Nachmittagssitzung.

[588] GERICHTSMARSCHALL: Ich möchte dem Hohen Gerichtshof mitteilen, daß der Angeklagte Kaltenbrunner krankheitshalber der Nachmittagssitzung nicht beiwohnen wird.

M. FAURE: Hoher Gerichtshof, ich möchte den Zeugen van der Essen aufrufen.


VORSITZENDER: Sehr gut.


[Der Zeuge betritt den Zeugenstand.]


Wie heißen Sie?

ZEUGE VAN DER ESSEN: Van der Essen.

VORSITZENDER: Schwören Sie, ohne Haß oder Furcht zu sprechen, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nur die Wahrheit zu sagen!

Erheben Sie die rechte Hand und sägen Sie: »Ich schwöre es.«!


VAN DER ESSEN: Ich schwöre es.


VORSITZENDER: Sie können sich hinsetzen, wenn Sie wollen.


M. FAURE: Herr van der Essen, Sie sind Geschichtsprofessor an der literaturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Loewen?


VAN DER ESSEN: Ja.


M. FAURE: Sie sind Generalsekretär der Universität Loewen?


VAN DER ESSEN: Ja.


M. FAURE: Sie sind während der ganzen Besatzungszeit in Belgien gewesen?


VAN DER ESSEN: Seit Ende Juli 1940 habe ich Belgien nicht verlassen.


M. FAURE: Können Sie uns über die Zerstörung der Bibliothek von Loewen Auskunft geben?


VAN DER ESSEN: Wie man sich erinnern wird, war diese Bibliothek, die sicherlich eine der am besten ausgestatteten Universitätsbibliotheken ganz Europas war, insbesondere was Inkunabeln, Manuskripte und Bücher des 16. und 17. Jahrhunderts betrifft, bereits 1914 systematisch durch Brandfackeln zerstört worden und zwar von den deutschen Soldaten des vom General von Böhn befehligten IX. Reserve-Armeekorps.

Diesmal, 1940, hat sich dasselbe wiederholt. Die Bibliothek ist vom deutschen Heer systematisch zerstört worden. Zum besseren Verständnis muß ich zu erst sagen, daß der Brand nach allen Zeugenaussagen in der Nacht vom 16. zum 17. Mai 1940 um 1.30 Uhr [588] morgens anfing. Genau bei Morgengrauen des 17. Mai unternahm das englische Heer das erforderliche Absetzmanöver, um die Verteidigungsstellung KW aufzugeben. Andererseits steht unbedingt fest, daß die ersten deutschen Truppen erst am 17. morgens gegen 8 Uhr eingerückt sind.

Diese Zeitspanne zwischen dem Abrückender englischen Truppen und dem Einrücken der Deutschen hat den letzteren gestattet, die Legende einer systematischen Zerstörung der Bibliothek durch die britischen Truppen zu verbreiten.

Ich muß hier diese Lesart feierlichst widerlegen: Die Universitätsbibliothek von Loewen ist durch deutschen Artilleriebeschuß planmäßig zerstört worden. Zwei Batterien waren aufgefahren, die eine im Dorf Corbeck und die andere im Dorf Lovenjoul. Diese beiden Batterien, eine jede von ihrer Seite, zielten systematisch auf die Bibliothek und zwar nur auf die Bibliothek. Der beste Beweis dafür ist, daß die Geschosse sämtlich auf die Bibliothek fielen. Durch Zufall wurde lediglich ein einziges Haus in dem Viertel, in dem sich die Bibliothek befindet, getroffen. Der Turm der Bibliothek wurde elfmal getroffen, viermal von der Batterie von Lovenjoul und siebenmal von der Batterie von Corbeck. Als die Batterie von Loven joul im Begriff war, das Feuer zu eröffnen, hat ihr kommandierender Offizier einen Einwohner des Dorfes Vigneron ersucht, ihn auf die Felder zu begleiten. Als sie an einer Stelle angelangt waren, von der aus man den Turm der Bibliothek erblicken konnte, fragte der Offizier: »Ist das der Turm der Universitätsbibliothek?« Die Antwort lautete: »Jawohl«. Der Offizier fragte nochmals: »Sind Sie dessen sicher?« »Aber ja«, antwortete der Bauer, »denn ich sehe ihn alle Tage, wie Sie ihn jetzt sehen.« Fünf Minuten später begann das Feuer und eine Rauchsäule stieg sogleich ganz nahe am Turm empor. So kann es absolut keinen Zweifel geben, daß diese Beschießung systematisch und einzig und allein auf die Bibliothek abgezielt war.

Andererseits steht auch fest, daß ein kleines Geschwader von 43 Flugzeugen die Bibliothek überflog und Bomben auf das Gebäude warf.


M. FAURE: Herr van der Essen, Sie sind Mitglied der offiziellen belgischen Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen?


VAN DER ESSEN: Ja.


M. FAURE: Sie haben als solches über diese uns soeben geschilderten Ereignisse Untersuchungen angestellt?


VAN DER ESSEN: Ja.


M. FAURE: Die Auskünfte, die Sie dem Gerichtshof gegeben haben, sind also Ihre eigenen Untersuchungsergebnisse und das, was Sie selbst von den Zeugen gehört haben?


[589] VAN DER ESSEN: Was ich hier erklärt habe, ist tatsächlich das Ergebnis der offiziellen Untersuchung, die von der belgischen Kommission für Kriegsverbrechen mit eidlich vernommenen Zeugen durchgeführt wurde.


M. FAURE: Können Sie Angaben machen über die Nazifizierung Belgiens durch die Deutschen und insbesondere über die Eingriffe in die normalen und verfassungsmäßigen Einrichtungen des Staates?


VAN DER ESSEN: Selbstverständlich! Zuerst glaube ich, ist es interessant zu zeigen, daß die Deutschen eines der Grundprinzipien der Verfassung und der Einrichtungen Belgiens verletzten, das in der Trennung der Gewalten besteht, nämlich die Trennung in die richterliche, die vollziehende und die gesetzgebende Gewalt. Denn in zahlreichen Einrichtungen der neuen Ordnung, die sie selbst entweder durch Verordnung oder dadurch, daß sie deren Schaffung Kollaborateuren nahelegten, ins Leben riefen, haben sie immer die gesetzgebende und die vollziehende Gewalt zusammengelegt. Andererseits wurden Redefreiheit und Verteidigungsrecht niemals oder nur sehr schlecht berücksichtigt.

Aber viel wichtiger ist die Tatsache, daß sie sich einer Einrichtung bemächtigt haben, die sehr weit in unsere Geschichte, bis ins Mittelalter, zurückgeht. Ich meine die selbständige Kommunalverwaltung, die uns, das Volk, gegen alle gefährlichen Eingriffe der Zentralgewalt schützt.

Auf diesem Gebiet hat sich folgendes zugetragen: Man braucht nur die jetzt erscheinenden belgischen Zeitungen zu lesen oder eine Zeitlang gelesen zu haben, um festzustellen, daß die Bürgermeister, also die Spitzen der Gemeinde, die Ratsherren der hauptsächlichsten belgischen Städte wie Brüssel, Gent, Lüttich, Charleroi, und auch vieler kleinerer Städte, daß alle diese Ratsherren und Bürgermeister sich entweder im Gefängnis befinden oder vor einem Kriegsgericht erscheinen sollen; dies beweist, glaube ich, zur Genüge, daß diese Bürgermeister und Ratsherren nicht diejenigen sind, die der König und die Belgische Regierung vor 1940 ernannt hatten, daß sie alle vielmehr Leute waren, die vom Feind mittels der V.N.V.-Kollaborateur-Gruppen oder der Rexisten eingesetzt worden waren.


VORSITZENDER: Sie sprechen immer noch zu schnell, Herr van der Essen.

VAN DER ESSEN: Es ist außerordentlich wichtig, diese Tatsache festzustellen. Denn der Bürgermeister konnte, da er ja der Zentralgewalt direkt untersteht, mit anderen Worten, da man ja dort das Führerprinzip anwandte, auf jede Art und Weise in das politische und soziale Verwaltungsleben eingreifen. Der Bürgermeister ernannte seine Ratsherren, diese ernannten die Angestellten [590] und Beamten der Gemeinde, und da der Bürgermeister dieser Partei angehörte und von ihr ernannt war, so ernannte er seinerseits zu Beamten Leute dieser Partei, die dann den Widerspenstigen die Lebensmittelkarten verweigern oder der Polizei den Auftrag geben konnten, beispielsweise Listen von Kommunisten oder von denen, die dafür gehalten wurden, zu übergeben, kurz gesagt Beamte, die auf jede Art und mit allen Mitteln in das Gemeindeleben Belgiens eingreifen konnten.

Wenn man sowohl die großen als auch die kleinen Städte betrachtet, so kann man sagen, daß es wirklich infolge der eben geschilderten Ereignisse oder Handlungen überall ein richtiges Netz von Spionage und ständiger Einmischung gab.


M. FAURE: Stimmt es also, wenn man behauptet, daß diese Einmischungen der Deutschen in das Kommunalleben einen Eingriff in die nationale belgische Souveränität darstellten?


VAN DER ESSEN: Durchaus. Da sie das Grundprinzip der belgischen Verfassung abschafften, nämlich die Souveränität der Nation selbst und eben dieser Gemeinderäte, die die Stadtverordneten ernannten, die dann ihrerseits die Bürgermeister wählten, konnten von da an diese ihre Stimme nicht mehr unter normalen Bedingungen vernehmen lassen, so daß die Souveränität des belgischen Volkes dadurch direkt beeinträchtigt war.


M. FAURE: Da Sie Universitätsprofessor sind, können Sie uns hier Angaben über die Einmischungen in das Erziehungswesen machen?


VAN DER ESSEN: Ja. Zunächst gab es im Schulwesen Einmischungen bei den Volks- und Mittelschulen auf dem Wege über den Generalsekretär für Volkserziehung, auf den die Deutschen einen Druck ausübten. Es wurde eine Kommission eingesetzt, die die Reinigung der Lehrbücher vorzunehmen hatte. Es war verboten, noch Lehrbücher zu benutzen, die die Taten der Deutschen in Belgien während des Krieges von 1914/18 in Belgien behandelten. Dieses Kapitel war vollständig verboten. Diese Bücher durften in den Bibliotheken und Verlagshäusern nur unter der Bedingung ausgegeben werden, daß der Verkäufer oder der Bibliothekar dieses Kapitel herausriß.

Bei neuen Büchern, die wiedergedruckt oder neu herausgegeben werden mußten, gab die Kommission genau an, was definitiv zu verschwinden hatte.

Soviel über die sehr beunruhigenden und sehr bedeutsamen Einmischungen in das Volks- und Mittelschulwesen.

Bei dem höheren Schulwesen begann die Einmischung sozusagen sogleich mit der Besetzung, und ganz zuerst – aus Gründen, die ich hier nicht anzuführen brauche, die aber jeder kennt – bei der [591] freien Universität von Brüssel. Die Deutschen haben zunächst der Universität Brüssel einen deutschen Kommissar aufgezwungen. Dieser Kommissar hatte die ganze Organisation der Universität unter sich, wodurch er sie kontrollierte, und ich glaube sogar auch die Rechnungsführung.

Ferner wurden Austauschprofessoren aufgezwungen. Aber die großen Schwierigkeiten begannen, als die Deutschen in Brüssel wie überall verlangten, daß man ihnen alle Ernennungsvorschläge und alle Neuernennungen von Professoren unterbreite, sowie die Verteilung der Vorlesungen und der verschiedenen Lehrfächer der Universität. Die Folge davon war, daß sie in Brüssel auf Grund dieses angemaßten Rechtes drei Professoren einsetzen wollten, von denen zwei offenkundig für jeden Belgier, der dieses Namens würdig ist, unannehmbar waren.

Einer war Mitglied des flämischen Rates während der Besetzung von 1914/18 gewesen und deshalb von den Gerichten dieses Landes zum Tode verurteilt worden. 1940 wollte man ihn als Professor an der Universität Brüssel einsetzen. Angesichts dieser Umstände weigerte sich die Universität, diesen Professor aufzunehmen, was von der Besatzungsmacht als Sabotage betrachtet wurde. Als Sühnemaßnahme hierfür wurden der Präsident des Verwaltungsrates der Universität und dessen bedeutendste Mitglieder, die Dekane der wichtigsten Fakultäten und einige andere Professoren, die als Antifaschisten besonders bekannt waren, verhaftet und in das Gefängnis von Witte unter dem erschwerenden Umstand gesperrt, daß sie als Geiseln betrachtet wurden und als solche, falls sich irgendein Sabotage- oder Widerstandsakt ereignete, erschossen werden konnten.

Was die anderen Universitäten angeht, so habe ich bereits gesagt, daß man ihnen Austauschprofessoren aufzwingen wollte. In Loewen hatten wir keine. Wir lehnten ihre Aufnahme kategorisch ab, um so mehr, als es sich herausstellte, daß diese Austauschprofessoren nicht in erster Linie Wissenschaftler waren, die die Ergebnisse ihrer Untersuchungen und wissenschaftlichen Arbeiten weitergeben wollten, sondern zum größten Teil vielmehr Beobachtungsagenten für die Besatzungsmacht.


M. FAURE: Hierzu möchte ich Sie fragen, ob es stimmt, daß die belgischen Behörden den Bericht eines dieser »eingeladenen« Professoren entdecken konnten?


VAN DER ESSEN: Ja, das stimmt. Die belgischen Behörden konnten sich den Bericht des Professors von Mackensen sichern, der als Austauschprofessor an die Universität Gent geschickt worden war. Dieser übrigens mit unendlicher Sorgfalt verfaßte Bericht ist eine außerordentlich interessante Lektüre wegen der persönlichen und psychologischen Beobachtungen über die einzelnen Mitglieder [592] der Fakultät Gent. Man ersieht daraus sehr gut, daß dort jedermann Tag für Tag genau beobachtet wurde; daß die Tendenzen verzeichnet wurden, daß weitergegeben wurde, ob man für oder gegen das Regime der Besatzungsmacht war, ob man irgendwelche Beziehungen mit NP oder rexistischen Studenten unterhielt.

Kurz gesagt, die geringsten Handlungen aller Professoren des Lehrkörpers wurden sorgfältig verzeichnet, ich möchte hinzufügen, mit großer Präzision und Genauigkeit. Es war eine fast wissenschaftliche Arbeit – aber eine solche von Denunzianten.


M. FAURE: Herr van der Essen, ich habe heute morgen dem Gerichtshof einige Zwischenfälle vorgetragen, die an der Universität Loewen, deren Generalsekretär Sie sind, vorgefallen sind.

Ich möchte nun gern, daß Sie dem Gerichtshof ganz kurz die Tatsache dieser Zwischenfälle darlegen, insbesondere die Verhaftung des Rektors Magister van Wayenberg.


VAN DER ESSEN: Ja! Die großen Schwierigkeiten an der Universität Loewen haben nach Erscheinen der Verordnung über die Arbeitsdienstpflicht vom 6. März 1943 angefangen. Nach dieser Verordnung waren die Studenten der Universität verpflichtet, Pflichtarbeit anzunehmen; ich füge hinzu, nicht im Reichsgebiet, sondern in Belgien. Allein die Folge dieser Tatsache, dieser scheinbaren Bevorzugung der Studenten, war für die belgischen Patrioten aus dem sehr einfachen Grunde völlig unannehmbar, weil die Studenten, wenn sie zur Arbeit in den belgischen Fabriken bereit waren, dadurch die Arbeiter verdrängten, und die letzteren dann nach Deutschland überführt wurden, wenn die Studenten ihre Plätze einnahmen.

Aus diesen Gründen haben es die Studenten abgelehnt; erstens wollten sie nicht für den Feind arbeiten und zweitens aus Solidaritätsgründen mit der schwer leidenden Arbeiterklasse.

In Loewen waren es sicherlich zwei Drittel der Studenten, die die Pflichtarbeit verweigerten. Sie wurden zu Widerspenstigen, die Hörsäle leerten sich und sie versteckten sich, so gut sie nur konnten, und mehrere sind zum Maquis gegangen.

Als die deutschen Behörden sahen, welchen Lauf die Ereignisse nahmen, verlangten sie die Aushändigung der Studentenlisten mit deren Anschriften, um sie in ihren Wohnungen verhaften lassen zu können, oder, falls man sie nicht fand, an ihrer Stelle einen Bruder, eine Schwester, einen Vater, eine Mutter. Es wurde also hier, wie in allen anderen Fällen, das Prinzip der kollektiven Haftung angewandt.

Nachdem sie zuerst milde Maßnahmen, dann systematische Erpressungen angewandt hatten, gingen sie schließlich zu ganz brutalen Mitteln über. Sie machten erneut Haussuchungen und [593] haben Dr. Tschacke, Dr. Kalisch, glaube ich, und auch noch viele andere wieder hingeschickt. Sie kamen, um die Universitätsbüros zu durchsuchen und die Liste sicherzustellen; da diese aber sorgfältig versteckt war, mußten sie unverrichteter Dinge wieder abziehen. Infolgedessen entschlossen sie sich, den Rektor der Universität Loewen, Magister van Wayenberg, der alle Listen an einer nur ihm bekannten Stelle versteckt hatte, verhaften zu lassen. Er erklärte, daß er allein diese Stelle kenne, um seine Kollegen und die Mitglieder des Lehrkörpers nicht zu gefährden. Eines Morgens im Juni kamen zwei Mitglieder der Sicherheitspolizei Brüssel in Begleitung von Feldgendarmen in die Halle; sie verhafteten den Rektor in seinem Büro und überführten ihn nach Saint-Gilles in Brüssel, wo er eingesperrt wurde.

Kurze Zeit danach erschien er vor einem deutschen Gericht, das ihn wegen Sabotage zu achtzehn Monaten Gefängnis verurteilte. Ich muß wahrheitsgemäß sagen, daß er davon tatsächlich nur sechs Monate abgesessen hat, aus dem sehr einfachen Grunde, weil der Arzt von Saint-Gilles bemerkte, daß der Gesundheitszustand des Rektors sich verschlechterte, und weil es gefährlich erschien, ihn länger festzuhalten, ohne einen schwerwiegenden Zwischenfall heraufzubeschwören. Auch auf vielfache Interventionen aller möglichen Autoritäten hat man den Rektor dann wieder in Freiheit gesetzt, ihm aber strengstens verboten, das Gebiet von Loewen zu betreten. Der Universität wurde der ausdrückliche Befehl gegeben, einen neuen Rektor zu ernennen; dies wurde abgelehnt.


M. FAURE: Gut. Stimmt es, daß die deutschen Behörden ganz systematisch die intellektuelle Elite verfolgt haben?


VAN DER ESSEN: Jawohl, hierüber kann es keinen Zweifel geben, und ich kann als Beispiel die folgenden Tatsachen angeben: Bei der Geiselverhaftung waren es fast immer Universitätsprofessoren, Ärzte, Anwälte und Gelehrte, die als Geiseln zur Begleitung der Militärzüge genommen wurden. Zu der Zeit, als die Widerstandsbewegung Sabotageakte gegen die Eisenbahnstrecken unternahm und Züge in die Luft sprengte, nahm man mir bekannte Universitätsprofessoren aus Gent, Lüttich und Brüssel und steckte sie in den ersten Wagen hinter der Lokomotive, so daß sie im Falle eines Attentats unbedingt dem Tode ausgesetzt waren.

Ich kenne einen ganz typischen Fall, der Ihnen zeigen wird, daß es sich dabei nicht um eine Vergnügungsfahrt handelte. Zwei Professoren aus Lüttich befanden sich in einem Zug dieser Art und wohnten folgendem Vorfall bei: Die Lokomotive fuhr über den Sprengstoff weg, der Wagen, in dem sie sich befanden durch einen ganz außergewöhnlichen Zufall ebenfalls, aber der zweite Wagen, in dem sich die deutschen Wachmannschaften befanden, ging in die Luft, und alle deutschen Wachmannschaften wurden getötet.

[594] Andererseits wurden mehrere Professoren und Intellektuelle in jenes unheilvolle Lager von Breendonck, das Sie kennen, deportiert, die einen wegen ihrer Widerstandsakte, die anderen aus völlig unbekannten Motiven; wieder andere wurden nach Deutschland verschickt. So wurden Professoren aus Loewen nach Buchenwald, zum Kommando Dora, nach Neuengamme, Groß-Rosen oder vielleicht noch wo anders hin verschickt, und ich möchte hinzufügen, daß nicht nur Professoren aus Loewen deportiert wurden, sondern auch Intellektuelle, die im öffentlichen Leben des Landes eine wichtige Rolle spielten. Und ich kann Ihnen hierfür sofort einen Beweis erbringen: In Loewen habe ich selbst bei der feierlichen Eröffnung der Universität in diesem Jahre als Generalsekretär der Universität den Totenappell vorgenommen, den Appell derjenigen, die während des Krieges umgekommen sind. Diese Liste enthielt 348 Namen, wenn ich mich recht entsinne; etwa 30 von ihnen gehörten den im Jahre 1940 in den Kämpfen an der Schelde und der Lys gefallenen Soldaten. Alle anderen waren Opfer der Gestapo oder starben in den Lagern Deutschlands, besonders in den Lagern Groß-Rosen und Neuengamme. Außerdem steht fest, daß die Deutschen allgemein die Intellektuellen verfolgten, in der Art, daß sie von Zeit zu Zeit in der Presse eine synchronisierte Kampagne losließen, in der sie unter Beweis stellten, daß die Intellektuellen sich in ihrer großen Mehrzahl kategorisch weigerten, der neuen Ordnung beizutreten, und daß sie insbesondere die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Bolschewismus nicht verstehen wollten. Die Schlußfolgerung, die in diesen Artikeln gezogen wurde, war, daß man Maßnahmen gegen sie ergreifen müsse, und ich entsinne mich sehr gut gewisser Zeitungsartikel, die einfach vorschlugen, diese Intellektuellen in ein Konzentrationslager zu verschicken. Es kann also nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß die Intellektuellen überlegt herausgegriffen wurden.


M. FAURE: Ich werde Ihnen keine Fragen über die Deportierungen oder über die Lager stellen, denn all dies ist dem Gerichtshof zur Genüge bekannt; und ich bitte Sie, bei der Beantwortung der nun folgenden Frage nicht über die Deportierungen zu sprechen. Meine Frage bezieht sich auf die Komplexe von Greueltaten, die die Deutschen in Belgien und insbesondere die Armeen bei der Offensive vom Dezember 1944 in den Ardennen begangen haben sollen. Können Sie hierüber Angaben machen?


VAN DER ESSEN: Ja, und ich kann Ihnen präzise und ausführliche Angaben, wenn es nötig sein sollte, über die Verbrechen und Greueltaten bei der Offensive von Rundstedts in den Ardennen um so besser machen, als ich ja Mitglied der Kommission für Kriegsverbrechen bin, und an Ort und Stelle Untersuchungen angestellt und diejenigen Zeugen vernommen habe, die diese [595] Massenmorde überlebt haben, und ich weiß somit genau aus eigener Kenntnis, was vorgefallen ist.

Während der Offensive von Rundstedts in den Ardennen wurden geradezu abscheuliche Verbrechen begangen, und zwar in einunddreißig Ortschaften der Ardennen. Diese Verbrechen trafen Männer, Frauen und Kinder. Auf Verbrechen, die von einzelnen Soldaten begangen wurden, wie das auch anderswo und bei allen Kriegen der Fall ist, will ich nicht eingehen; aber das, was ich besonders herausstellen möchte, das sind die Verbrechen, die von ganzen, formell dazu angewiesenen Einheiten begangen wurden, und außerdem die von den bekannten Organisationen begangenen Verbrechen, die, wenn ich mich recht erinnere, den Namen »Kommandos zur besonderen Verwendung« trugen. Diese haben nicht nur in den belgischen Ardennen gewütet, sondern auch in derselben Weise in dem Großherzogtum Luxemburg Verbrechen begangen.

Was die erste Kategorie angeht – Verbrechen von ganzen Einheiten – möchte ich nur, um hier nicht zu ausführlich zu werden, ein typisches Beispiel geben. In der Stadt Stavelot sind 140 Personen – die Zahl schwankt, sagen wir 137 bis 140 –, zuerst waren es 137, später hat man noch mehr Leichen aufgefunden – also etwa 140 Personen, darunter 36 Frauen und 22 Kinder, deren ältestes 14 Jahre alt war und das jüngste 4 Jahre, brutal niedergeschossen worden, und zwar von deutschen Einheiten, die den SS-Panzern angehörten. Die eine war die Division »Hohenstaufen« und die andere die SS-Division »Leibstandarte Adolf Hitler«.

Diese Einheiten sind wie folgt vorgegangen; wir sind hierüber von einem Soldaten ausgezeichnet unterrichtet worden, der daran teilgenommen hat: Er wurde durch die belgische Sicherheitspolizei verhaftet. Er war während Rundstedts Feldzug desertiert, warf sich in Zivilkleidung und arbeitete schließlich auf einem Bauernhof in den Ardennen. Eines Tages hat die belgische Gendarmerie, als er mit nacktem Oberkörper bei der Arbeit war, seine Tätowierung erkannt und daraus ersehen, daß er der SS angehörte. Er wurde sofort verhaftet und verhört.

Die Soldaten der Division »Hohenstaufen« sind also so vorgegangen: Es gab eine Panzerlinie Königstiger, der Schützenpanzer vorangingen und folgten. Zu einer bestimmten Zeit ließ der Obersturmführer dieser Formation seine Leute halten und erklärte ihnen, daß alle Zivilpersonen, denen sie begegneten, niedergeschossen werden sollten. Dann bestiegen sie wieder die Panzer und beim Vorrücken der Panzerlinie zeigte er mit dem Finger auf ein Haus: Dann schossen die Soldaten mit Maschinengewehren in das Haus und gingen hinein. Wenn sie die Leute in der Küche antrafen, schlugen sie sie in der Küche tot; wenn sie in den Keller geflüchtet waren, dann schossen die Soldaten eine Salve in den Keller. Wer [596] auf der Straße angetroffen wurde, wurde auf der Straße niedergeschossen.

Nicht nur die Division »Hohenstaufen«, sondern auch die »Leibstandarte Adolf Hitler« und andere haben auf diese Weise gehandelt, und zwar nach dem ausdrücklichen Befehl, alle Zivilpersonen zu töten. Warum? Weil bei dem Rückzug im September hauptsächlich in diesen Gebieten der Ardennen der Widerstand in Aktion trat und eine ganze Anzahl deutscher Soldaten niedergeschossen wurde. Um sich für diesen Mißerfolg an der Widerstandsbewegung zu rächen, war der Befehl ergangen, alle Zivilpersonen schonungslos niederzumachen, die bei der Offensive in dieser Gegend angetroffen würden.

Das andere System ist im Hinblick auf die Verantwortlichkeit noch wichtiger; hier handelt es sich um die Anführer der Sicherheitspolizeitrupps. Diese Sicherheitspolizei pflegte meistens in den Dörfern, in die sie kam, die Bevölkerung sofort über Personen zu verhören, die sich der Widerstandsbewegung angeschlossen hatten, ferner über die Geheimarmee, über den Aufenthaltsort dieser Leute, ob sie geflüchtet seien oder nicht. Kurz gesagt, sie hatten vorgedruckte maschinengeschriebene Fragebogen bei sich, die stets die gleichen siebenundzwanzig Fragen enthielten. Diese Fragen stellten sie überall in allen Dörfern, in welche sie eindrangen. Und jetzt – ich verfahre genau so wie bei Nummer I – möchte ich nur das Beispiel von Bande, Kreis Marche, zitieren, um die Geduld des Gerichtshofs nicht unnötig in Anspruch zu nehmen.

In Bande hat eine dieser Abteilungen der Sicherheitspolizei, deren Offiziere selbst erklärten, von Himmler besonders abkommandiert worden zu sein, um die Leute der Widerstandsbewegung hinzurichten, alle Männer zwischen 17 und 32 Jahren zusammengeholt; und nach einem gründlichen Verhör und einer völlig willkürlichen Auslese – man hat keiner Mitglieder der Widerstandsbewegung habhaft werden können, denn die Mehrzahl der Leute hat niemals zu diesen Mitgliedern gezählt, und dort gab es überhaupt nur vier – führten sie die Männer, die Hände an den Nacken gelegt, die Hauptstraße von Marche nach Basteuil entlang. Als sie vor einem Haus ankamen, das im September durch Feuer zerstört worden war, stellte sich der kommandierende Offizier in den Eingang des Hauses. Ein Feldwebel trat neben ihn, legte dem letzten Mann der dritten Reihe, der inzwischen in das Haus hineingegangen war, die Hand auf die Schulter und tötete ihn mit einer Maschinenpistole durch Genickschuß. Dann wurden die vierunddreißig jungen Leute, die man genau so festhielt, auf die gleiche Weise von dem Offizier hingerichtet. Er begnügte sich nicht damit, sie so niederzuschießen, sondern er stieß die Leichen mit einem Fußtritt in den Keller hinunter und ließ noch eine Maschinenpistolensalve auf sie los, um ganz sicher zu sein, daß sie auch tot waren.

[597] M. FAURE: Herr van der Essen! Sie sind Historiker, Sie haben Wissenschaftler ausgebildet, Sie haben somit die Gewohnheit, die Geschichtsquellen kritisch zu betrachten. Können Sie uns auf Grund Ihrer Untersuchung sagen, daß Sie keinen Zweifel darüber haben, daß hinter diesen Greueltaten eine allgemeine Organisation, ganz bestimmt aber Befehle von höherer Stelle stehen?


VAN DER ESSEN: Ja, ich bin völlig davon überzeugt, daß es sich hier um eine allgemeine Organisation handelt.


M. FAURE: Ich möchte Ihnen noch eine letzte Frage stellen. Ich glaube verstanden zu haben, daß Sie selbst niemals verhaftet oder von den Deutschen irgendwie besonders belästigt worden sind. Ich möchte wissen, ob Sie der Ansicht sind, daß es einem freien Menschen, der nicht ›besonders‹ von der deutschen Verwaltung oder Polizei belästigt wurde, möglich war, während der deutschen Nazi-Besetzung ein Leben gemäß den Vorstellungen zu führen, die ein freier Mensch sich von der Menschenwürde macht?


VAN DER ESSEN: Wie Sie mich hier vor sich sehen, wiege ich 67 Kilogramm. Ich bin 1,67 m groß; das ist völlig normal, wenn ich meinen medizinischen Kollegen glauben darf. Vor dem 10. Mai 1940, bevor die Luftwaffe ohne Kriegserklärung Zerstörung und Tod über Belgien brachte, wog ich 82 Kilogramm. Dieser Unterschied ist zweifellos eine Folge der Besetzung. Ich will aber keine persönlichen oder allgemein theoretischen oder philosophischen Betrachtungen anstellen, ich möchte Ihnen nur schildern – das dauert nur zwei Minuten –, wie der Alltag eines durchschnittlichen Belgiers während der Besatzungszeit verlief.

Ich werde einen Tag des Winters 1943 wählen. Um 6.00 Uhr morgens läutet es. Der erste Gedanke, den man hat, den wir alle hatten, ist natürlich: die Gestapo. Es war nicht die Gestapo, es war ein Stadtgendarm, der mir mitteilte, daß in meinem Büro Licht brenne und ich in Zukunft aufpassen müsse, den Erfordernissen der Besatzung nachzukommen. Es war nichts, aber der nervöse Schock war da. Um einhalb acht Uhr kommt der Briefträger mit meiner Post. Er erklärt dem Dienstmädchen, daß er mich persönlich sehen möchte. Ich komme hinunter, und er sagt zu mir: »Herr Professor, Sie wissen, daß ich Mitglied der Geheimen Armee bin, und ich weiß, was vorgeht. Die Deutschen wollen heute um 10.00 Uhr alle ehemaligen Angehörigen des belgischen Heeres in diesem Gebiet verhaften. Ihr Sohn muß sofort verschwinden.«

Ich gehe sogleich zu meinem Sohn, um ihn zu wecken; lasse ihn seine Sachen packen und schicke ihn an einen Ort, wo er bleiben kann. Um 10.00 Uhr fahre ich mit der Bahn nach Brüssel. Einige Kilometer vor Loewen hält die Bahn, Patrouillen der Feldgendarmerie befehlen uns allen auszusteigen und stellen uns, ohne auf soziale oder andere Unterschiede Rücksicht zu nehmen, an die Wand, das [598] Gesicht gegen die Wand gekehrt, Hände in der Luft und durchsuchen uns. Da man weder Waffen noch kompromittierende Papiere findet, läßt man uns wieder einsteigen und wir fahren weiter. Einige Kilometer weiter hält die Bahn wegen einer Ansammlung auf der Straße. Ich sehe weinende Frauen, höre Schreie und Wehklagen und frage, was dort los sei. Bewohner des Dorfes sollten in der Nacht von der Sicherheitspolizei verhaftet werden, weil sie sich weigerten, Zwangsarbeit zu leisten. Sie waren fort und an ihrer Stelle hat man den 82 Jahre alten Vater und die 16jährige Tochter verhaftet.

Ich komme nach Brüssel, um einer Sitzung der Akademie beizuwohnen. Als erstes sagt der Präsident zu mir: »Hast du gehört, was geschehen ist? Zwei unserer Kollegen sind gestern auf offener Straße verhaftet worden. Ihre Familien sind in furchtbarer Sorge, niemand weiß, wo sie sind.« Am Abend komme ich zurück, und wieder hält man uns zweimal unterwegs an; einmal, um nach Terroristen zu suchen, die die Flucht ergriffen haben sollen, dann um nachzusehen, ob jeder seine Papiere habe, bis ich schließlich ohne größere Zwischenfälle wieder zu Hause ankomme.

Ich glaube, hier sagen zu dürfen, daß man erst um 9.00 Uhr abends einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen konnte, als wir unseren Radioapparat einschalteten und die sympathische Stimme ertönte, der wir jeden Abend zuhörten: die Stimme des kämpfenden Frankreichs: »Heute der 189. Tag des Befreiungskampfes des französischen Volkes«, oder die Stimme von Victor Delabley, diesem edlen Menschen des belgischen Rundfunks in London, der zum Schluß rief: »Kopf hoch! Wir werden sie schon bekommen, die Boches!« Dies, und nur dies allein, ließ uns aufatmen und ruhig schlafen.

Hier haben Sie den normalen Alltag eines belgischen Bürgers während der deutschen Besetzung. Sie werden verstehen, daß wir dies nicht als das Zeitalter des Glückes und der Seligkeit betrachten konnten, das man uns am 10. Mai 1940 versprach, als man in Belgien eindrang.


M. FAURE: Verzeihen Sie, Herr van der Essen, aber ich nehme an, daß diese einzige Freude, den Londoner Rundfunk abzuhören, schwer bestraft wurde, wenn man Sie ertappte?


VAN DER ESSEN: Ja, mit Gefängnisstrafe.


M. FAURE: Ich danke Ihnen.


VORSITZENDER: Sind Sie fertig, Herr Faure?


M. FAURE: Ich habe keine Fragen mehr, Herr Vorsitzender.


VORSITZENDER: General Rudenko? Die amerikanischen oder britischen Herren Ankläger?


GENERAL RUDENKO: Ich habe keine Fragen.


[599] VORSITZENDER: Wünscht einer der Herren Verteidiger Fragen an den Zeugen zu richten?


PROF. DR. EXNER: Jawohl!

Herr Zeuge, ich möchte nur wegen der Universitätsbibliothek in Loewen etwas von Ihnen hören. Waren Sie selbst in Loewen, als die zwei Patrouillen am 17. Mai 1940 auf die Bibliotheken schossen und nur auf die Bibliothek?


VAN DER ESSEN: Ich war nicht in Loewen, aber ich muß hinzufügen, daß Loewen an der Linie K. O. lag, also direkt an der Kampflinie. Die Bevölkerung von Loewen hatte von den britischen Behörden den Befehl erhalten, die Stadt am 14. zu evakuieren, so daß also fast alle Einwohner fort waren, als diese Ereignisse stattfanden, und nur Lahme und Kranke, die nicht evakuiert werden konnten und in die Keller geflüchtet waren, noch dort waren. Aber was ich Ihnen über die Batterien hier berichtet habe, weiß ich durch ein Verhör von zwei Zeugen, die außerhalb der Stadt waren. Die Bibliothek ist nicht von innen in Brand gesetzt worden, sondern von außen, und die betreffenden Zeugen wohnten in den außerhalb der Stadt liegenden zwei Dörfern, um die es sich hier handelt.


PROF. DR. EXNER: Waren zu der Zeit noch belgische oder englische Truppen in der Stadt?


VAN DER ESSEN: Die belgischen Truppen waren nicht mehr da. Die Belgier waren von britischen Truppen abgelöst worden, als sie diesen Sektor wieder einnahmen. In dem Augenblick, als man den Bibliotheksbrand entdeckte – die ersten Flammen wurden in der Nacht vom 16. auf den 17. um 1.30 Uhr morgens bemerkt –, waren die englischen Truppen schon fort. Es gab nur noch einige abrückende Tanks, die von Zeit zu Zeit noch einige Kanonenschüsse abgaben, damit der Gegner glaube, daß der Sektor noch von den Briten besetzt sei.


PROF. DR. EXNER: Also, es waren noch englische Truppen in der Stadt, als die Beschießung begann?


VAN DER ESSEN: Es waren keine britischen Truppen mehr da. Nur auf den Hügeln um Loewen, Richtung Brüssel, gab es noch einige Tanks, die die notwendigen Rückzugsmanöver ausführten. Ich möchte noch hinzufügen und dem Herrn Verteidiger sagen, daß nach den Aussagen der Personen, die in der Bibliothek waren, das heißt der Pförtner und der Amtsleute, nicht ein einziger britischer Soldat seinen Fuß in das Gebäude der Bibliothek gesetzt hat.


PROF. DR. EXNER: Ja, das wundert mich nicht. Haben zur Zeit, als die deutschen Batterien geschossen haben, auch noch belgische und englische Batterien geschossen?


VAN DER ESSEN: Nein.


[600] PROF. DR. EXNER: Nein. Also damals hat tief er Friede geherrscht, offenbar, in der Stadt Loewen, denn die Truppen waren weg, die Feinde waren noch nicht da und Batterien haben nicht geschossen.


VAN DER ESSEN: Ja, das ist gerade die etwas paradoxe Lage, in der sich Loewen befand. Es hat einen Augenblick gegeben, in dem die Engländer fort und die Deutschen noch nicht da waren, und wo nur einige Lahme und nicht transportfähige Kranke in den Kellern waren. Ein paar Leute waren zurückgeblieben, wie der Chef der Feuerwehr und auch Magister van Wayenberg, der Rektor der Universität, der mit dem Auto der Feuerwehr die Toten und Sterbenden von Loewen nach Brüssel abtransportierte; er hat diese Fahrt mehrmals gemacht; dann war dort noch mein Kollege Dr. Kennog, Mitglied der medizinischen Fakultät, der die Leitung der Stadt übernahm.


PROF. DR. EXNER: Wissen Sie, wo diese Batterien gestanden sind, die deutschen?


VAN DER ESSEN: Ja. Die eine in Corbeek, die andere in Lovenjoul. Die eine im Osten und die andere im Norden. Die einzigen Einschlagstellen, die der Turm der Bibliothek aufweist, sind vier an der Ostseite und sieben an der Nordseite. Wenn noch belgische oder britische Batterien dagewesen wären, hätten diese Einschüsse genau auf der entgegengesetzten Seite sein müssen.


PROF. DR. EXNER: Wissen Sie etwas über das Kaliber dieser Batterien?


VAN DER ESSEN: Über das Kaliber der Batterien?


PROF. DR. EXNER: Ja.


VAN DER ESSEN: Ja. Man hat die Geschosse aufbewahrt und augenblicklich befinden sie sich in der Bibliothek der Universität oder besser darin, was als Bibliothek dient. Dort befinden sich vier vollständige Geschosse und zwei oder drei Splitter.


PROF. DR. EXNER: Und wissen Sie den Namen des Bauern, der angeblich von einem deutschen Offizier gefragt worden ist, ob das wirklich die Universitätsbibliothek ist? Kennen Sie den Bauern persönlich?

VAN DER ESSEN: Ja, sein Name ist Vigneron. Aber ich kenne ihn nicht persönlich. Der Bibliothekar der Universität, der mit ihm eine Unterredung hatte, veranlaßte die »Kommission zur Feststellung von Kriegsverbrechen«, den in Rede stehenden Bauern zu vernehmen.


PROF. DR. EXNER: Aber Sie sind ja selbst Mitglied der Kommission, nicht?


VAN DER ESSEN: Ja. Ich bin bereit, hier zu erklären, daß ich an der Untersuchung betreffend die Bibliothek von Loewen nicht [601] unmittelbar beteiligt war, ebensowenig wie der Universitätsrektor und der Bibliothekar an dieser Unternehmung teilgenommen haben. Diese wurden von einem Beamten der Justizdelegation vorgenommen, der einzig und allein und vollkommen auf Befehl des Staatsanwalts von Louvain handelte, und wir standen ganz außerhalb dieser Angelegenheit.


PROF. DR. EXNER: Haben Sie die Akten gesehen?


VAN DER ESSEN: Was wollen Sie sagen?


PROF. DR. EXNER: Es wundert mich, daß man sie nicht hergebracht hat. Sagen Sie, warum hat sich der Direktor der Bibliothek oder der unmittelbar Betroffene nicht nach Besetzung der Stadt an den Bürgermeister, oder der Bürgermeister an den Stadtkommandanten gewendet?


VAN DER ESSEN: Ich habe Ihre Frage nicht ganz verstanden.


PROF. DR. EXNER: Als das deutsche Militär kam, da wurde ein Stadtkommandant eingesetzt. Warum hat sich nicht entweder der Bürgermeister oder der Direktor der Universitätsbibliothek an den Stadtkommandanten gewandt und diese Sache vorgebracht?


VAN DER ESSEN: Warum diese Sache nicht vorgebracht wurde? Aus dem einfachen Grunde, weil zu diesem Zeitpunkt fast niemand mehr in der Stadt anwesend war und eine allgemeine Verwirrung herrschte.

Gleich nach der Ankunft des deutschen Heeres wurde der Zugang zur Bibliothek systematisch und endgültig gesperrt, so daß die Belgier nicht die geringsten Untersuchungen mehr durchführen konnten. Dann trafen zwei deutsche Untersuchungskommissionen an Ort und Stelle ein. Die erste nahm am 26. Mai 1940 Untersuchungen vor. Als Sachverständiger kam Professor Kellermann von der Technischen Hochschule in Aachen, der von einem Mitglied der Partei in braunem Hemd begleitet wurde.

Sie haben die Vorfälle geprüft und ließen als Zeugen den Rektor der Universität und den Bibliothekar rufen. Gleich von Beginn der Untersuchung an versuchten sie, den Rektor und den Bibliothekar zu der Erklärung zu veranlassen, daß die Engländer die Bibliothek in Brand gesteckt hätten; als Beweis zeigte der Sachverständige eine Bombenhülse mit den Worten: »Riechen Sie doch, es riecht nach Benzin. Es wurden also Chemikalien zum Anzünden der Bibliothek verwendet.« Daraufhin fragten der Rektor und der Bibliothekar der Universität: »Wo haben Sie diese Hülse gefunden?« »An jener Stelle.« »Als wir dort vorbeigingen, war sie nicht dort,« hat der Rektor dann gesagt.

Der deutsche Sachverständige hatte sie dort hingelegt. Ich möchte mit Erlaubnis des Hohen Gerichtshofs der beträchtlichen Wichtigkeit [602] halber hinzufügen, daß eine zweite Untersuchungskommission im Monat August 1940 eintraf, deren Leiter ein hervorragender Mann, der Obergerichtsrat von Neuß war. In seiner Begleitung war ein Sachverständiger, der die Untersuchungen über den Reichstagsbrand geführt hat.

Diese Kommission untersuchte wieder alles. In Anwesenheit des Rektors und eines anderen Zeugen, Krebs, eines Benediktinermönchs aus dem Kloster Mont-César, machten sie sich über die Schlußfolgerungen der ersten Kommission lustig und bezeichneten diese ganz offen vor den belgischen Zeugen als lächerlich.

PROF. DR. EXNER: Sie haben gesagt, daß das Bibliotheksgebäude Türme gehabt hat; wissen Sie vielleicht, ob Artilleriebeobachter auf den Türmen waren?


VAN DER ESSEN: Das einzige, was ich hierzu sagen kann, ist, daß der Rektor sich dem immer entgegengestellt hat, von Anfang an, und daß er jeden Versuch dieser Art abgewehrt hätte, weil er wußte, daß die Verwendung der Türme als Artilleriebeobachtungsposten offensichtlich dem Feind eine Gelegenheit und einen Grund gegeben hätte, die Bibliothek unter Feuer zu nehmen. Der Rektor war sich dessen bewußt und erklärte mir stets: »Wir müssen sehr achtgeben, daß britisches Militär oder andere in diesem Gebiet befindliche Truppen nicht auf die Türme steigen.«

Ich weiß aus Erklärungen des Pförtners, daß kein britischer Soldat je den Turm bestiegen hat. Das ist ganz sicher.

Was die Belgier betrifft, so muß ich sagen, daß ich nichts darüber weiß.


PROF. DR. EXNER: Es ist – es wäre an sich ja kein Wunder, wenn die Universitätsbibliothek getroffen worden wäre; endlich und schließlich ist ja während des Krieges auch die Universitätsbibliothek von Berlin, von Leipzig, von München, von Breslau, von Köln und so weiter getroffen worden. Es fragt sich nur, ob das absichtlich geschah, und da fällt mir der Bauer,...


VAN DER ESSEN: Der Bauer...


PROF. DR. EXNER: Ich möchte Sie fragen, ist in diesen Untersuchungen irgendetwas zur Sprache gekommen, was ein Motiv für das deutsche Militär gewesen sein könnte, gerade dies als Ziel zu nehmen?


VAN DER ESSEN: Nach all den mir zugegangenen Aussagen ist zu schließen, und zu diesem Ergebnis ist die Kommission gekommen, daß das Motiv, ich will nicht sagen das Hauptmotiv – denn bei derartigen Dingen gibt es keine vollkommene Sicherheit –, also ein durchaus wahrscheinliches und sogar ziemlich sicheres Motiv für die Zerstörung der Bibliothek war, daß die deutsche Armee ein Denkmal beseitigen wollte, welches dem Friedensvertrag von [603] Versailles gesetzt war. Auf der Bibliothek befand sich die Statue einer behelmten Jungfrau, die mit dem Fuß einen Drachen, den Feind, zertritt. Aus gewissen Gesprächen deutscher Offiziere ließ sich ziemlich deutlich entnehmen, daß dieses Denkmal als Zeugnis der Niederlage des letzten Krieges und insbesondere des Versailler Vertrags vernichtet werden sollte, und deshalb wollte man jenes Gebäude systematisch in Brand stecken.

Ich möchte erwähnen, daß es nicht das erstemal war, daß die Deutschen die Universität von Loewen vernichtet hätten.


PROF. DR. EXNER: Sie meinen, der Batteriekommandant habe das gewußt?


VAN DER ESSEN: Da gibt es eine interessante Zeugenaussage, die ich dem Herrn Verteidiger vortragen möchte.

An dem Tage, an dem die beiden Batterien aufgestellt wurden, sprach ich mit einem Steuereinnehmer an der Straße nach Roosweek, einige Kilometer von Loewen. An jenem Nachmittag stiegen höhere Offiziere, er bezeichnete sie als das Kommando der deutschen Armee, bei ihm ab. Sie waren mit einem Lastwagen ausgerüstet, der alle möglichen Radiogeräte enthielt, um drahtlose Schießbefehle an die deutsche Artillerie geben zu können.

Diese Offiziere haben sich bei ihm eingerichtet, erhielten natürlich etwas zu essen und haben ihn zu ihrer Mahlzeit eingeladen. Nachdem er einen Augenblick gezögert hatte, nahm er die Einladung an, und im Laufe des Essens entstand eine sehr heftige Diskussion. Die Offiziere riefen: »Diese Schweine von Belgiern« – bitte entschuldigen Sie den Ausdruck, er wurde aber gebraucht – »haben doch diese Inschrift in der Bibliothek angebracht!« Sie spielten also auf die bekannte Inschrift »Furore teutonico« an, die niemals an der Bibliothek angebracht war. Aber alle deutschen Offiziere waren fest davon überzeugt, daß die Inschrift »Furore Teutonico Diruta Dono Americana Restituta«, zerstört durch deutsche Wut, wiedererrichtet durch amerikanische Schenkung, sich dort befinde.

Ich gebe aber durchaus zu, daß man in Deutschland geglaubt haben kann, sie sei dort angebracht gewesen. Der Umstand, daß eine Diskussion unter den Offizieren entstand, die diese beiden Batterien befehligten, scheint mir den Beweis dafür zu erbringen, daß, wenn auf die Bibliothek gezielt wurde, dies geschah, um ein Gebäude zu vernichten, in dem sich nach ihrer Anschauung eine für das deutsche Volk und die Armee beleidigende Inschrift befand.

Das war die Aussage, die ich dem Herrn Verteidiger geben kann, und ich sage wie es ist.


PROF. DR. EXNER: Und Sie meinen, der Hauptmann, der diese Batterie kommandiert hat, hatte die Inschrift schon gekannt?


VAN DER ESSEN: Ganz bestimmt.


[604] PROF. DR. EXNER: Danke schön.


DR. STAHMER, VERTEIDIGER FÜR DEN ANGEKLAGTEN GÖRING: Herr Zeuge, Sie haben vorhin gesagt, dreiundvierzig Flugzeuge haben die Bibliothek überflogen und auf die Bibliothek Bomben geworfen. Wie Sie vorhin auf die Frage von Herrn Professor Exner gesagt haben, waren Sie ja selbst nicht in der Stadt anwesend. Woher haben Sie diese Nachricht?


VAN DER ESSEN: Wie ich bereits vorhin erwähnte, ist das, was ich aussagte, nicht meine eigene Wahrnehmung, denn es betrifft mich in keiner Weise, sondern die Zeugenaussage des Rechtsanwalts Davids, der ein Landhaus in Kesseloo besaß. Dieser Rechtsanwalt war morgens aufgestanden, um sich den Himmel anzusehen, denn in seinem Hause befanden sich viele Flüchtlinge, darunter Frauen und Kinder. Da ununterbrochen Flugzeuge zu sehen waren, verließ er das Haus an diesem Morgen, um zu sehen, was vorging. Er hat dieses Flugzeuggeschwader vorüberfliegen sehen und zählte es ab. Er selbst war ehemaliger Kriegsteilnehmer, er zählte dreiundvierzig Flugzeuge, die in der Richtung der Bibliothek von Loewen flogen. Als sie über der Bibliothek angekommen waren, fiel eine Bombe genau über dem Giebel, der am weitesten von dem Zeugen entfernt war. Gleich darauf sah der Zeuge Rauch aus dem Dach der Bibliothek aufsteigen.

Auf diese Zeugenaussage stützt sich meine Erklärung.


DR. STAHMER: Dann hat also eine einzige Bombe die Bibliothek getroffen?

VAN DER ESSEN: Ja, Herr Verteidiger, es gab sowohl Artilleriefeuer als auch Bomben, die von Flugzeugen abgeworfen wurden. Vom technischen Standpunkt aus gesehen, scheint es vollkommen sicher zu sein, daß eine Flugzeugbombe die Bibliothek getroffen hat, denn das Dach hatte eine Metalldecke, die den äußersten rechten Teil hält, bis auf die Stelle, wo sie in steilem Winkel geneigt ist. Nach Aussagen von Technikern, die wir darüber befragten, kann eine Beule in einer derartigen Metallmasse niemals von einem einfachen Artillerietreffer hervorgerufen werden, sondern sie stammt wahrscheinlich von einer Bombe, die auf diese Stelle gefallen ist.


DR. STAHMER: Wieviel Bomben wurden insgesamt von den Flugzeugen geworfen?


VAN DER ESSEN: Da der Zeuge sich auf einer das Gebiet von Loewen beherrschenden Höhe befand, von der aus er in der Ebene die Bibliothek liegen sah, konnte er natürlich die von den Flugzeugen abgeworfenen Bomben nicht zählen. Er hat nur gesehen, daß Bomben gefallen sind und dann eine Rauchwolke, die von der Bibliothek aufstieg.


[605] DR. STAHMER: Wieviele Bombeneinschläge hat denn die Stadt aufzuweisen? Wieviele Bombeneinschläge sind in der Stadt festgestellt worden?


VAN DER ESSEN: Wieviele Bomben? Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben. Ich weiß aber, daß Flugzeuge in gerader Linie von Norden nach Süden über das Bibliotheksviertel hinweggeflogen sind.

Durch diesen Bombenabwurf im Mai 1940 wurden das Höhere Philosophische Institut, das Pharmazeutische Institut, einige andere Universitätsinstitute sowie eine Anzahl von Privathäusern beschädigt, jedoch nicht ernstlich.


DR. STAHMER: Wann wurden die Bomben geworfen, vor der Beschießung oder nach der Artilleriebeschießung?


VAN DER ESSEN: Die Bomben wurden vorher und nachher abgeworfen. Es hat Luftangriffe gegeben. Ich selber habe am Nachmittag des 10. Mai 1940 einem furchtbaren Bombardement beigewohnt. Es wurden von einem Geschwader von sieben Flugzeugen Bomben abgeworfen. Ich bin kein Militärsachverständiger, aber ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie zwei Flugzeuge im Sturzflug die Brücke von Tirlemont bombardierten. Das Ergebnis war, daß eine große Anzahl von Häusern zerstört und 208 Personen am 10. Mai 1940 nachmittags getötet wurden.


[Pause von 10 Minuten.]


VORSITZENDER: Wünscht einer der anderen Verteidiger ein Kreuzverhör mit diesem Zeugen vorzunehmen?

RA. BABEL: Herr Zeuge, wann haben Sie das Universitätsgebäude in Loewen zum letzten Male gesehen, vor dem Angriff zum letzten Male gesehen?


VAN DER ESSEN: Vor dem Brand? Ich habe es am 11. Mai 1940 gesehen.


RA. BABEL: Das war vor dem Angriff?


VAN DER ESSEN: Ja, das war vor dem Angriff.


RA. BABEL: War es damals schon beschädigt und in welcher Weise?


VAN DER ESSEN: Am 11. Mai 1940 war die Bibliothek absolut unbeschädigt; bis zur Nacht vom 16. zum 17. Mai. Vor dieser Zeit war überhaupt kein Schaden an der Bibliothek.


RA. BABEL: Waren außer den Treffern im Turm noch andere Artillerietreffer an dem Gebäude zu beobachten?


[606] VAN DER ESSEN: Im Gebäude glaube ich nicht. Lediglich der Turm zeigt Artilleriespuren.


RA. BABEL: Kann nun aus der Tatsache.. kann nun aus der Tatsache, daß eigentlich nur der Turm getroffen ist, nicht der Schluß gezogen werden, daß dieser Turm und nicht das Gebäude das Ziel war?


VAN DER ESSEN: Wenn ich von dem Turm gesprochen habe, der getroffen wurde, meinte ich nur die Spuren, die man an den Mauern, an dem Glockenturm und auf dem Balkon des ersten Stockwerkes sehen konnte, sonst kann man an dem Gebäude nichts sehen, aus dem einfachen Grunde, weil es innen völlig ausgebrannt ist und man an den verkohlten Mauern nichts mehr sehen kann.

Aber es ist absolut sicher, daß entweder eine Fliegerbombe, ich glaube aber eher ein Artilleriegeschoß das Gebäude nach dem Brand von Norden her getroffen hat.

Die sehr sichtbare Spur eines Einschlags ist vorhanden. Dort hat das Feuer begonnen. Die Zeugen, die das Feuer von der Abtei Mont César gesehen haben...


RA. BABEL: Wann haben Sie die Gebäude nach dem Brand wieder gesehen?


VAN DER ESSEN: Nach dem Brand, im Juli 1940.


RA. BABEL: Also viel später?


VAN DER ESSEN: Ja, viel später, aber es war immer noch in demselben Zustand und alles ist immer noch so geblieben, wie es gewesen war.


RA. BABEL: Ist Ihnen bekannt, ob man, nachdem das Gebäude in Brand geraten war, versucht hat, diesen Brand zu löschen und das Gebäude zu retten?


VAN DER ESSEN: Es steht fest, daß man den Brand zu löschen versucht hat, aber der Rektor, Magister Wayenberg, hat mir selbst erklärt, daß die Feuerwehr, die er herbeiholen wollte, abgefahren war; es war nur der Kommandant der Feuerwehr mit zwei Leuten dort, und sämtliche Wasserleitungen waren durch das Bombardement aufgerissen worden. Es gab mehrere Tage lang kein Wasser.


RA. BABEL: Waren an diesen Rettungsversuchen nicht auch deutsche Truppen beteiligt?

Ich trage, ob an diesen Rettungsversuchen nicht auch deutsche Truppen beteiligt waren?


VAN DER ESSEN: Die deutschen Truppen waren überhaupt noch nicht da.


RA. BABEL: Woher wissen Sie das? Sie waren doch nicht anwesend?


[607] VAN DER ESSEN: Der Rektor der Universität war aber die ganze Zeit da und ebenfalls der Bibliothekar.


RA. BABEL: Haben Sie mit dem Direktor über die Frage gesprochen, ob deutsche Truppen an den Rettungsarbeiten beteiligt waren?


VAN DER ESSEN: In meiner Eigenschaft als Generalsekretär der Universität habe ich laufend mit dem Rektor und dem Bibliothekar über alle Fragen gesprochen, die die Universität ganz allgemein betrafen; ganz besonders über diesen Punkt haben wir gesprochen, und der Rektor hat mir kategorisch versichert, daß kein Soldat der deutschen Armee an der Bekämpfung des Feuers teilgenommen habe.


RA. BABEL: Sie haben auch von der Widerstandsbewegung gesprochen. Ist Ihnen bekannt, daß die Zivilbevölkerung zum Widerstand gegen die deutschen Truppen aufgefordert worden ist?


VAN DER ESSEN: Wo, in den Ardennen?


RA. BABEL: In Belgien.


VAN DER ESSEN: In Belgien bestand die Widerstandsbewegung hauptsächlich aus der Geheim-Armee, das heißt einer Militärorganisation mit einem verantwortlichen und anerkannten Befehlshaber; sie trug ein deutliches Abzeichen, um eine Verwechslung mit Freischärlern zu vermeiden.


RA. BABEL: Haben Sie Kenntnisse darüber, wieviele deutsche Soldaten Opfer dieser Widerstandsbewegung geworden sind?

VAN DER ESSEN: Wie die deutschen Soldaten diesem Widerstand zum Opfer gefallen sind? Das weiß ich genau, da überall, in den Ardennen, die Widerstandsbewegung in Aktion getreten ist, und zwar legal mit Führern an der Spitze, welche besondere Armbinden und die Waffen sichtbar trugen.

Sie haben offen und von vorn die deutschen Truppen angegriffen.


RA. BABEL: Das war nicht meine Frage, ich habe Sie gefragt, ob Sie annähernd wissen, wieviele deutsche Soldaten Opfer dieser Widerstandsbewegung geworden sind?


VAN DER ESSEN: Ich verstehe die Frage nicht, auch nicht ihre Tragweite.


RA. BABEL: Das haben Sie nicht zu beurteilen, sondern das ist Sache des Gerichts.


VAN DER ESSEN: Will der Herr Verteidiger über die von mir bereits erwähnten Ereignisse in den Ardennen sprechen, oder spricht er ganz allgemein?


RA. BABEL: Der Zeuge hat in seinen Aussagen auf die Widerstandsbewegung Bezug genommen. Ich habe nun in Bezug auf diese [608] Widerstandsbewegung, die der Zeuge selbst angeschnitten hat, Fragen gestellt und eine dieser Fragen die lautet, ob dem Zeugen bekannt ist...

VORSITZENDER: Herr Dr. Babel, der Zeuge hat diese Frage doch schon damit beantwortet, daß er nicht sagen kann, wieviele Deutsche Opfer der Widerstandsbewegung geworden sind.


RA. BABEL: Aber vielleicht, das kann er uns sagen, daß deutsche Opfer in mehr oder minder großer Zahl gefallen sind?


VAN DER ESSEN: Es hat regelrechte Kämpfe gegeben.


RA. BABEL: Der Zeuge wird uns auch bestätigen müssen, daß diese Mitglieder der Widerstandsbewegung heute in Belgien als Helden gefeiert werden. Aus dem, was man in der Presse gelesen hat, und was auch hier teilweise vorgebracht worden ist, werden die Leute, die in dieser Widerstandsbewegung tätig waren, heute gefeiert. Wenigstens habe ich das so auffassen müssen.


VORSITZENDER: Wollen Sie bitte Ihr Verhör fortsetzen.


RA. BABEL: Herr Zeuge, ich bitte Sie also, zu bestätigen, daß die Mitglieder des Widerstandes..., Sie haben gesagt, wenn ich Sie richtig verstanden habe, sie hätten 17 Kilogramm abgenommen und haben... und welche Schlüsse haben Sie...


VAN DER ESSEN: Ja.


RA. BABEL: Welchen Schluß haben Sie daraus gezogen, aus dieser Tatsache? Ich habe das am Mikrophon nämlich nicht vollständig verstanden.


VAN DER ESSEN: Ich wollte einfach damit sagen, daß ich diese 17 Kilogramm infolge der seelischen Aufregungen, die wir während der Besetzung ausstehen mußten, verloren habe. Es war eine Antwort auf die Frage des Herrn Faure, ob diese Besetzung mit einem menschenwürdigen Dasein zu vereinbaren sei.

Ich habe verneinend geantwortet und ein Beispiel dafür geben wollen, wie diese Besetzung aussah, die Angst, die wir auszustehen hatten. Ich habe nichts weiter hinzuzufügen; ich glaube, daß das bezeichnend genug war.


RA. BABEL: Nun, ich habe während des Krieges, ohne krank zu sein, 35 kg verloren; welche Schlüsse können nach Ihrer Ansicht daraus gezogen werden?


VORSITZENDER: Herr Babel, wollen Sie Ihr Verhör fortsetzen, uns interessiert Ihr persönliches Schicksal weniger.


RA. BABEL: Ich danke, das war meine letzte Frage.


VORSITZENDER: Wünscht noch jemand Fragen zu stellen?


[Keine Antwort.]


[609] Herr Faure?

M. FAURE: Ich habe weiter keine Fragen. Der Zeuge kann den Gerichtssaal verlassen.

Ich bitte den Gerichtshof, nunmehr das Dokumentenbuch vorzunehmen, das den Schluß des Kapitels über die Angriffe auf die Souveränität enthält und die Überschrift »Frankreich« trägt.

Frankreich wird wie Belgien der Verwaltung einer Militärbesatzung unterstellt. Auf der anderen Seite besteht in Frankreich eine diplomatische Vertretung. Außerdem muß man die Polizeiverwaltung beachten, die immer eine bedeutende Rolle gespielt hat, die immer umfangreicher geworden ist und die sich ganz besonders nach der Ernennung des Generals Oberg 1942 ausgedehnt hat.

Was diesen letzten Teil meines Kapitels über die Angriffe auf die Souveränität betrifft, möchte ich mich darauf beschränken, einige Fälle zu erwähnen, die sich infolge der Herrschaft dieser Usurpatoren in Frankreich abgespielt haben, sowie auf gewisse neue Methoden, die von den Deutschen in diesem Lande angewandt wurden. Das übrige ist bereits ausführlich behandelt worden, und ich werde auch selbst noch auf die Folgen der Tätigkeit der Deutschen in Frankreich eingehen.

Ich möchte die Aufmerksamkeit des Gerichtshofs auf vier Gesichtspunkte lenken:

Erstens: Die deutschen Behörden haben sich von Anfang an in Frankreich eine besondere Schlüsselstellung gesichert. Ich möchte die Zerstückelung Frankreichs in fünf verschiedene Zonen behandeln. Diese Zerstückelung, die die Deutschen erzwangen, hat in gewissem Maße einen Ausgleich für die besondere Situation geschaffen, die sich für sie durch das Bestehen des unbesetzten französischen Gebietes ergab.

Ich habe bereits vorhin gesagt, daß das Waffenstillstandsabkommen vom 22. Juni 1940, das dem Gerichtshof vorgelegt worden ist, die Errichtung einer Demarkationslinie zwischen einer besetzten und einer sogenannten unbesetzten Zone vorsah. Man konnte damals glauben, daß diese Demarkationslinie im wesentlichen den Erfordernissen der militärischen Bewegungen in der besetzten Zone entspräche. Man konnte weiterhin daraus schließen, daß sich die Trennung der Zonen nur in der Ausübung der normalen Rechte einer Besatzungsarmee in der besetzten Zone ausdrücken würde.

Ich habe bereits Gelegenheit gehabt, dem Gerichtshof zu diesem Thema die Zeugenaussage von Herrn Leon Noël vorzulegen. Sie enthält mündliche Versicherungen, die hierüber von den jetzt angeklagten Generalen Keitel und Jodl abgegeben worden waren.

In der Tat ist diese Abgrenzung der Zonen mit äußerster Strenge und in ganz unerwarteter Weise ausgelegt und vorgenommen [610] worden. Wir haben bereits die wichtigen Folgen für das Wirtschaftsleben des Landes gesehen. Auch für die örtliche Verwaltung, die bei der Erfüllung ihrer Aufgaben dauernd gestört wurde, und für das Leben der Bevölkerung, die sich zwischen den verschiedenen Teilen des französischen Gebiets nicht frei bewegen konnte, hat sie wichtige Folgen gehabt. Die Deutschen haben sich also auf diese Art und Weise Druckmittel für die französischen Behörden verschafft. Dieses Druckmittel war um so vorteilhafter, als es sehr elastisch und stets anwendbar war.

Die Deutschen konnten die Zonentrennungsvorschriften bald lockern, bald verschärfen. Ich zitiere als Beispiel den Auszug aus einem Dokument, das ich als Beweisstück RF-1051 vorlege. Dieses Dokument ist ein Schreiben vom 20. 12. 1941, das Herr Schleier von der Deutschen Botschaft an den Französischen Delegierten de Brinon gerichtet hat und das sich mit Passierscheinen für deutsche Zivilisten befaßt, die die unbesetzte Zone betreten wollten. Die französischen Behörden der de-facto-Regierung hatten gegen die Tatsache protestiert, daß sie von den Deutschen gezwungen wurden, diese Personen, die einen deutschen Ausweis besaßen, in das unbesetzte Gebiet hereinzulassen, wo sie sich allen Geschäften widmen konnten, und besonders der Spionage, wie man sich vorstellen kann. Das Schreiben, das ich jetzt zitiere, beantwortet diesen französischen Protest und ich möchte nur den letzten Absatz verlesen, also den zweiten Absatz auf Seite 2 dieses Dokuments RF-1051:

»Falls die Französische Regierung bei der Behandlung von Passierscheinanträgen, die mit deutscher Genehmigung zur Vorlage gelangen, Schwierigkeiten bereiten sollte, würde die bisher bei der Ausstellung von Passierscheinen für französische Staatsangehörige geübte Großzügigkeit nicht mehr im gleichen Umfange aufrechterhalten werden können.«

Was ich hier vortrage ist aber lediglich ein erstes Beispiel für die Teilung des Landes. Diese erste Teilung war durch das Waffenstillstandsabkommen begründet, obwohl auch dieses übertreten wurde und anfechtbar war. Dagegen wurden die anderen Trennungen einfach ohne jede Ankündigung und ohne jeden Vorwand von den Deutschen angeordnet und vorgenommen. Ich muß erwähnen, daß die Abtrennung der Departements Oberrhein, Niederrhein und Mosel von dem Rest Frankreichs, die – ich glaube dies schon bewiesen zu haben – von Deutschland praktisch einverleibt wurden, die erste zusätzliche Teilung darstellte.

Eine zweite Teilung traf die Departements Nord und Pas-de-Calais. Diese Departements wurden tatsächlich der deutschen Militärverwaltung in Belgien angeschlossen. Diese Tatsache geht aus den Überschriften der Verordnungen des deutschen Militärbefehlshabers hervor, die ebenso wie das belgische Amtsblatt dem [611] Gerichtshof vorliegen. Diese Trennung wurde nicht nur von der Militärverwaltung des deutschen Oberkommandos gemacht, sondern sie bestand auch für die französische Verwaltung. Diese Verwaltung war in den betreffenden Departements nicht ausgeschaltet, aber ihre Verbindungen mit der Zentralverwaltung waren sehr erschwert.

Da ich diesen Punkt nicht weiter auszuführen beabsichtige, möchte ich nur ein Dokument als Beispiel zitieren, das ich als Beweisstück RF-1052 vorlege. Es ist ein Brief des Militärbefehlshabers vom 17. September 1941, mit dem er ablehnt, die telegrafischen und telefonischen Verbindungen mit dem Restfrankreich wiederherzustellen. Ich zitiere den einzigen Satz, den dieser Brief enthält:

»Nach Entscheidung des Oberkommandos der Wehrmacht kann dem Antrag auf Zulassung einer unmittelbaren Telegrammverbindung der Regierung in Vichy mit den Dienststellen der beiden Nord-Departements zur Zeit noch nicht entsprochen werden.«

Die dritte Teilung bestand in der Errichtung einer sogenannten verbotenen Zone in der unbesetzten Zone. Die Schaffung dieser verbotenen Zone entsprach zweifellos den künftigen Plänen der Deutschen für die Angliederung von gewissen Teilen Frankreichs. Ich habe hierhergehörige Dokumente zu Beginn meines Vortrages verlesen. Für diese verbotene Zone waren keine besonderen Verwaltungsvorschriften getroffen, aber es bedurfte einer besonderen Ermächtigung, um in sie hineinzugelangen oder sie zu verlassen. Den Personen, die diese Zone verlassen hatten und in andere Bezirke geflüchtet waren, war die Rückkehr nur nach und nach unter großen Schwierigkeiten möglich.

Die Verwaltungs- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen dieser Zone und den anderen Zonen wurden ständig behindert. Diese Tatsache ist wohl bekannt, aber trotzdem möchte ich ein Dokument als Beispiel zitieren, und ich lege dieses Dokument vor als Nummer RF-1053. Es ist ein Brief des Militärbefehlshabers vom 22. November 1941, gerichtet an die Französische Delegation.

Ich werde mich darauf beschränken, den Inhalt dieses Briefes dahingehend zusammenzufassen, daß der deutsche Militärbefehlshaber seine Genehmigung zu der Reise eines Ministers der de-facto-Regierung in Vichy erteilte, der sich in die besetzte Zone begeben wollte, ihm aber nicht gestattete, sich in die verbotene Zone zu begeben.

Damit der Gerichtshof sich die Lage dieser fünf Zonen deutlich vorstellen kann, habe ich in das Dokumentenbuch eine Karte von Frankreich mit aufgenommen, aus der diese Trennungen ersichtlich sind. Diese Karte von Frankreich trägt die Nummer RF-1054. Ich glaube aber nicht, daß es notwendig ist, daß ich sie als eigentliches [612] Beweisstück einreiche. Sie ist lediglich dazu bestimmt, dem Gerichtshof diese weitgehende Zerstückelung Frankreichs zu veranschaulichen. Sie zeigt einerseits die angegliederten Departements, andererseits die Departements Nord und Pas-de-Calais, deren Abgrenzung auf der Karte sichtbar ist, die verbotene besetzte Zone und dann die Demarkationslinie. Es ist übrigens die Reproduktion einer Karte, die in Paris vom Verlag Girard & Barere während der Besatzung gedruckt und verkauft wurde.

Um mit der Frage der Teilung Frankreichs fertig zu werden, möchte ich den Gerichtshof daran erinnern, daß die deutsche Armee am 11. November 1942 in die sogenannte unbesetzte Zone eindrang. Die deutschen Behörden haben damals erklärt, daß sie nicht beabsichtigen, dieses Gebiet vom Militär besetzen zu lassen, sondern lediglich ein Operationsgebiet daraus zu machen, wie man es nannte. Die deutschen Behörden haben diesen von ihnen erfundenen Rechtsbegriff ebensowenig respektiert wie die Bestimmungen des Besatzungsrechtes. Der Beweis für diese Rechtsverletzungen im sogenannten Operationsgebiet ist bereits wiederholt vorgelegt worden, und wird am Ende meiner Anklagerede nochmals berührt werden.

Außerdem war diese Teilung begreiflicherweise höchst unangenehm für ein Land, dessen Oberfläche verhältnismäßig klein und dessen Leben sehr zentralisiert ist.

Ich möchte jetzt die zweite Abneigung der Souveränität behandeln, die in der von den Deutschen ausgeübten Kontrolle über die Gesetzgebung der Französischen de-facto-Regierung bestand.

Natürlich hat die deutsche Militärverwaltung getreu ihrer Lehre niemals aufgehört, durch eigene Verordnungen eine wirkliche gesetzgebende Macht über die Franzosen auszuüben. Aber andererseits – und das möchte ich jetzt im Hinblick auf die französische Macht, die die Deutschen noch vorgaben als souverän anzuerkennen – übten sie eine tatsächliche Zensur der Gesetzgebung aus. Ich werde hierfür jetzt erneut als Beispiele einige Dokumente zitieren.

Das erste Dokument, das ich vorlege, ist RF-1055. Es ist ein Brief des Militärbefehlshabers in Frankreich an den Französischen Generaldelegierten, datiert vom 29. Dezember 1941. Die Unterschrift unter diesem Brief läßt sich als die des Dr. Best feststellen, von dem ich heute früh im Zusammenhang mit Dänemark gesprochen habe, wo er später eine politische und polizeiliche Funktion ausübte. Ich glaube, es ist nicht nötig, den Text dieses Briefes zu verlesen. Ich möchte lediglich die Überschrift verlesen:

»Betrifft: Gesetzentwurf über den französischen Haushaltsplan 1942 und über das neue französische Finanzgesetz.«

[613] Die deutschen Behörden glaubten für die Aufstellung des Budgets der Französischen de-facto-Regierung zuständig zu sein. Dabei hatte dies mit den Notwendigkeiten ihrer Militärbesetzung gar nichts zu tun. Die Deutschen prüften nicht nur die von der Französischen Regierung vorgeschlagenen Gesetze, sondern ihre Anregungen trugen auch die Form von Befehlen. Ich will im Augenblick kein Dokument zitieren, denn ich werde zwei Dokumente darüber vorlegen: eins über Propaganda, ein anderes über die Behandlung der Juden.

Eine dritte Überschreitung ihrer Machtbefugnisse bestand in der Intervention der deutschen Behörden bei der Ernennung und Einsetzung von Beamten. Gemäß der bereits angewendeten Methode lege ich einige Dokumente als Beispiel zu diesem Thema vor. Als erstes werde ich ein Dokument vorlegen, das die Nummer RF-1056 trägt. Es ist ein Brief des Generals von Stülpnagel, Militärbefehlshaber in Frankreich, an de Brinon vom 23. September 1941. Der Inhalt dieses Briefes braucht nicht ganz verlesen zu werden. Er befaßt sich mit der Sabotage der Ernte und den mit der Lebensmittelversorgung verbundenen Schwierigkeiten. Ich verlese lediglich den letzten Absatz dieses Dokuments RF-1056:

»Ich muß daher jetzt mit allem Nachdruck verlangen, daß beschleunigt eine einheitliche Führung und Steuerung der für die Versorgung der Bevölkerung notwendigen Maßnahmen gewährleistet wird, und sehe die Erreichung dieses Ziels nur dadurch möglich, daß beide Ministerien in der Hand eines energischen und sachverständigen Mannes zusammengefaßt werden.«

Es handelt sich also um ein Eingreifen in die Zusammensetzung eines Ministeriums, einer scheinbaren Regierungsbehörde. Über die Kontrolle der Ernennung von Beamten lege ich Dokument RF-1057 vor. Es ist ein Brief des Militärbefehlshabers vom 29. November 1941. Ich will den Inhalt des Briefes lediglich dahingehend zusammenfassen, daß die deutschen Behörden gegen die Ernennung des Präsidenten des Verbindungskomitees für Zuckerrübenerzeugung Einspruch erhoben. Dies hatte bestimmt nichts mit den militärischen Notwendigkeiten zu tun. Alsdann lege ich Dokument RF-1058 vor, ebenfalls ein Brief des Militärbefehlshabers. Dieser Brief ist sehr kurz und ich will ihn verlesen:

»Ich ersuche zu veranlassen, daß der Unterpräfekt von St. Quentin, M. Planacassagne, von seinem Amt abberufen und möglichst rasch durch einen geeigneten Beamten ersetzt wird. M. Planacassagne ist seinem Amt nicht gewachsen.«

Ich werde jetzt einen allgemeinen Text zitieren. Ich lege Dokument RF-1059 vor. Dies ist ein geheimes Rundschreiben vom 10. Mai 1942, vom Militärbefehlshaber, Chef des Verwaltungsstabes, [614] an alle Hauptkommandanturen gerichtet. Hier finden wir erneut die Unterschrift von Dr. Best.

»Betrifft: Aufsicht über die französische Personalpolitik im besetzten Gebiet. Die Umbildung der Französischen Regierung eröffnet gewisse Möglichkeiten einer positiven Beeinflussung der französischen Personalpolitik im besetzten Gebiet. Ich ersuche deshalb, laufend diejenigen französischen Beamten namhaft zu machen, die als in deutschem Sinne besonders brauchbar in Erscheinung treten, und auf die die französische Regierung bei der Besetzung wichtiger Ämter hingewiesen werden kann.«

So wird dieses allumfassende Netz der deutschen Kontrolle und der deutschen widerrechtlichen Besitzergreifungen immer weiter gespannt.

Ich lege jetzt Dokument RF-1060 vor. Dieses Dokument ist eine Vernehmung von Otto Abetz, dem früheren Botschafter in Frankreich. Diese Vernehmung fand am 17. November 1945 vor den Kommissaren Berge und Saulas von der allgemeinen Informationsstelle (Renseignements généraux) in Paris statt. Dieses Dokument bestätigt, daß die Deutschen sich in die französische Verwaltung einmischten und es enthält im übrigen Einzelheiten über die doppelte Verwaltungskontrolle durch den Militärbefehlshaber und die Gestapo.

»Der Militärbefehlshaber in Frankreich stützt sich auf die verschiedenen Konventionen des internationalen Rechtes.« –

So erklärt Otto Abetz, und ich brauche nicht zu sagen, daß wir seiner Auffassung vom internationalen Recht keineswegs beistimmen.

»Der Militärbefehlshaber hielt sich für verantwortlich für die Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im besetzten Gebiet und betrachtete sich insoweit als den obersten Richter. Zu diesem Zweck beanspruchte er das Recht, seine Zustimmung zur Ernennung aller französischen Beamten zu geben, die Posten in der besetzten Zone bekleiden sollten. Für die in der freien Zone wohnenden Beamten, welche ihre Pflichten in der besetzten Zone auszuüben hatten, war die Zustimmung des Militärbefehlshabers für ihre Ernennung ebenfalls notwendig.

In der Praxis machte der Militärbefehlshaber von dem dementsprechend beanspruchten und so festgelegten Recht lediglich bei der Ernennung hoher Staatsbeamter Gebrauch, und auch dann nur im Sinne eines ›Vetorechts‹, d.h. er griff nicht in die Auswahl der Beamten ein, die ernannt werden sollten, sondern er begnügte sich damit, zu gewis sen vorgeschlagenen Namen Bemerkungen zu machen. Diese [615] Bemerkungen stützten sich auf Auskünfte, die der Militärbefehlshaber von seinen Kreis- oder Ortskommandanturen, von seinen verschiedenen Verwaltungs- und Wirtschaftsämtern in Paris und durch die Gestapo erhielt, die damals noch immer unter dem Befehl des Militärbefehlshabers standen. Nach dem 11. November 1942 änderte sich dieser Zustand infolge der Besetzung der freien Zone. In sämtlichen Fällen, die die Sicherheit der deutschen Armee berührten, verlangten die deutschen Militärbehörden in dieser Zone, bei der Ernennung von Beamten zu Rate gezogen zu werden.

Die Gestapo ihrerseits erwarb in beiden Zonen eine tatsächliche Unabhängigkeit gegenüber den militärischen Kreis- und Ortsbehörden und dem Militärbefehlshaber. Sie beanspruchte das Recht, bei jeder Ernennung eingreifen zu können, die in irgendeiner Weise die Interessen ihrer polizeilichen Aufgaben berühren könnte. Da ich vom November 1942 bis Dezember 1943 nach Deutschland zurückberufen war, war ich selbst nicht Zeuge der Streitigkeiten, die sich aus diesem Zustand ergaben und die in höchstem Grade die angebliche Souveränität der Vichy-Regierung kompromittierten.

Als ich nach Frankreich zurückkam, hatte sich die Situation sehr verschlimmert, da die Gestapo sowohl in der besetzten als auch in der freien Zone das Recht beanspruchte, die Ernennung von Präfekten von ihrer Zustimmung abhängig zu machen. Sie ging sogar so weit, daß sie die von der Französischen Regierung zu ernennenden Beamten selbst vorschlug. Mit meiner Unterstützung nahm der Militärbefehlshaber den Kampf gegen diese zu weit gehenden Forderungen wieder auf, und es gelang ihm, teilweise die Situation wiederherzustellen, die vor November 1942 bestand.«

Das Dokument, das ich soeben verlesen habe, stellt einen Übergang auf den vierten Punkt dar, den ich dem Gerichtshof unterbreiten möchte. Ich möchte hiermit das Gericht auf das Nebeneinander- und Miteinanderarbeiten der verschiedenen Stellen hinweisen, das auf eine Machtergreifung hinzielte, d.h. des Militärbefehlshabers, der Botschaft und der Polizei. Was die Polizei betrifft, werde ich im letzten Teil meiner Anklagerede noch ausführlicher darauf zurückkommen.

Zum Thema der Errichtung einer Deutschen Botschaft in Frankreich lege ich dem Gerichtshof Dokument RF-1061 vor. Diese Urkunde ist in mein Dokumentenbuch als die amtlich beglaubigte Übersetzung eines amtlich beglaubigten Dokuments aus den Akten Otto Abetz in Paris aufgenommen. Andererseits ist das Dokument auch in der amerikanischen Dokumentensammlung enthalten, in der [616] es die Nummer PS-3614 trägt. Es ist jedoch dem Gerichtshof noch nicht vorgelegt worden.

Es handelt sich um die offizielle Ernennung von Abetz zum Botschafter. Ich möchte dieses Dokument RF-1061 verlesen. Ich zitiere:

»z. Zt. Fuschl, 3. August 1940. Auf die an das Oberkommando der Wehrmacht gerichtete, von diesem dem Auswärtigen Amt fernmündlich weitergegebene Anfrage des Generalquartiermeisters vom 23. Juli 1940.

Der Führer hat den bisherigen Gesandten Abetz zum Botschafter ernannt und auf meinen Vortrag folgendes verfügt:

I. Der Botschafter Abetz hat in Frankreich folgende Aufgaben:

1. Beratung der militärischen Stellen in politischen Fragen.

2. Ständiger Kontakt mit der Vichy-Regierung und ihren Beauftragten im besetzten Gebiet.

3. Einflußnahme auf die maßgebenden politischen Persönlichkeiten des besetzten und unbesetzten Gebietes in dem von uns gewünschten Sinne.

4. Politische Leitung von Presse, Rundfunk und Propaganda in dem besetzten, und Einflußnahme auf erfaßbare Instrumente der öffentlichen Meinungsbildung im unbesetzten Gebiet.

5. Betreuung der aus Internierungslagern zurückkehrenden reichsdeutschen, französischen und belgischen Staatsangehörigen.

6. Beratung der Geheimen Feldpolizei und Geheimen Staatspolizei bei der Beschlagnahme poli tisch wichtiger Dokumente.

7. Sicherstellung und Erfassung des öffentlichen Kunstbesitzes, ferner des privaten und vor allem jüdischen Kunstbesitzes, auf Grund besonderer hierzu erteilter Weisungen.

II. Der Führer hat hierbei ausdrücklich angeordnet, daß ausschließlich Botschafter Abetz für die Behandlung aller politischen Fragen im besetzten und unbesetzten Frankreich verantwortlich ist. Soweit durch seine Aufgabe militärische Interessen berührt werden sollten, wird Botschafter Abetz nur im Einvernehmen mit dem Militärbefehlshaber in Frankreich handeln.

III. Botschafter Abetz wird dem Militärbefehlshaber in Frankreich als mein Beauftragter zugeteilt. Sein Sitz bleibt, wie bisher, Paris. Die Weisung der Durchführung seiner [617] Aufgaben erhält er von mir und ist mir ausschließlich hierfür verantwortlich.

Ich wäre dankbar, wenn das OKW mit möglichster Beschleunigung die erforderlichen Befehle an die beteiligten militärischen Stellen ergehen lassen würde. gez. Ribbentrop.«

Die Tatsache einer engen Zusammenarbeit zwischen der Militärverwaltung und der Verwaltung der Auswärtigen Angelegenheiten geht aus diesem Dokument hervor, einer Zusammenarbeit, die ich bereits mehrfach in diesem Prozeß als eines der entscheidenden Elemente für die Verantwortung bezeichnet habe und für die ich später Beispiele verbrecherischer Art geben werde.

Ich möchte jetzt dem Gerichtshof mitteilen, daß ich Dokument RF-1062 nicht vorlegen werde. Obgleich ich von dem Wert dieses Dokuments überzeugt bin, das sich auf amtlich beglaubigte französische Akten stützt, bin ich nicht im Besitz des deutschen Originaltextes. Unter diesen Umständen könnten durch die Übersetzung Schwierigkeiten entstehen, und es ist natürlich notwendig, daß jedes vorgelegte Dokument Garantien bietet, die über jede Diskussion erhaben sind.

Ich werde jetzt zu dem letzten Dokument übergehen, das ich hier als RF-1063 vorlege. Es handelt sich hier um eine Einzelheit, wenn man so sagen darf, des Themas »Zusammenarbeit der deutschen Stellen«, aber manchmal können Dokumente über Einzelheiten formeller Natur von gewissem Interesse sein. Es handelt sich um eine Notiz, die in den deutschen Archiven in Paris gefunden worden ist; sie ist datiert vom 5. November 1943 und enthält den Aktenplan der Deutschen Botschaft. Ich werde lediglich die ersten drei Zeilen dieser Notiz vorlesen.

»Die Akten sind in Anlehnung an die Gliederung der Militärverwaltung in Frankreich in 10 Hauptgruppen eingeteilt...«

Es folgt dann eine Aufstellung über die Methoden und Gruppen, nach denen die Akten sortiert werden.

Ich möchte lediglich darauf hinweisen, daß die Deutsche Botschaft, eine vom Auswärtigen Amt abhängige Zivilverwaltung, und der Militärbefehlshaber bei ihrer engen Zusammenarbeit soweit gingen, daß alle ihre Aktenvorgänge in übereinstimmender Weise geordnet waren.

Ich habe nunmehr mein zweites Kapitel beendet, das einer allgemeinen Untersuchung der Machtergreifung in den besetzten Gebieten gewidmet war. Ich möchte darauf hinweisen, daß die gesamten Akten, ebenso wie mein Vortrag vor dem Gerichtshof, mit Hilfe meines Assistenten M. Monneray, zusammengestellt worden sind.

[618] Ich bitte den Gerichtshof jetzt, die Akten des dritten Kapitels vorzunehmen, in dem es sich um die geistige Germanisierung und die Propaganda handelt.

Als ich hier über die Zwangsarbeit und die wirtschaftlichen Plünderungen sprach, hatte ich gesagt, daß sich die Deutschen die zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte, Waren und Rohmaterialien in den besetzten Gebieten angeeignet haben. Sie haben diese Länder ihrer Reserven beraubt. Nun, in der gleichen Art und Weise sind die Deutschen hinsichtlich intellektueller und moralischer Güter vorgegangen. Sie wollten sich die geistigen Reserven aneignen und sie ausschalten. Dieser Ausdruck, »Geistige Reserven«, der sehr bezeichnend ist, ist nicht von der Anklagevertretung, sondern von den Deutschen selbst geprägt worden. Ich zitiere dem Gerichtshof einen weiteren Auszug des Werkes, das unter RF-5 vorgelegt worden ist. Es handelt sich um ein Buch, das in Berlin veröffentlicht und von der Nazi-Partei herausgegeben wurde. Der Verfasser war Dr. Friedrich Didier. Dieses Werk enthält eine Einleitung des Angeklagten Sauckel. Der Titel lautet: »Europa arbeitet in Deutschland.«

In diesem Buche heißt ein Kapitel »Menschenführung und Betreuung«. Der Autor beschäftigt sich mit der geistigen Orientierung der Fremdarbeiter, die zu Millionen zwangsweise nach Deutschland gebracht worden waren.

Dieses Interesse an der geistigen Einstellung so wichtiger Elemente der Bevölkerung der besetzten Gebiete ist an sich bemerkenswert. Andererseits ist es ganz klar, daß diese Sorge sich auch auf sämtliche Bewohner der besetzten Gebiete erstreckt. Der Verfasser hat sich hier nur auf sein Thema beschränkt. Zur Einleitung meines Kapitels habe ich dieses Zitat gewählt, weil mir die deutschen Propagandaplanungen darin besonders glücklich formuliert zu sein scheinen.

Ich zitiere Seite 69 des vorgelegten Buches:

»Die Frage der Menschenführung liegt beim Ausländereinsatz nicht so einfach wie beim deutschen Arbeitskameraden. Im Ausländereinsatz kommt beispielsweise der Beseitigung seelischer Hem mungen eine weit höhere Bedeutung zu: der Ausländer muß sich an eine ihm fremde Arbeitsumgebung gewöhnen. Seine etwa vorhandenen weltanschaulichen Bedenken müssen ausgeräumt werden. Die Einstellung der Angehörigen früherer Feindstaaten ist ebenso wirksam zu Widerlegen wie die Auswirkung fremder Weltanschauungen.«

In den besetzten Gebieten versuchten die Deutschen, die geistigen Reserven zu vernichten und jedem Menschen seine Weltanschauung zu nehmen, um sie durch die notwendigen Anschauungen zu ersetzen. Das war der Zweck der Propaganda. Diese Propaganda [619] wurde bereits in Deutschland verbreitet und weiterhin fortgesetzt. Aber wir sehen aus dem vorgeführten Beispiel, daß man sich darin auch mit der geistigen Einstellung des deutschen Arbeiters beschäftigt, obgleich man dieses Problem für einfacher hält.

Wenn man heute von der Nazi-Propaganda spricht, neigt man oft dazu, ihre Bedeutung zu unterschätzen. Dafür werden zwar Gründe angeführt, aber sie sind nicht stichhaltig.

Auf der einen Seite sind wir, wenn wir die Werke und die Themen der Propaganda betrachten, durch ihre Grobheit, ihren offensichtlich heuchlerischen Charakter und ihre geistige und künstlerische Armut betroffen.

Aber man darf nicht vergessen, daß die Nazi-Pro paganda einerseits alle Mittel anwandte, die gröbsten, aber auch gleichzeitig verstecktere und oft geschickte Methoden. Andererseits sind es diese am dicksten aufgetragenen Behauptungen, die den größten Eindruck auf einfache Geister machen. Schließlich dürfen wir nicht vergessen, daß diese Schriften und Filme, die wir lächerlich finden, unsere hauptsächlichste und bald einzige geistige Nahrung dargestellt hätten, wenn die Deutschen den Krieg gewonnen hätten.

Es wird auch oft behauptet, daß die deutsche Propaganda nur sehr schwache Ergebnisse erzielt habe. In der Tat, ihre Ergebnisse sind sehr unbedeutend, besonders, wenn man die Reichweite der ihr zur Verfügung stehenden Mittel in Betracht zieht. Die unterdrückten Völker haben auf die deutschen Nachrichten und die Ermahnungen nicht gehört, sondern sie haben sich der Widerstandsbewegung angeschlossen. Man muß aber auch dabei berücksichtigen, daß der Krieg andauerte, daß der Rundfunk der frei gebliebenen Länder eine großartige Gegenpropaganda verbreitete, und daß schließlich die Deutschen nach einer gewissen Zeit militärische Rückschläge erlitten haben.

Wenn die Ereignisse anders verlaufen wären, hätte vielleicht die Propaganda im Laufe der Zeit bei den wichtigeren Elementen der Bevölkerung Billigung gefunden. Das wäre schlimmer gewesen als die Unterdrückung selbst. Es ist ein glücklicher Umstand, daß nur eine schwache Minderheit in den verschiedenen Ländern durch die Nazi-Propaganda verführt worden ist. Aber, so gering diese Minderheit auch gewesen sein mag, so ist sie doch für uns ein Anlaß zur Trauer und berechtigten Klage.

Die Schlagworte der Nazi-Propaganda erscheinen was weniger kindisch und weniger lächerlich, wenn wir an die wenigen Elenden denken, die davon beeinflußt wurden und sich einer Legion oder der Waffen-SS anschlossen, um gegen ihr eigenes Land und gegen die Menschheit zu kämpfen. Der Tod dieser Männer in diesem entehrenden Kampf oder nach ihrer Verurteilung hat ihr Verbrechen [620] gesühnt. Aber für jeden dieser Toten und jedes dieser Verbrechen ist die Nazi-Propaganda verantwortlich!

Schließlich sind wir nicht sicher, ob wir heute die tatsächlichen Auswirkungen der Nazi-Propaganda genau kennen und den Schaden ermessen können, der uns angetan worden ist. Die Nationen zählen Ihre sichtbaren Wunden, aber die Propaganda ist ein Gift, das sich im geistigen Organismus ausbreitet und keine sichtbaren Spuren hinterläßt. Es gibt in der Welt noch Menschen, die infolge der Propaganda, der sie ausgesetzt waren, vielleicht ohne sich darüber klar zu sein, das Recht zu haben glauben, einen ihrer Mitmenschen zu verachten oder zu beseitigen, weil er Jude oder Kommunist ist. Solche Menschen sind zu Mitschuldigen und gleichzeitig zu Opfern des Nazismus geworden.

Einer meiner Kollegen hat ausgeführt, daß die körperliche Gesundheit der Bevölkerung in den besetzten Ländern gelitten habe; ihre moralische Gesundheit scheint widerstandsfähiger zu sein, aber sie bedarf noch auf einige Zeit einer sorgfältigen Beobachtung.

Die Französische Anklagebehörde ist daher der Ansicht, daß diesem Kapitel über die geistige Germanisierung und die Propaganda ein Platz in der Anklagerede zusteht. Die Propaganda ist ein verbrecherisches Vorhaben an sich; ein Verbrechen wider den Geist, wie Herr de Menthon es bezeichnete. Aber in der Gesamtheit der Nazi-Verbrechen stellt sie gleichzeitig ein Mittel dar und einen erschwerenden Umstand, da sie deren Erfolg vorbereitete und aufrechterhalten sollte.

Die Deutschen selbst haben sie, wie aus zahlreichen Zitaten hervorgeht, als eine der zuverlässigsten Waffen des totalen Krieges betrachtet. Insbesondere aber diente sie als Mittel der Germanisierung, die wir jetzt behandeln. Ich muß hinzufügen, daß die deutsche Propaganda sich ständig und Jahre hindurch in Gebieten von beträchtlichem Ausmaß weiterentwickelt hat. Sie ist in derart mannigfaltigen Formen aufgetreten, daß wir – besonders im Hinblick auf die Verantwortung gewisser Personen und Organisationen – nur einige Grundzüge feststellen und charakteristische Dokumente zitieren können.

Mit dem im Jahre 1933 geschaffenen Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda hat das Reich bereits seit geraumer Zeit eine amtliche Propaganda organisiert. Goebbels war der Leiter dieses Ministeriums, in dem der Angeklagte Fritzsche bedeutende Aufgaben hatte. Aber dieser Minister und sein Amt waren nicht die einzig Verantwortlichen für Propagandatragen.

Wir werden zeigen, daß der Minister und das Ministerium des Äußern in gleichem Maße verantwortlich waren. Wir werden ebenfalls zeigen, daß die Partei aktiv an der Propaganda beteiligt war. Endlich möchte ich schon hier erwähnen, daß die Militärbefehlshaber [621] in den besetzten Gebieten Propagandaorgane eingerichtet haben, die eine sehr starke Aktivität entwickelten. Diese Feststellung gehört an sich zu dem Material, aus dem hervorgeht, daß die deutschen Militärbefehlshaber Aufgaben durchgeführt haben, die normalerweise nicht als militärisch angesehen werden.

Die Beschuldigung einer gemeinsamen Verantwortung wird in erster Linie durch die abnorme Erweiterung des Tätigkeitsbereiches der Militärbefehlshaber und des Oberkommandos der Wehrmacht gerechtfertigt, abgesehen von Verbrechen, die im Bereich ihrer direkten Zuständigkeit begangen wurden.

Immer weist die deutsche Propaganda zwei sich ergänzende Merkmale auf: ein negatives und ein positives. Bei der negativen, in gewissem Maße zerstörerischen Seite handelt es sich darum, gewisse Freiheiten, gewisse früher vorhandene geistige Möglichkeiten zu unterdrücken oder zu beschränken. In positiver Hinsicht handelt es sich darum, Dokumente und Propagandainstrumente hervorzubringen und die Propaganda sichtbar, hörbar und in eindringlicher Weise zu verbreiten. Es wurde von maßgeblicher Seite behauptet, daß es zwei verschiedene Stimmen gebe, die Stimme, die die Wahrheit unterschlägt, und die Stimme, die die Lüge verbreitet. Diesen Dualismus einer Propaganda, die sowohl eine restriktive als auch konstruktive Politik anwendet, gibt es auf allen Gebieten des Gedankenausdruckes.

Im ersten Teile meiner Ausführungen werde ich die Bestimmungen erwähnen, die die Deutschen für Versammlungen und Vereinigungen erlassen haben. Die deutschen Behörden haben immer Maßnahmen ergriffen, um die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit in den besetzten Gebieten zu unterdrücken. Das betrifft zu gleicher Zeit das Problem der politischen Rechte und das der Gedankenfreiheit: Auf Grund einer Verordnung vom 21. August 1940, die im amtlichen deutschen Verordnungsblatt am 16. September 1940 veröffentlicht wurde, war in Frankreich jede Vereinigung oder Versammlung ohne Erlaubnis der deutschen Militärverwaltung untersagt. Man darf nicht glauben, daß die Deutschen ihre Macht nur Vereinigungen und Verbänden gegenüber ausübten, die ihnen feindlich gesinnt waren oder politischen Charakter hatten. Sie wollten die Verbreitung eines jeden geistigen oder sittlichen Einflusses verhindern, den sie nicht unmittelbar beaufsichtigten. In diesem Zusammenhang lege ich dem Gerichtshof als ein einfaches Beispiel Dokument RF-1101 vor, ein Schreiben des Militärbefehlshabers in Frankreich vom 13. Dezember 1941 an den Generalbevollmächtigten der Französischen Regierung.

Es handelt sich hier um Jugendvereine. Selbst wenn es sich um Vereine oder Gruppen öffentlichen Rechts handelte, gaben die Deutschen ihre Zustimmung nur unter der Bedingung, daß sie nicht nur [622] eine Kontrolle über diese Formationen, sondern auch einen wirklichen Einfluß durch sie ausüben könnten.

Ich werde den ersten Absatz dieser Urkunde RF-1101 verlesen:

»Das Secrétariat Général de la Jeunesse hat in einem Schreiben vom 11. November 1941 seine Absicht mitgeteilt, im besetzten Gebiet sogenannte Centres sociaux de la Jeunesse einzurichten, die der staatspolitischen Erziehung der Jugend und ihrer Betreuung im Hinblick auf ihre sittliche Gefährdung dienen sollen.

Die Eröffnung der Centres sociaux de la Jeunesse bedarf, ebenso wie die Einrichtung von Jugendlagern, der Genehmigung durch den Militärbefehlshaber in Frankreich.

Bevor zu dem Plane der Errichtung von Centres sociaux de la Jeunesse endgültig Stellung genommen werden kann, erscheint es erforderlich, daß noch nähere Angaben darüber gemacht werden, wer Träger der Centres in den einzelnen Gemeinden sein soll, unter welchen Gesichtspunkten die besonders wichtige Auswahl der Leiter dieser social-centres getroffen wird, welche Kreise der Jugend besonders erfaßt werden sollen, und welche Pläne im einzelnen für die Unterrichtung und Erziehung der Jugendlichen vorgesehen sind.«

Ich werde jetzt Dokument RF-1102 vorlegen. Dieses ist eine Note, eine Niederschrift...

VORSITZENDER: Herr Faure, können Sie mir sagen, wieviel Zeit Sie für das Thema Propaganda noch benötigen werden?

M. FAURE: Ungefähr zwei Stunden, zweieinhalb Stunden.


VORSITZENDER: Wie lautet Ihr Programm, nachdem Sie das Thema Propaganda beendet haben werden?


M. FAURE: Herr Vorsitzender! Wie ich zu Beginn meiner Anklagerede angegeben habe, besteht mein Vortrag aus 4 Teilen.

Das Propagandakapitel ist das dritte Kapitel.

Das vierte Kapitel betrifft die verwaltungsmäßige Organisation der verbrecherischen Handlungen. Es entspricht mehr dem zweiten Teile des vierten Punktes der Anklageschrift, der sich mit den Verfolgungen befaßt; ein ziemlich großer Teil bezieht sich auf die Verfolgung der Juden in den besetzten Westgebieten.

Nach diesem Kapitel werde ich meine Anklagerede beendet haben. Wünscht der Gerichtshof außerdem, daß ich den weiteren Inhalt des französischen Programms angebe?


VORSITZENDER: Ja, wir möchten das gern wissen.


M. FAURE: Folgendes ist vorgesehen:

[623] Herr Mounier wird sich mit dem Teile der Akten beschäftigen, der eine Untersuchung und Zusammenfassung der individuellen Beschuldigungen der Anklage darstellt.

Außerdem wird Herr Gerthoffer kurz über Plünderung von Kunstschätzen sprechen. Diese Frage ist bisher noch nicht behandelt worden und gehört in den Rahmen dieses Vortrags.


VORSITZENDER: Dann werden wir jetzt vertagen.


M. FAURE: Herr Vorsitzender! Ich möchte fragen, ob der Gerichtshof damit einverstanden ist, wenn ich morgen im Verlaufe meines Vortrags über Propaganda einige Lichtbilder zeige, die dieses Kapitel veranschaulichen.


VORSITZENDER: Ja, bitte.


RA. BABEL: Hoher Gerichtshof! Der Sinn und Zweck einer der Fragen, die ich an den Zeugen gerichtet habe, scheint mißverstanden worden zu sein. Ich wollte in keiner Weise das Verhalten der Widerstandsbewegung, das, wie mir bewußt ist, der patriotischen Liebe entsprang, verurteilen oder gar verächtlich machen. Ich wollte damit lediglich nachweisen, daß Taten, die den deutschen Truppen zur Last gelegt werden, in vielen Fällen durch das Verhalten der Zivilbevölkerung veranlaßt worden sind, und daß gegen das Völkerrecht verstoßende Handlungen gegen Deutsche nicht in gleicher Weise beurteilt werden, wie Verfehlungen, die Angehörigen der Deutschen Wehrmacht zur Last gelegt werden. Ich bin der Ansicht, daß diese Frage im Rahmen der Anklage gegen die Organisationen...


VORSITZENDER: Verzeihen Sie, Herr Babel, Sie haben Ihr Kreuzverhör bereits abgeschlossen und der Gerichtshof wünscht nicht...


RA. BABEL: Herr Vorsitzender! Ich habe aber geglaubt, durch diese Erklärung dem Gerichtshof zu die nen.


VORSITZENDER: Wir brauchen keinerlei Klarstellungen. Wir verstehen vollkommen, was Sie mit Ihrem Kreuzverhör sagen wollten und werden Sie in aller Ausführlichkeit anhören, wenn Sie sich zur geeigneten Zeit äußern.


RA. BABEL: Ich machte es nur, da ich dachte, daß Sie uns...


VORSITZENDER: Der Gerichtshof hat den Zweck des Kreuzverhöre begriffen. Wir können fortgesetzte Unterbrechungen nicht dulden. Wir haben etwa 20 Angeklagte und etwa 20 Verteidiger und, wenn diese alle ständig aufstehen würden wie Sie, und Einspruch erheben, so würden wir diesen Prozeß niemals zu Ende führen können.


[Das Gericht vertagt sich bis

5. Februar 1946, 10.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 7.
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