Nachmittagssitzung.

[426] DR. SAUTER: Herr Zeuge! Wir haben uns vor der Pause beschäftigt mit der Frage der militärischen oder vormilitärischen Erziehung der Jugend. Ich komme nun zu einem verwandten Kapitel, nämlich zur Frage: Haben Sie als Jugendführer in Ihren Aufsätzen und Reden und Befehlen die Jugend irgendwie in der Richtung auf einen Angriffskrieg psychologisch zu beeinflussen versucht, um die Jugend auf diese Weise für eine Kriegsstimmung zu gewinnen?

VON SCHIRACH: Nein. Ich habe niemals in meinen Reden an die Jugend oder in dem, was ich für die Jugend in Befehlen und Weisungen niederlegte, die Jugend auf den Krieg vorbereitet. Ich habe auch nie im kleinsten Kreise vor Mitarbeitern mich in dieser Weise geäußert. Meine sämtlichen Reden sind in der Sammlung »Das Archiv«, jedenfalls in ihrem wesentlichsten Inhalt, erfaßt. Ein großer Teil meiner Reden ist in einer Sammlung in einem Buch »Revolution der Erziehung« zusammengefaßt, das dem Gericht vorliegt, Aus allen diesen Beweismitteln geht hervor, daß ich mich niemals in diesem Sinne der Jugend gegenüber geäußert habe; es hätte das auch in direktem Widerspruch zu allen meinen Bestrebungen gestanden, mit der Jugend der anderen Nationen zusammenzuarbeiten.


DR. SAUTER: Ich darf vielleicht, Herr Präsident, in diesem Zusammenhang auf die Urkunde im Dokumentenbuch Schirach Nummer 125, ich wiederhole, 125 und ebenso 126 verweisen, wo Schirach zur Frage der Erhaltung des Friedens und zur Ablehnung des Krieges Stellung nimmt, und ich bitte, von diesen Urkunden zu Beweiszwecken Kenntnis nehmen zu wollen.

Herr Zeuge! Sie sprachen eben von der Zusammenarbeit Ihrer Reichsjugendführung und der deutschen HJ mit der Jugend anderer Nationen. Können Sie uns hierüber nähere Angaben machen, insbesondere nach der Richtung, mit welchen Jugendvereinen anderer Nationen Sie zusammengearbeitet und eine Annäherung versucht haben und in welcher Form und in welchem Umfang?


VON SCHIRACH: Ich habe von 1933 ab von Jahr zu Jahr in steigendem Maße mich bemüht, Austauschlager mit Jugendorganisationen anderer Länder zustande zu bringen. Es sind bei uns sehr häufig Gruppen der englischen Jugend, der französischen Jugend, der belgischen Jugend und Jugend aus vielen anderen Ländern, natürlich besonders aus Italien, zu Gast gewesen. Ich erinnere mich, daß wir in einem Jahr allein, ich glaube, es war das Jahr 1936, rund 200000 Übernachtungen ausländischer Jugendlicher in unseren Jugendherbergen hatten. In dem Zusammenhang ist es vielleicht wichtig zu sagen, daß das Jugendherbergswerk, das ich 1933 übernommen hatte, von mir ausgebaut wurde und schließlich ein Bestandteil [426] eines internationalen Herbergswerkes wurde, dessen Präsident zeitweise ein Deutscher, zeitweise ein Engländer gewesen ist. Durch ein internationales Herbergsabkommen ermöglichten wir den Jugendlichen unserer Nationen, in den Jugendherbergen der Gastländer übernachten zu können.

Ganz besonders habe ich mich bemüht um eine Verständigung mit der französischen Jugend. Ich muß sagen, daß das eine Lieblingsidee von mir gewesen ist; ich glaube, meine ehemaligen Mitarbeiter werden sich erinnern, wie intensiv ich an der Verwirklichung dieser Idee gearbeitet habe. Ich habe meine Führerzeitschrift – ich weiß nicht, ob mehrmals, aber bestimmt weiß ich, einmal – in französischer Sprache erscheinen lassen, um damit diese Verständigungsarbeit zwischen deutscher und französischer Jugend zu untermauern. Ich bin in Paris gewesen und habe an die Kinder von 1000 Frontkämpfern des ersten Weltkrieges Einladungen ergehen lassen, nach Deutschland zu kommen. Ich habe sehr häufig französische Jugend in Deutschland zu Gast gehabt, aber über diese Frankreichverständigung hinaus, die schließlich auch zu Schwierigkeiten zwischen dem Führer und mir führte, habe ich mit vielen, vielen, vielen anderen Jugendorganisationen zusammengewirkt. Ich darf vielleicht nachtragen, daß diese deutsch-französische Zusammenarbeit in der Jugend unterstützt wurde, vor allem durch den Botschafter Poncet in Berlin, durch den Ministerpräsidenten Chautemps und durch andere französische Persönlichkeiten, die in meiner eigenen Führerzeitschrift zu diesem Thema das Wort ergriffen.

Ich stand mit Jugendführern in aller Welt im Gedankenaustausch, und ich selbst habe weite Reisen unternommen, um die Jugendorganisationen der anderen zu besuchen und die Fühlung mit ihnen herzustellen. Der Krieg hat diese Arbeit beendet. Ich möchte hier auch nicht unerwähnt lassen, daß ich ein ganzes Jahr der Arbeit der Jugend unter die Parole »Verständigung« gestellt habe, daß ich in allen meinen Ansprachen an die Jugend versucht habe, sie zum Verständnis gegenüber anderen Völkern zu führen und zu erziehen.


DR. SAUTER: Ist es richtig, daß Sie zum Beispiel noch in den letzten Jahren vor dem Krieg, ich glaube, noch im Winter 1937/38 und dann 1938/39, größere Abordnungen englischer Jugend in Skilagern der HJ empfingen und daß umgekehrt auch noch in diesen Jahren größere Abordnungen von HJ-Führern und HJ-Mitgliedern nach England geschickt wurden, damit sich die Leute gegenseitig kennen und verstehen?


VON SCHIRACH: Ja, das ist richtig. Es fanden unzählige Lager von ausländischer Jugend in Deutschland statt und sehr viele Lager deutscher Jugend im Auslande. Ich habe selbst häufig solche [427] Lager besucht oder Abordnungen aus solchen Lagern empfangen; ich habe, das möchte ich noch hinzufügen, noch im Jahre 1942 den Versuch gemacht, mit der französischen Jugend zusammenzuarbeiten. Damals lagen die Schwierigkeiten in der Haltung Mussolinis. Ich bin nach Rom gefahren, ich habe in Rom durch die Vermittlung des Grafen Ciano eine lange Unterhaltung mit Mussolini gehabt und habe erreicht, daß er keine Einwendungen dagegen hatte, daß die Jugend alle französischen Gruppen nach Deutschland einlud. Leider hat dann Hitler, als ich dieses Ergebnis dem Außenminister mitteilte, das abgelehnt; jedenfalls hat mir das Herr von Ribbentrop so gesagt.


DR. SAUTER: Aus einem Aufsatz in der Zeitschrift »Archiv« vom Jahre 1938 entnehme ich zum Beispiel, daß Sie in diesem Jahre unter anderem 1000 französische Frontkämpferkinder, also Kinder von französischen Frontkämpfern, nach Deutschland in die Lager der HJ und in die deutsch-französischen Ju gend-Skilager eingeladen haben; stimmt das?


VON SCHIRACH: Ja, das habe ich schon ausgeführt.


DR. SAUTER: Aus einer anderen Quelle habe ich ersehen, daß Sie zum Beispiel, ich glaube 1939, eigens einen Gedenkstein setzen ließen, ich vermute im Schwarzwald, als einige Mitglieder einer englischen Jugendabordnung dort beim Sport verunglückten, stimmt das?


VON SCHIRACH: Ja.


DR. SAUTER: Herr Präsident! Der Angeklagte hat vorhin davon gesprochen, daß er in der Nähe von Berlin für diese Zwecke ein eigenes Haus errichtet hat unter dem Titel: »Das Auslandshaus der HJ«.

Ich darf das Bildwerk über dieses »Auslandshaus« als Dokument Nummer 120 im Original dem Gericht vorlegen, und ich bitte, sich dieses Bildwerk anzusehen, und zwar deshalb, weil die Abbildungen in dem Bildwerk...


VORSITZENDER: Wir sind gern bereit, Ihnen zu glauben, ohne das Haus anzusehen. Der besondere architektonische Stil wird uns nicht beeinflussen.


DR. SAUTER: Ja, aber wenn Sie die Abbildungen nicht ansehen, dann wissen Sie ja nicht, wie das Haus ausgestattet war, und Sie werden nicht sehen, daß zum Beispiel in dem ganzen Haus nicht ein Hakenkreuz oder nicht ein einziges Hitlerbild und dergleichen angebracht war. Das ist also auch eine Rücksichtnahme auf die Einstellung der Auslandsgäste.

Und in diesem Zusammenhang, Herr Präsident, darf ich noch bitten, von einer Reihe von Urkunden zu Beweiszwecken Kenntnis nehmen zu wollen, die alle Bezug haben auf die Bemühungen des [428] Angeklagten von Schirach um eine Annäherung der deutschen Jugend an die Jugend anderer Völker.

Es sind das im Dokumentenbuch Schirach die Dokumente Nummer 99 mit 107 einschließlich, dann das Dokument Nummer 108 mit Nummer 113, ferner das Dokument Nummer 114 mit Nummer 116a und dann die Dokumente Nummer 117, 119 und 120. Alle diese Dokumente beziehen sich auf den gleichen Komplex.

Herr Zeuge! Wenn Sie solche Abordnungen ausländischer Jugend nach Deutschland eingeladen haben, ist vor diesen Jugendabordnungen irgend etwas an deutschen Einrichtungen, insbesondere bei der HJ, verheimlicht worden, oder wie war das?


VON SCHIRACH: Nein, es ist grundsätzlich ausländischen Jugendführern, die den Wunsch hatten, unsere Einrichtungen kennenzulernen, alles, aber rücksichtslos auch alles gezeigt worden. Es gibt überhaupt keine Einrichtung der deutschen Jugend der vergangenen Zeit, die nicht unseren ausländischen Gästen gezeigt worden wäre. Auch die sogenannte vormilitärische Ausbildung wurde in allen Einzelheiten ihnen vorgeführt.


DR. SAUTER: Im Jahre 1939 brach dann der zweite Weltkrieg aus. Haben Sie in den letzten Monaten vorher ernstlich mit einem Krieg gerechnet, oder womit haben Sie sich damals befaßt?


VON SCHIRACH: Ich war der festen Überzeugung, daß Hitler es nicht zum Krieg kommen lassen würde. Ich war der Meinung, daß er sich keiner Täuschung darüber hingeben könnte, daß die Westmächte entschlossen waren, ernst zu machen. Ich habe bis zum Tage des Ausbruches des Krieges fest geglaubt, daß der Krieg sich würde vermeiden lassen.


DR. SAUTER: Haben Sie mit militärischen Führern oder mit politischen Persönlichkeiten damals über die Kriegsgefahr und über die Aussichten einer Friedenserhaltung irgendwelche Besprechungen gepflogen?


VON SCHIRACH: Nein. Ich möchte überhaupt hier einmal etwas über meine Besprechungen mit militärischen Persönlichkeiten sagen. Ich habe vorhin schon angeführt, daß ich im Laufe von zwölf Jahren, also von 1933 bis 1944 oder 1945 – also dreizehn Jahre – mit Herrn Feldmarschall Keitel eine oder vielleicht zwei halbstündige Besprechungen gehabt habe. Ich erinnere mich an eine davon, bei der es sich ausschließlich um eine persönliche Angelegenheit gehandelt hat. Ich habe im gleichen Zeitraum mit dem Großadmiral Raeder, ich glaube, nur eine einzige Besprechung gehabt. Den Großadmiral Dönitz habe ich überhaupt erst hier in Nürnberg kennengelernt. Mit Generaloberst Jodl habe ich überhaupt nie eine dienstliche Besprechung gehabt. Mit dem verstorbenen Generalfeldmarschall von Blomberg habe ich, wenn ich [429] mich recht erinnere, im Abstand vielleicht zweimal eine halbstündige Besprechung gehabt. Mit dem früheren Oberbefehlshaber des Heeres von Fritsch habe ich überhaupt keine dienstlichen Besprechungen gehabt. Ich bin nur einmal sein Gast gewesen, als er Skiwettkämpfe für das Heer veranstaltete. Und dazu hat er mich freundlicherweise, weil er mein Interesse für den Skisport kannte, eingeladen.

Mit seinem Nachfolger von Brauchitsch habe ich im Jahre 1933, als ich in Königsberg zur Jugend sprach, eine allgemeine Unterhaltung über erzieherische Fragen gehabt, und später habe ich ihn, ich glaube, einmal dienstlich aufgesucht und eine Frage besprochen, die von keiner wesentlichen Bedeutung für die Jugenderziehung gewesen ist. Es war irgendeine technische Angelegenheit. Das sind die Besprechungen mit militärischen Persönlichkeiten gewesen Ich muß überhaupt sagen, daß ich für Besprechungen keine Zeit gehabt habe. Ich habe eine Organisation von acht Millionen Menschen geführt, und ich bin eingespannt gewesen in den Dienst dieser Organisation in einer solchen Weise, daß ich gar nicht die Möglichkeit hatte, in Berlin an Konferenzen und Erörterungen über die Lage teilzunehmen, selbst wenn ich dazu Zutritt gehabt hätte, was nicht der Fall war.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Sie waren seit 1932 Reichsleiter, gehörten also zur obersten Führergruppe innerhalb der Partei. Sind Sie nicht in dieser Eigenschaft als Reichsleiter von Hitler oder seinem Stellvertreter oder anderen politischen Persönlichkeiten über die politische Lage informiert worden?


VON SCHIRACH: Hitler hat, ich glaube, durchschnittlich zweimal im Jahre die Reichs- und Gauleiter zusammen zu einem Vortrag eingeladen, in dem er rückschauend zu den politischen Ereignissen Stellung nahm. Niemals hat Hitler in diesem Kreis zu zukünftigen Unternehmungen militärischer oder politischer Art Stellung genommen.


DR. SAUTER: Sie wurden infolgedessen, wenn ich Ihre Antwort recht verstehe, von diesen außenpolitischen Tatsachen jeweils überrascht.


VON SCHIRACH: Jawohl.


DR. SAUTER: War es so auch bei der Frage Anschluß Österreich?


VON SCHIRACH: Jawohl. Ich habe von dem Anschluß Österreichs, den ich natürlich lebhaft begrüßt habe, erfahren auf – wenn ich mich recht erinnere – auf einer Autofahrt von meiner Akademie in Braunschweig nach Berlin durch das Radio. Ich bin dann nach Berlin weitergefahren, bin dort gleich in einen Zug gestiegen und bin am nächsten Morgen in Wien eingetroffen und habe dort die [430] Jugend begrüßt: Die Jugendführer, die zum Teil sehr lange in den Gefängnissen und im Konzentrationslager Wöllersdorf gesessen haben, und die vielen Jugendführerinnen, die auch ein ziemlich schweres Schicksal hinter sich hatten.


DR. SAUTER: Von dem Einmarsch in die Tschechoslowakei?


VON SCHIRACH: Erfuhr ich wie jeder andere deutsche Staatsbürger durch den Rundfunk, und ich erfuhr nicht mehr darüber, als jeder andere Staatsbürger durch den Rundfunk erfuhr.


DR. SAUTER: Waren Sie in irgendeiner Eigenschaft beteiligt bei den Verhandlungen betreffend das Münchener Abkommen mit Chamberlain und Daladier im Jahre 1938?


VON SCHIRACH: Nein.


DR. SAUTER: Was war Ihre Meinung?


VON SCHIRACH: Ich habe in diesem Abkommen die Grundlage für einen Frieden gesehen, und ich war der festen Überzeugung, daß Hitler dieses Abkommen halten würde.


DR. SAUTER: Wußten Sie dann etwas von den Verhandlungen mit Polen im Jahre 1939?


VON SCHIRACH: Nein. Ich habe von den Verhandlungen, die zum Kriege geführt haben, erst hier im Gerichtssaal erfahren. Ich kenne nur von diesen Verhandlungen die Version, die amtlich durch den Rundfunk beziehungsweise durch das Propagandaministerium herausgegeben wurde und weiß also nicht mehr darüber als das, was jeder andere deutsche Staatsbürger weiß. Die Darstellung, die Hitler im Reichstag gab, hielt ich für absolut wahr. Ich habe nie daran gezweifelt oder jedenfalls nicht daran gezweifelt bis etwa 1943, und alles das, was ich darüber gehört habe, war für mich neu.


DR. SAUTER: Es ist Ihnen von der Anklage, Herr Zeuge, unter anderem auch vorgeworfen worden, Sie hätten in Ihrem Buch »Die Hitler-Jugend, Idee und Gestalt« – es ist das, Herr Vorsitzender, Nummer 1458-PS – die Ausdrücke »Lebensraum« und »Ostraum« gebraucht, und Sie hätten damit zum Ausdruck gebracht, daß Sie Eroberungen Deutschlands in östlicher Richtung, also auf Kosten Sowjetrußlands und Polens begrüßen oder für notwendig halten. Was sagen Sie dazu?


VON SCHIRACH: In meinem Buch »Die Hitler-Jugend, Idee und Gestalt« ist meines Wissens das Wort »Lebensraum« überhaupt nicht erwähnt. Es ist nur das Wort »Ostraum« erwähnt, und zwar, ich glaube, im Zusammenhang mit einem Pressedienst im Ostraum. Es ist in einem Nebensatz gesagt bei einer Schilderung der Aufgaben des Kolonialreferates in der Reichsjugendführung, daß durch die Tätigkeit des Kolonialreferates nicht vergessen werden sollte die Notwendigkeit, die Jugend auf die Ausnützung des Ostraumes [431] hinzuweisen, damit ist gemeint der deutsche Ostraum, der schwachbesiedelte deutsche Ostraum. Es war das eine Zeit, in der uns in der Jugend ganz besonders beschäftigte das Problem der Landflucht, das heißt, der Abwanderung der zweiten und dritten Bauernsöhne vom Land in die Stadt.

Dagegen habe ich eine eigene Bewegung in der Jugend gegründet, den Landdienst, der die Aufgabe hatte, diesen Strom der Jugend vom Lande in die Stadt abzudämmen und die Aufgabe hatte, der Jugend auch in der Stadt das Land als Aufgabe vorzustellen. Ich habe selbstverständlich nie an eine Eroberung russischen Gebietes gedacht, denn politisch stand ich, seit ich mich überhaupt mit Geschichte beschäftigt habe, immer auf dem Standpunkt, daß wir die durch Bismarcks Entlassung abgebrochene Politik der Rückversicherung mit Rußland wieder aufzunehmen hätten. Ich habe den Angriff auf die Sowjetunion als einen Selbstmord der deutschen Nation angesehen.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Haben Sie als Jugendführer des Deutschen Reiches unmittelbares Vortragsrecht bei Hitler gehabt?


VON SCHIRACH: Ja, das ist richtig. Allerdings stand dieses Vortragsrecht mehr oder weniger auf dem Papier. Ich habe, um das genau darzustellen, vor der Machtergreifung häufiger Hitler persönlich Vortrag halten können. Im Jahre 1932 sagte er sich mehrfach abends bei mir zum Essen an, aber es ist klar, daß in Gegenwart meiner Frau und der anderen Gäste über politische Fragen dabei nicht gesprochen wurde, insbesondere nicht über Aufgaben meines Spezialaufgabengebietes. Ich konnte nur vielleicht hin und wieder mal ein Thema anschneiden, was mich im Zusammenhang mit der Erziehung interessierte. 1933 habe ich ihm, meiner Erinnerung nach, zweimal Vortrag gehalten, einmal wegen der Finanzierung der Jugend und das andere Mal im Zusammenhang mit dem Parteitag 1933. In den nachfolgenden Jahren habe ich durchschnittlich ein- oder zweimal im Jahr ihm Vortrag gehalten, wobei es mir aber so erging wie wohl fast allen, die Hitler Vortrag gehalten haben. Von den vielleicht 15 Punkten, die ich ihm vortragen wollte, konnten drei oder vier behandelt werden, das andere fiel unter den Tisch, weil er mich unterbrach und sich sehr ausführlich nun über das verbreitete, was ihm besonders wichtig war.

Ich habe mir dann dadurch zu helfen versucht, daß ich Modelle von Jugendbauten, Ansichten von den großen Sportanlagen, von den Jugendheimen, in einem Saal der Reichskanzlei aufstellen ließ und die Gelegenheit benutzte, wenn er sich das ansah, von zwei oder drei Fragen an ihn zu stellen.

Hitler hat sich, ich muß das hier aussprechen, ich glaube, ich bin das der Jugend schuldig, außerordentlich wenig um die erzieherischen Fragen gekümmert. Ich habe von ihm auf erzieherischem [432] Gebiet so gut wie keine Anregungen erhalten. Das einzige Mal, wo er eine wirkliche Anregung auf dem Gebiet der Leibeserziehung gab, war, ich glaube 1935, als er mir sagte, ich möchte mich darum kümmern, daß der Boxsport in der Jugend mehr Verbreitung finde. Ich habe das getan, er hat aber nie einen Boxkampf der Jugend besucht.

Mein Freund, der Reichssportführer von Tschammer und Osten, und ich haben sehr oft versucht, ihn zu anderen Sportveranstaltungen, insbesondere zu den Ski-Wettkämpfen und Eishockey-Meisterschaften in Garmisch, zu bringen, aber abgesehen von den Veranstaltungen der Olympischen Spiele war es nicht möglich, ihn zu einer Beteiligung zu bringen.


DR. SAUTER: Sie haben uns eben erzählt von der sogenannten militärischen oder vormilitärischen Erziehung. Soweit man davon überhaupt sprechen könnte, hat sie nur eine sehr untergeordnete Rolle in der Ausbildung der Hitler-Jugend gebildet. Ich bitte nun, und zwar nicht ausführlich, sondern lediglich schlagwortweise, uns zu sagen, was nach Ihrer Idee die Hauptziele Ihrer Jugenderziehung waren. Bitte nur schlagwortartig.


VON SCHIRACH: Zeltlager.


DR. SAUTER: Zeltlager?


VON SCHIRACH: Fahrten, Bau von Jugendheimen und Jugendherbergen.


DR. SAUTER: Fahrten, was heißt das, Fahrten?


VON SCHIRACH: Wanderungen der Jugend, und zwar Einzelwanderungen und Wanderungen in Gruppen. Und dann der Bau von immer mehr Jugendher bergen. Ich habe in einem einzigen Jahre in Deutschland über 1000 Heime und Jugendherbergen gebaut. Dann die zusätzliche Berufsschulung, und dann das, was ich das »Olympia der Arbeit« nenne, der jährlich wiederkehrende Reichsberufswettkampf. Das war ein freiwilliger Leistungswettbewerb aller Jugendlichen beiderlei Geschlechts, die daran teilnehmen wollten. Tatsächlich haben Millionen daran teilgenommen. Dann unsere großen Reichssportwettkämpfe, Meisterschaften in allen sportlichen Disziplinen, unsere Kulturarbeit, der Aufbau unserer Spielscharen, unserer Singscharen, unserer Jugendkonzertchöre und der Aufbau unserer Jugendbibliotheken. Dann der schon vorher kurz im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Landflucht erwähnte Landdienst mit seinen Landhelfergruppen, also den Jugendlichen, die aus Idealismus nun auf dem Lande arbeiteten, auch Stadtjungen, um den Bauernkindern zu zeigen, daß das Land eigentlich doch schöner ist als die Stadt, daß auch ein Stadtjunge sein Leben dort vorübergehend aufgibt, um sich dem Lande zu widmen und dem Dienst am Boden. Dann als große Gemeinschaftsleistung der Jugend [433] muß ich die Zahnsanierungen erwähnen und die ärztlichen Reihenuntersuchungen. Das sind in ein paar Stichworten die wesentlichen Aufgaben unserer Jugendorganisation, aber noch lange nicht alle.


DR. SAUTER: Herr Präsident! Diese Ideen und Ge danken und Ziele des Angeklagten von Schirach sind in einer Reihe von Urkunden niedergelegt, die im Dokumentenbuch Schirach aus seinen Werken und aus seinen Reden und Anordnungen aufgenommen sind. Es handelt sich um den Dokumentenband Schirach, Nummer 32 mit 39, dann Nummer 44 mit 50, dann Nummer 66 mit 74a, dann Nummer 76 mit 79 und endlich Nummer 80 mit 83.

Alle diese Dokumente beschäftigen sich mit den geschilderter Aufgaben, wie sie der Angeklagte eben Ihnen vorgetragen hat. Und ich bitte, wegen der Einzelheiten von den Dokumenten zu Beweiszwecken Kenntnis zu nehmen.


[Zum Zeugen gewandt:]


Ich möchte nur auf einen Punkt von diesem, wenn ich so sagen darf, Programm der Hitler-Jugend eingehen, weil Ihnen das in der Anklage besonders zum Vorwurf gemacht wird, nämlich Ihre Zusammenarbeit mit dem Juristenbund, also Ihre Beschäftigung mit dem Rechtswesen. Da interessiert es mich, warum haben Sie als Reichsjugendführer sich überhaupt mit Rechtsproblemen befaßt? Was haben Sie angestrebt, und was haben Sie erreicht? Das bitte ich, kurz zu sagen, weil es in der Anklage besonders hervorgehoben ist.

VON SCHIRACH: Ich darf daran erinnern, daß ich die Staatsjugend als einen Jugendstaat gesehen habe. In diesem Jugendstaat waren alle Berufe vertreten und auch alle Aufgaben. Die Zusammenarbeit mit dem Juristenbund ergab sich aus der Notwendigkeit, für unsere werktätige Jugend Rechtsberater heranzubilden, die ihnen den notwendigen Rechtsschutz gewähren konnten. Mir lag daran, daß diejenigen Hitler-Jugendführer, die Rechtswissenschaft studierten, wieder in die Organisation zurückkehrten, um solche Aufgaben in der Organisation zu erfüllen. Es hat sich aus dieser Schulung eine große Organisation entwickelt innerhalb der Jugend, gleichbedeutend wie die Organisation der Ärzte innerhalb der Jugendorganisation; unsere ärztliche Organisation umfaßte etwa 1000 Ärzte und Ärztinnen. Und diese Juristen halfen nun in den Stäben der Gebiete und der Banne und anderen Einheiten der Jugendorganisation in der Durchsetzung der Forderungen, die ich schon sehr früh, schon in der Kampfzeit, vor der Machtergreifung erstmalig erhoben hatte und dann im Staate mit Nachdruck vertrat, nämlich der Forderungen nach der Freizeit und nach dem bezahlten Urlaub des Jungarbeiters. Es hat sich auch aus dieser Jugendrechtsarbeit ergeben die Gründung von Seminaren für Jugendrecht und Jugendarbeitsrecht und so weiter an den Universitäten in Kiel und Bonn. [434] Es hat sich vor allem daraus ergeben, daß die Forderungen, die ich in einer Rede 1936 im Jugendrechtsausschuß der Akademie für Deutsches Recht ausführte, verwirklicht werden konnten.

DR. SAUTER: Einen Moment! [Zum Gerichtshof gewandt]: Es ist das die Rede, die auszugsweise wiedergegeben ist in dem Dokumentenbuch Schirach Nummer 63, ein Abdruck aus dem »Archiv« vom Oktober 1936. [Zum Zeugen gewandt]: Herr von Schirach, vielleicht äußern Sie sich ganz kurz, welche Forderungen haben Sie als Reichsjugendführer hinsichtlich der Jugend an sozialen Forderungen aufgestellt? Sie haben vorhin gesagt »Freizeit«. Was meinten Sie damit?


VON SCHIRACH: In erster Linie eine Verkürzung der Arbeitszeit für Jugendliche, Abschaffung der Nachtarbeit für Jugendliche, grundsätzliches Verbot der Kinderarbeit, verlängertes Wochenende und ein bezahlter dreiwöchiger Urlaub im Jahr. Ich habe in Liegnitz 1937 festgestellt, daß damals noch 50 Prozent der werktätigen Jugend keinen Urlaub hatten und nur ein Prozent 15 bis 18 Tage im Jahr. Ich habe aber 1938 bereits durchgesetzt das Jugendschutzgesetz, das grundsätzlich ausspricht das Verbot der Kinderarbeit, das das Schutzalter des Jugendlichen hinaufsetzte von 16 auf 18 Jahre, das grundsätzlich aussprach das Verbot der Nachtarbeit und das meine Forderung des erweiterten Wochenendes verwirklichte und den Urlaub der Jugendlichen auf mindestens 15 Tage im Jahre festsetzte. Das war alles, was ich erreichen konnte, es war nur ein Teil von dem, was ich erreichen wollte.


DR. SAUTER: Das sind also die Forderungen, die niedergelegt sind in folgenden Dokumenten im Dokumentenbuch: 40/41, 60 bis 64, von denen ich zu Beweiszwecken Kenntnis zu nehmen bitte.

Herr Zeuge! Ich komme nun zu einem anderen Problem wegen Ihrer Stellung innerhalb der Partei. Es ist hier vor einiger Zeit ein Plan gezeigt worden, der den Aufbau der Partei und ihre Gliederungen darstellt. Stimmt dieser Plan, oder wie war sonst Ihre Stellung innerhalb der Partei?


VON SCHIRACH: In Bezug auf meine Stellung in der Partei ist dieser Plan nicht richtig, jedenfalls soweit er die Befehlswege wiedergibt. Nach dem Plan, der hier ausgestellt wurde, wäre der Befehlsweg gegangen vom Reichsleiter für die Jugenderziehung an den Chef der Parteikanzlei, und von da an Hitler, und von Hitler an die Reichsjugendführung der Partei. Das ist natürlich eine falsche Darstellung. Ich saß ja nicht in der Parteileitung, um meine Befehle über die Gauleiter an die Gebietsführer zu geben, sondern ich saß als Vertreter der Jugend und als Spitze der Jugend in der Parteileitung. Wenn man also graphisch meine Stellung und die Stellung meiner Organisation im Rahmen der NSDAP richtig darstellen wollte, müßte man eigentlich eine Pyramide zeichnen, deren oberste[435] Spitze, also mein Amt, in der Parteileitung über den Reichsleiter ging. Ich war der einzige Mann in der Jugend, der mit der Partei verbunden war.


DR. SAUTER: Und die übrigen Führer und Unterführer der Jugend?


VON SCHIRACH: Waren einzelne vielleicht Parteimitglieder, nicht alle, aber jedenfalls waren sie nicht Mitglieder der Gauleitungen oder der Kreisleitung. Der ganze Stab der Jugend, die ganze Organisation der Jugend stand neben der Partei als ein geschlossenes Ganzes.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Als Jugendführer des Deutschen Reiches waren Sie Reichsbeamter?


VON SCHIRACH: Ja.


DR. SAUTER: Und seit 1. Dezember 1936, glaube ich, Chef einer Obersten Reichsbehörde?


VON SCHIRACH: Ich bin erst seit dem 1. Dezember 1936 Reichsbeamter.


DR. SAUTER: Mit dem Titel?


VON SCHIRACH: Jugendführer des Deutschen Reiches.


DR. SAUTER: Als Chef einer Obersten Reichsbehörde waren Sie gegenüber dem Innenminister und gegenüber dem Erziehungsminister eigentlich selbständig?


VON SCHIRACH: Ja, das war ja der Sinn der Errichtung der selbständigen Reichsbehörde; das war der Zweck der Errichtung.


DR. SAUTER: Sind Sie nun dadurch Mitglied des Reichskabinetts geworden, wie behauptet wird?


VON SCHIRACH: Meiner Überzeugung nach, nein. Ich habe hier zum ersten Male gehört, daß ich Mitglied des Kabinetts gewesen sein soll. Ich habe nie an einer Kabinettssitzung teilgenommen, ich habe nie ein Dekret oder etwas Ähnliches erhalten, das mich zum Kabinettsmitglied bestellte. Ich habe nie Einladungen zu Kabinettssitzungen erhalten, ich habe mich nie als Kabinettsmitglied betrachtet, und ich glaube, die Minister haben mich auch nicht als Mitglied betrachtet.


DR. SAUTER: Sind Sie von den Beschlüssen des Reichskabinetts in irgendeiner Weise dann verständigt worden, zum Beispiel durch Zuleitung des Sitzungsprotokolls?


VON SCHIRACH: Nein. Ich habe von Beschlüssen des Reichskabinetts, soweit solche nach dem 1. Dezember 1936 überhaupt erfolgten, nur in der gleichen Weise Kenntnis erhalten wie jeder andere höhere Beamte oder Reichsangestellte, der das Reichsgesetzblatt liest oder das Reichsministerialblatt. Protokolle sind mir nie zugänglich gemacht worden.


[436] DR. SAUTER: Als Sie dann Oberste Reichsbehörde wurden, haben Sie dann Ihren Mitarbeiterstab, den Sie doch benötigten, von einem Ministerium gestellt bekommen, oder wie haben Sie ihn sich geschaffen?


VON SCHIRACH: Ich habe einige Jugendführer, die bereits jahrelang in meinem Stabe tätig waren, zu Beamten ernennen lassen. Ich habe keinen einzigen Beamten aus einem Ministerium übernommen, um Angelegenheiten der Jugendorganisation zu bearbeiten. Die ganze Oberste Reichsbehörde umfaßte, wenn ich mich recht erinnere, nicht mehr als fünf Beamte. Es war die kleinste Oberste Reichsbehörde des Reiches. Darauf war ich besonders stolz. Wir führten einen sehr großen Auftrag mit einem Minimum von Menschen durch.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Ich möchte dann zu einem Thema kommen, das ziemlich umfangreich sein wird, nämlich zu dem von Ihnen bereits erwähnten Affidavit eines gewissen Gregor Ziemer, Es ist das ein sehr umfangreiches Affidavit, das von der Staatsanwaltschaft eingeführt ist unter der Nummer 2441-PS.

Herr Zeuge! Was haben Sie zu diesem Affidavit im einzelnen zu sagen? Kennen Sie diesen Gregor Ziemer?


VON SCHIRACH: Nein.


DR. SAUTER: Haben Sie erfahren, wer das ist und woher er sein angebliches Wissen bekommen hat?


VON SCHIRACH: Ich entnehme dem Affidavit, daß Herr Ziemer »Headmaster« der amerikanischen Schule in Berlin war, und zwar vor dem Kriege, und daß er ein Buch geschrieben hat, das sich anscheinend mit der Jugend und der Schulerziehung in Deutschland befaßt und von dem dieses Affidavit einen Extrakt darstellt. Das Affidavit selbst – wenn man es als Ganzes betrachtet – hat, glaube ich, mehr propagandistische Bedeutung als objektive. Ich möchte damit beginnen, daß ich von der allerersten Seite etwas wiedergebe. Es ist das die Seite, die die eidesstattliche Erklärung Ziemers enthält, und in dem letzten Absatz steht nun, daß vor der amerikanischen Schule Straßenkämpfe stattfanden zwischen den jüdischen Schülern der Schule und der örtlichen Jugend.

Mit den Schwierigkeiten, die die Schule selber hatte, brauche ich mich hier nicht zu befassen, weil sie ja nicht in mein Ressort fallen. Aber diese Straßenkämpfe haben sich außerhalb der Schule abgespielt, und ich glaube, ich muß hierzu etwas sagen. Ich habe von diesen Auseinandersetzungen niemals etwas gehört. Ich hätte aber unter allen Umständen von ihnen erfahren müssen, denn ich war den größten Teil dieses Jahres 1938 in Berlin. Ich hätte davon dadurch erfahren müssen: erstens durch die Organisation der Jugend selbst, und zwar hätten die vorgesetzten Jugendführer mir [437] berichten müssen, wenn sich solche Dinge ereignet hätten. Ich hätte aber durch das Auswärtige Amt davon erfahren müssen. Wenn Jugendliche der amerikanischen Kolonie dort belästigt worden wären, müßten ja doch Proteste über die Botschaft beim Auswärtigen Amt eingehen. Diese Proteste wären mir unter allen Umständen sofort zugeleitet, ja zu telephoniert worden. Ich kann mir nur vorstellen, daß es sich hier um eine sehr große Übertreibung handelt. Der amerikanische Botschafter Wilson hat, ich glaube, noch im Frühjahr 1939, ich glaube, mich nicht im Zeitpunkt zu irren, bei mir draußen in Gatow gefrühstückt.


DR. SAUTER: In dem Auslandshaus?


VON SCHIRACH: In dem Auslandshaus. Und wir haben uns dabei über verschiedene Dinge unterhalten unter vier Augen. Ich glaube, daß er bei dieser Gelegenheit oder nachträglich unter allen Umständen solche Zwischenfälle erwähnt haben würde, wenn sie sich in der Form ereignet hätten, wie sie Herr Ziemer darstellt.


DR. SAUTER: Ich glaube, von den Seiten des Affidavits kann ich bis zur Seite 2 übergehen. Es handelt sich...


VORSITZENDER: Dr. Sauter! Wieviel wurde von diesem Dokument von der Anklagevertretung verlesen? Soviel ich weiß, nur sehr wenig


DR. SAUTER: Bitte?


VORSITZENDER: Wieviel von dem Affidavit wurde verlesen und von der Anklagevertretung als Beweismaterial vorgelegt?


DR. SAUTER: Das kann ich auswendig jetzt nicht sagen, Herr Präsident, aber nach der Praxis muß ich annehmen, daß, wenn die Urkunde vorgelegt wird, die ganze Urkunde zur Kenntnis des Gerichts gebracht ist.


VORSITZENDER: Nein, das ist nicht richtig. Wir haben immer und immer wieder erklärt, daß wir nur solche Dokumente von Amts wegen zur Kenntnis nehmen, welche vor Gericht verlesen wurden, es sei denn, es wären Dokumente, von denen vollständige Übersetzungen angefertigt wurden. Dieses Dokument ist, glaube ich, im Laufe des Vortrags der Anklagevertretung vorgelegt worden, und wahrscheinlich ist nur ein Satz damals daraus verlesen worden. Ich weiß nicht, wieviel verlesen wurde, aber Sie und der Angeklagte sollten es wissen.


MR. DODD: Es wurde nur ein Absatz verlesen, Herr Vorsitzender.


VORSITZENDER: Ein Absatz?


MR. DODD: Ein ganzer Absatz, und vielleicht noch ein kurzer auf Seite 21.


VORSITZENDER: Ja, ich habe es hier.


[438] MR. DODD: Ich glaube, die Anklagevertretung hat bereits den Teil behandelt, der mit der Rede in Heidelberg zu tun hatte.


VORSITZENDER: Und das ist der einzige Teil, der auch verlesen wurde, und deshalb ist nur dieser Teil als Beweis beim Akt.


VON SCHIRACH: Ich darf vielleicht nur wegen der Glaubwürdigkeit – ich will mich im einzelnen nicht mit den Anschuldigungen, die in dem Affidavit enthalten sind, beschäftigen – sagen, daß mit einer einzigen Ausnahme sämtliche Jahresparolen der Hitler-Jugend hier falsch wiedergegeben sind und daß Herr Gregor Ziemer aber die Richtigkeit seiner Aussagen auf seinen Eid nimmt.


VORSITZENDER: Wäre es nicht am besten, Sie verweisen, wenn Sie auf dieses Affidavit antworten wollen, den Angeklagten auf den Teil, der bereits verlesen wurde? Dann könnte er darauf antworten.


DR. SAUTER: Herr Präsident! In dem Affidavit Ziemer, das der Angeklagte als eine ausgesprochene Hetzschrift bezeichnet hat mir gegenüber, sind die Jahresparolen angegeben, die der Angeklagte gegeben haben soll, also Jahresparolen, das heißt das Schlagwort, das für die Arbeit des nächsten Jahres innerhalb...


VORSITZENDER: Dr. Sauter! Es ist nur eine Stelle aus diesem Dokument vorgelegt worden. Wenn Sie auch den Rest vorlegen wollen, dann haben Sie das Recht dazu; aber ich dachte, es wäre das beste, wenn Sie zu der vorliegenden Stelle Stellung nehmen würden. Das übrige Affidavit liegt nicht als Beweisstück vor.


DR. SAUTER: Herr Präsident! Wir kommen dann zu kurz dabei, und zwar aus dem Grund, weil eine andere Stelle, die die Staatsanwaltschaft nicht verwertet hat...


VORSITZENDER: Ich sagte ja, Sie können von an deren Stellen Gebrauch machen, wenn Sie wollen.


DR. SAUTER: Freilich, daß ich aber nachweisen kann, daß die Angaben des Herrn Ziemer nicht richtig sind, und deswegen bin ich gerade dabei, die Frage der Jahresparolen mit dem Angeklagten zu besprechen. Das ist nur ein Beispiel.


VORSITZENDER: Dr. Sauter! Der Angeklagte behauptet anscheinend, das Affidavit sei unglaubwürdig wegen der zitierten Parolen. Genügt das nicht für Ihren Zweck?


DR. SAUTER: Ja, ich will Ihnen aber den Beweis dafür bringen, daß die Angaben des Herrn Ziemer nicht stimmen. Der Angeklagte behauptet, daß das nicht war sei, was da drin steht. Aber ich will Ihnen den Beweis dafür bringen, daß tatsächlich Herr Ziemer objektiv die Unwahrheit gesagt und geschworen hat.


VORSITZENDER: Sicherlich, Dr. Sauter. Da eine Stelle aus diesem Affidavit als Beweismittel vorliegt, können Sie die Frage [439] der Glaubwürdigkeit der Person, die das Affidavit ausgestellt hat, kurz behandeln.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Dieser Herr Ziemer hat in seinem Affidavit Angaben gemacht über die Jahresparolen...


VON SCHIRACH: Ja.


DR. SAUTER:... die Sie für die HJ ausgegeben haben. Wie diese Jahresparolen lauten, ersieht ja das Gericht ohne weiteres aus dem Affidavit.

Ich möchte jetzt aber bitten, daß Sie aussagen, wie die Jahresparolen der HJ in Ihren Jahren, außer vor 1933, bis 1940 gelautet haben.


VON SCHIRACH: Herr Ziemer gibt die Parolen wieder auf Seite 16 des englischen Dokuments. Herr Ziemer sagt: 1933 habe die Parole der deutschen Jugend »Ein Reich, eine Nation, ein Führer« geheißen. Er meint wahrscheinlich »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«. In Wirklichkeit war das Jahr 1933 das »Jahr der Einigung«.


DR. SAUTER: Was heißt das, »Einigung«?


VON SCHIRACH: Das Jahr, in dem sich die deutsche Jugend zu einer Einheit zusammenschloß.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Ich möchte dann gleich einige Jahre überspringen und auf das Jahr 1938 eingehen.

Wie hat 1938 Ihre Parole für die HJ gelautet?


VON SCHIRACH: Das Jahr 1938 war das »Jahr der Verständigung«.


DR. SAUTER: Das »Jahr der Verständigung«?

VON SCHIRACH: Herr Ziemer sagt, die Parole habe geheißen: »Jeder Jugendliche ein Flieger«.


DR. SAUTER: Dann das Jahr 1939. Wie hat Ihre Parole gelautet?


VON SCHIRACH: Es war das »Jahr der Gesundheitspflicht«.


DR. SAUTER: »Jahr der Gesundheitspflicht«?


VON SCHIRACH: Nach Ziemer heißt es: »Hitler-Jugend marschiert«.


DR. SAUTER: Und schließlich das Jahr 1940, Ihr letztes Jahr?


VON SCHIRACH: Es war das »Jahr der Belehrung«. Er nannte es aber: »Wir fahren gegen Engelland«. Ich möchte aber hinzufügen, daß die erste Parole »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«, von der Ziemer behauptet, daß sie 1933 die Jahresparole, die offizielle der deutschen Jugend war, das erstemal entstand 1938, als Hitler nach Österreich einfuhr. Vorher hat es diese Parole überhaupt nicht gegeben. Sie war niemals eine Jahresparole der deutschen Jugend.


[440] DR. SAUTER: Herr Zeuge! Wir müssen dem Wunsche des Gerichts Rechnung tragen und uns nicht weiter mit dem Affidavit Ziemers befassen, außer mit dem einen Punkt, der von der Staatsanwaltschaft eigens zum. Gegenstand der Anklage gemacht wurde. Im Zusammenhang mit dem Vorwurf des Antisemitismus.

Ich übergehe die weiteren Angaben von Herrn Ziemer und komme zu der Heidelberger Rede. Da bitte ich zunächst zu sagen, des Zusammenhanges wegen, was da Herr Ziemer behauptet und dann dazu Stellung zu nehmen.


VON SCHIRACH: Ja, Herr Ziemer behauptet, daß ich auf einer Studentenversammlung in Heidelberg – ich glaube 1938 Ende oder Anfang 1939 – eine Rede gegen Juden gehalten habe im Rahmen einer Kundgebung des Nationalsozialistischen Studentenbundes. Er sagt, daß ich bei dieser Gelegenheit die Studenten belobt habe wegen der Zerstörung der Synagoge von Heidelberg, daß ich dann anschließend die Studenten an mir habe vorbeimarschieren lassen und ihnen Medaillen und Zertifikate, Beförderungszertifikate, überreicht hätte. Zunächst folgendes:

Meine Tätigkeit in der Studentenbewegung habe ich vorhin schon erwähnt. Im Jahre 1934 gab ich auf Wunsch des Stellvertreters des Führers, Rudolf Heß, die Leitung der Studentenbewegung an ihn ab. Er hat dann einen Reichsstudentenführer eingesetzt, und seit der Zeit habe ich in Studentenversammlungen nicht gesprochen. Heidelberg habe ich meiner Erinnerung nach im Sommer 1937 besucht und dort zur Jugend gesprochen, also ein Jahr beziehungsweise eineinhalb Jahre früher, als das, welches Herr Ziemer angibt. Ich bin auch einmal in Heidelberg bei den Festspielen gewesen.


DR. SAUTER: Das spielt ja alles keine Rolle.


VON SCHIRACH: Ich habe keine Erinnerung an eine Versammlung mit Studenten dieser Art, keine Erinnerung überhaupt, zu den Judenpogromen von 1938 in der Öffentlichkeit Stellung genommen zu haben. Über die Art, wie ich dazu in der Jugend Stellung nahm, werde ich an anderer Stelle aussagen, Ziemer sagt – ich übersetze aus dem Englischen – in seiner Angabe: der Tag würde kommen, wenn die Studenten von Heidelberg ihren Platz Seite an Seite nehmen würden mit den Legionen der anderen Studenten, um die Welt für die Ideologie des Nationalsozialismus zu erobern. In dieser Weise habe ich mich niemals in der Jugend, in der Öffentlichkeit oder im kleinen Kreis ausgedrückt. Das sind nicht meine Worte, das habe ich nicht gesagt. Ehrenzeichen, Zertifikate und so weiter für Studenten konnte ich überhaupt nicht verleihen. Medaillen zur Auszeichnung für Studierende gab es nicht. Außerdem verlieh das das Staatsoberhaupt. Ich selbst habe das Recht gehabt, das goldene Ehrenzeichen der Jugend zu verleihen. Dieses goldene Ehrenzeichen der Jugend ist von mir vielleicht 230mal verliehen [441] wor den, fast nur an Menschen, die sich außerordentlich verdient gemacht haben um die Erziehung, aber nicht an unbekannte Studenten.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Das Wesentliche an Ihrem Vortrag ist uns zu sagen, ob das stimmt, dieser Vortrag, der Ende 1938 bei der Studentenschaft in Heidelberg gehalten worden ist, und bei dem von dem Vortragenden auf die Trümmer der Synagogen hingewiesen wurde. Der Vortrag ist nicht von Ihnen gehalten worden, denn Sie hatten damals schon seit Jahren nichts mehr mit der studentischen Bewegung zu tun?


VON SCHIRACH: Ich habe mit der Studentenbewegung nichts zu tun gehabt, und ich erinnere mich nicht, in einer solchen Kundgebung gesprochen zu haben. Ich halte es für ganz ausgeschlossen, daß diese Veranstaltung überhaupt mit Studenten stattfand. Ich habe das nicht gesagt.


DR. SAUTER: Haben Sie das Affidavit zur Hand?


VON SCHIRACH: Ja. Ich kann nur augenblicklich die Stelle nicht finden.


DR. SAUTER: Da steht etwas drin, was ich ins Deutsche übersetzt habe. Es spricht von einem kleinen dicken Studentenführer.

Haben Sie diese Stelle? Heißt es nicht so?


VON SCHIRACH: Ja, das steht drin.


DR. SAUTER: Nun, »kleiner, dicker Studentenführer« wird sich doch sicher auf Sie nicht beziehen können.

Ich darf Sie, Herr Präsident, in diesem Zusammenhang auf ein Affidavit hinweisen, das dem Dokument Schirach unter Nummer 3 beigefügt ist und das ich hiermit überreiche. Es ist das eine eidesstattliche Versicherung einer gewissen Höpken, die vom 1. Mai 1938 an bei dem Angeklagten von Schirach als Sekretärin beschäftigt war und die in dieser eidesstattlichen Versicherung unter Ziffer 16 – es ist das Blatt 22 des Dokumentenbuches – unter genauer Angabe von Details an Eides Statt geschworen hat, daß der Angeklagte in dieser Zeit, um die es sich hier handelt, überhaupt nicht in Heidelberg gewesen ist. Es ist wohl nicht notwendig, daß ich diesen Teil der eidesstattlichen Versicherung im einzelnen verlese. Ich bitte, zu Beweiszwecken davon Kenntnis zu nehmen.


VORSITZENDER: Ich glaube, es wäre Zeit, eine Pause einzuschalten.


[Pause von 10 Minuten.]


DR. SAUTER: [zum Zeugen gewandt] Sie haben davon gesprochen, in anderem Zusammenhang, daß Sie Offiziere nicht für geeignet als Jugendführer gehalten haben. Mich würde nun [442] interessieren, wie viele Mitglieder des Führerkorps der HJ waren 1939 bei Kriegsausbruch Reserveoffiziere der Wehrmacht?

VON SCHIRACH: Ich rechne das Führerkorps der HJ mit etwa 1300 Jugendführern, das sind also die Führer der Banne, die Führer der Gebiete und die entsprechenden Mitarbeiter in den Stäben. Von diesen 1300 Führern der Jugend sind 5 bis 10 Mann Reserveoffiziere gewesen.


DR. SAUTER: Und wie viele aktive Offiziere hatten Sie damals in Ihrem Stab oder in dem Führerkorps?


VON SCHIRACH: Aktive Offiziere waren nicht Jugendführer und konnten nicht Jugendführer sein.


DR. SAUTER: Warum nicht? War das so Vorschrift?


VON SCHIRACH: Jawohl, es war einem Offizier nicht erlaubt, Mitglied der Partei oder einer ihrer Gliederungen oder angeschlossener Verbände zu sein.


DR. SAUTER: Wer war Ihnen für die Leibeserziehung der Jugend und für den Sportbetrieb in der HJ verantwortlich?


VON SCHIRACH: Der Obergebietsführer von Tschammer und Osten, der auch Reichssportführer war. Er hatte im Olympischen Jahr sehr eng mit mir zusammengearbeitet und unterstellte sich mir freiwillig im Dezember oder November 1936 und trug mir gegenüber die Verantwortung für die gesamte Leibeserziehung der Jungen und Mädchen.


DR. SAUTER: War dieser Herr von Tschammer und Osten, der in der internationalen Sportwelt bekannt war, von Beruf Offizier?


VON SCHIRACH: Er war meiner Erinnerung nach im ersten Weltkrieg Offizier gewesen, war dann aus der Armee ausgeschieden, war Landwirt von Beruf und hat sich nur mit Fragen der Leibeserziehung, des Sports in den späteren Jahren beschäftigt. Einer seiner Brüder ist aktiver Offizier, daher kam dieser Gedanke.


DR. SAUTER: Ist dieser Herr von Tschammer und Osten während des zweiten Weltkrieges Offizier geworden?


VON SCHIRACH: Nein, auch nicht.


DR. SAUTER: Dann: Erinnern Sie sich? Es ist hier eine Urkunde vorgelegt worden von der Sowjetrussischen Anklagevertretung, und zwar ein Bericht aus Lemberg, in welchem behauptet wird, die HJ oder die Reichsjugendführung habe Kurse für Jugendliche aus Polen veranstaltet, um diese Jugendlichen dann als Agenten, Spione und Fallschirmspringer auszubilden. Sie haben uns heute erklärt. Sie übernehmen die gesamte Verantwortung für die HJ-Führung. Ich bitte Sie, sich dazu zu äußern.


[443] VON SCHIRACH: Wir haben überhaupt keine Voraussetzungen für Spionageschulung in der Jugend gehabt. Ob Heydrich seinerseits ohne mein Wissen und ohne Wissen meiner Mitarbeiter junge Agenten in Polen angeworben hat und sie im Rahmen seines Nachrichtendienstes beschäftigt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich selbst habe keine Spionageschulung betrieben. Ich habe keine Agentenkurse gehabt, und eine Fallschirmspringerausbildung konnte ich ja deswegen nicht durchführen, weil ich ja keine Luftwaffe hatte. Eine solche Ausbildung hätte ja nur im Rahmen der Luftwaffe durchgeführt werden können.


DR. SAUTER: Ihnen, als Reichsjugendführer oder, wie es später geheißen hat, als Reichsleiter für die Jugenderziehung ist also niemals- können Sie das auf Eid nehmen – niemals vor diesem Prozeß etwas von derartigen Dingen bekanntgeworden?


VON SCHIRACH: Das kann ich auf meinen Eid nehmen. Ich möchte hinzusetzen, daß kurz vor dem Kriege jugendliche Flüchtlinge aus Polen scharenweise zu uns kamen, aber diese konnten natürlich nicht nach Polen zurückkehren. Die Verfolgung der Deutschen in Polen ist eine historische Tatsache.

DR. SAUTER: Herr Zeuge! Die Anklagevertretung hat geltend gemacht, daß m der Hitler-Jugend ein Lied gesungen wurde: »Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt«, so soll das Lied geheißen haben. Es soll damit zum Ausdruck gebracht worden sein dieser Eroberungswille der Hitler-Jugend. Ist das richtig?


VON SCHIRACH: Das Lied heißt im Originaltext, der von Hans Baumann verfaßt wurde und auch in einem Dokument hier festgehalten ist: »Heute da hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt«. Es ist aber auch mir zur Kenntnis gekommen, daß das Lied in der Form ab und zugesungen wurde, die hier angegeben worden ist. Deshalb habe ich ein Verbot erlassen, daß das Lied anders als im Originaltext gesungen wird, genau so, wie ich verboten habe vor vielen Jahren von mir aus, daß das Lied in der deutschen Jugend gesungen wird: »Siegreich wollen wir Frankreich schlagen«.


DR. SAUTER: Dieses letzte Lied haben Sie ganz verboten?


VON SCHIRACH: Ja.


DR. SAUTER: Aus Rücksicht auf Ihre französischen Gäste, stimmt das?


VON SCHIRACH: Nicht aus Rücksicht auf Gäste, sondern weil es meiner außenpolitischen Konzeption widersprach.


DR. SAUTER: Und somit, Herr Präsident, überreiche ich den richtigen Text, den ich mir aus einem Liederbuch beschafft habe. Es ist das die Nummer 95 des Dokumentenbuches Schirach.

[444] Im Zusammenhang mit der Frage, ob die Hitler-Jugend eine militärische Vorbereitung der Jugend beabsichtigte, möchte ich folgende weitere Fragen stellen:


[Zum Zeugen gewandt:]


Hat sich die Ausbildung der Jugend, also die körperliche und sportliche Ausbildung, nur auf die Jungens bezogen, Herr von Schirach?

VON SCHIRACH: Nein, selbstverständlich wurde die gesamte Jugend körperlich ertüchtigt.

DR. SAUTER: Also auch die Mädchen?


VON SCHIRACH: Ja.


DR. SAUTER: Ist es richtig, daß Ihre Bemühungen um die körperliche Ausbildung und Ertüchtigung der Jugend sich außerdem auch bezog auf körperlich Behinderte, auf Blinde und auf sonstige Jugendliche, die von vornherein für eine militärische Verwendung nicht in Frage gekommen wären?

VON SCHIRACH: Ich habe schon sehr früh die blinde Jugend und die Gehörlosen und die Krüppel in die Hitler-Jugend mit aufgenommen. Ich habe für die Blinden eine eigene Zeitschrift gehabt und habe auch Bücher für sie in Blindenschrift hergestellt. Ich glaube, die Hitler-Jugend war die einzige Organisation in Deutschland, die solche Menschen betreute, außer den dafür vorgesehenen Organisationen der NSV und so weiter.


DR. SAUTER: Ich bitte, Herr Präsident, in diesem Zusammenhang zu Beweiszwecken Kenntnis zu nehmen von dem Dokument Nummer 27 des Dokumentenbuches Schirach. Es handelt sich dort um einen längeren Artikel unter der Überschrift: »Eingliederung körperbehinderter Jugendlicher in die Hitler-Jugend«. Also im Dokumentenbuch Nummer 27, Dokumentenbuch Schirach, wo insbesondere auch die Gehörlosen, also die Tauben, sowie die Blinden besonders erwähnt sind, daß sie zu vollwertigen, leistungsfähigen Berufstätigen herangezogen werden sollen.


MR. DODD: Ich habe den ganzen Tag über vermieden, Einspruch zu erheben, aber mir scheint, dieses Verhör wird zu weitschweifig. Wir haben keine Beschuldigungen gegen den Angeklagten erhoben hinsichtlich der Blinden, Tauben und Lahmen. Er geht immer wieder bis zu den Pfadfindern zurück, aber wir sind noch nicht auf die erheblichen Fragen gekommen, die wir bei diesem Angeklagten zu klären haben. Wenn wir so weitermachen, werden wir niemals fertig werden.


VORSITZENDER: Dr. Sauter! Wir haben diese langatmigen Berichte über die Ausbildung der Hitler-Jugend angehört. Glauben Sie nicht, Sie können nun zu einer wesentlicheren Frage übergehen? [445] Wir können uns jetzt einen sehr guten Begriff davon machen, wie die Ausbildung der Hitler-Jugend vor sich ging, und alle diese Dokumente liegen uns ja vor.


DR. SAUTER: Ich werde versuchen, Herr Präsident, Ihren Wünschen soweit nur irgendwie möglich Rechnung zu tragen. Herr Zeuge! Ist es richtig, daß Sie sich persönlich bei Hitler bemühten, um zu verhindern, daß Kadettenanstalten als rein militärische Ausbildungsanstalten wieder errichtet werden sollten?


VON SCHIRACH: Jawohl, das ist richtig, ich habe die Wiedererrichtung der Kadettenanstalten verhindert.


DR. SAUTER: Ich wende mich jetzt einem anderen Kapitel zu. Dem Angeklagten ist vorgeworfen worden, er habe die protestantischen und katholischen Jugendorganisationen zerschlagen. Was haben Sie dazu zu antworten?

VON SCHIRACH: Zunächst folgendes: Ich wollte, wie ich das schon ausgeführt habe, die Vereinigung der ganzen Jugend. Ich wollte auch die zahlenmäßig nicht sehr starken protestantischen Verbände und die zahlenmäßig starken katholischen Jugendverbände in die Hitler-Jugend eingliedern, besonders auch deswegen, weil sich, ein Teil dieser Verbände nicht auf die Pflege des konfessionellen Bekenntnisses beschränkte, sondern mit der Hitler-Jugend konkurrierte in Bezug auf Leibesübungen, Zeltlager, Fahrten und so weiter.

Darin sah ich eine Gefahr für die Idee der Einheit der deutschen Nationalerziehung und vor allem fühlte ich auch, daß in der Jugend selbst eine sehr starke Strömung zur HJ war. Die Abwendung von den konfessionellen Verbänden ist eine Tatsache. Es gab auch viele Geistliche, die auf dem Standpunkt standen, daß die Entwicklung in folgender Richtung etwa verlaufen sollte: Alle Jugend zur HJ; Jugendseelsorge durch Geistliche; sportliche, staatspolitische Arbeit und so fort durch Jugendführer.

1933 oder 1934, ich glaube aber, es war schon 1933, kam nun der Reichsbischof Müller zusammen mit dem protestantischen Bischof Oberheidt zu mir aus eigenem Antrieb und machte mir den Vorschlag, die protestantischen Jugendorganisationen in die HJ zu überführen. Ich war natürlich über diesen Vorschlag sehr erfreut und habe ihn angenommen. Ich hatte damals keine Ahnung davon, daß innerhalb der protestantischen Kirche Widerstände gegen den Reichsbischof Müller waren. Ich habe erst sehr viel später davon erfahren. Ich glaubte eben vollberechtigt im Namen der evangelischen Kirche handeln zu dürfen, und auch der ihn begleitende andere Bischof bestärkte mich in diesem Eindruck. Ich glaubte auch heute noch, daß Müller mit diesem Akt der freiwilligen Eingliederung der protestantischen Jugend in die Staatsjugend dem Willen der Mehrheit der protestantischen Jugendlichen selbst entsprach, [446] und ich habe bei meiner späteren Tätigkeit als Jugendführer immer wieder frühere Führer aus den protestantischen Jugendverbänden getroffen, die bei mir Führerstellen hatten und in meiner Jugendorganisation arbeiteten und mit großer Lust und Liebe bei der Sache waren. Durch diese Eingliederung der protestantischen Jugend, das möchte ich gleich betonen, wurde die Jugendseelsorge in keiner Weise beschränkt oder behindert. Eine Beschränkung des Jugendgottesdienstes ist überhaupt nicht erfolgt in Deutschland, weder damals noch später. Da die evangelische Jugend auf Grund eines Übereinkommens zwischen der Kirche und der HJ eingegliedert war, gab es praktisch nur einen Streit um die Jugenderziehung zwischen der katholischen Kirche und der HJ.

Ich habe im Mai oder Juni 1934 persönlich darum gebeten, bei den Durchführungsverhandlungen zum Reichskonkordat beteiligt zu werden, weil ich die zwischen der katholischen Kirche und der HJ schwebenden Streitfragen aus der Welt schaffen wollte. Ich legte großen Wert auf ein Übereinkommen auf diesem Gebiet und wurde tatsächlich an diesen Verhandlungen, die im Juni 1934 im Reichsministerium des Innern unter dem Vorsitz von Reichsinnenminister Frick stattfanden, beteiligt. Von katholischer Seite nahmen damals der Erzbischof Gröber und Bischof Berning an den Verhandlungen teil, und ich habe selbst damals eine Formel für die Zusammenarbeit vorgeschlagen, die mit Beifall von der katholischen Seite aufgenommen wurde und glaubte, damit die Basis für eine Befriedung auf diesem Gebiet gefunden zu haben. Die Sitzungen wurden leider unterbrochen am 29. Juni abends. Am 30. Juni 1934 erlebten wir den sogenannten Röhm-Putsch, und die Verhandlungen wurden nicht wieder aufgenommen. Das ist nicht meine Schuld, und ich trage hierfür keine Verantwortung. Hitler wollte einfach nicht aus dem Konkordat die Konsequenzen ziehen. Ich selbst habe den Wunsch gehabt, dieses Übereinkommen zustande zu bringen, und ich glaube, daß auch die kirchlichen Vertreter aus diesen Verhandlungen und vielleicht auch aus der einen oder anderen späteren Besprechung mit mir den Eindruck bekommen haben, daß die Schwierigkeiten nicht bei mir lagen. Jedenfalls hat mich, ich glaube, Herr Bischof Berning noch 1939 aufgesucht. Wir haben die schwebenden Fragen zwischen der Jugendführung und der Kirche erörtert. Ich glaube, er ist damals auch mit dem Eindruck von mir geschieden, daß nicht ich es war, der Schwierigkeiten machen wollte; die Schwierigkeiten lagen damals schon in dem immer stärker werdenden Einfluß von Martin Bormann, der absolut jede Einigung zwischen Parteiinstanzen und Kirche oder zwischen der Jugendführung und der Kirche zu verhindern versuchte. Im Verlaufe des Streites um die Führung der konfessionellen Jugendverbände und um die Eingliederung der Jugendverbände ist es zu lebhaften Erörterungen in der Öffentlichkeit gekommen. Ich selbst [447] habe mich in verschiedenen Versammlungen dabei geäußert. Auch von kirchlicher Seite erfolgten Äußerungen; je nach der Sachlage waren sie mehr oder weniger temperamentvoll. Religionsfeindliche Äußerungen habe ich im Zusammenhang mit diesem Fragenkomplex oder überhaupt niemals in meinem Leben getan.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Ist es richtig, daß Sie im Jahre 1937 eine Vereinbarung mit der kirchlichen Seite getroffen haben, in dem Sinn, daß grundsätzlich die HJ an Sonntagen während der Kirche keinen Dienst haben soll, damit die Kinder den Gottesdienst besuchen können und ferner, daß Sie deshalb durch diese Vereinbarung erheblich Schwierigkeiten bekamen?


VON SCHIRACH: Das ist richtig.


DR. SAUTER: Herr Zeuge, ganz kurz bitte.


VON SCHIRACH: Ich glaube, man kann nicht sagen, daß es ein Übereinkommen mit der Kirche war. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich auf Grund verschiedener Zuschriften, die ich von Geistlichen bekam, einen Erlaß gemacht, der den Wünschen, die in diesen Zuschriften zum Ausdruck kamen, weitgehendst Rechnung trug. Ich habe dann diesen Erlaß herausgegeben, und ich entnehme zahlreichen Affidavits, die von Jugendführern mir in der letzten Zeit zugeschickt wurden, daß dieser Erlaß auch sehr sorgfältig befolgt worden ist.

Es entstanden Schwierigkeiten wegen dieser meiner Haltung in der Parteikanzlei. Bormann war natürlich ein lebhafter Gegner eines solchen grundsätzlichen Zugeständnisses an die Kirche, und Hitler selbst hat, ich weiß nicht, ob im Zusammenhang mit diesem Erlaß, aber jedenfalls im Zusammenhang mit der Regelung der Streitfragen zwischen Kirche und Jugendführung, auch einmal mich zurechtgewiesen.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Mir liegt ein kleines Buch vor unter der Überschrift: »Ein gutes Jahr 1944« und mit dem Untertitel: »Weihnachtsgabe des Kriegsbetreuungsdienstes des Reichsleiters von Schirach«.

Ich übergebe dieses Buch als Dokument Nummer 84 dem Gericht zur Kenntnisnahme. Auf Seite 55 ist ein Madonnenbild dargestellt, auf Seite 54 findet sich ein christliches Gedicht aus der Feder des Angeklagten unter der Überschrift: »Bayerische Weihnachtskrippe«, und auf der unteren Hälfte dieser Seite 54 ist das berühmte »Wessobrunner Gebet« abgedruckt, das älteste Gebet der deutschen Sprache, stammend aus dem achten Jahrhundert.

Herr Zeuge! Ist es richtig, daß Sie auch wegen des christlichen Inhaltes dieses Büchleins Schwierigkeiten seitens des Reichsleiters Bormann bekommen haben, und welche?


[448] VON SCHIRACH: Das ist richtig. Ich habe diese Weihnachtsgabe für – ich glaube – 80000 Soldaten oder 100000 Soldaten herstellen lassen und habe sie ins Feld geschickt noch im Jahre 1944. Ich habe von Bormann zwar nicht direkt etwas deswegen gehört, er forderte nur plötzlich zehn Exemplare dieses Buches an, und ich erfuhr aus der Umgebung des Führers, aus dem Hauptquartier, daß er dieses Buch irgendwie benutzte, um gegen mich bei Hitler zu hetzen.

Ich möchte noch hinzufügen, daß ich eigentlich zu allen Zeiten meines Lebens mich – jedenfalls soweit ich mich dichterisch geäußert habe – im gleichen Sinne, wie in diesem Gedicht, ausgesprochen habe. Auch in dem Gedichtsbuch »Die Fahne der Verfolgten«, das ich leider nicht hier habe, das aber in einer sehr großen Auflage in der Jugend verbreitet war, wo meine revolutionären Gedichte gefunden werden, befinden sich Gedichte christlichen Inhaltes, die aber von der Parteipresse nicht nachgedruckt wurden in den Zeitungen und infolgedessen nicht so bekanntgeworden sind wie meine anderen Verse. Ich möchte aber ganz klar zum Ausdruck bringen, ich bin ein Gegner der konfessionellen Jugendorganisationen gewesen, ebenso klar möchte ich zum Ausdruck bringen, daß ich kein Gegner der christlichen Religionen war.


DR. SAUTER: Kein Gegner?


VON SCHIRACH: Selbstverständlich nicht.


DR. SAUTER: Sind Sie aus der Kirche ausgetreten?


VON SCHIRACH: Ich bin trotz manchen Hinweises Bormanns niemals aus der Kirche ausgetreten.


DR. SAUTER: Ich darf, Herr Präsident, das Gericht bitten, von den Urkunden Nummer 85 mit Nummer 93 des Dokumentenbuches Schirach Kenntnis zu nehmen Es sind das lauter Urkunden aus seiner Zeit als Reichsjugendführer, die seine Einstellung zur Kirchenfrage erkennen lassen.


VON SCHIRACH: Ich bitte, hierzu noch etwas sagen zu dürfen.


DR. SAUTER: Bitte?


VON SCHIRACH: Ich habe in meiner religiösen Einstellung nur mir immer die Ausführungen zu eigen gemacht, die in »Wilhelm Meisters Wanderjahre« zu finden sind über die Religionen und über den Rang der christlichen Religionen. Ich möchte hier sagen, daß ich in meiner erzieherischen Arbeit insofern geirrt habe, als ich der Meinung war, daß es ein positives Christentum außerhalb der Kirche gibt. Ich habe mich aber niemals antichristlich geäußert, und ich will hier zum ersten Male in der Öffentlichkeit sagen, daß ich im engsten Führungskreise der Jugend ein ganz eindeutiges Bekenntnis zur Persönlichkeit und Lehre Christi ausgesprochen [449] habe. Ich habe vor den Erziehern der Adolf-Hitler-Schulen, was natürlich die Parteikanzlei niemals erfahren durfte, über Christus als die größte Führerpersönlichkeit der Weltgeschichte gesprochen und von dem Postulat der Nächstenliebe als einer universalen Idee unserer Kultur. Ich glaube, daß auch darüber mehrere Zeugnisse von Jugendführern in Ihrer Hand sind, Herr Verteidiger.


DR. SAUTER: Ja, ich komme bei der Zeugenvernehmung noch darauf zurück. Ich möchte jetzt ein anderes Kapitel anschneiden: Sie sind 1940 als Reichsjugendführer abberufen worden?


VON SCHIRACH: Ja.


DR. SAUTER: An Ihre Stelle trat der schon erwähnte Axmann. Sie blieben aber mit der Jugenderziehung noch verbunden, durch welches Amt?


VON SCHIRACH: Durch das Amt des Reichsleiters für die Jugenderziehung.


DR. SAUTER: Und dazu bekamen Sie dann noch einen weiteren Titel, glaube ich?


VON SCHIRACH: Ja, ich wurde Beauftragter des Führers für die Inspektion der Hitler-Jugend.


DR. SAUTER: War das bloß ein Titel, oder war das irgendein Amt?


VON SCHIRACH: Das war insofern doch ein Amt, als ja das Reichsleiteramt die Jugendarbeit im Sektor Partei deckte. Der Jugendführer des Deutschen Reiches, der Axmann als mein Nachfolger wurde, hatte aber auch einen Arbeitsbereich im Staate, und für diesen wurde ich durch die Ernennung zum Inspekteur mit zuständig.


DR. SAUTER: Wie kam es zu Ihrer Abberufung als Reichsjugendführer, und warum wurden Sie ausgerechnet nach Wien als Gauleiter berufen? Was ist Ihnen darüber bekannt?


VON SCHIRACH: Ich war am Ende des Frankreich-Feldzuges, den ich als einfacher Infanterist mitgemacht habe, in Lyon, als ein Funkspruch oder Telegramm des Führerhauptquartiers dort einlief und mir mein Kompaniechef mitteilte, daß ich mich im Führerhauptquartier zu melden hätte. Ich fuhr sofort dorthin, und im Führerhauptquartier, das damals im Schwarzwald lag, sah ich bei meinem Eintreffen den Führer im Freien stehen im Gespräch mit dem Reichsaußenminister von Ribbentrop. Ich wartete einige Zeit, vielleicht eine Viertelstunde oder 20 Minuten, bis die Unterredung beendigt war und meldete mich sodann sogleich bei Hitler, und er teilte mir nun im Freien draußen, vor diesem Kasinogebäude, in dem wir später dann alle gemeinsam die Mahlzeit einnahmen, in etwa zehn Minuten folgendes mit:

[450] Ich sollte ihm einen Nachfolger für die Führung der Jugend vorschlagen. Er beabsichtige, mir den Auftrag zu geben, den Reichsgau Wien zu übernehmen. Ich schlug sofort meinen Mitarbeiter Axmann vor, nicht etwa einen Mann der körperlichen Ertüchtigung, der Wehrausbildung, sondern eben den Mann der sozialen Arbeit in der Jugend, weil es mir auf diese besonders ankam. Er akzeptierte diesen Vorschlag...

VORSITZENDER: Dr. Sauter! Wir haben uns nicht mit Axmanns Fähigkeiten zu befassen, nicht wahr? Ist es von wesentlichem Interesse für den Gerichtshof, zu wissen, wie sein Nachfolger war?


DR. SAUTER: Axmann? Axmann war der Nachfolger als Reichsjugendführer.


VORSITZENDER: Ich habe Sie gefragt, ob es für den Gerichtshof wichtig ist, die Fähigkeiten Axmanns zu kennen. Wir haben nichts damit zu tun.


DR. SAUTER: Herr von Schirach! Sie können sich über diesen Punkt ja kürzer fassen.


VON SCHIRACH: Hitler sagte dann, ich sollte mein Amt als Reichsleiter für die Jugenderziehung behalten, ich solle ein Amt als Inspekteur der Jugend gleichzeitig dazu übernehmen und solle nun nach Wien gehen als Nachfolger von Bürckel. Es seien in Wien, insbesondere auf kulturellem Gebiet, erhebliche Schwierigkeiten entstanden. Ich möchte also mein Hauptaugenmerk auf die Pflege der Kulturstätten richten, insbesondere der Theater, Galerien, Bibliotheken und so weiter; und ich solle mich insbesondere auch der Arbeiterschaft der Stadt annehmen.

Ich habe den Einwand gemacht, daß ich diese kulturelle Arbeit nur unabhängig von Goebbels durchführen könnte. Hitler hat mir damals versprochen, daß diese Unabhängigkeit voll gewahrt werden würde, aber er hat dieses Versprechen später nicht gehalten.

Und dann sagte er zum Schluß, er verschicke aus Wien die jüdische Bevölkerung, das habe er Himmler oder Heydrich – ich weiß nicht mehr genau, was er erwähnte – bereits mitgeteilt oder würde es ihnen noch mitteilen; Wien müsse eine deutsche Stadt werden. Und er sprach sogar in dem Zusammenhang von einer Evakuierung der tschechischen Bevölkerung.

Damit fand diese Unterredung ihren Abschluß. Ich habe keine weitere Einweisung in mein Amt bekommen, und es fand dann das übliche gemeinsame Mittagessen statt.

Ich verabschiedete mich dann und fuhr nach Berlin, um mit meinen Mitarbeitern zu sprechen.


DR. SAUTER: Wien galt damals, wenn ich richtig informiert bin als der schwierigste Gau des Reiches. Stimmt das?


[451] VON SCHIRACH: Wien war bei weitem das schwierigste politische Problem, das wir unter den Gauen hatten.


DR. SAUTER: Warum?


VON SCHIRACH: Aus dem Grunde – ich habe die Einzelheiten erst nach meiner Beauftragung durch Hitler in Berlin durch andere Personen erfahren:

In Wien war eine große Ernüchterung eingetreten, nachdem sich die ersten Wellen der Begeisterung über den Anschluß gelegt hatten. Herr Bürckel, mein Vorgänger, hatte sehr viele Beamte von auswärts nach Wien gebracht. Es wurde das deutsche Verwaltungssystem, das keineswegs praktischer und zweckmäßiger ist als das österreichische, dort eingeführt. Es entstand eine gewisse Überorganisation auf administrativem Gebiet; und Bürckel hatte eine Kirchenpolitik eingeschlagen, die mehr als unerfreulich war. Es war zu Demonstrationen unter ihm gekommen. Bei einer wurde das erzbischöfliche Palais beschädigt, und die Theater und sonstigen Kulturstätten wurden nicht zweckmäßig betreut. Es war in Wien das Gefühl einer großen Enttäuschung.

Ich wurde, bevor ich dahin kam, noch dahin unterrichtet, daß, wenn man in der Straßenbahn norddeutschen Dialekt sprach, die Wiener zum Teil eine unfreundliche Haltung gegen den Betreffenden, der sich so ausdrückte, einzunehmen begannen.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Welche Aufgaben, also welche Ämter hatten Sie in Wien?


VON SCHIRACH: Ich hatte in Wien das Amt des Reichsstatthalters, in dem zwei Verwaltungen zusammenliefen, die Selbstverwaltung oder Gemeindeverwaltung und die allgemeine staatliche Verwaltung. Außerdem war ich Reichsverteidigungskommissar für den Wehrkreis XVII, das aber nur bis 1942. 1942 wurde der Wehrkreis aufgeteilt und jeder Gauleiter des Wehrkreises wurde sein eigener Reichsverteidigungskommissar.


DR. SAUTER: Und außerdem waren Sie Gauleiter?


VON SCHIRACH: Und außerdem war ich Gauleiter, also der höchste Funktionär der Partei.


DR. SAUTER: Sie haben also in Ihrer Person vereinigt: Stadt, Staat und Partei? Die oberste Spitze von Staat, Stadt und Partei in Wien?


VON SCHIRACH: Ja. Es war nun in der Verwaltung so, daß für die staatliche Verwaltung ein amtlicher Vertreter bestimmt war für die Führung der Geschäfte, das war der Regierungspräsident. Für die Selbstverwaltung oder Kommunalverwaltung ein Vertreter, das war der Bürgermeister. Und in der Partei war es so, daß der stellvertretende Gauleiter in Wien den Titel Gauleiter führte.

[452] Ich möchte damit nicht meine Verantwortung für den Gau irgendwie verkleinern, und ich möchte durchaus diesen außerordentlich tüchtigen stellvertretenden Gauleiter decken, der dort gewirkt hat. Ich möchte das nur zum Ausdruck bringen, um meine Stellung zu kennzeichnen.

DR. SAUTER: Welche Stellung, Herr Zeuge, hatten Sie eigentlich als Reichsverteidigungskommissar? War das eine militärische Stellung, oder was war das?


VON SCHIRACH: Es war durchaus keine militärische Stellung, sondern der Reichsverteidigungskommissar war ganz einfach der Chef der Zivilverwaltung. Und im Gegensatz zu der Ordnung, wie sie im ersten Weltkrieg herrschte, wo der Chef der Zivilverwaltung dem kommandierenden General beigegeben und unterstellt war, war es nun in diesem Kriege so, daß der Reichsverteidigungskommissar ihm nebengeordnet war, nicht unterstellt.

Die Aufgaben des Reichsverteidigungskommissars – jedenfalls so habe ich meine Aufgaben aufgefaßt – bestanden darin, in gewissen Zeitabständen die dringendsten Fragen der Ernährungswirtschaft, des Transportes, also des Nah- und Fernverkehrs, der Kohlenversorgung und der Preisregelung für die Gaue Wien, Oberdonau und Niederdonau, die alle zu dem Wehrkreis XVII gehörten, abzustimmen. Es kam zu mehreren solchen Sitzungen, ich glaube, insgesamt zu drei solchen Sitzungen. Aber 1942 wurde dann die Neuregelung getroffen, die ich vorhin erwähnte. Bormann setzte sich gegenüber dem Reichsmarschall durch; der Reichsmarschall nahm den Standpunkt ein, der Reichsverteidigungskommissar muß für den ganzen Wehrkreis Verteidigungskommissar sein. Bormann wollte, daß jeder Gauleiter Verteidigungskommissar ist. Und so erfolgte die Trennung; ab 1942 war ich nur Reichsverteidigungskommissar für Wien.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! In diese Zeit scheint eine Anordnung zu fallen – ich bitte mir zu sagen, wann Sie davon Kenntnis erhalten haben –, nämlich eine Anordnung des Reichsleiters Bormann, daß nicht mehr als zwei Gauleiter miteinander zusammenkommen durften?


VON SCHIRACH: Das ist keine Anordnung Bormanns, das ist ein Befehl Hitlers gewesen.


DR. SAUTER: Welchen Inhalt hatte dieser?


VON SCHIRACH: Ich muß das kurz erklären. Ich hatte, weil das Reichsverteidigungskommissariat aufgeteilt wurde, das Bedürfnis, ab und zu mit den Reichsstatthaltern der anderen Provinzen zusammenzukommen, um dringendste Fragen, vor allem unserer Ernährungswirtschaft, zu besprechen. Es kam aber, ich glaube 1943, Dr. Ley zu mir nach Wien gefahren und übermittelte mir offiziell [453] einen Befehl des Führers, wonach es als illegal – so drückte er sich aus – betrachtet würde, wenn mehr als zwei Gauleiter zu einer Besprechung zusammenkämen. Ich habe damals nur Dr. Ley ganz sprachlos angesehen, und er sagte: »Ja, es betrifft nicht nur Sie. Es ist noch ein anderer Gauleiter, der eine Konferenz von mehreren durchgeführt hat, und es wird bereits als der Tatbestand einer Meuterei oder Verschwörung betrachtet.«


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Wie Sie dann in Wien waren, haben Sie dann noch einen weiteren Auftrag erhalten, der sehr viel Zeit in Anspruch nahm? Ich bitte, das kurz zu machen.


VON SCHIRACH: Ich war gerade dabei, mich in Wien einzuarbeiten, als ich im Oktober 1940 den Befehl erhielt, in die Reichskanzlei zu kommen.


DR. SAUTER: Machen Sie es kurz, bitte.


VON SCHIRACH: Dabei hat mir Hitler persönlich den Auftrag gegeben, die Evakuierung der ganzen deutschen Jugend aus den luftgefährdeten Gebieten durchzuführen und gleichzeitig auch durchzuführen die Evakuierung der Mütter und Kleinkinder. Und er sagte, daß diese in Berlin beginnen sollte und dann das ganze Reich umfassen sollte. Der Unterricht sei jetzt nebensächlich, Hauptsache sei die Erhaltung der Nervenkraft der Jugend und Erhaltung des Lebens. Ich habe aber doch sofort darum gebeten, daß mir die Möglichkeit gegeben würde, eine Unterrichtsorganisation aufzubauen und habe das auch dann getan.

Ich will hier auf Einzelheiten nicht eingehen. Eine der Forderungen – es ist im Zusammenhang mit der Anklage wichtig –, die ich sofort stellte, war, daß hinsichtlich der Ausübung des Gottesdienstes, der Teilnahme am Gottesdienst, den Jugendlichen keinerlei Schwierigkeiten gemacht werden dürfen. Das ist mir zugesagt worden und in meiner ersten Anordnung für die Kinderlandverschickung klar zum Ausdruck gekommen. Das werden auch die Jugendführer, die in diesem Sektor meiner organisatorischen Arbeit tätig waren, bestätigen.


DR. SAUTER: Diese Kinderlandverschickung war eine außergewöhnlich umfangreiche Arbeit, nicht wahr?


VON SCHIRACH: Es war die schwierigste, psychologisch komplizierteste organisatorische Arbeit, die ich überhaupt durchgeführt habe. Ich habe Millionen von Menschen auf diese Weise verschickt, verpflegt, unterrichtet, ärztlich versorgt und so fort. Allerdings hat mich diese Arbeit nur in den ersten Jahren ganz in Anspruch genommen oder sehr in Anspruch genommen; dann hatte ich mir meine Mitarbeiter auch dafür herangebildet.


DR. SAUTER: Sie haben sich dann in der Folgezeit – habe ich von Ihnen gehört – immer wieder von Zeit zu Zeit bemüht, über [454] Ihre Erfolge und über Zweifelsfragen Hitler Berichte zu erstatten. Wie oft sind Sie nun während der ganzen Jahre vorgelassen worden, um dieses wichtige Arbeitsgebiet mit Hitler zu besprechen?


VON SCHIRACH: Herr Verteidiger! Ich muß Sie leider korrigieren, ich habe mich nie bemüht, Hitler über meine Erfolge Vortrag zu halten, sondern nur über meine Sorgen.


DR. SAUTER: Sorgen, ja.


VON SCHIRACH: Ich habe über diese ganze Kinderlandverschickungsarbeit zum Beispiel ihm nur zweimal Vortrag halten können, das erstemal 1940, nachdem ich das Ganze in Gang gebracht hatte, und das zweitemal 1941, als die Verschickung ein großes Ausmaß angenommen hatte.

Und sonst über Wien habe ich ihm sehr, sehr selten nur berichten können. Mit 1943 hörte die Möglichkeit der Berichterstattung überhaupt auf mit dem Bruch, den ich etwas später beschreiben werde.


DR. SAUTER: Sie sind dann während Ihrer Wiener Zeit noch Präsident der Würzburger Bibliophilen Gesellschaft geworden, stimmt das?


VON SCHIRACH: Das ist ein Ehrenamt, die Würzburger Bibliophile Tagung hat mich zum Präsidenten der Deutschen Bibliophilen Gesellschaft gemacht.


DR. SAUTER: Auf diese Sache, Herr Präsident, bezieht sich das Dokument Nummer 1 des Dokumentenbuches Schirach, das ich zu Beweiszwecken überreiche. Es ist eine eidesstattliche Versicherung eines alten Antifaschisten, Karl Klingspor, Ehrenmitglied der Gesellschaft, der über die Persönlichkeit des heutigen Angeklagten von Schirach wertvolle Auskünfte gibt.

Außerdem, Herr von Schirach, waren Sie, glaube ich, Präsident der Südosteuropa-Gesellschaft; stimmt das?


VON SCHIRACH: Ja.


DR. SAUTER: Kurz, was hatte die für eine Aufgabe?


VON SCHIRACH: Sie hatte die Aufgabe, die Handelsbeziehungen, die wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Südosten zu pflegen. Ihre Funktionen waren im wesentlichen auf dem Gebiete der Forschung und der Repräsentation.


DR. SAUTER: Worin lag nun, Herr Zeuge, der Schwerpunkt Ihrer Wiener Tätigkeit?


VON SCHIRACH: Der Schwerpunkt der Wiener Tätigkeit lag in der Sozialarbeit und in der Kulturarbeit, wie ich schon vorhin ausführte.


DR. SAUTER: Sozialarbeit und Kulturarbeit?


[455] VON SCHIRACH: Das sind die beiden Pole, die mein ganzes politisches Leben kennzeichnen.


DR. SAUTER: Ich komme nun zu den speziellen Vorwürfen, die aus der Wiener Zeit gegen Sie von der Staatsanwaltschaft erhoben werden.

Sie sind unter anderem angeklagt, am sogenannten Sklavenarbeitsprogramm teilgenommen zu haben. Ich bitte Sie, sich darüber zu äußern und dabei auch die Anordnung Nummer 1 des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz vom 6. April 1942 zu behandeln, vorgetragen unter Dokument, glaube ich, 3352-PS. Darf ich bitten?


VON SCHIRACH: Ich beginne vielleicht am besten mit diesem Erlaß, durch den die Gauleiter zu Bevollmächtigten für den Arbeitseinsatz unter dem Generalbevollmächtigten bestimmt werden.


DR. SAUTER: 6. April 1942.


VON SCHIRACH: Material enthält dieser Erlaß nicht viel mehr, als daß die Gauleiter Anregungen und Wünsche gegenüber den zuständigen Dienststellen des Arbeitseinsatzes zum Ausdruck bringen können. Sie sind aber verantwortlich gemacht – ich weiß nicht, ob durch diesen Erlaß oder einen anderen – für die Überwachung der Verpflegung, Unterbringung und so weiter der fremdvölkischen Arbeitskräfte. Diese Verpflegung, Unterbringung und so weiter der fremdvölkischen Arbeitskräfte lag in meinem Gau und, ich glaube, auch in den ganzen anderen Gauen des Reiches in den Händen vor allem der Deutschen Arbeitsfront. Der Gauobmann der Deutschen Arbeitsfront in Wien hat mir sehr häufig über die Zustände in der deutschen Arbeiterschaft und in der fremdvölkischen Arbeiterschaft des Gaues Bericht erstattet. Er hat mich sehr häufig bei Betriebsbesichtigungen begleitet, und ich kann aus eigener Anschauung hier meine Eindrücke schildern von dem Leben der fremdvölkischen Arbeitskräfte in Wien, soweit ich es beobachtet habe.

Ich erinnere mich zum Beispiel genau an den Besuch in einer großen Waschmittelfabrik, wo ich eine Wohnbaracke sah, in der Russinnen und Französinnen untergebracht waren. Sie waren dort besser untergebracht als manche Wiener Familie, die mit sechs oder acht Köpfen in der für Wien üblichen Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung hauste.

Ich erinnere mich an eine andere Besichtigung, wo ich eine Unterkunft von russischen Arbeitskräften gesehen habe. Diese war sauber und ordentlich. Ich habe bei den Russinnen, die dort waren, festgestellt: sie waren fröhlich, gut ernährt und anscheinend zufrieden. Aus meinem Bekanntenkreis weiß ich und aus dem Bekanntenkreis vieler Mitarbeiter von der Behandlung russischer Hausangestellter. Auch hier habe ich nur gehört und zum Teil [456] beobachtet, daß diese außerordentlich gut behandelt wurden, und ich muß hier überhaupt etwas zu dem Thema Wien als Aufnahmestadt fremdvölkischer Arbeiter bemerken: Seit Jahrhunderten arbeiten fremdvölkische Arbeitskräfte in Wien. Arbeitskräfte aus dem Südosten nach Wien zu bringen, ist überhaupt kein Problem. Nach Wien kommt man genau so gern, wie man nach Paris kommt. Ich habe sehr viele Franzosen und Französinnen in Wien arbeiten sehen und zuweilen mit ihnen gesprochen. Ich habe mich auch mitunter in Fabriken unterhalten mit französischen Vorarbeitern, die wohnten in Untermiete irgendwo in der Stadt wie eine andere Privatperson. Man sah sie im Prater; sie verlebten ihren Feierabend nicht anders als unsere einheimischen Arbeitskräfte. Ich habe während der Zeit, wo ich in Wien war, mehr Werksküchen gebaut als in irgendeinem anderen Gau Deutschlands bestehen. An diesen Werksküchen, an der Verpflegung dieser Werksküchen partizipierten selbstverständlich die ausländischen Arbeitskräfte ganz genau so wie die inländischen.

Behandlung durch die Bevölkerung: Ich kann nur sagen, die Bevölkerung einer Stadt, die seit Jahrhunderten gewohnt ist, mit fremdvölkischen Elementen zusammenzuleben, behandelt auch von sich aus jeden Arbeiter, der von draußen kommt, gut.

Ausgesprochene Mißstände sind mir nicht gemeldet worden. Es ist immer mal mir berichtet worden, daß hier oder da etwas nicht funktionierte. Es war die Pflicht des Gauobmannes der Arbeitsfront, mir das zu berichten. Ich habe dann meistens direkt von meinem Schreibtisch aus durch Telephon eine Anweisung gegeben, sei es an das Landesernährungsamt, sei es an irgendeine Kontingentstelle für Beschaffung von Material, für Küchen oder Heizungen oder sonst etwas. Jedenfalls habe ich mich bemüht, innerhalb von 24 oder 48 Stunden alle Beschwerden, die zu mir kamen, abzustellen.

In dem Zusammenhang möchte ich meinen Eindruck wiedergeben von dem Arbeitseinsatz überhaupt. Für die Hereinbringung der Arbeitskräfte bin ich nicht verantwortlich. Ich kann nur sagen, was ich an Anordnungen und Befehlen vom Generalbevollmächtigten, also dem Mitangeklagten Sauckel, gelesen habe, ging immer wieder hinaus auf eine humane, anständige, gerechte, saubere Behandlung der uns anvertrauten Arbeitskräfte. Sauckel hat seine Dienststellen förmlich überschwemmt mit solchen Anweisungen. Ich hielt es für meine Pflicht, das hier zum Ausdruck zu bringen.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Diese ausländischen Arbeitskräfte, die im Bezirk des Gaues Wien sich befanden und für die Sie sich nicht verantwortlich fühlen, waren die in der Rüstungsindustrie oder wo sonst beschäftigt?


VON SCHIRACH: Ein großer Teil war in der Landwirtschaft beschäftigt, ein Teil in der Zulieferungsindustrie; ob direkt in der [457] Rüstungsindustrie, kann ich nicht sagen, ist mir in allen diesen Teilen als Gauleiter selbst nicht zugänglich gewesen, weil es Fertigungen im Rahmen der Kriegsproduktion gab, die selbst vor den Reichsstatthaltern geheimgehalten wurden.


DR. SAUTER: Herr Zeuge! Im Zusammenhang mit dem Kapitel jüdische Pflichtarbeit ist ein Brief verlesen worden, Urkunde 3803-PS. Es ist ein, glaube ich, eigenhändiges Schreiben des Angeklagten Kaltenbrunner an Blaschke. Blaschke war, glaube ich, der Zweite Bürgermeister von Wien.


VON SCHIRACH: Er war Bürgermeister von Wien.


DR. SAUTER: Ein Schreiben vom 30. Juni 1944. In diesem Schreiben teilt Kaltenbrunner dem Blaschke mit, daß Kaltenbrunner angeordnet habe, einige Evakuierungstransporte nach Wien-Straßhof zu leiten. Es handle sich, so heißt es im Brief, um vier Transporte mit etwa 12000 Juden, die bereits in den nächsten Tagen eintreffen würden. Soweit der Inhalt des Briefes, dessen weiterer Inhalt nur noch insofern von Bedeutung erscheint, als es am Schluß heißt, ich zitiere wörtlich:

»Weitere Einzelheiten bitte ich, mit der Staatspolizeileitstelle Wien, SS-Obersturmbannführer Dr. Ebner und SS-Obersturmbannführer Krumey vom Sondereinsatzkommando Ungarn, der sich zur Zeit in Wien aufhält, zu besprechen.«

Soweit das Zitat. Haben Sie mit dieser Sache etwas zu tun gehabt, und eventuell was?

VON SCHIRACH: Ich kenne die Korrespondenz zwischen dem Mitangeklagten Kaltenbrunner und dem Bürgermeister von Wien nicht. Meines Wissens befindet sich dieses Lager Straßhof überhaupt nicht auf dem Boden von Wien, ich glaube es nicht. Es befindet sich in einem ganz anderen Gau. Die Bezeichnung Wien-Straßhof ist also irrig, dazwischen geht die Grenze.

DR. SAUTER: Und von der Sache selbst haben Sie damals Kenntnis bekommen oder jetzt hier durch die Vorhaltungen im Sitzungssaal?


VON SCHIRACH: Ich kenne diese Sache nur aus dem Sitzungssaal. Es ist mir aber erinnerlich, daß im Zusammenhang mit dem Bau des Südostwalles vom Einsatz jüdischer Arbeitskräfte gesprochen wurde. Der Südostwall befand sich aber nicht auf dem Boden des Reichsgaues Wien, er war eine Einlage auf dem Boden des Gaues Niederdonau, Niederösterreich beziehungsweise Steiermark. Der Bau des Südostwalles war mir nicht übertragen worden, sondern an Dr. Jury, beziehungsweise der OT...


DR. SAUTER: OT ist also Organisation Todt?


[458] VON SCHIRACH:... der Organisation Todt und in dem anderen Teil der Grenze dem Gauleiter Dr. Uiberreither und dessen technischen Mitarbeitern.


DR. SAUTER: Ich fasse also Ihre Aussage dahin zusammen, daß Sie mit diesen Sachen nichts zu tun hatten, weil es sich uns Angelegenheiten handelte, die sich gar nicht auf Ihr Gaugebiet beziehen.


VON SCHIRACH: Ja, ich kann mir nicht vorstellen, welcher Zusammenhang sich für den Gau Wien daraus ergeben sollte. Ob der Bürgermeister den Wunsch hatte, sich von diesen Arbeitskräften welche abzuzweigen für besondere Wiener Aufgaben oder nicht, das ist mir nicht bekannt. Ich kenne den Vorgang nicht.


DR. SAUTER: Im gleichen Zusammenhang, Herr Zeuge, ist ein anderes Dokument vorgelegt worden, 1948-PS, ein Aktenvermerk vom 7. November 1940, also aus einer Zeit, wo Sie bereits einige Monate Gauleiter in Wien waren und betrifft ebenfalls Pflichtarbeit der arbeitsfähigen Juden.

Diese Notiz ist geschrieben auf einem Briefbogen mit dem Kopf »Der Reichsstatthalter in Wien«, und anscheinend ist der Aktenvermerk, um den es sich handelt, geschrieben von einem Dr. Fischer. Wer ist der Dr. Fischer? Was haben Sie, der Sie Reichsstatthalter waren, mit dieser Sache zu tun? Was wissen Sie davon?


VON SCHIRACH: Zunächst, Dr. Fischer ist mir persönlich nicht bekannt. Ich will nicht die Möglichkeit bestreiten, daß er mir einmal vorgestellt wurde, daß ich mich seiner nicht erinnere, aber ich weiß nicht, wer Dr. Fischer ist. Jedenfalls war er kein Referent meines Zentralbüros, sondern ich nehme an, er war ein Referent, da sein Name noch im Zusammenhang mit anderen Urkunden erscheint. Wahrscheinlich war er der persönliche Referent des Regierungspräsidenten.

Der Vermerk zeigt, daß dieser Referent auf meinem Briefpapier – dazu war er berechtigt, dazu sind in Wien, glaube ich einige tausend Personen berechtigt gewesen, dieses Papier zu benutzen nach dem Usus der deutschen Behörden –, er hat auf diesem Vermerk ein Telephongespräch mit der Gestapo niedergeschrieben. Es geht daraus hervor, daß das Reichssicherheitshauptamt, also Heydrich, die Stelle war, die über den Arbeitseinsatz der Juden durch interne Weisung an die Gestapo verfügte. Der Regierungspräsident wollte hierüber noch mehr wissen. Ich glaube, man kann nicht daraus folgern, daß ich über Grausamkeiten der Gestapo unterrichtet worden bin, wie die Anklage daraus ableitet. Es ist fraglich, ob ich zu der Zeit überhaupt in Wien war. Ich verweise auf meine vorhin geschilderten anderen Aufgaben. Wenn ich da war, [459] habe ich mich bestimmt nicht über die Aufräumungsarbeiten in den Straßen gekümmert. Ich möchte aber grundsätzlich sagen, die Vielzahl meiner Arbeiten brachte es mit sich, daß ich eine Konstruktion schaffen mußte organisatorischer Art, die es in anderen Gauen nicht gab, nämlich das Zentralbüro des Reichsleiters.


DR. SAUTER: Vielleicht sagen Sie zum Abschluß des heutigen Tages noch das eine: Wie viele Beamte hatten Sie denn in Wien unter sich, ungefähr?


VON SCHIRACH: Ich schätze etwa 5000 Beamte und Angestellte.


DR. SAUTER: 5000 Beamte und Angestellte. Soll ich noch fortfahren, Herr Präsident? Es ist fünf Uhr.


VORSITZENDER: Wir vertagen nun die Verhandlung.


[Das Gericht vertagt sich bis

24. Mai 1946, 10.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 14, S. 426-461.
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