Vormittagssitzung.

[395] VORSITZENDER: Folgende Dokumente des Angeklagten Seyß-Inquart, gegen die Einspruch erhoben worden ist, läßt der Gerichtshof zu: Nummer 11, 47, 48, 50, 54 und 71.

Die restlichen Dokumente, gegen die Einspruch erhoben wurde, sind zurückgewiesen. Ich will sie anführen: Nummer 5, 10, 14, 19b, 21, 22, 27, 31, 39, 55, 60, 61, 68 und 69.

Das ist alles.


M. DUBOST: Herr Vorsitzender! Gestern abend hat gegen Ende der Sitzung der Verteidiger des Angeklagten Raeder eine Anzahl von Dokumenten vorgelegt, darunter das Dokument Nummer 105 des Dokumentenbuches Nummer 5. Dieses Dokument ist dem Deutschen Weißbuch Nummer 5 entnommen und stellt die Zeugenaussage eines alten Mannes von 72 Jahren dar. Es ist ein Luxemburger, der in Belgien erst seit sechs Monaten lebte und der behauptet, im April 1940 200 französische Soldaten in Belgien gesehen zu haben. Diese Soldaten, die er als französische Soldaten bezeichnete, sollen in Panzerwagen gefahren sein.

Ich bitte den Hohen Gerichtshof, mir zu erlauben, gegen dieses Dokument Nummer 7 des Weißbuches Nummer 5 Einspruch zu erheben. Das Original desselben ist niemals vorgelegt worden und ist sogar im Weißbuch nicht abgedruckt, wie es bei einer gewissen Anzahl anderer Dokumente dieses Deutschen Weißbuches der Fall ist. Es ist notwendig, daß im Namen Frankreichs und Belgiens ein formeller, kategorischer Protest gegen solch eine Behauptung erhoben wird. Französische Truppen haben vor dem Einfall der deutschen Streitkräfte in Belgien niemals belgischen Boden betreten. Nach Durchlesen dieses Schriftstücks Nummer 105 des Dokumentenbuches Nummer 5 des Admirals Raeder kann man verstehen, worauf der Irrtum Grandjenets, auf dessen Zeugenaussage man sich beruft, beruht.

Ich habe dem Hohen Gerichtshof bereits gesagt, daß es sich hier um einen 72jährigen Mann, einen Luxemburger, handelt. Auf die ihm von den deutschen Behörden gestellte Frage, woher er wußte, daß diese Soldaten Franzosen waren, antwortete er:

»Ich erkannte mit Sicherheit, daß es französische Soldaten waren, weil ich die Uniformen genau kenne. Außerdem erkannte ich die Soldaten auch an der Sprache, als sie sich mit mir unterhielten.«

[395] Nun, was die Uniform betrifft, so weiß der Gerichtshof, daß zum Zeitpunkt dieser Ereignisse die belgische Armee Uniformen derselben Farbe und Mützen derselben Form hatte, wie sie in der französischen Armee getragen wurden. Was die Sprache betrifft, so ist es dem Gerichtshof ebenfalls bekannt, daß ein großer Teil der an der luxemburgischen Grenze lebenden belgischen Bevölkerung französisch spricht, ebenso die belgischen Soldaten, die aus diesen Gegenden stammen.

Der Gerichtshof wird sich bestimmt daran erinnern, daß dieser Zeuge, ein sehr alter Mann, erst seit sechs Monaten in Belgien lebte und höchstwahrscheinlich eine sehr begrenzte Erfahrung in belgischen Angelegenheiten und insbesondere hinsichtlich der belgischen Armee hatte.

Auf jeden Fall versichern wir im Namen Frankreichs und Belgiens, daß vor dem 10. Mai 1940 keine französischen Truppen, keine organisierten französischen Truppenverbände, belgischen Boden betreten haben und daß Einzelpersonen, die nach Belgien kamen, dort interniert wurden.

VORSITZENDER: Ja, Dr. Siemers.

DR. SIEMERS: Hohes Gericht! Ich darf ganz kurz erinnern. Es handelt sich um eine Urkunde aus dem Weißbuch, über die schon einmal hier entschieden worden ist und die mir zunächst genehmigt wurde. Ich beantrage, der Anklagebehörde aufzuerlegen, das Original vorzulegen, wenn sie die Richtigkeit dieses Dokuments bestreitet. Ich bin damit im Einklang mit einem Beschluß des Gerichts, der dahin lautete, daß der Antrag zu stellen ist, das Original einzureichen, wenn man es besitzt oder einen Antrag auf Herbeischaffung zu stellen gegenüber demjenigen, der es besitzt. Soweit ich weiß, besitzt das Original die Anklagebehörde, da sämtliche Originale sich in Berlin im Auswärtigen Amt beziehungsweise in der Ausweichstelle befanden und die gesamten Originale dieser Weißbücher in die Hände der Alliierten fielen.


VORSITZENDER: Was meinen Sie, wenn Sie vom Original sprechen? Das Original, nehme ich an, ist das Original des Weißbuches, das meinen Sie wohl?


DR. SIEMERS: Ja, ich meine jetzt, Herr Präsident, das Original dieses richterlichen Protokolls.


VORSITZENDER: Das stammt doch aus einem Weißbuch. Das ist doch ein gedrucktes Dokument, nehme ich an. Ich glaube nicht, daß es das Original der Aussage dieses Luxemburgers enthält.


DR. SIEMERS: Das Weißbuch ist eine Zusammenstellung zahlloser Urkunden und die einzelnen Originalurkunden sind im Besitze des Auswärtigen Amtes; es waren teilweise früher die Akten [396] des französischen Generalstabs, zum Teil waren es richterliche Protokolle. Über den Inhalt dieses Dokuments gäbe es noch mehr...


VORSITZENDER: M. Dubost! Sie beantragen doch nicht, daß dieses Dokument aus dem Protokoll gestrichen werden soll? Der Gerichtshof wird sicherlich die Tatsachen, auf die Sie uns aufmerksam gemacht haben, in Betracht ziehen.


M. DUBOST: Der Gerichtshof wird von uns ersucht, dieses Dokument zurückzuweisen. Zur gleichen Zeit erheben wir Protest gegen die Behauptung der Verteidigung, französische Soldaten hätten während des Monats April die belgische Neutralität verletzt.

Ich bitte den Gerichtshof, mir zu erlauben, einige Erklärungen hinzuzufügen. Das Weißbuch, welches wir vor uns haben, besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil gibt Texte wieder und der zweite Teil Photokopien dieser Texte. Im ersten Teil, welcher nur die Texte wiedergibt, befindet sich das Dokument, um dessen Zurückweisung ich den Gerichtshof ersuche. Wir haben in dem Teil, welcher die Dokumente des ersten Teiles als Photokopien wiedergibt, nach dieser Urkunde gesucht und nichts gefunden. Diese Tatsache erlaubt uns zu behaupten, daß das Original des Dokuments, dessen Zurückweisung wir beantragen, im Deutschen Weißbuch nicht enthalten ist, da es im zweiten Teil nicht erscheint.

DR. SIEMERS: Herr Präsident! Ich glaube, die gesamten Ausführungen des M. Dubost betreffen die Frage des Beweiswertes der Urkunde und nicht die Frage der Zulässigkeit des Dokuments. Daß dies ein ordnungsmäßiges Dokument ist, scheint mir an sich klar zu sein, da es ein richterliches Protokoll ist, wo eine bestimmte Persönlichkeit, nämlich Grandjenet, vernommen worden ist. Alles, was M. Dubost vorbrachte, betraf mehr den Inhalt der Urkunde als die Frage des Beweiswertes. Ich bitte daher, die Urkunde so, wie bisher geschehen, zuzulassen und bitte zu berücksichtigen, daß die Urkunde einen Wert hat im Zusammenhang mit den anderen Urkunden, die mir, beziehungsweise Herrn Dr. Horn, in seinem Dokumentenbuch bezüglich Belgien und Holland genehmigt sind.

Wenn im Dokumentenbuch im zweiten Teil keine Photokopie enthalten ist...


VORSITZENDER: Gut. Dr. Siemers und M. Dubost, der Gerichtshof wird über den vorgebrachten Einspruch beraten.


DR. SIEMERS: Darf ich nur noch erwähnen, Herr Präsident, wenn die Photokopie, was M. Dubost beanstandet, nicht in dem Buch ist, so liegt es daran, daß dieses richterliche Protokoll im Originaltext deutsch ist, und die Faksimiles des Buches sind die Faksimiles nach dem französischen Originaltext, also von denjenigen Urkunden, die im Originaltext französisch waren, und notfalls würde ich mich auf Geheimrat von Schnieden als Zeugen beziehen [397] hinsichtlich dieses Protokolls, da dieser seinerzeit über die sämtlichen Protokolle dieser Art orientiert worden ist und an der Zusammenstellung mitgewirkt hat.


VORSITZENDER: Jawohl, der Gerichtshof wird über den Einspruch beraten.


FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Herr Präsident! Mit Erlaubnis des Gerichts möchte ich die Befragung des amerikanischen Oberbefehlshabers der Flotte, Admiral Nimitz, vorlegen, die ich vorgestern erhalten habe und die den Dolmetschern inzwischen in Übersetzung zugegangen ist. Wenn das Gericht gestattet, werde ich es jetzt gleich im Anschluß an die Fälle von Großadmiral Dönitz und Großadmiral Raeder tun.


VORSITZENDER: Hat die Anklagevertretung es gesehen?


FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Ja.


VORSITZENDER: Haben Sie Abschriften für uns?


FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Ich war informiert worden, daß die Abdrucke für das Gericht durch den Generalsekretär übermittelt seien.


VORSITZENDER: Solange wir keine Abschriften haben, darf das Dokument nicht verlesen werden. Es muß zurückgestellt werden bis wir Abschriften haben.


FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Es sind zwei englische Kopien da, eine französische. Ich übergebe das Dokument als Dönitz Nummer 100.


VORSITZENDER: Dr. Kranzbühler! Die Sowjetrichter haben keine russische Kopie des Dokuments. Deswegen müssen Sie es später vorlegen.

Möchte der Verteidiger des Angeklagten von Schirach nun seinen Fall vorbringen?


DR. FRITZ SAUTER, VERTEIDIGER DER ANGEKLAGTEN FUNK UND VON SCHIRACH: Meine Herren Richter! Ich beabsichtige, zunächst die Vernehmung des Angeklagten Schirach selbst durchzuführen und im Rahmen dieser Vernehmung bei den einzelnen Punkten dann auch gleich die entsprechende Stelle des Dokumentenbuches zu Ihrer Kenntnis zu bringen. Im Anschluß an die Vernehmung des Angeklagten werde ich dann die vier Zeugen rufen, und zum Schluß beabsichtige ich den Rest der Dokumente vorzutragen, soweit diese Dokumente nicht schon bei der Vernehmung des Angesagten von Schirach bewertet worden sind. Ich nehme an, Herr Präsident, daß Sie mit dieser Sachbehandlung einverstanden sind.

Ich rufe dann auf den Zeugenstand zuerst Baldur von Schirach.


[Der Angeklagte betritt den Zeugenstand.]


[398] VORSITZENDER: Wollen Sie mir den folgenden Eid nachsprechen:

Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde.


[Der Zeuge spricht die Eidesformel nach.]


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Wann sind Sie geboren?

BALDUR VON SCHIRACH: Am 9. Mai 1907.


DR. SAUTER: Sie sind also vor einigen Tagen 39 Jahre alt geworden. Sie sind seit 14 Jahren verheiratet, stimmt das?


VON SCHIRACH: Ja.


DR. SAUTER: Sie haben vier Kinder im Alter von...


VON SCHIRACH:...von 4, 8, 11 und 13 Jahren.


DR. SAUTER: Sie waren im Dritten Reich in der Hauptsache als Jugendführer tätig?


VON SCHIRACH: Ja.


DR. SAUTER: Welche Ämter haben Sie in dieser Beziehung bekleidet, und zwar Ämter in der Partei und Ämter im Staat, und geben Sie dann bitte gleich auch an, wie lange Sie die einzelnen Ämter innegehabt haben?


VON SCHIRACH: Ich war zunächst 1929 Führer des Nationalsozialistischen Studentenbundes, 1931 wurde ich Reichsjugendführer der NSDAP, zunächst im Stabe der Obersten SA-Führung, 1932 Reichsleiter für die Jugenderziehung der NSDAP, 1933 Jugendführer des Deutschen Reiches, zunächst unter dem Reichsinnenminister Dr. Frick. 1934 war ich in derselben Stellung unter dem Reichserziehungsminister Rust. 1936 wurde der Jugendführer des Deutschen Reiches Oberste Reichsbehörde, und als solcher war ich dem Führer und Reichskanzler unmittelbar unterstellt.


DR. SAUTER: Welche Ämter waren nun Parteiämter und welche von den angeführten Ämtern waren Reichsämter?


VON SCHIRACH: Parteiämter waren das Amt des Reichsjugendführers der NSDAP und das des Reichsleiters der Jugenderziehung. Staatsämter: Der Jugend führer des Deutschen Reiches zunächst in der geschilderten Stellung unter dem Innenminister beziehungsweise Erziehungsminister und dann in der selbständigen Stellung.


DR. SAUTER: Von diesen Ämtern, Herr Zeuge, wurden Sie 1940 zum Teil abberufen. Welche Ämter haben Sie 1940 in der Jugendführung verloren und welche Ämter haben Sie noch in der Folgezeit bis zum Ende bekleidet?


[399] VON SCHIRACH: 1940 gab ich die unmittelbare Führung der Jugend ab, das heißt ich gab ab das Amt der Reichsjugendführung der NSDAP, behielt aber das Amt des Reichsleiters für die Jugenderziehung und damit die gesamte Verantwortung für die deutsche Jugend. Ich erhielt als zusätzliches neues Amt das des Gauleiters in Wien, das verbunden war mit dem Staatsamt des Reichsstatthalters in Wien und auch mit dem des Reichsverteidigungskommissars für den Wehrkreis XVII.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Wir wollen zu Ihrer Tätigkeit als Jugendführer zunächst zurückkehren. Von Ihnen liegt ein Affidavit vor vom 4. Dezember 1945, 3302-PS. In dieser eidesstattlichen Versicherung haben Sie im Dezember gegenüber der Staatsanwaltschaft erklärt, daß Sie sich für die gesamte Jugenderziehung des Dritten Reiches verantwortlich bekennen.

VON SCHIRACH: Das ist richtig.


DR. SAUTER: Waren Sie damals, wie Sie diese Schulderklärung abgegeben haben, der Auffassung, daß Ihr Nachfolger, also der spätere Reichsjugendführer Axmann, tot sei?


VON SCHIRACH: Ja.


DR. SAUTER: Sie haben geglaubt, er sei bei den Endkämpfen gefallen?


VON SCHIRACH: Ja, ich war der Überzeugung, daß er in Berlin gefallen war.


DR. SAUTER: In der Zwischenzeit, Herr Zeuge, haben Sie aus Zeitungsberichten entnommen, daß Ihr Nachfolger als Reichsjugendführer, dieser Axmann, noch lebt. Nicht wahr?


VON SCHIRACH: Ja.


DR. SAUTER: Wollen Sie nun heute Ihr Affidavit über Ihre persönliche Verantwortlichkeit als Jugendführer aufrechterhalten, und zwar im vollen Umfang aufrechterhalten; oder wollen Sie es heute irgendwie einschränken?


VON SCHIRACH: Ich möchte dieses Affidavit in keiner Weise einschränken. Obwohl Hitler in den letzten Jahren seines Lebens Befehle an die Jugend gegeben hat, die ich nicht kenne, und obwohl auch mein Nachfolger Axmann besonders im Jahre 1944 Befehle gegeben hat, die ich nicht kenne, weil die Verbindung zwischen uns durch die Kriegsereignisse abgerissen war, bleibe ich bei der abgegebenen Erklärung in der Erwartung, daß das Gericht mich als den einzig Verantwortlichen der Jugend betrachtet und kein anderer Jugendführer für solche Handlungen vor Gericht gestellt wird, für die ich die Verantwortung übernommen habe.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Mich würde nun interessieren, ob für die Art Ihrer Jugenderziehung etwa Grundsätze und Richtlinien [400] maßgebend waren, die Sie von Hitler oder irgendeiner Parteistelle empfangen haben, oder von irgendeiner Staatsseite, oder ob für Ihre Jugenderziehung maßgebend waren die Erfahrungen, die Sie in Ihrer eigenen Jugend und im Kreise der damaligen Jugendführer gesammelt haben?


VON SCHIRACH: Das letztere ist richtig. Selbstverständlich war die Erziehung der Hitler-Jugend eine Erziehung auf der Basis der nationalsozialistischen Idee. Aber die spezifisch erzieherischen Gedanken stammen nicht von Hitler, sie stammen auch nicht von anderen Führern der Partei, sie stammen aus der Jugend selbst, sie stammen von mir, und sie stammen von meinen Mitarbeitern.

DR. SAUTER: Wollen Sie nun dem Gericht vielleicht näher darlegen, wie Sie selber zu diesen Prinzipien und zu dieser Art der Jugenderziehung gekommen sind auf Grund Ihrer eigenen Erziehung, Ihrer persönlichen Entwicklung und so weiter?


VON SCHIRACH: Ich glaube, ich kann das am einfachsten dadurch tun, daß ich die Geschichte meiner Jugend ganz kurz hier skizziere und dabei auch die Jugendorganisationen schildere, mit denen ich in Berührung kam. Ich kann dadurch viel Zeit sparen für meine weiteren Aussagen.

Mein Vater war aktiver Offizier in dem Garde-Kürassier-Regiment des Kaisers. Ich wurde in Berlin geboren, mein Vater nahm ein Jahr später seinen Abschied und zog nach Weimar, wo er die Leitung des dortigen Hoftheaters, des späteren Weimarer Nationaltheaters, übernahm. So kommt es, daß ich in Weimar aufgewachsen bin und diese Stadt, die ja in gewissem Sinne die Heimatstadt aller Deutschen ist, als meine persönliche Heimatstadt empfinde. Mein Vater war wohlhabend, das Elternhaus bot reiche geistige und künstlerische Anregungen, vor allem auf literarischem und musikalischem Gebiet, aber neben und über diesen Bildungsmöglichkeiten des Elternhauses war es die Aura der Stadt selbst, die Aura des klassischen, aber auch des nachklassischen Weimar, die auf meine Entwicklung eingewirkt hat. Vor allem aber der Genius loci, der mich früh in seinen Bann schlug. Ich habe gerade wegen dieser Jugenderlebnisse die Jugend später immer wieder, Jahr für Jahr, nach Weimar und zu Goethe hingeführt, und das erste Dokument, das in diesem Zusammenhange wichtig ist für meinen Fall, das ist Dokument 80, mag das beweisen. In diesem Dokument wird kurz Bezug genommen auf eine der zahlreichen Reden, die ich im Verlauf meiner Tätigkeit als Jugendführer an die Führerschaft der jungen Generation gehalten habe und in der ich die Jugend auf Goethe hingewiesen habe.


DR. SAUTER: Darf ich einen Moment unterbrechen, Herr von Schirach.

[401] In diesem Dokument Nummer 80, Herr Präsident, es findet sich auf Seite 133 des Dokumentenbuches Schirach, befindet sich ein kurzer Bericht über eine Reichskulturtagung der Hitler-Jugend in Weimar. Es ist das zufällig ein Bericht über das Jahr 1937, aber der Angeklagte hat Ihnen ja schon gesagt, solche Reichskulturtagungen der Hitler-Jugend in Weimar, also in der Stadt von Schiller und Goethe, haben jedes Jahr stattgefunden; in diesem Bericht, Dokument Nummer 80 des Dokumentenbuches Schirach, ist zum Beispiel von einer Rede des Angeklagten über Goethes Bedeutung für die nationalsozialistische Jugenderziehung die Rede. Es wird dabei erwähnt, daß Schirach damals sagte, ich zitiere wörtlich...

VORSITZENDER: Es ist nicht nötig, uns das vorzulesen, Dr. Sauter; es bezieht sich auf Goethe.


DR. SAUTER: Dann bitte ich fortzufahren, Herr von Schirach.


VON SCHIRACH: Es war das nicht nur die jährliche Reichskulturtagung, sondern die Führertagung der Hitler-Jugend fand alljährlich in Weimar statt. Daneben außerdem die Veranstaltungen, die wir die Weimarer Festspiele der Deutschen Jugend nannten.

Was wesentlich ist in diesem Zusammenhange ist, daß ich in dieser Rede ein Wort von Goethe zitiert habe, das gewissermaßen ein Leitmotiv meiner ganzen erzieherischen Arbeit geworden ist: »Die Jugend bildet sich wieder an der Jugend.«

Auch mein gehässigster Gegner kann an der Tatsache nicht vorbeigehen, daß ich der jungen Generation des deutschen Volkes zu allen Zeiten nicht nur der Propagandist eines nationalen Sozialismus, sondern auch der Propagandist Goethes war. Ein Herr Ziemer hat gegen mich ein umfangreiches Affidavit eingereicht, in dem er sich mit der Jugenderziehung, die ich zu verantworten habe, auseinandersetzt. Ich glaube, Herr Ziemer hat sich die Arbeit etwas leicht gemacht. Er hätte zumindest die erzieherische Aktivität, die ich im Hinblick auf die Heranführung der Jugend an das Lebenswerk Goethes verwendet habe, auch bei seiner Darstellung der deutschen nationalen Erziehung berücksichtigen müssen.

Ich war zehn Jahre alt, als ich in die erste Jugendorganisation eintrat. Ich war also gerade so alt, wie die Jungen und Mädel, die später in das Jungvolk aufgenommen wurden. Es war dies der sogenannte Jungdeutschlandbund, eine Organisation, die Graf von der Goltz geschaffen hatte, eine Pfadfinderorganisation. Graf von der Goltz und Haeseler hatten unter dem Eindruck der britischen Boy-Scout-Bewegung Pfadfinderbünde in Deutschland geschaffen, und eine dieser Pfadfinderorganisationen war der eben erwähnte Jungdeutschlandbund. Er spielte eine bedeutende Rolle in der deutschen Jugenderziehung etwa bis 1918/1919 hinein.

[402] Viel wesentlicher für meine Entwicklung war aber eine Zeit, die ich in einem Waldpädagogium verbrachte. Es war dies ein Landerziehungsheim, das ein Mitarbeiter des bekannten Erziehers Hermann Lietz leitete. Dort wurde ich in den Gedankengängen erzogen, die ich später auf einer ganz anderen Basis...


VORSITZENDER: Dr. Sauter! Glauben Sie, daß die Erziehung des Angeklagten selbst wesentlich ist? Die Erziehung, die er vermittelte, ist wesentlich. Was er gelehrt hat, nicht was er selbst lernte.


DR. SAUTER: Herr Präsident! Der Angeklagte würde Sie aber trotzdem bitten, ihm diese Darlegungen etwas zu gestatten, und zwar insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt, weil er Ihnen damit zeigen will, daß die Grundsätze, nach denen er dann die Jugenderziehung geleitet hat, zu ihm gekommen sind nicht etwa von Hitler und nicht von irgendeiner Parteidienststelle, sondern daß sie, sich ergeben haben aus seinen eigenen Jugenderfahrungen in seiner eigenen Jugend. Es ist doch für das Gericht bis zu einem gewissen Grade von Bedeutung, der Frage nachzugehen: Nach welchen Grundsätzen hat der Angeklagte die Jugenderziehung geführt, und wie ist er zu diesen Grundsätzen gekommen? Das bittet der Angeklagte darlegen zu dürfen.


VORSITZENDER: Nun, Dr. Sauter, der Angeklagte hat bereits beträchtliche Zeit in Anspruch genommen, um uns über seine frühe Jugend und seine Ausbildung zu erzählen. Der Gerichtshof ist der Meinung, daß dies abgekürzt werden sollte und daß nicht noch mehr Zeit auf die Frage der Erziehung des Angeklagten zu verwenden sei. Wie ich Ihnen schon sagte, ist für uns die Erziehung, die er der deutschen Jugend vermittelte, wesentlich und nicht die Erziehung, die er selbst genoß.


DR. SAUTER: Wir werden selbstverständlich Ihrem Wunsche Rechnung tragen, Herr Präsident.


[Zum Zeugen gewandt:]


Herr von Schirach! Fassen Sie also Ihre Ausführungen so kurz wie möglich.

VON SCHIRACH: Ich kann es sehr kurz machen.

DR. SAUTER: Ich bitte.


VON SCHIRACH: Die Idee von Lietz war, der Jugend eine Erziehung zu geben, durch die sie in der Schule ein Abbild des Staates erhielt. Die Schulgemeinde war ein Miniaturstaat, und es entwickelte sich in dieser Schulgemeinde eine Selbstverwaltung der Jugend. Ich will nur kurz andeuten, daß er auch Ideen weiterführte, die lange vor ihm Pestalozzi und der große Jean Jacques entwickelt haben. Irgendwie geht ja alle moderne Erziehung auf Rousseau zurück, ob [403] es sich nun um Hermann Lietz oder die Boy Scouts, die Pfadfinderbewegung, oder den deutschen Wandervogelbund handelt. Jedenfalls, aus dieser Idee der Selbstverwaltung der Jugend in einer Schulgemeinde habe ich meine Idee von der Selbstführung der Jugend.

Mein Gedanke war, in der Schule die junge Generation mit Ideen zu erfassen, die 80 Jahre vorher Fröbel begründet hatte. Lietz wollte von der Schule aus die junge Generation erfassen.

Ich darf vielleicht ganz kurz erwähnen, daß, als 1898 Lietz mit seiner Erziehungsarbeit begann, im selben Jahre in einer südafrikanischen Stadt der britische Major Baden-Powell durch Aufständische eingeschlossen wurde und dort die Jugend zu Spähern in Wäldern ausbildete und daraus den Grund legte zu seiner eigenen Boy-Scout-Bewegung, und daß im selben Jahre 1898 Karl Fischer aus Berlin-Steglitz die Wandervogelbewegung gründete.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Ich glaube, dieses Kapitel, das ja eigentlich nur die Vorgeschichte darüber behandelt, können wir ja doch, dem Wunsche des Herrn Präsidenten entsprechend, abschließen, Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie sagen, die Grundsätze, die Sie dann später als Reichsjugendführer angewandt haben, die haben Sie kennengelernt in Ihrer eigenen Jugend und in der damaligen Jugendbewegung.

Stimmt das?


VON SCHIRACH: Ja, im Grunde ja. Ja, die Grundlagen meiner späteren Arbeit liegen dort.


DR. SAUTER: Nun würde mich in dieser Beziehung noch eines interessieren. Hatte diese Erziehung damals irgendeine politische oder antisemitische Tendenz, und wie sind Sie denn dann eigentlich zur Politik gekommen?

VON SCHIRACH: Nein, diese Erziehung hatte gar keine politische oder schon gar nicht eine antisemitische Tendenz, denn Lietz stammte ja aus dem Kreis des Demokraten Naumann, aus dem Kreis Damaschkes.


DR. SAUTER: Wie sind Sie denn dann zur Politik gekommen?


VON SCHIRACH: Inzwischen war die Revolution ausgebrochen. Mein Vater...


DR. SAUTER: Die Revolution von 1918/1919?


VON SCHIRACH: Ja, die Revolution von 1918/1919. Mein Vater war von den Roten aus seinem Amt gejagt worden. Die Nationalversammlung in Weimar hatte getagt, die Weimarer Republik war gegründet, wir hatten ein parlamentarisches System, wir hatten eine Demokratie oder was wir in Deutschland für Demokratie hielten, ich bezweifle, daß es eine war. Es war die Zeit um 1923. Ich befand mich im Elternhaus. Es war eine Periode allgemeiner [404] Unsicherheit, Not und Unzufriedenheit; viele angesehene Familien waren durch die Inflation an den Bettelstab gekommen, die Ersparnisse des Arbeiters und des Bürgers waren verloren. Der Name Hitler tauchte auf im Zusammenhang mit den Ereignissen des 9. November 1923. Es war mir damals nicht möglich, etwas Genaues über ihn zu erfahren. Erst der Prozeß hat mich und meine Altersgenossen über das unterrichtet, was Hitler eigentlich gewollt hat. Ich war damals nicht Nationalsozialist, sondern ich trat mit einigen Altersgenossen einer Jugendorganisation bei, die den Namen »Knappenschaft« trug. Sie gehörte irgendwie mit zur völkischen Bewegung, war aber an keine Partei gebunden. Die einfachen Grundsätze dieser Organisation waren Kameradschaft, Patriotismus und Selbstzucht. Wir waren damals etwa 100 Jungens in meiner Heimatstadt, die in dieser Jugendgemeinschaft gegen die Verflachung in der jungen Generation der Nachkriegszeit uns wandten und gegen die Verlotterung, gegen den Amüsierbetrieb der Halbwüchsigen.

In diesem Kreis erlebte ich als Sechzehnjähriger zum erstenmal den Sozialismus, denn hier fand ich Jugend aller Berufe, Arbeiterjungen, Handwerker, junge Angestellte, Bauernsöhne. Es waren aber auch ältere unter uns, die ihren Platz im Leben bereits ausfüllten und auch einige, die im Weltkrieg gewesen waren. In der Aussprache mit diesen Kameraden habe ich zuerst die Folgen des Versailler Diktats in ihrem ganzen Umfange begreifen gelernt. Die Lage der jungen Generation war damals folgende: Der Schüler hatte die Aussicht, als Werkstudent sich durchschlagen zu können, schlecht und recht, und dann würde er aller Wahrscheinlichkeit nach dem akademischen Proletariat anheimfallen, denn die Möglichkeit auf einen akademischen Beruf bestand für ihn so gut wie gar nicht. Der Jungarbeiter hatte kaum die Aussicht, eine Lehrstelle zu bekommen. Für ihn gab es nichts anderes als das graue Elend des Erwerbslosendaseins. Es war eine Generation, der niemand helfen würde, wenn sie sich nicht selbst half.


DR. SAUTER: Und dieser Kreis, dem Sie damals als etwa Sechzehnjähriger angehörten, geriet dann allmählich in das nationalsozialistische Fahrwasser?


VON SCHIRACH: Ja, und zwar auf ganz natürliche Weise.


DR. SAUTER: Wie kam das?


VON SCHIRACH: In Mitteldeutschland waren Unruhen. Ich brauche bloß den Namen des kommunistischen Bandenführers Max Holz zu nennen, um anzudeuten, welche Verhältnisse damals waren. Und auch nachdem äußerlich Ruhe eingetreten war, hatten wir doch solche Zustände, daß es unmöglich war, nationale Versammlungen durchzuführen, weil diese von Kommunisten gesprengt zu werden [405] pflegten. Man appellierte nun an uns junge Leute, den Versammlungsschutz für die patriotischen Veranstaltungen zu übernehmen. Wir haben das getan. Wir haben dabei Verwundete gehabt. Einer von uns, ein gewisser Gar schar, wurde von Kommunisten erschlagen. Wir haben nun auf solche Weise sehr viele nationale Versammlungen ermöglicht, die sonst in der Weimarer Republik überhaupt nicht hätten abgehalten werden können, auch nationalsozialistische Versammlungen, und in zunehmendem Maße waren es gerade solche Versammlungen, die wir schützen mußten, weil besonders gegen sie sich der kommunistische Terror richtete.

Ich lernte durch diese Schutztätigkeit führende nationalsozialistische Männer – als Redner zunächst natürlich, nicht persönlich – kennen. Ich hörte damals den Grafen Reventlow, ich glaube, ich habe damals auch Rosenberg gehört, ich habe Streicher reden gehört, und ich habe die ersten rednerischen Anfänge von Sauckel damals erlebt, der ja bald darauf in Thüringen Gauleiter der Nationalsozialistischen Partei wurde. Auf diese Weise...


VORSITZENDER: Von welchem Datum spricht er jetzt?


DR. SAUTER: Es handelt sich um die Zeit von 1924, also ein Jahr nach dem Hitler-Putsch.


[Zum Zeugen gewandt:]


Auf diese Weise ist also, Zeuge, der Kreis, dem Sie damals angehörten, in das nationalsozialistische Fahrwasser gekommen. Ist das auch unterstützt worden durch entsprechende Lektüre, Lektüre nationalsozialistischer Prägung?

VON SCHIRACH: Ich weiß natürlich nicht, was meine Kameraden gelesen haben, mit Ausnahme eines Buches, das ich gleich angeben werde Ich weiß nur, was ich selbst gelesen habe. Ich beschäftigte mich damals mit den Werken des Bayreuther Denkers Chamberlain, mit den »Grundlagen des 19. Jahrhunderts«, mit den Schriften von Adolf Bartels, mit seiner »Weltgeschichte der Literatur« und der »Geschichte der deutschen Nationalliteratur«.

Das waren Werke...


VORSITZENDER: Dr. Sauter! Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß wir die vollständige Geschichte der Erziehung des Angeklagten nicht hören wollen. Er führt jetzt eine Reihe von Büchern an, die er gelesen hat. Wir sind daran nicht interessiert.


DR. SAUTER: Ja, Herr Präsident.


VON SCHIRACH: Ich will nur mit einem Satz bemerken: Das waren Werke, die keine ausgesprochene antisemitische Tendenz hatten, aber durch die sich der Antisemitismus wie ein roter Faden hindurchzog. Das ausschlaggebende antisemitische Buch, das ich da mals las und das Buch, das meine Kameraden beeinflußte...


[406] DR. SAUTER: Bitte...


VON SCHIRACH:... war das Buch von Henry Ford »Der internationale Jude«. Ich las es und wurde Antisemit. Dieses Buch hat damals auf mich und meine Freunde einen so großen Eindruck gemacht, weil wir in Henry Ford den Repräsentanten des Erfolges, den Repräsentanten aber auch einer fortschrittlichen Sozialpolitik sahen. In dem elenden, armen Deutschland von damals blickte die Jugend nach Amerika, und außer dem großen Wohltäter Herbert Hoover war es Henry Ford, der für uns Amerika repräsentierte.


VORSITZENDER: Dr. Sauter! Der Gerichtshof ist der Ansicht, wie ich es bereits zweimal gesagt habe, daß der erzieherische Einfluß, den der Angeklagte genoß, für uns ganz unerheblich ist. Ich möchte es nicht mehr wiederholen und sollten Sie den Angeklagten nicht im Zaume halten können und ihn veranlassen, bei der Sache zu bleiben, werde ich gezwungen sein, seine Aussage zu unterbinden.


DR. SAUTER: Ja, Herr Präsident, ist es nicht von Interesse für das Gericht bei der Beurteilung des Angeklagten und seiner Persönlichkeit zu wissen, wie der Angeklagte Nationalsozialist und wie der Angeklagte Antisemit geworden ist? Ich hätte mir gedacht...


VORSITZENDER: Nein, es ist für den Gerichtshof von keinem Interesse.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Wie sind Sie denn dann mit Hitler bekanntgeworden, und wie kam es zu Ihrem Eintritt in die Partei?


VON SCHIRACH: Ich muß sagen, daß ich nicht des Antisemitismus wegen Nationalsozialist geworden bin, sondern des Sozialismus wegen Mit Hitler wurde ich bereits 1925 bekannt. Er hatte gerade Landsberg am Lech verlassen, seine Festungshaft war abgelaufen, und er kam nun nach Weimar und sprach dort. Bei dieser Gelegenheit wurde ich ihm auch vorgestellt. Das Programm der Volksgemeinschaft, das er entwickelte, hat mich deswegen so ungeheuer stark angesprochen, weil ich in ihm im großen das wiederfand, was ich im kleinen in der Kameradschaft meiner Jugendorganisation bereits erlebt hatte. Er erschien mir als der Mann, der unserer Generation den Weg in die Zukunft freimachen würde Durch ihn glaubte ich, für diese junge Generation die Aussicht auf Arbeit, die Aussicht auf eine Existenz, die Aussicht auf Lebensglück eröffnet zu bekommen. Und in ihm sah ich den Mann, der uns von den Fesseln von Versailles befreien würde. Ich bin überzeugt, daß es ohne Versailles nie zu einem Aufstieg Hitlers gekommen wäre. Das Diktat führte zur Diktatur.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Wann wurden Sie denn Parteimitglied?


[407] VON SCHIRACH: Ich bin 1925 Mitglied der Partei geworden. Ich bin gleichzeitig mit allen meinen Kameraden in die SA eingetreten.


DR. SAUTER: Damals waren Sie also 18 Jahre alt?


VON SCHIRACH: Ja.


DR. SAUTER: Warum sind Sie in die SA eingetreten?


VON SCHIRACH: Die SA bildete den Schütz, den Versammlungsschutz, und wir setzten also nun einfach innerhalb der SA im Rahmen der Partei die Tätigkeit fort, die wir bereits vorher in unserer Jugendorganisation ausgeübt hatten.


DR. SAUTER: Im Jahre 1926, Herr Zeuge, wie Sie also 19 Jahre alt waren, fand ein Reichsparteitag in Weimar statt?


VON SCHIRACH: Ja.


DR. SAUTER: Bei dieser Gelegenheit haben Sie, soviel ich weiß, auch Hitler persönlich gesprochen, stimmt das?


VON SCHIRACH: Ja, ich habe Hitler bereits ein Jahr vorher persönlich sprechen sollen. Hier erneuerte sich die Begegnung, Er sprach in Weimar in verschiedenen Massenversammlungen. Er kehrte nach Weimar in demselben Jahre auch wieder zurück und sprach in einem kleinen Kreise. Er stattete zusammen mit Rudolf Heß meinem Elternhaus einen Besuch ab, und bei dieser Gelegenheit regte er an, daß ich in München studieren sollte.


DR. SAUTER: Warum?


VON SCHIRACH: Er meinte, ich sollte die Partei in ihrer Zentrale kennenlernen, und er meinte, ich sollte mich auf diese Weise mit der Parteiarbeit vertraut machen. Ich möchte aber hier gleich bemerken, daß damals bei mir durchaus nicht die Absicht bestand, Politiker zu werden. Aber immerhin, ich war natürlich sehr daran interessiert, die Bewegung an dem Ort kennenzulernen, wo sie gegründet worden war.


DR. SAUTER: Sie sind dann nach München gegangen und haben dort studiert?


VON SCHIRACH: Ja, ich bin dann nach München gegangen. Zunächst habe ich mich nicht um die Partei gekümmert. Ich habe mich mit germanistischen, historischen und kunsthistorischen Studien beschäftigt; ich habe schriftstellerisch gearbeitet, und ich kam in Kontakt mit vielen Menschen in München, die nicht direkt Nationalsozialisten waren, aber doch zur Peripherie, möchte ich sagen, der nationalsozialistischen Bewegung gehörten. Ich wohnte damals im Hause meines Freundes, des Verlegers Bruckmann, der...


DR. SAUTER: Sie wurden dann 1929 Führer der Hochschulbewegung. Ich glaube, Sie wurden als solcher auch gewählt, nicht ernannt, sondern gewählt?


[408] VON SCHIRACH: Zunächst war es so: Ich besuchte in München Parteiversammlungen; ich kam auch in dem Salon Bruckmanns mit Hitler und Rosenberg zusammen mit vielen anderen Männern, die nachher in Deutschland eine Rolle gespielt haben, und auf der Universität trat ich der Hochschulgruppe des Nationalsozialistischen Studentenbundes bei.


DR. SAUTER: Fahren Sie weiter, Herr von Schirach, Sie haben uns eben erklärt, daß Sie dieser Hochschulgruppe in München angehört haben. Wollen Sie jetzt fortfahren.


VON SCHIRACH: Ja, und ich fing auch an, in ihr mich aktiv zu betätigen. Ich sprach dort im Kreis der Kameraden zunächst über meine eigenen Arbeiten auf literarischem Gebiet, und dann begann ich an die Studenten selbst Vorträge zu halten über die nationalsozialistische Bewegung. Ich organisierte Studentenversammlungen Hitlers innerhalb der Studentenschaft Münchens, und ich wurde dann auch in den sogenannten Asta, Allgemeiner Studentenausschuß, der Universität gewählt, und durch diese Tätigkeit innerhalb der Studentenschaft habe ich mehr und mehr Kontakt mit der Parteileitung bekommen. Im Jahre 1929 trat der damalige sogenannte Reichsführer des Nationalsozialistischen Studentenbundes zurück, und es ergab sich die Frage, wer die Führung der gesamten Hochschulbewegung übernehmen sollte. Damals ist von Rudolf Heß im Auftrag des Führers eine Befragung sämtlicher Hochschulgruppen der nationalsozialistischen Hochschulbewegung durchgeführt worden, und die Mehrzahl aller dieser Hochschulgruppen hat ihre Stimmen für mich als Führer des Nationalsozialistischen Studentenbundes abgegeben. So ergibt sich das Kuriosum, daß ich dann der einzige Parteiführer bin, der in die Parteileitung hineingewählt wurde. Dies ist ein Vorgang, der sich in der Parteigeschichte sonst niemals ereignet hat.


DR. SAUTER: Sie wollen also damit sagen, alle anderen sind ernannt, und nur Sie sind gewählt worden?


VON SCHIRACH: Ich wurde gewählt und dann bestätigt.


DR. SAUTER: Und zwar wurden Sie gewählt, wenn ich nicht irre, auf dem Grazer Studententag 1931.

VON SCHIRACH: Das ist nicht richtig. Das ist falsch. Ich spreche jetzt nur von der nationalsozialistischen Hochschulbewegung, ich werde auf diesen Punkt später zurückkommen.

Ich war Führer der nationalsozialistischen Hochschulbewegung und ich reorganisierte diese Bewegung. Ich begann meine Tätigkeit als Redner. Ich wurde 1931...


VORSITZENDER: Es genügt doch zu wissen, daß er Hochschulführer wurde. Ob er gewählt wurde oder nicht, ist von keiner Bedeutung.


[409] DR. SAUTER: Herr Präsident! Ich bemühe mich ja ohnehin andauernd diesen Vortrag abzukürzen. Ich darf vielleicht bloß das eine noch fragen wegen dieses Komplexes?

Herr Zeuge! 1931 sind Sie dann doch, soviel ich weiß, vom Allgemeinen Deutschen und Österreichischen Studententag, der also alle Parteien umfaßte, ich glaube, einstimmig zum Vorsitzenden gewählt worden? Stimmt das?


VON SCHIRACH: Das ist nicht korrekt...


DR. SAUTER: Ich bitte, das kurz zu fassen, Herr von Schirach.


VON SCHIRACH: Das ist nicht korrekt, Herr Verteidiger. Auf dem Allgemeinen Deutschen Studententag 1931, auf dem sämtliche deutschen Studierenden und sämtliche österreichischen und sudetendeutschen Studenten waren, wurde einer meiner Mitarbeiter, den ich als ihren Führer vorschlug, einstimmig zum Führer der gesamten Studentenschaft gewählt. Es ist dies ein sehr wichtiger Vorgang für die Jugend gewesen und auch für die Partei. Zwei Jahre vor der Machtergreifung hatte die gesamte akademische Jugend einstimmig ihr Votum für einen Nationalsozialisten abgegeben. Nach diesem Grazer Studententag hatte ich mit Hitler eine..


VORSITZENDER: Ich glaube, daß es der geeignete Zeitpunkt zum Vertagen ist.


DR. SAUTER: Jawohl.


[Pause von 10 Minuten.]


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Wir sind vor der Pause stehengeblieben bei der Tatsache, daß Sie 1929 zum Führer der Hochschulstudentenschaft gewählt worden waren. Zwei Jahre später sind Sie dann von Hitler zum Reichsjugendführer ernannt worden. Wie kam es zu dieser Ernennung?

VON SCHIRACH: Nach dem Grazer Studententag 1931, dessen Erfolg Hitler sehr überrascht hatte, hatte ich mit ihm eine Besprechung. Hitler kam dabei auf eine frühere Unterhaltung zwischen uns zurück. Er hatte damals mich gefragt, wie es kam, daß die nationalsozialistische Hochschulbewegung sich so schnell entwickle, während die anderen nationalsozialistischen Organisationen in ihrer Entwicklung zurückblieben.

Ich hatte ihm damals gesagt, man kann Jugendorganisationen nicht als Appendix einer politischen Partei führen; Jugend muß von Jugend geführt werden, und ich habe damals die Idee eines Jugendstaates entwickelt, diese Idee, die sich bei mir aus dem Erlebnis des Schulstaates ergeben hatte, und nun – 1931 – fragte mich Hitler, ob ich die Führung der nationalsozialistischen Jugendorganisation übernehmen wolle. Es waren dies Jugendzellen, dann [410] die Hitler-Jugend und die nationalsozialistische Schülerorganisation, die es damals auch gab. Es hatten sich mit der Führung dieser Organisationen schon verschiedene Männer versucht, der frühere Oberste SA-Führer Pfeffer, der Reichsleiter Buch, eigentlich ohne daß dabei viel herausgekommen war.

Ich sagte zu und wurde nun Reichsjugendführer der NSDAP, vorübergehend im Stabe des Obersten SA-Führers Röhm. Ich hatte in dieser Eigenschaft als Reichsjugendführer der NSDAP im Stabe Röhm den Rang eines SA-Gruppenführers und behielt diesen Rang auch, als ich eineinhalb Jahre später selbständig wurde. Daher kommt es auch, daß ich SA-Obergruppenführer bin. Ich bin das noch viele Jahre darauf honoris causa geworden. Eine SA-Uniform habe ich selbst seit 1933 nicht besessen.


DR. SAUTER: Sie wurden also 1931 Reichsjugendführer der NSDAP?


VON SCHIRACH: Ja.


DR. SAUTER: Das war natürlich ein Parteiamt?


VON SCHIRACH: Ja.


DR. SAUTER: Dann 1932 wurden Sie Reichsleiter? Damals waren Sie 25 Jahre alt. Wie kam es dazu?


VON SCHIRACH: Ich sagte vorhin schon, daß ich Hitler gegenüber zum Ausdruck gebracht hatte, daß die Jugend nicht der Appendix einer anderen Organisation sein könnte, sondern die Jugend müßte selbständig sein; sie müßte sich selbst führen; sie müßte unabhängig werden; und in der Durchführung einer Zusage, die mir Hitler damals schon gegeben hatte, wurde ich eben eineinhalb Jahre darauf selbständiger Reichsleiter.


DR. SAUTER: Selbständiger Reichsleiter, so daß Sie unmittelbar dem Parteileiter Hitler unterstanden?


VON SCHIRACH: Jawohl.


DR. SAUTER: Aus welchen materiellen Mitteln wurde damals diese Jugendorganisation geschaffen?


VON SCHIRACH: Aus den Mitteln der Jugend selbst.


DR. SAUTER: Und wie sind die beschafft worden? Durch Sammlungen?


VON SCHIRACH: Die Jungens und die Mädchen haben Mitgliedsbeiträge bezahlt. Von diesen Mitgliedsbeiträgen wurde ein Teil einbehalten bei den sogenannten Gebietsführungen. Das sind also die Führungsstellen, die in der Partei den Gauleitungen entsprachen oder bei der SA den SA-Gruppenführungen. Ein anderer Teil ging an den Reichsjugendführer. Die Hitler-Jugend hatte ihre Organisation aus eigenen Mitteln geschaffen.


[411] DR. SAUTER: Dann würde mich folgendes interessieren. Hat die Hitler-Jugend, die also von Ihnen geschaffen worden ist und nach dem Namen Hitlers benannt wurde, hat die ihre Bedeutung erst nach der Machtergreifung und erst durch die Machtergreifung erlangt, oder wie groß war schon vorher diese Jugendorganisation, die Sie geschaffen haben?


VON SCHIRACH: Die Hitler-Jugend war bereits im Jahre 1932 vor der Machtergreifung die größte Jugendbewegung Deutschlands. Ich möchte hier noch hinzufügen, daß ich die einzelnen nationalsozialistischen Jugendorganisationen, die ich bei der Übernahme meines Amtes als Reichsjugendführer vorfand, zusammenfaßte zu einer einheitlichen großen Jugendbewegung. Diese Jugendbewegung war die stärkste Jugendbewegung Deutschlands bereits lange, ehe wir zur Macht kamen. Am 2. Oktober 1932 veranstaltete die HJ ein Treffen in Potsdam. Bei diesem Treffen kamen mehr als 100000 Jugendliche aus dem ganzen Reichsgebiet zusammen, ohne daß die Partei hierfür auch nur einen Pfennig zur Verfügung stellte. Die Mittel wurden ausschließlich von den Jugendlichen selbst aufgebracht. Allein aus dieser Teilnehmerzahl ergibt sich, daß das die größte Jugendbewegung war.


DR. SAUTER: Das war also mehrere Monate vor der Machtergreifung, wo bereits über 100000 Teilnehmer an dieser Versammlung in Potsdam teilnahmen?


VON SCHIRACH: Jawohl.


DR. SAUTER: Die Anklage wirft Ihnen vor, Herr Zeuge, daß Sie dann nach der Machtergreifung-ich glaube im Februar 1933 – den Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände – ich wiederhole Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände – besetzten. Ist das richtig, und gegen wen richtete sich diese Aktion?


VON SCHIRACH: Es ist richtig. Der Reichsausschuß der Jugendverbände war praktisch nicht mehr als ein statistisches Büro, das dem Reichsminister des Innern unterstand. Geleitet wurde dieses Büro von dem pensionierten General Vogt, der nachher einer meiner tüchtigsten Mitarbeiter geworden ist. Es war diese Besetzung des Reichsausschusses ein revolutionärer Akt, eine Handlung, die die Jugend für die Jugend beging, denn von diesem Tag an beginnt die Realisierung des Gedankens des Jugendstaates im Staate. Mehr kann ich nicht dazu sagen.


DR. SAUTER: Die Anklage wirft Ihnen, Herr Zeuge, weiter vor, daß Sie 1933, also nach der Machtergreifung, den sogenannten »Großdeutschen Bund« aufgelöst haben.

Was war der »Großdeutsche Bund«, und warum haben Sie ihn aufgelöst?


[412] VON SCHIRACH: Der »Großdeutsche Bund« war eine Jugendorganisation oder besser gesagt, eine Vereinigung von Jugendorganisationen mit großdeutscher Tendenz.

Es wundert mich deshalb, daß die Anklage mir die Auflösung dieser Organisation überhaupt zum Vorwurf macht.


DR. SAUTER: Viele Mitglieder dieses »Großdeutschen Bundes« waren Nationalsozialisten. Es bestand zwischen einigen in dieser Organisation zusammengefaßten Jugendverbänden und der Hitler-Jugend kein sehr wesentlicher Unterschied?


VON SCHIRACH: Ich wollte die Einheit der Jugend, und der »Großdeutsche Bund« wollte noch ein gewisses Sonderdasein führen. Ich widersetzte mich dem, und es kam zwischen dem Admiral von Trotha, der den »Großdeutschen Bund« führte, und mir zu lebhaften Kontroversen in der Öffentlichkeit, und schließlich ist dann der »Großdeutsche Bund« in die Jugend eingegliedert worden. Ob ein Verbot durch mich ausgesprochen wurde, weiß ich nicht mehr genau. Ich weiß nur, daß die Mitglieder zu mir kamen und daß zwischen dem Admiral von Trotha und mir eine Aussprache stattfand, eine Versöhnung. Admiral von Trotha ist bis zu seinem Tode einer der warmherzigsten Förderer meiner Arbeit gewesen.


DR. SAUTER: Wie kam es zum Verbot der marxistischen Jugendorganisationen?


VON SCHIRACH: Ich glaube, daß das Verbot der marxistischen Jugendorganisationen, wenn ich mich recht erinnere, im Zusammenhang mit dem Verbot der Gewerkschaften erfolgte. Ich habe keine genauen Unterlagen mehr dafür. Jedenfalls rein juristisch war ich 1933 nicht berechtigt, ein solches Verbot auszusprechen. Das hätte dann der Innenminister tun müssen. Das Recht, Jugendorganisationen zu verbieten, habe ich eigentlich de jure erst vom 1. Dezember 1936 ab gehabt. Daß die marxistischen Jugendorganisationen verschwinden mußten, war für mich eine Selbstverständlichkeit, und ich kann zu diesem Verbot als solchem nur sagen: Die deutsche Arbeiterjugend hat die Verwirklichung Ihres sozialistischen Ideals nicht unter den marxistischen Regierungen der Republik erlebt, sondern in der Gemeinschaft der Hitler-Jugend.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Sie sind zunächst Reichsführer der NSDAP gewesen; das war ein Parteiamt. Und nach der Machtergreifung wurden Sie dann Jugendführer des Deutschen Reiches; das war ein Staatsamt. Hatten Sie auf Grund dieses Staatsamtes oder Nationalamtes auch eine Zuständigkeit und Verantwortlichkeit für das Schulwesen, also für die Volksschulen?


VON SCHIRACH: Für das Schulwesen in Deutschland war der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Unterricht allein zuständig. Ich selbst war zuständig für die außerschulische [413] Erziehung; neben Elternhaus und Schule, heißt es in dem Gesetz vom 1. Dezember 1936. Ich habe aber einige eigene Schulen gehabt, die sogenannten Adolf-Hitler-Schulen, die nicht der staatlichen Schulaufsicht unterstanden. Das sind aber Gründungen einer etwas späteren Zeit, und im Kriege habe ich durch die Kinderlandverschickung, also die Organisation, durch die wir die Evakuierung der Jugendlichen aus den Großstädten, aus den luftgefährdeten Gebieten, durchführten, innerhalb der Lager, in denen sich die verschickten Kinder befanden, auch eine Zuständigkeit für Unterricht gehabt. Aber im ganzen muß ich die Frage einer Zuständigkeit für die Schulerziehung in Deutschland für mich verneinen.


DR. SAUTER: Diese Jugend, die Sie zu erziehen hatten außerhalb der Schule, hieß HJ, also Hitler-Jugend.

War nun die Zugehörigkeit zur HJ Pflichtsache, oder war sie freiwillig?


VON SCHIRACH: Die Zugehörigkeit zur HJ war freiwillig bis zum Jahre 1936. Im Jahre 1936 wurde das bereits schon erwähnte Gesetz über die HJ verkündet, durch das alle deutsche Jugend zur HJ wurde. Die Durchführungsbestimmungen zu diesem Gesetz aber sind erst im März 1939 erlassen worden und erst im Kriege, und zwar im Mai 1940, ist innerhalb der Reichsjugendführung der Gedanke der Durchführung einer allgemeinen Jugenddienstpflicht erörtert worden und in der Öffentlichkeit ausgesprochen worden. Ich weise darauf hin, daß mein damaliger bevollmächtigter Vertreter Lauterbacher zu der Zeit, als ich an der Front war, in einer öffentlichen Kundgebung, ich glaube in Frankfurt 1940, gesagt hat, daß nunmehr, nachdem sich 97 Prozent des jüngsten Jahrganges der Jugend freiwillig zur HJ gemeldet haben, es notwendig würde, die letzten drei Prozent im Rahmen der Jugenddienstpflicht heranzuziehen.


DR. SAUTER: Ich darf in diesem Zusammenhang, Herr Präsident, auf zwei Dokumente des Dokumentenbuches Schirach verweisen, nämlich Nummer 51...


VORSITZENDER: Ich habe nicht genau verstanden, was der Angeklagte gesagt hat. Er sagte, daß die Mitgliedschaft bis 1936 freiwillig war, daß das Gesetz der HJ dann verkündet worden sei, und – so etwas wie – daß die Durchführungsbestimmungen erst im Jahre 1939 veröffentlicht wurden. Hat er das gesagt?


DR. SAUTER: Jawohl, das stimmt. Bis zum Jahr 1936, wenn ich das erklären darf, Herr Präsident, war die Zugehörigkeit zur HJ vollkommen freiwillig. Dann im Jahre 1936 wurde das HJ-Gesetz erlassen, das an sich vorsah, daß die Jungen und Mädels zur HJ müßten. Aber die Durchführungsbestimmungen hat der Angeklagte [414] erst im Jahre 1939 erlassen, so daß praktisch bis zum Jahre 1939 die Mitgliedschaft trotzdem eine freiwillige war.


VORSITZENDER: Stimmt das, Angeklagter?


VON SCHIRACH: Jawohl, das ist richtig.


DR. SAUTER: Und dieser Sachverhalt, den ich Ihnen eben vorgetragen habe, Herr Präsident, ergibt sich auch aus zwei Urkunden des Dokumentenbuches Schirach, Nummer 51 auf Seite 91, und Nummer 52, ich wiederhole Nummer 52 auf Seite 92, und auf der letzteren Urkunde...


VORSITZENDER: Sehr gut, Dr. Sauter. Ich lasse Ihre und des Angeklagten Erklärungen gelten. Ich wollte es nur richtig verstehen. Sie können fortfahren.


DR. SAUTER: Und in der letzteren Urkunde sind auch die 97 Prozent erwähnt, von denen der Angeklagte Ihnen vorhin gesagt hat, daß sie freiwillig zur HJ gekommen waren, so daß nur mehr drei Prozent gefehlt haben.

Ich darf dann weiterfahren:

Herr Zeuge! Wie standen denn die Eltern der Kinder der Frage gegenüber, ob die Kinder zur HJ gehen sollen oder nicht – die Eltern?


VON SCHIRACH: Es gab natürlich Eltern, die es nicht gerne sahen, daß ihre Kinder bei der HJ waren. Wenn ich eine meiner Rundfunkreden an die Elternschaft oder an die Jugend gehalten hatte, kam es vor, daß viele Hunderte von Eltern sich in Briefen an mich wandten. Unter solchen Briefen befanden sich auch sehr häufig Briefe, in denen die Eltern Einwendungen gegen die HJ machten oder überhaupt ihrer Abneigung dagegen Ausdruck gaben. Ich habe darin immer einen besonderen Vertrauensbeweis der Elternschaft erblickt. Ich möchte hier sagen, ich habe niemals, wenn Eltern ihre Kinder von der Jugend zurückhielten, einen Zwang ausgeübt oder sie irgendwie unter Druck gesetzt. Ich hätte damit mein ganzes Vertrauen in der Elternschaft Deutschlands verloren. Dieses Vertrauen war ja die Basis meiner gesamten erzieherischen Arbeit. Ich glaube, ich muß bei der Gelegenheit auch sagen, daß die Vorstellung, daß man eine Jugendorganisation überhaupt mit Zwang gegenüber der Jugend aufbauen und führen kann, und erfolgreich führen kann, völlig verfehlt ist.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Sind Jugendliche, die nicht zur HJ gegangen sind, irgendwie aus diesem Grunde benachteiligt worden?


VON SCHIRACH: Jugendliche, die nicht zur HJ gingen, waren dadurch benachteiligt, daß sie an unseren Zeltlagern, an unseren Fahrten, an unseren Sportwettkämpfen nicht teilnehmen konnten. Sie waren in gewissem Sinne Zaungäste des jugendlichen Lebens,[415] und es drohte für sie die Gefahr, daß sie sich zu Hypochondern entwickeln würden.

DR. SAUTER: Hat es aber nicht gewisse Berufe gegeben, für welche die Zugehörigkeit zur HJ Voraussetzung der Zulassung zum Beruf war?


VON SCHIRACH: Selbstverständlich.


DR. SAUTER: Welche Berufe waren das?


VON SCHIRACH: Zum Beispiel der Beruf des Lehrers. Es ist ja ganz klar, daß ein Lehrer nicht die Jugend unterrichten kann, wenn er nicht selbst das Leben der Jugend kennt, und so forderten wir, daß der Junglehrer, also der Lehrernachwuchs, durch die HJ gegangen sein müßte. Der Junglehrer mußte mit der Lebensform der ihm anvertrauten Schüler bekannt sein.


DR. SAUTER: Das waren aber nur einige Berufe, während für andere Berufe die Zugehörigkeit zur HJ keine Voraussetzung für die Zulassung war. Oder, wie war das?


VON SCHIRACH: Ich kann es Ihnen im einzelnen nicht beantworten, ich glaube auch, daß eine Diskussion hierüber nicht möglich ist, weil ja eben die ganze Jugend in der HJ war.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Sie wissen, daß die Anklage den Angeklagten auch das Führerprinzip vorwirft. Ich frage deshalb:

Galt dieses Führerprinzip auch in der HJ, und in welcher Form wurde es in der HJ durchgeführt, wobei ich Sie erinnere an jene Art des Führerprinzips, das wir hier aus Zeugenaussagen gehört haben?


VON SCHIRACH: Natürlich war die HJ auf dem Führerprinzip aufgebaut, nur unterschied sich die ganze Führungsform der Jugend ganz grundlegend von der anderer nationalsozialistischer Organisationen. Zum Beispiel hatten wir in der Jugendführung den Brauch, uns über alle uns bewegenden Fragen offen auszusprechen. Es gab auf unseren Gebietsführertagungen hitzige Diskussionen. Ich selbst habe meine Mitarbeiter zum Widerspruch geradezu erzogen. Allerdings, wenn wir uns über eine Maßnahme ausgesprochen hatten und ich habe dann eine Anweisung oder einen Befehl gegeben, war die Debatte zu Ende. Die Führung der Jugend, also die Jungenführer und Mädelführerinnen, waren in der jahrelangen Zusammenarbeit und im Dienst an dem gemeinsamen Werk eine vieltausendköpfige Einheit geworden. Sie waren Freunde geworden. Es ist ganz klar, daß in einem solchen Kreis sich die Durchführung von Befehlen und Weisungen in ganz anderen Formen abspielte, als in einem militärischen Organismus oder in einer anderen politischen Organisation.


DR. SAUTER: Herr Zeuge...

[416] VON SCHIRACH: Darf ich dem noch etwas hinzufügen?

Eine auf natürliche Autorität gegründete Führung, wie wir sie in der Jugend hatten, ist etwas, was dem Wesen der Jugend durchaus nicht fremd ist. Diese Führung ist in der Jugend niemals zur Diktatur entartet.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Es wird Ihnen vorgeworfen, daß Sie die Jugend in militaristischem Sinne erzogen haben, und in diesem Zusammenhang wurde auf die Tatsache hingewiesen, daß Ihre HJ eine Uniform getragen hat. Ist das richtig, und warum hat die HJ eine Uniform getragen?


VON SCHIRACH: Ich habe mich darüber sehr viel geäußert. Ich glaube, daß auch einige Dokumente das illustrieren können. Ich habe die Uniform der Jugend immer als Kleid der Kameradschaft bezeichnet. Die Uniform war das Symbol einer klassenlosen Gemeinschaft. Der Arbeiterjunge trug dasselbe, was der Sohn des Universitätsprofessors anhatte. Das Mädchen aus dem reichen Hause trug dieselbe Tracht wie das Kind des Taglöhners. So haben wir uns uniformiert. Eine militaristische Bedeutung hatte diese Uniform überhaupt nicht.


DR. SAUTER: In diesem Zusammenhang, Herr Präsident, darf ich vielleicht bitten, von den Dokumenten Nummer 55 des Dokumentenbuches Schirach, dann Nummer 55a und 117 Kenntnis nehmen zu wollen, wo in Schriften des Angeklagten von Schirach dieselben Gedankengänge bereits vor langen Jahren immer wieder ausgedrückt worden sind, die er heute ausdrückt.

Ich würde nur bitten, Herr Präsident, in dem Dokument Nummer 55 auf Seite 98 einen Schreibfehler zu berichtigen. Ich wiederhole also; Dokument Nummer 55, Seite 98 des Dokumentenbuches. Da steht ziemlich weit unten, Seite 77, ein Zitat aus einem Werk Schirachs. Da heißt es:

»Auch der Sohn des Millionärs hat keine andere Macht...«

Ich weiß nicht, ob die Herren die Stelle gefunden haben, Seite 77 des Buches, also auf Seite 102 des Dokumentenbuches, Nummer 55, Seite 98, da kommt ein Zitat unten:

»Auch der Sohn des Millionärs hat keine andere Macht...«

Das soll heißen »Tracht«, Das ist nach deutscher Übersetzung »Bekleidung«, und aus Versehen steht hier »keine andere Macht«.

Ich bitte also, es umzuändern; das Wort muß nicht heißen »Macht«, sondern »Tracht«, Bekleidung.

VORSITZENDER: Jawohl.

DR. SAUTER: Danke vielmals.

Herr Zeuge! Ich fahre dann mit Ihrer Befragung weiter Es wird Ihnen vorgeworfen, daß Sie die Jugend psychologisch und pädagogisch [417] auf den Krieg vorbereitet hätten. Sie sollen an einer Verschwörung zu diesem Zweck teilgenommen haben, an einer Verschwörung, durch welche die nationalsozialistische Bewegung die totale Macht in Deutschland erlangte und schließlich Angriffskriege plante und durchführte. Was sagen Sie dazu?


VON SCHIRACH: Ich habe an keiner Verschwörung teilgenommen. Ich kann es nicht als Teilnahme an einer Verschwörung ansehen, wenn ich der nationalsozialistischen Partei beitrat. Das Programm dieser Partei war genehmigt; es war veröffentlicht. Die Partei war zu den Wahlen zugelassen. Hitler hat auch nicht gesagt – er nicht und keiner seiner Mitarbeiter –: »Ich will durch einen Staatsstreich die Macht an mich reißen«; sondern er hat immer wieder in der Öffentlichkeit erklärt, nicht einmal, sondern hundertmal: »Ich will mit legalen Mitteln dieses parlamentarische System überwinden, das uns von Jahr zu Jahr tiefer ins Elend führt.« Und ich selbst, als der jüngste Reichstagsabgeordnete der Republik, habe meinen 60000 Wählern in den Wahlversammlungen ähnliches gesagt.

Es ist da nichts gewesen, was den Tatbestand einer Verschwörung darstellen könnte, nichts, was hinter verschlossenen Türen besprochen wurde. Was wir wollten, haben wir ehrlich vor der Nation bekannt, und soweit auf diesem Erdball gedrucktes Papier gelesen wird, war auch jeder Mensch des Auslandes über unsere Ziele und Absichten unterrichtet.

Was nun die Vorbereitung für den Krieg angeht, so muß ich hier sagen: Ich habe an keinen Konferenzen und an keinen Befehlsausgaben teilgenommen, die auf die Vorbereitung eines Angriffskrieges hinausliefen. Ich glaube, das ist aus dem bisherigen Verlauf der Verhandlungen schon hervorgegangen.

Ich kann also nur erklären, ich habe an einer Verschwörung nicht teilgenommen. Ich glaube auch gar nicht, daß es eine Verschwörung gab; der Gedanke der Verschwörung steht im Widerspruch zur Idee der Diktatur. Ein Diktator verschwört sich nicht, ein Diktator befiehlt


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Was hat die Hitler-Jugend-Führung getan, um die Jugend auf den Krieg vorzubereiten und für kriegerische Zwecke auszubilden?


VON SCHIRACH: Bevor ich diese Frage beantworte, muß ich, glaube ich, ganz kurz auseinandersetzenden Unterschied zwischen militärischer und vormilitärischer Erziehung.

Militärische Erziehung ist nach meiner Auffassung alle Ausbildung an Kriegswaffen und jede Ausbildung, die mit und ohne Kriegswaffen durch militärisches Personal, also durch Offiziere, erfolgt.

[418] Vormilitärische Ausbildung, vormilitärische Erziehung, ist im weitesten Sinne jede Erziehung, die vor der Militärzeit liegt, im besonderen Fall eine Spezialvorbereitung auf die Militärzeit. Wir waren in der Hitler-Jugend Gegner jedes militärischen Drills der Jugend. Wir lehnten einen solchen als unjugendlich ab. Ich gebe damit nicht nur meine persönliche Meinung wieder, sondern die Meinung von Tausenden von meinen Mitarbeitern.

Es ist ja eine Tatsache, daß ich die Wehrjugend, die früher in Deutschland bestand, ablehnte, und jede Fortführung einer Wehrjugendarbeit innerhalb der Hitler-Jugend ablehnte. Mir war von jeher alle Soldatenspielerei in einer Jugendorganisation verhaßt. So hoch ich den Beruf des Offiziers achte, so wenig erscheint mir der Offizier als Jugendführer geeignet, weil er immer in irgendeiner Form den Ton des Kasernenhofs und die Formen der militärischen Führung auf die Jugend überträgt.

Es ist das der Grund, warum ich in der Hitler-Jugend keine Offiziere zu Mitarbeitern hatte. Ich bin gerade wegen dieser Ablehnung des Offiziers als Jugendführer mitunter in der Wehrmacht sehr heftig kritisiert worden. Ich möchte ausdrücklich betonen, nicht vom Oberkommando der Wehrmacht her; gerade Herr Feldmarschall Keitel hat für diese meine Ideen immer Verständnis gehabt. Aber doch innerhalb der Wehrmacht wurde hin und wieder Kritik laut wegen dieser allgemein ablehnenden Haltung des Führerkorps der Jugend gegenüber dem Offizier als Jugendführer. Das Prinzip »Jugend durch Jugend zu führen«, ist niemals in Deutschland durchbrochen worden.

Wenn ich nun zur Frage, ob die Jugend auf den Krieg vorbereitet wurde und ob sie militärisch ausgebildet wurde, abschließend antworten soll, so muß ich sagen, der Schwerpunkt der ganzen deutschen Jugendarbeit lag im Berufswettkampf, in den zusätzlichen Berufsschulen, in den Zeltlagern, in den Sportwettkämpfen. Die körperliche Ertüchtigung, die vielleicht in gewisser Weise als eine Vorbereitung für den Militärdienst aufgefaßt werden könnte, nahm nur einen sehr geringen Teil unserer Zeit in Anspruch.

Ich möchte hier ein Beispiel anführen: Ein Gebiet der Hitlerjugend, zum Beispiel des Gebiets Hessen-Nassau – ein Gebiet entspricht etwa einem Gau der Partei – gab von seinen Haushaltmitteln im Jahre 1939 aus:

für Fahrten und Lager 9/20;

für Kulturarbeit 3/20;

Für Sport und körperliche Ertüchtigung auch 3/20;

für den Landdienst und andere Aufgaben, und

für die Dienststellen der Jugend 5/20;

[419] Dasselbe Gebiet gab 1944, also ein Jahr vor dem Ende des Krieges,

für Kulturarbeiten 4/20 aus;

für Sport und Wehrertüchtigung 5/20;

für Landdienst und andere Aufgaben 6/20;

und für die Kinderlandverschickung, also für die Evakuierung unserer Jugendlichen 5/20.

In diesem Zusammenhang will ich noch kurz anführen, daß dasselbe Gebiet in der Zeit von 1936 bis 1943 für rassenpolitische Schulung überhaupt nichts ausgegeben hat; im Jahre 1944 für rassenpolitische Schulung waren 20 Mark unter diesem Titel des Haushaltplanes für die Anschaffung eines Bildbandes über Erb- und Geschlechtskrankheiten eingetragen, daß aber dieses selbe Gebiet in einer einzigen Stadt in derselben Zeit 200000 Mark Zuschuß für den Theaterbesuch der Jugend ausgab.

Ich kann aber die Frage nach der vormilitärischen oder militärischen Ausbildung nicht beantworten, ohne daß ich auf das Kleinkaliberschießen eingehe. Das Kleinkaliberschießen war ein in der deutschen Jugend weitverbreiteter Sport. Er wurde nach den internationalen Regeln des Sportschießens durchgeführt. Kleinkaliberschießen ist nach Artikel 177 des Versailler Vertrages nicht verboten. Es steht aus drücklich in diesem Artikel des Versailler Vertrages, daß es Schützen-, Sport- und Wandervereinen verboten ist, ihre Mitglieder in der Handhabung und im Gebrauch von Kriegswaffen zu unterrichten. Die Kleinkaliberbüchse ist keine Kriegswaffe. Wir verwendeten für unser Sportschießen eine Büchse nach dem amerikanischen Kaliber 22. Sie wurde mit der Flobertpatrone 22 kurz oder lang geschossen.

Ich möchte hier nun sagen, daß unsere gesamte Schießausbildung und sonstige sogenannte vormilitärische Ausbildung in einem Handbuch zusammengefaßt ist. Das Buch trägt den Namen »HJ im Dienst«. Dieses Buch war gedruckt und verkauft nicht nur in Deutschland, sondern es war auch im Ausland erhältlich.

Über dieses Buch hat die British Board of Education 1938 ein Urteil abgegeben, und zwar in dem Educational Pamphlet, Nummer 109. Und ich möchte mit Erlaubnis des Hohen Gerichts das, was in diesem Educational Pamphlet darüber ausgeführt ist, hier kurz zitieren. Ich zitiere in englisch:

»It cannot fairly be said to be in essence a more militaristic work than any thoroughgoing, exhaustive, and comprehensive manual of boy scout training would be. Some forty pages are, to be sure, devoted to the theory and practice of shooting smallbore rifle and air gun, but there is nothing in them to which exception can reasonably be taken, and the [420] worst that one can say of them is that they may be confidently recommended to the notice of any boy scout wishing to qualify for his marksmanship badge.«

Zur geistigen Haltung der Jugend kann ich nur sagen, daß sie durchaus nicht militaristisch war.

DR. SAUTER: Da kommen wir vielleicht später noch mit einer anderen Frage darauf zurück. Sie sagen die Jugend, die Hitlerjugend, sei mit solchen Flobertstutzen oder Kleinkaliberbüchsen, wie man es auch nennt, ausgebildet worden. Ist die Jugend auch an Infanteriegewehren oder gar an Maschinengewehren oder Maschinenpistolen ausgebildet worden?

VON SCHIRACH: Grundsätzlich nicht.


DR. SAUTER: Überhaupt nicht?


VON SCHIRACH: Es ist kein einziger deutscher Junge bis zum Kriege an einer Kriegswaffe, an einer Militärwaffe, sei es an einem Infanteriegewehr, an einem Maschinengewehr, an einem Infanteriegeschütz und so weiter ausgebildet worden; oder mit scharfen Handgranaten oder überhaupt mit Handgranaten ausgebildet worden.


DR. SAUTER: Herr Präsident! Im Dokumentenbuch Schirach sind verschiedene Urkunden wiedergegeben, die Ihnen zeigen sollen, daß die Auffassung des Angeklagten von Schirach zur Frage der militärischen Ausbildung oder der vormilitärischen Ausbildung der Jugend genau dieselbe war, wie er sie heute vorgetragen hat, insbesondere, daß er sich gegen jeden militärischen Drill, gegen jeden Kasernenhofton und dergleichen ausgesprochen hat.

Es sind das in der Hauptsache die Dokumente im Dokumentenbuch Schirach: 55, dann 122, 123, 127, 127a, 128 und 131. Ich bitte, davon Kenntnis nehmen zu wollen. Sie enthalten im großen und ganzen dasselbe, was Herr Schirach schon kurz ausgeführt hat.

Im Zusammenhang, Herr von Schirach, mit dieser sogenannten militärischen Ausbildung der Jugend würde mich interessieren, welchen Einfluß hatte denn die SA auf die Ausbildung der Jugend?


VON SCHIRACH: Gar keinen. Die SA versuchte auf die Ausbildung der Jugend Einfluß zu nehmen.


DR. SAUTER: In welcher Weise?


VON SCHIRACH: Und zwar war das im Januar 1939. Ich befand mich damals gerade in Dresden, wo ich eine Veranstaltung durchführte, bei der ich irgendwelche moderne Körpergymnastik für Mädchen durchführen ließ. Ich habe das noch deutlich in Erinnerung. Wie ich dort war, wurde mir eine Zeitung gezeigt, in der ein Erlaß Hitlers publiziert war, wonach die zwei ältesten Jahrgänge der Hitler-Jugend durch die SA vormilitärisch zu ertüchtigen seien. Ich [421] habe sofort dagegen Einspruch erhoben und habe nach meiner Rückkehr nach Berlin erreicht, daß dieser Er laß zwar nicht zurückgezogen wurde, weil das aus Prestigegründen nicht ging, weil der Name »Hitler« darunter stand, daß er aber außer Kraft gesetzt wurde für die Jugend.


DR. SAUTER: Herr Präsident! Dieser Vorfall ist festgehalten in einer Urkunde im Dokumentenbuch Schirach, Nummer 132, Es ist das eine Feststellung aus dem »Archiv« einer halbamtlichen Zeitschrift. Ich darf darauf zu Beweiszwecken Bezug nehmen, und möchte an den Angeklagten wegen der Frage der Schießausbildung noch die Frage richten:


[Zum Zeugen gewandt:]


Welchen Anteil an der Gesamtausbildung hatte das Schießen bei der Hitler-Jugend gehabt? War das ein sehr wesentlicher Teil oder der wesentliche Teil? Bitte?

VON SCHIRACH: Leider fehlen mir die Akten und Unterlagen, sonst könnte ich das ganz exakt beantworten. Jedenfalls war es kein wesentlicher Teil der Erziehung innerhalb der Hitler-Jugend.

DR. SAUTER: Ist diese Schießausbildung irgendwie weitergegangen nach Ihren Erfahrungen und Beobachtungen als die Schießausbildung der Jugend bei anderen Völkern?


VON SCHIRACH: Die Schießausbildung der Jugend in anderen Ländern ist weit über die in Deutschland hinausgegangen.


DR. SAUTER: Haben Sie sich davon selbst überzeugt?


VON SCHIRACH: Ich weiß davon durch viele meiner Mitarbeiter, die ja sehr eingehend laufend die Ausbildung in anderen Ländern studierten, und ich weiß darüber aus eigener Anschauung.


VORSITZENDER: Glauben Sie, die Tatsache, daß andere Völker Schießsport betrieben haben, sei erheblich? Ich bin nicht sicher, ob das überhaupt wahr ist. Auf jeden Fall ist es unerheblich.


DR. SAUTER: Ich komme dann zu einer anderen Frage, Herr Zeuge. Die Anklage hat behauptet, ich zitiere hier wörtlich:

»... daß Tausende von Jungens militärisch« – ich betone »militärisch« – »ausgebildet seien durch die Hitler-Jugend, und zwar auf dem Gebiet der Flotte, der Luftfahrt und der Panzertruppen und daß über 7000 Schießwarte über eine Million Hitlerjungen im Gewehrschießen unterwiesen hätten.«

Soweit das Zitat aus der Anklage, das auf irgendeine Kundgebung aus dem Jahr 1938 Bezug nimmt. Ich bitte nun, sich der Frage, die hier in Betracht kommt, nämlich der Frage der Sondereinheiten der Hitler-Jugend, zuzuwenden.

VON SCHIRACH: Die Anklage nimmt Bezug, wenn ich nicht irre, auf eine Rede, die Hitler gehalten hat. Wie Hitler zu den [422] Zahlenunterlagen über die Ausbildung gekommen ist, weiß ich nicht. Ich kann nur über die Ausbildung in den Sondereinheiten folgendes sagen und exakt angeben und belegen:

Im Jahre 1938 hatte die Motor-Hitler-Jugend, das ist also die Sondereinheit unserer Jugendorganisation, von der die Anklage meint, daß sie die Vorausbildung für die Tankwaffe durchführten – also im Jahre 1938 hatte die Motor-Hitler-Jugend eigene Fahrzeuge: 328.


DR. SAUTER: In ganz Deutschland?


VON SCHIRACH: In ganz Deutschland. Privatfahrzeuge ihrer Angehörigen, die ihr also mit zur Verfügung standen zu ihrer Arbeit: 3270; und vom Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps bereitgestellte Fahrzeuge: 2000. Also in diesem Jahre 1938 haben 21000 Jungen den Führerschein erworben. Ich glaube, ich kann es aber nicht genau sagen, das ist die doppelte Anzahl der Jungen, die 1937 den Führerschein erworben hatten. Das ist der Führerschein für einen Personenkraftwagen. Allein diese Zahlen zeigen, daß die Motor-Hitler-Jugend keine Vorausbildung für unsere Tankwaffe betrieb. Die Motor-Hitler-Jugend hatte Motorräder, sie machte Geländefahrten damit. Das ist richtig. Das, was sie lernte, war natürlich wertvoll auch für die Armee, wenn diese Jungens später zur motorisierten Truppe kamen, aber es war nun durchaus nicht so, daß der Junge, der in der Motor-HJ gewesen war, zum Heer kam. Es bestand in dieser Hinsicht überhaupt kein Zwang. Entstanden ist die Motor-HJ nicht auf Wunsch der Wehrmacht, sondern sie ist entstanden bereits in der Kampfzeit, lange vor der Machtergreifung, einfach aus dem natürlichen Bedürfnis der Jungen heraus, die ein Motorrad besaßen und aus dem Sinn, mit diesem Motorrad zu fahren. So bildeten wir unsere Motor-HJ, verwendeten diese Jungens als Melder zwischen unseren Zeltlagern und benutzten sie als Fahrer für unsere unteren Führer, und später haben wir dann, um zu einer geregelten Ausbildung der Jungens, insbesondere in Bezug auf Motorenkunde, zu kommen, ein Abkommen mit dem NSKK getroffen, das über entsprechende Motorschulen verfügte und die Jungens ausbilden konnte.

So ähnlich haben sich auch die anderen Einheiten entwickelt. Flieger-HJ zum Beispiel hat niemals Motorflug betrieben. Wir besaßen nur Segelflugzeuge. Die ganze Hitler-Jugend hatte ein einziges Motorflug zeug, das war mein eigenes, eine kleine »Klemm«-Reisemaschine. Sonst besaß die Hitler-Jugend nur Modellflugzeuge und Segelflugzeuge. Die Hitler-Jugend hat nicht nur ihre eigenen Mitglieder im Gebrauch dieser Segelflugzeuge in der Rhön und anderswo geschult, sondern auch Tausende von Jungens aus England und aus anderen Ländern. Wir haben Segelfluglager von [423] jungen Engländern bei uns gehabt, und wir haben selbst in England auch Segelfluglager durchgeführt.


DR. SAUTER: Die Marine-Hitler-Jugend – hatte die vielleicht Kriegsschiffe?


VON SCHIRACH: Die Marine-Hitler-Jugend hatte natürlich kein einziges Kriegsschiff, sondern sie bekam hin und wieder durch die Liebenswürdigkeit unseres früheren Oberbefehlshabers der Kriegsmarine, Raeder, einen alten Kutter geschenkt, mit dem ruderte sie.

Die Jungens zum Beispiel, die in einer Stadt, wie Berlin, am Wannsee wohnten und Rudersport trieben, die traten dort der Marine-HJ bei. Wenn sie in die Wehrmacht eintraten, gingen sie durchaus nicht deswegen, weil sie in der Marine-HJ gewesen waren also zur Kriegsmarine, sondern es gingen ebenso viele nachher ins Heer oder in die Luftwaffe, und so war es auch mit den anderen Sondereinheiten.

DR. SAUTER: Herr Zeuge! Sie sagen also, nach Ihrer Auffassung ist die Jugend militärisch nicht für den Krieg erzogen worden?


VON SCHIRACH: Ich möchte da ganz präzise sein. Die Ausbildung in diesen Sondereinheiten wurde so durchgeführt, daß sie wirklich einen vormilitärischen Wert hatte, also das, was der Junge in der Marine-Hitler-Jugend lernte, ganz gleich, ob er es nur als Sportsmann später verwenden wollte oder ob er tatsächlich in die Kriegsmarine ging, die Grundlagen waren vormilitärisch wertvoll. Man kann, wenn man die Sondereinheiten der Jugend betrachtet, feststellen, daß hier eine vormilitärische Ausbildung stattfand.

Aber eine militärische Ausbildung nicht. Auf den Krieg wurde die Jugend nirgendwo in der Hitler-Jugend vorbereitet, sie wurde auch eigentlich nicht auf den Wehrdienst vorbereitet, denn die Jugend trat nicht direkt von der HJ in das Heer über. Die Hitlerjugend trat von der HJ über in den Arbeitsdienst.


DR. SAUTER: Wie lange war sie beim Arbeitsdienst?


VON SCHIRACH: Ein halbes Jahr.


DR. SAUTER: Und dann kam sie erst in die Wehrmacht?


VON SCHIRACH: Ja.

DR. SAUTER: Es ist aber in diesem Zusammenhang in der Anklage ein Abkommen verwertet worden, das zwischen der Hitler-Jugend-Führung und dem OKW im August 1939 geschlossen wurde und das als Dokument 2398-PS von der Staatsanwaltschaft vorgelegt worden ist. Was hat es mit dieser Vereinbarung zwischen Ihnen und dem OKW für eine Bewandtnis?


[424] VON SCHIRACH: Ich kann mich an Einzelheiten nicht erinnern. Zwischen dem Feldmarschall Keitel und mir fand, meiner Erinnerung nach, wegen dieses Abkommens auch keine Besprechung statt, sondern ich glaube, wir haben das durch Schriftverkehr zustandegebracht. Wie ich überhaupt bemerken möchte, daß in der ganzen Zeit von 1933 bis 1945 zwischen Herrn Feldmarschall Keitel und mir, glaube ich, nur eine oder zwei vielleicht halbstündige Unterhaltungen stattgefunden haben. Das Abkommen entstand aber aus folgender Überlegung: Wir waren in der Jugend bestrebt, und das war auch das Bestreben der maßgebenden Männer in der Wehrmacht, nichts in unserer Ausbildung von der späteren militärischen Ausbildung vorwegzunehmen. Es war aber im Laufe der Zeit von militärischer Seite der Einwand gemacht worden, daß die Jugend nichts lernen dürfe in ihrer Ausbildung, was später in der Wehrmacht umgelernt werden müßte. Ich denke zum Beispiel, das fällt mir gerade ein, an den Kompaß. Das Heer benutzte den Infante rie-Marschkompaß; in der Jugend wurden beim Geländesport Kompasse der verschiedensten Arten verwendet. Es war natürlich ganz unsinnig, daß die Jugendführer ihre Jungens ausbildeten nach, beispielsweise, dem Bezar-Kompaß zu marschieren, wenn später dann bei der Ausbildung als Rekrut der Junge etwas anderes lernen mußte. Die Ansprache und das Beschreiben des Geländes sollte auch innerhalb der Jugend und innerhalb des Heeres nach gleichen Begriffen erfolgen, und so kam es zu diesem Abkommen, durch das meiner Erinnerung nach 30000 oder 60000 Hitler-Jugend-Führer geländesportlich geschult wurden. In diesem Geländesport wurde auch keine Ausbildung an Kriegswaffen betrieben.


DR. SAUTER: Herr Präsident! Ich komme dann zu einem anderen Kapitel. Vielleicht entspricht es Ihnen, jetzt die Pause eintreten zu lassen.


VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird sich nunmehr vertagen.


[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 14, S. 395-426.
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