das vortreffliche, von HERMINE HARTLEBEN geschaffene Lebensbild (Champollion, sein Leben und sein Werk, 2 Bde., 1906) einen vollen Einblick in den gewaltigen Umfang seiner Leistung und die Phasen, durch die er sich zur Erkenntnis durchgerungen hat, gegeben. Äußerst lehrreich ist der Widerspruch zwischen unhaltbaren theoretischen Postulaten (von denen er sich in bezug auf das Wesen der Schrift nicht völlig hat freimachen [6] können) und dem klaren und erstaunlich raschen Erfassen der wirklichen Tatsachen, das ihm nur durch seine langjährigen, unermüdlichen Vorarbeiten möglich war. – Die auf seiner Reise gesammelten Inschriften und Darstellungen (Monuments de l'Egypte et de la Nubie, 4 vol., 1835ff.) sind gleichzeitig auch von seinem Schüler und Reisegefährten ROSELLINI (Monumenti dell' Egitto e della Nubia, 3 Teile, 1832ff.) herausgegeben worden. Dazu als Ergänzung: CHAMPOLLION, Lettres écrites d'Egypte et de Nubie, und Notices déscriptives (die Ausgabe begonnen von seinem Bruder CHAMPOLLION-FIGEAG, fortgesetzt von E. DE ROUGÉ und G. MASPERO (1844-1879).


149. Die durch CHAMPOLLION begründete Aegyptologie ist innerhalb des nächsten Menschenalters zu einer festbegründeten und allseitig durchgebildeten Wissenschaft erwachsen. RICHARD LEPSIUS (seit 1835) und EMANUEL DE ROUGÉ (seit 1846) haben durch zahlreiche Einzeluntersuchungen nicht nur den Bestand unseres Wissens stetig gemehrt, sondern zugleich eine streng methodische Forschung begründet und dadurch den phantastischen Dilettantismus, der sich auch hier der lockenden Beute zu bemächtigen suchte, aus der Wissenschaft hinausgewiesen. Zugleich schuf LEPSIUS durch vortreffliche Textpublikationen und vor allem durch die systematische Erforschung der Denkmäler Aegyptens und Nubiens als Leiter der preußischen Expedition 1842-1845 und die Veröffentlichung des gesammelten Materials in historischer Ordnung in dem gewaltigen Denkmälerwerk (1849ff., in 6 Abteilungen) die Grundlage zu allen weiteren Forschungen. In den folgenden Jahrzehnten ist das Material vor allem durch A. MARIETTES umfassende Ausgrabungen vermehrt worden. Inzwischen war durch DE ROUGÉ, CHABAS und GOODWIN mit glänzendem, tastend das Richtige herausfühlendem Scharfsinn das Verständnis der hieratischen Papyri und der in ihnen erhaltenen Literatur und Aktenstücke erschlossen worden. Alle anderen übertraf an Genialität und fruchtbringender Vielseitigkeit H. BRUGSCH (seit 1849, wo ihm die Entzifferung des Demotischen gelang); er würde CHAMPOLLION ebenbürtig zur Seite stehen, wenn nicht neben seiner gewaltigen Arbeitskraft und glänzenden Kombinationsgabe der Abenteurersinn, der ihn im Leben beherrschte, [7] auch seine wissenschaftlichen Leistungen beeinflußt hätte. Die Auffindung einer neuen großen Bilingue, des Priesterdekrets von Kanopos unter Ptolemaeos III. Euergetes (238 v. Chr.) auf einer Stele in Tanis, durch LEPSIUS im Jahre 1866 machte den Kontroversen über die Lesung der Schrift definitiv ein Ende, indem sie CHAMPOLLIONS System durchweg bestätigte. Seitdem hat der innere Ausbau der Wissenschaft begonnen. Für die nächste und dringendste Aufgabe, die Feststellung einer sprachwissenschaftlich begründeten Grammatik, welche die einzelnen Perioden der langen sprachlichen Entwicklung scheidet, und für die philologische Einzelinterpretation der Texte sind die Arbeiten von A. ERMAN (seit 1878) grundlegend gewesen; an sie schließen sich die umfassenden Vorarbeiten für ein großes Wörterbuch, die jetzt der Vollendung entgegengehen. Zugleich hat ERMAN in seinem Werk »Aegypten und aegyptisches Leben im Altertum« (1885ff.) die geschichtliche Auffassung in die Behandlung der Kulturgeschichte Aegyptens hineingetragen und die drei Hauptepochen in ihrer Eigenart scharf und sicher charakterisiert. ERMAN sind dann zahlreiche jüngere Forscher zur Seite getreten, wie G. STEINDORFF, K. SETHE, H. SCHÄFER, L. BORCHARDT, W. SPIEGELBERG, J. H. BREASTED. Inzwischen ist die systematische Erschließung des unerschöpflichen Materials, welches der Boden Aegyptens birgt, ununterbrochen gefördert worden, vor allem durch die Ausgrabungen FL. PETRIES und E. NAVILLES und des Egypt Exploration Fund's, durch die Arbeiten von GRIFFITH, und durch die großen, von G. MASPERO geleiteten Unternehmungen. Wie MASPERO seit 1867 in zahlreichen Arbeiten die Erkenntnis der Kultur und Literatur, der politischen und religiösen Entwicklung Aegyptens gefördert hat, so hat er als umsichtiger und liberaler Leiter der aegyptischen Altertumsverwaltung, als Herausgeber des von MARIETTE hinterlassenen Werks über die Mastabas, und als erster Herausgeber und Übersetzer der Pyramideninschriften seinen Namen mit den wichtigsten Entdeckungen der letzten Jahrzehnte dauernd verknüpft.


[8] Für die Geschichte der ersten Epoche der Aegyptologie vgl. die Übersicht bei G. EBERS, Richard Lepsius, ein Lebensbild, 1885. BRUGSCHS Stärke lag in seinem sicheren divinatorischen Blick und in der vollen Beherrschung eines äußerst umfassenden Materials; doch hat er sich zugleich sehr ernstlich bemüht, streng methodisch zu arbeiten, freilich nicht immer mit vollem Erfolg. Das Problematische seiner Persönlichkeit, das in seinem Lebensgang sehr stark hervortrat, hat auch seine Arbeiten beeinflußt. Dadurch war er dem ganz anders gearteten LEPSIUS durchaus antipathisch. Das hat die verhängnisvolle Folge gehabt, daß, als BRUGSCH schon 1857 in seinen bahnbrechenden »Geographischen Inschriften« den Lautwert der hieroglyphischen Buchstaben, die sämtlich Konsonanten sind, in allem Wesentlichen richtig erkannt hatte, LEPSIUS mit großer Energie dagegen auftrat (im Königsbuch 1858) und dadurch das Durchdringen der richtigen Erkenntnis und damit eines tieferen Verständnisses der Grammatik auf Jahrzehnte hinaus verhindert hat. Auch als er 1874 anerkennen mußte, daß die Hieroglyphenschrift weit mehr Laute unterscheidet als das Koptische und die ältere, auf CHAMPOLLION zurückgehende Umschrift, setzte er die Annahme eines irreführenden Transskriptionssystems durch (mit den sinnwidrigen Zeichen ạ, ā, t' u.a.), das noch jetzt vielfach befolgt wird. Dadurch ist die Einführung einer rationellen und allgemein verständlichen Umschrift noch mehr erschwert worden, als die in den Mängeln des hieroglyphischen Alphabets [namentlich in den bizarren Schreibungen der Ptolemaeerzeit] und dem Fehlen einer Vokalbezeichnung liegenden Schwierigkeiten nötig gemacht hätten. Die Nachwirkung der älteren aegyptologischen Tradition und der Mangel an sprachwissenschaftlicher Schulung ver anlaßt noch jetzt viele Forscher, namentlich in Frankreich und England, an den seltsamsten Schreibweisen festzuhalten.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 5-9.
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