Nachmittagssitzung.

[538] PROF. DR. EXNER: Ich verlese zunächst den Brief vom 22. Juni 1946 an den Internationalen Militärgerichtshof:

»Herr Präsident!

Im Kreuzverhör vom 6. Juni 1946 hat der Herr britische Ankläger dem Angeklagten Jodl das Dokument C-139 vorgelegt, offensichtlich mit der Auffassung, daß das Dokument Vorkehrungen für die Besetzung des Rheinlandes schon für den 2. Mai 1935...«


VORSITZENDER: Ich höre, daß das Englische auf der russischen Leitung durchkommt.


[Kurze Pause.]


Sie können jetzt fortfahren, Dr. Exner.

PROF. DR. EXNER:

»... Der Angeklagte Jodl hat erklärt, daß er das Dokument nicht gekannt hat. Er hat nach Durchsicht des Dokuments klargestellt, daß aus dem Dokument selbst eindeutig hervorgeht, daß jedenfalls im Westen keine deutsche Aktion stattfinden sollte, sondern ausdrücklich nur von Defensivmaßnahmen die Rede ist. Wo also die Operation ›Schulung‹ hätte stattfinden sollen, erriet er nicht. Er hätte nur Vermutungen aussprechen können. Nun hat ihm der Angeklagte Freiherr von Neurath mitgeteilt, daß 1934 im Sommer Mussolini am Brenner einige Divisionen aufmarschieren hat lassen, um Nordtirol im Falle des Anschlusses zu besetzen. Der Angeklagte Jodl hat nach dieser Mitteilung das Dokument erneut geprüft und vermutet nunmehr, daß damals mit diesem Dokument eine Operation vorbereitet werden sollte, um die Italiener, falls sie einfallen würden, über den Brenner zurückzuwerfen. Aber er weiß von der Sache nichts. Die ganze Angelegenheit betrifft den Angeklagten Jodl überhaupt nicht. Deshalb will ich in der Sitzung nicht darauf zurückkommen. Er legt aber größtes Gewicht darauf, daß nicht der Anschein entsteht, als habe er etwas zu verbergen versucht.

Unterschriften: Dr. Exner

Jodl.«


VORSITZENDER: Sehr gut.

Ich rufe jetzt Dr. Stahmer auf.


[538] DR. STAHMER: Herr Präsident! Zunächst eine Vorbemerkung. Ich habe ja noch den Fall Katyn zu behandeln. Der Fall Katyn konnte nicht in das überreichte Buch aufgenommen werden, weil ja erst vorgestern und am Montag die Beweisaufnahme gewesen ist. Ich muß das also so vortragen. Es handelt sich nur um einen kurzen Vortrag, die Übersetzer werden die Abschrift meines Entwurfes bekommen, aber dem Gericht kann ich zur Zeit leider keine Übersetzung vorlegen. Denn es ist ja erst vorgestern abgeschlossen worden, so daß es nicht vorher von mir bearbeitet werden konnte. Ich werde es an geeigneter Stelle einfügen. Ich hoffe, daß ich trotzdem mit der angegebenen Zeit auskommen werde.


VORSITZENDER: Man hört über die englische Leitung eine zweite Stimme.


[Kurze Pause.]


Ist das jetzt in Ordnung? Sie können fortfahren, Dr. Stahmer.

DR. STAHMER: In der von mir angegebenen Zeit war es nicht möglich, diesen Fall Katyn zu berücksichtigen. Ich hoffe aber trotzdem, mit der gemeldeten Zeit auskommen zu können, da ich an einigen Stellen etwas kürze, so daß ich glaube, in der Zeit fertig zu werden.

Herr Präsident, meine Herren Richter!

Dieser Prozeß – von einem Ausmaß, von einer geschichtlichen, politischen und rechtsgestaltenden Bedeutung, wie ihn die Rechtsgeschichte bisher nicht gekannt –, dieses Verfahren, das nicht nur für die im Saale anwesenden Angeklagten von Bedeutung ist, das auch das deutsche Volk in seiner Gesamtheit an geht, tritt in eine neue Phase.

Der Verteidiger hat das Wort.

Die Stellung des Verteidigers in diesem Verfahren ist besonders schwierig; denn allzu ungleich ist das Kräfteverhältnis zwischen der Anklagebehörde und der Verteidigung.

Der Anklagebehörde war es möglich, monatelang vor Beginn des Prozesses mit einem großen Stabe erfahrener Mitarbeiter alle Amtsstuben und Archive des In- und Auslandes zu durchforschen, sowie Zeugen in allen Gebieten zu vernehmen; sie war dadurch imstande, dem Gerichtshof ein gewaltiges Urkundenmaterial vorzulegen.

Die Schwierigkeit in der Stellung der Verteidigung wird weiterhin dadurch erhöht, daß dem anglo-amerikanischen Verfahren, dem dieser Prozeß unterliegt, eine in dem deutschen Strafprozeßrecht enthaltene Vorschrift fremd ist, nach der die Staatsanwaltschaft verpflichtet ist, auch das den Angeklagten entlastende Beweismaterial heranzuschaffen und vorzulegen...


[539] VORSITZENDER: Dr. Stahmer! Darf ich Ihnen sagen, daß die Feststellung, die Sie eben gemacht haben, völlig ungenau ist. Es gibt kein besonderes englisches Strafprozeßrecht, aber es ist die allgemeine Praxis der Anklagevertretung, der Verteidigung alle Dokumente und alle Zeugen, die der Verteidigung helfen können, zugänglich zu machen, und deshalb ist Ihre Feststellung vollkommen falsch, und ich glaube, daß auch in den Vereinigten Staaten dieselbe Praxis herrscht.

Was Sie soeben darüber gesagt haben, daß die Verteidigung im Vergleich zur Anklage unfaire Schwierigkeiten gehabt hätte, so ist auch das völlig ungenau, weil ich sicher bin, daß die Anklage in diesem Prozeß die gleichen Regeln beachtet hat, die in England beachtet worden wären, und der Verteidigung jedes Dokument und jeden Zeugen, der ihr zur Verfügung stand und der Verteidigung hätte nützen können, zugänglich gemacht hat, und es ist mehrfach vorgekommen, daß die Anklage in diesem Prozeß der Verteidigung Dokumente zur Verfügung gestellt hat, die ihr zugegangen waren und die ihr für die Verteidigung nützlich schienen.

Jedes Dokument, das von der Verteidigung in diesem Prozeß vorgelegt worden ist oder praktisch jedes Dokument ist für sie erst mit großen Schwierigkeiten von der Anklage besorgt worden, und Nachforschungen wurden in ganz Deutschland und ich kann sogar sagen, fast in der ganzen Welt angestellt, um der Verteidigung in diesem Prozeß bei ihrer Verteidigungsarbeit in diesem Prozeß behilflich zu sein.


DR. STAHMER: Ich danke für die Belehrung, Herr Präsident.

Nach Verlesung der Anklageschrift hat der Reichsmarschall Göring auf die Frage des Herrn Vorsitzenden, ob er sich schuldig oder nicht schuldig halte, erklärt: »Nicht schuldig im Sinne der Anklage.«

Diese Erklärung des Angeklagten erfordert ein Eingehen auf alle von der Anklage erhobenen Anschuldigungen.

Nun hat aber der Angeklagte viele Fragen, die für seine Verteidigung von erheblicher Bedeutung sind, bei seiner persönlichen Vernehmung bereits behandelt. Zu politischen und militärischen Vorgängen hat er ausführlich Stellung genommen und dabei die Motive seines Handelns, die Entstehung und den Ablauf der Ereignisse eingehend geschildert.

Dem Hohen Gerichtshof bin ich dankbar dafür, daß es dem Angeklagten gestattet war, diese Dinge in aller Breite so darzustellen, wie er sie sah, wie er sie empfand und erlebte. Denn gerade, und nur die unmittelbare persönliche Darstellung ist geeignet, einen guten Einblick in die innere Einstellung des Angeklagten und ein zuverlässiges Urteil über seine Persönlichkeit zu gewähren. Und [540] diese Kenntnis ist unbedingt nötig, wenn das Gericht zu einer Entscheidung kommen soll, die nicht nur mit dem formalen Recht im Einklang steht, sondern vor allem der Eigenart des Täters möglichst gerecht wird.

Nachdem der Angeklagte so ausführlich zur Sache gehört ist, halte ich es nicht für notwendig, mit jeder Frage mich zu befassen, zu der er bereits die erforderliche Aufklärung gegeben hat. Aus diesem Grunde kann ich die Verteidigung auf folgende Ausführungen beschränken:

Wir stehen in einer geschichtlichen Wende allergrößten Ausmaßes. Ein Zeitalter geht zu Ende, das weniger von der Idee der Ordnung als der Freiheit bestimmt war. Dieses Freiheitsstreben hat gewaltige Kräfte ausgelöst – so gewaltig, daß man ihrer zuletzt nicht mehr Herr zu werden vermochte. Die ungeheuren Fortschritte, welche diese Ära auf wissenschaftlichem und technischem Gebiet fraglos gebracht hat, haben wir teuer bezahlen müssen mit der Zerrüttung aller menschlichen Ordnungen, mit der Friedlosmachung der Welt.

Die tieferen Gründe dieser unheilvollen Entwicklung sind bisher kaum zur Sprache gebracht worden. Zum richtigen Verständnis der hier zur Anklage stehenden schweren Verbrechen und Verirrungen ist jedoch eine Beleuchtung auch des historischen Hintergrundes unerläßlich.

Schon der französische Herr Hauptanklagevertreter hat darauf hingewiesen, daß die Wurzeln des Nationalsozialismus in einer weit zurückliegenden Zeit zu suchen sind. Er hat zurückgegriffen bis auf den Anfang des vorigen Jahrhunderts. In Fichtes »Reden an die deutsche Nation« erblickt er den ersten Schritt zu einer Fehlleitung der deutschen Charakterentwicklung. Fichte habe pangermanistischen Geist gepredigt, indem er die Welt, so wie er sie sich vorstellte und gestaltet wissen möchte, auch von anderen gedacht und organisiert sehen wollte. Ich verstehe nicht, inwiefern hierin mehr zum Ausdruck gekommen sein soll, als der allgemein menschliche Wunsch, teilzunehmen an der Formung des gemeinsamen Schicksals. Nur die Art solcher Teilnahmeversuche mag man zuweilen mit Recht kritisieren können.

Aufschlußreich scheint mir in dieser Richtung eine Schweizer Äußerung zu sein, die auch mit Fichte den Irrweg der Deutschen beginnen läßt. Sie wirft ihm indes nicht Pangermanismus vor, also den Willen, fremde Völker zu unterdrücken, sondern daß er überhaupt unternommen habe, die Deutschen zu einer Nation zu einigen. Darin habe ein unzulässiger Versuch gelegen, Franzosen und Engländer nachzuahmen, während es doch deutschem Wesen entsprochen hätte, ein Volk von Völkern zu bleiben. Denn nur als solches hätte es seine geschichtliche Mission, Kern einer europäischen Föderation zu sein, fortsetzen können. Die Entwicklung ist also nur von Fichte her so einfach nicht zu deuten.

Wenn man historisch denken will, darf man zurückblickend in der Tat nicht bei Fichte stehen bleiben. Denn seine »Reden an die [541] deutsche Nation« stellten ja nur eine Antwort dar auf den »Ruf an Alle«, den die französische Revolution in die Welt hinausgesandt hatte und waren unmittelbar ausgelöst durch das Auftreten Napoleons I. Man muß die Kette von Ursachen und Wirkungen zurückverfolgen bis an ihren Anfang. Diesen Anfang, also den Beginn nationalen und persönlichen Freiheitsstrebens, das die gesamte Neuzeit charakterisierte, finden wir im Mittelalter.

In ihm war das bunte Spiel nationaler und imperialer Strömungen und Kämpfe, welche das Altertum gekennzeichnet hatte, überwunden worden durch den Ewigkeitsgedanken der einen christlichen Kirche. Damit war an die Stelle der Dynamik der Zeit eine statische Ordnung getreten, die nach der Lehre der Kirche von Gott selbst gestiftet und die deshalb »von Gottes Gnaden« war. Sie strebte universal, die gesamte Menschheit zu erfassen und zum Frieden und zur Ruhe zu führen. Mittelalterliche Kirchenlehrer haben danach auch als erste den Versuch unternommen, den Krieg Rechtsprinzipien zu unterwerfen. Stets war er vorher lediglich wie ein Naturereignis gleich Krankheit und Unwetter hingenommen und wohl oft auch als Gottesurteil gewürdigt worden. Männer, wie Augustinus und Thomas von Aquino, wandten sich gegen diese Auffassung und erklärten, daß man unterscheiden müsse zwischen einem gerechten und einem ungerechten Kriege. Sie taten das auf dem Boden und im Rahmen des christlichen Glaubens, daß den Menschen von Gott die Erfüllung einer sie alle verbindenden sittlichen Weltordnung aufgetragen sei, aus der heraus dann auch die Frage nach der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit eines Krieges zu beantworten gewesen wäre.

Diese Entwicklung zu einem allgemeinen Weltfrieden verkehrte sich ins Gegenteil, als mit der Renaissance und der Reformation die geistigen Grundlagen der mittelalterlichen Ordnung erschüttert wurden. Das vordem zu statischer Ruhe hinneigende Leben geriet nun in eine sich durch die Jahrhunderte immer rasender beschleunigende Bewegung bis zur gegenwärtigen Katastrophe. Das freiheitsdürstende Individuum entledigte sich der kirchlichen und ständischen Fesseln. Der sich selbst für souverän erklärende Staat durchbrach die universale, von der Kirche vertretene Gottesordnung. Keine Macht mehr über sich anerkennend, eroberte er Lebensraum, soviel wie er mochte auf dieser Erde, solange ihm nicht der stärkere Wille eines anderen Volkes eine natürliche Schranke setzte. Frieden gab es fortan nur noch in dem naturgemäß recht labilen Gleichgewicht der nur ihrem eigenen Gesetz gehorchenden Kräfte.

So entstanden die großen Weltreiche, wie das Britische Imperium, Rußland, die Vereinigten Staaten und das gewaltige französische Kolonialbereich, die heute als Lebensraum mehr als die Hälfte der gesamten Erdoberfläche besitzen.

[542] Die von der Anklagebehörde zitierte Deliktstheorie vom Kriege des Völkerrechtslehrers Grotius scheiterte, weil sie der Dynamik dieser Zeit widerstrebte. Sie stellte ja auch nur einen Versuch dar, die vorerwähnte christliche Kriegsauffassung mit weltlicher Begründung am Leben zu erhalten. Aus der nackten Natur kann man indes kein Recht ableiten. In ihr gibt es wirklich keinen anderen Maßstab als den der natürlichen Kraft. In ihr hat in der Tat immer nur der Stärkere recht. Einzig metaphysisch läßt sich das Recht als eine unabhängige, den Naturtrieben übergeordnete Macht erweisen. Deshalb lief sich die Theorie des Grotius im 18. Jahrhundert notwendigerweise tot, da es einem nur weltlichen Denken nicht gelingen konnte, die Kriterien für einen gerechten Krieg zu finden.

Diese Entwicklung von alter Ordnung zu neuer Freiheit, das heißt zum Kampf aller gegen alle, fand ihren Höhe- und Kulminationspunkt in der großen französischen Revolution. Hier wurden, indem man die menschliche Vernunft auf Gottes Thron zu setzen versuchte, die letzten Konsequenzen der Säkularisation gezogen. Die menschliche Vernunft aber erwies sich als unfähig, die einander widerstrebenden Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit untereinander zum Ausgleich zu bringen, das heißt praktisch Gerechtigkeit zu üben.

Seither bewegt die Frage nach dem richtigen Recht die Welt. Alle sozialistischen Theorien sind nur Versuche zu ihrer Lösung. Die Menschen suchen wieder Sicherheit und Ordnung, nachdem sie durch die Kehrseite von allzuviel Freiheit enttäuscht worden sind. Die einen möchten zurück zur christlichen Gotteswahrheit, die anderen vorwärts, um doch noch mit der menschlichen Vernunft das Problem zu bezwingen. Die Nationalsozialisten, deren revolutionärsten Führer noch weiter zurück und zugleich vorwärts gehen wollten, zur Selbstvergottung des Lebens im biologisch-politischen Denken, sie sind besiegt und ausgeschieden. Noch ist indes eine Lösung des Weltordnungsproblems nicht gefunden. Aber die Siegermächte hoffen ihr näherzukommen, indem sie sich durch gemeinsame Anklage und Verurteilung der Besiegten von diesen als Verbrechern absetzen.

Woher jedoch wollen sie die Maßstäbe nehmen, um über Recht und Unrecht im Rechtssinne zu entscheiden? Soweit solche durch das bisher geltende Völkerrecht gegeben sind, bedarf es keiner weiteren Ausführung hierzu. Auch daß durch das Statut dieses Gerichts ein besonderer Gerichtshof für die Aburteilung erst geschaffen wurde, will ich nicht beanstanden. Jedoch muß ich seiner Anwendung widersprechen, soweit es materiell neues Recht schaffen wollte, indem es Strafen auch für Taten androhte, die zur Zeit ihrer Begehung noch als straffrei, zum mindesten noch gegenüber einzelnen als straffrei galten.

Nachdem in jahrhundertelanger revolutionärer Entwicklung Stück um Stück der alten universalen Rechtsordnung des Mittelalters abgetragen wurde und zudem mit der Gewissensautonomie des Individuums auch auf sittlichem Gebiet der Anarchie Tür und Tor geöffnet war, kann man nicht durch einen Gewaltakt auf einmal wieder neues Recht schaffen wollen. Das war ja gerade die wesentliche Ursache der allgemeinen Rechtsverwilderung gewesen, der auch die hier angeklagten Taten entsprangen, daß man es verlernt hatte, noch zwischen Macht und [543] Recht zu unterscheiden. Der Erfolg so vieler Revolutionen übereinst legitime Herrscher von Gottes Gnaden hatte gezeigt, daß Macht vor Recht zu gehen und dieses nach Belieben ändern zu können schien. Woran sollte man danach Recht überhaupt noch erkennen außer an der Macht, mit der es sich durchzusetzen und zu behaupten wußte? So war es zu einer allgemeinen Relativierung der Rechtsüberzeugungen, zum sogenannten Rechtspositivismus gekommen, dem es auf eine sittliche Rechtfertigung des Rechts gar nicht mehr ankam.

Kann man erwarten, daß hiernach Strafen als gerecht anerkannt, werden, wenn der Täter mit solchen gar nicht rechnen konnte, weil derzeit solche nicht angedroht waren und er die Berechtigung seiner Handlungsweise allein aus seiner politischen Zielsetzung ableiten zu dürfen glaubte? Was hilft der Hinweis auf das Sittengesetz, wenn ein solches erst wieder gefunden werden soll? Justice Jackson meint ja allerdings, daß die Nazi-Regierung von vornherein nicht die Vertretung eines legitimen Staates gewesen sei, der die legitimen Ziele eines Mitgliedes der internationalen Gemeinschaft verfolgt habe. Nur aus solcher Einstellung ist die später zu erörternde Conspiracy-Anklage überhaupt zu verstehen. Tatsächlich eilt sie, wie die ganze Argumentationsweise Justice Jacksons, der Zeit weit voraus. Denn international anerkannte Maßstäbe, nach denen – außerhalb des positiven Völkerrechts – die Legitimität von Staaten und ihrer Ziele hätte beurteilt werden können, gab es so wenig wie eine internationale Gemeinschaft als solche. Parolen von der Legitimität der eigenen und der Illegitimität fremder Bestrebungen dienten nur ebenso der politischen Frontenbildung wie die Versuche, politische Gegner als Friedensstörer zu brandmarken. Recht schufen sie keinesfalls.

Justice Jackson hat zutreffend erklärt, daß es in der Macht der Sieger gelegen habe, mit den Besiegten nach ihrem Belieben zu verfahren. Doch wären, sagte er, unterschiedslos Bestrafungen ohne eine endgültige, in fairer Weise zustande gekommene Feststellung der Schuld, ein Bruch wiederholt abgegebener Versprechen und würden Amerikas Gewissen schwer bedrücken. Deshalb hat er selbst ein Gerichtsverfahren vorgeschlagen. Dieses muß sich zwar von einem normalen Strafprozeß dadurch unterscheiden, daß es der üblichen Obstruktions- und Verschleppungstaktik der Angeklagten keinen Spielraum gewähre. Aber es dürfe eben doch eine Schuldfeststellung nur auf Grund eines gerechten und billigen Verhörs getroffen werden können. Wenn die Angeklagten auch die ersten seien, die sich als Führer einer besiegten Nation vor dem Gesetz zu verantworten hätten, so seien sie auch die ersten, denen Gelegenheit gegeben werde, »im Namen des Rechts« ihr Leben zu verteidigen.

Wenn dieser Satz einen Sinn haben soll, dann muß er auch für die Auslegung des Statuts von Bedeutung sein. Denn er hätte keinen Sinn, wenn das Gericht gezwungen wäre, ohne Rücksicht auf die Rechtsüberzeugung anderer sich ausschließlich ans Statut zu [544] halten. Dann würde vielmehr das Urteil zu einem reinen Gewaltspruch werden, gegen den es nicht möglich wäre, »im Namen des Rechts« sich verteidigen zu wollen.

Das Statut darf daher vom Gericht nur insoweit angewandt werden, als seine Bestimmungen sich nicht nur formell, sondern auch materiell mit gutem Gewissen als Recht vertreten lassen. Das Statut selbst sagt, daß für einen Verstoß gegen seine Anordnungen sich niemand mit einem Befehl seiner Regierung oder eines Vorgesetzten sollte entschuldigen können. Dann muß es diese, seine eigene Logik auch gegen sich selbst gelten lassen, indem es dem Richter erlaubt, die Vereinbarkeit seiner Vorschriften mit den allgemeinen Grundsätzen rechtlichen Denkens nachzuprüfen. Denn schließlich steht der Richter dem Gesetzgeber doch noch immer viel freier und selbständiger gegenüber als ein Untergebener seinem Vorgesetzten oder der Untertan eines Diktators diesem.

Eine andere Frage ist sodann, ob wirklich Bestimmungen des Statuts dem vorherigen und sonstigen Rechtszustand, insbesondere aber den Grundgedanken jeder Rechtsordnung so sehr widerstreiten, daß das Gericht sie nicht als Recht anzuerkennen und anzuwenden vermag. Das praktisch schwerwiegendste Problem besteht dabei in der Entscheidung, ob im Konfliktfalle das Statut oder der Rechtssatz »Nulla poena sine lege« den Vorrang genießt.

Man hat versucht, die ausnahmsweise Außerachtlassung dieser Regel im gegebenen Falle mit dem hochpolitischen Charakter des Prozesses zu rechtfertigen. Eine derartige Begründung kann jedoch unmöglich anerkannt werden. Die politische Bedeutung eines Prozesses zeigt sich sonst wohl in seinen Aus-und Fernwirkungen, aber doch nicht schon innerhalb des Verfahrens durch Einflußnahme auf die in ihm anzuwendenden Rechtsnormen. Ein Richter soll Recht sprechen, aber keine Politik machen. Er ist nicht dazu da, Fehler der Politiker wieder gutzumachen. Strafen, deren rechtzeitige Androhung versäumt wurde, darf er auf Grund eines erst nachträglich erlassenen Gesetzes nur verhängen, wenn er dies auch sonst tun würde.

Denn grundsätzlich soll doch wohl am Prinzip der Gewaltenteilung festgehalten werden. Durch dieses schied Montesquieu die ursprünglich einheitliche Gewalt des absoluten Königs in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Diese drei verschiedenen Ausdrucksformen staatlicher Herrschaft sollten gleichrangig einander die Waage halten und sich so gegenseitig kontrollieren helfen. Dieses System der Gewaltenteilung kennzeichnet das Wesen des modernen Rechtsstaates. Etwas überspitzt kann man die Arbeits- und Zuständigkeitsbereiche der drei verschiedenen Ausdrucksformen der Herrschaft vielleicht dahin bestimmen, daß die [545] Gesetzgebung mit der Zukunft, die Verwaltung mit der Gegenwart, und die Rechtsprechung mit der Vergangenheit zu tun hat.

Die Gesetzgebung setzt die Normen, nach denen das Leben sich richten soll. Von Zeit zu Zeit müssen diese entsprechend dem Wandel der Lebensverhältnisse geändert und auf diese neu abgestimmt werden. Bis dahin aber bleiben sie in Kraft.

Soweit eine bloß normative Ausrichtung des Lebens nicht ausreicht, wird es von Fall zu Fall durch die Verwaltung gestaltet. Diese ist ihrerseits auch an gewisse Normen gebunden, hat aber, um den täglich wechselnden Bedürfnissen entsprechen zu können, innerhalb ihres pflichtgemäßen Ermessens grundsätzlich freien Spielraum. Für sie ist dabei ebenso wie für den gesetzgebenden Politiker vornehmlich der Gedanke der Zweckdienlichkeit maßgebend.

Der Richter hingegen darf nicht nach der Zweckmäßigkeit, sondern soll nach dem Recht entscheiden. Seine Aufgabe ist es im allgemeinen nicht zu gestalten, sondern zu urteilen. Er soll die Handlungen, nachdem sie geschehen sind, und die Verhältnisse, nachdem sie eingetreten sind, daraufhin beurteilen, ob und inwieweit sie den Normen entsprachen beziehungsweise welche rechtlichen Folgen sie nach diesen ausgelöst haben. Sein Blick ist daher grundsätzlich in die Vergangenheit gerichtet. Im Staatsleben, das vom zukunfterfüllten Politiker ständig neu angeregt wird, ist er der beharrende Gegenpol.

Er ist zwar an die vom Politiker herausgegebenen Gesetze gebunden, aber doch nicht bloß sein ausführendes Organ. Vielmehr hat er seinerseits wiederum die Gesetzgeber zu überwachen, indem er die Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit nachprüfen muß. Dazu gehört sinngemäß jedenfalls auch die Untersuchung, ob das Prinzip der Gewaltenteilung gewahrt wurde. Denn genau wie der Richter nur »de lege lata« urteilen darf und die Entscheidung »de lege ferenda« dem Gesetzgeber überlassen muß, so ist dieser umgekehrt verpflichtet, dem Richter durch Gesetze mit Rückwirkungskraft nicht in seine Befugnisse hereinzureden.

Die Kritik an der Rechtspflege des nationalsozialistischen Staates beruht ja wesentlich darauf, daß dieser den Grundsatz der Gewaltenteilung aufgegeben habe. Durch Voranstellung des politischen Führerprinzips griff er willkürlich in die richterliche Zuständigkeit ein. Mit Hilfe der Polizei, also der Verwaltung, setzte er ohne richterlichen Haftbefehl Leute fest, bloß aus Erwägungen politischer Vorbeugung, ja er nahm sogar solche erneut fest, welche der Richter freigesprochen und freigelassen hatte. Andererseits entzog er überführte Straftäter wiederum aus politischen Gründen dem Zugriff der Justiz. Dadurch wurde natürlich die Sicherheit und Klarheit des Rechtes schwer gefährdet.

[546] Aber nicht einmal dieser nationalsozialistische Staat hat es gewagt, mit dem Grundsatz »Nulla poena sine lege praevia« überhaupt zu brechen. Bei seinen polizeilichen Maßnahmen verzichtete er genau so auf ihre Rechtfertigung durch den Richter, wie heute die Vollstreckung der Denazifizierungsurteile vom Län derrat der amerikanischen Zone mit Recht als »justizfremd« nicht dem Justizministerium übertragen wurde. Durch drei Gesetze hat der nationalsozialistische Staat zwar mit rückwirkender Kraft eine Erhöhung der vorher angedroht gewesenen Strafmaßnahmen verfügt, aber doch nie die Strafbarkeit erst begründet. Letzteres geschah insbesondere auch nicht etwa dadurch, daß mit dem Paragraph 2a StGB die Möglichkeit strafrechtlicher Analogie geschaffen wurde. Denn mit diesem Paragraph 2a wurde ja gerade die Strafandrohung, und zwar keineswegs rückwirkend, geschaffen, nach der sich danach ein jeder richten konnte.

Dabei lag ein gewisser Schutz vor richterlicher Willkür und Rechtszersplitterung noch darin, daß der nationalsozialistische Staat getragen wurde von einer ganz bestimmten, für den Richter verbindlichen Weltanschauung. Über den engen Zusammenhang von Rechtsfindung und Weltanschauung hat sich schon vor vielen Jahren der Schweizer Professor der Rechte Hans Fehr, Bern, in seinem Buch »Recht und Wirklichkeit, Einblick in Werden und Vergehen der Rechtsformen«, ausgelassen. Er sagte wörtlich: »Ohne Weltanschauung schwebt das Recht im luftleeren Raum... Wer keine Weltanschauung besitzt, kaum auch keine Rechtsanschauung haben...«

Fehr zeigte, daß jeder Richter, insoweit das Gesetz ihm Spielraum läßt, individuell auf Grund seiner Weltanschauung entscheidet. Das mußte im Zeichen liberaler Weltanschauungsfreiheit natürlich zu einer Gefahr für die Einheitlichkeit und Sicherheit des Rechts führen. Deshalb mußte gerade der liberale Staat seine Strafrichter besonders streng an die Paragraphen-Tatbestände binden und ihnen die Analogie verbieten. Fehr wies schon auf die Bedenken hin, die solch bloßes Tatbestandsurteilen mit sich bringt, bei dem hinter der Tat der Täter ganz verschwindet. Er setzte sich daher im Zuge der dynamischen Rechtslehre oder sogenannten Freirechtsschule bereits für eine Erweiterung der richterlichen Rechtsschöpfungsbefugnis ein.

In dieser Richtung sind dann, wie es nach dem Gesagten verständlich ist, die Nichtliberalen, nach einer bestimmten Ideologie ausgerichteten Staaten vorangegangen. Zuerst führte die Sowjetunion, nachdem von den Marxisten die liberale, angeblich objektive Rechtsprechung schon immer als »bürgerliche Klassenjustiz« abgelehnt worden war, ein proletarisches Klassenrecht ein, das bewußt den Gedanken der Rechtsgleichheit aller preisgab. Die Nationalsozialisten folgten ihnen, indem sie gemäß ihrer rassischen Weltanschauung den Satz prägten »Recht ist, was dem Volke nützt, Unrecht, was ihm schadet«. Innerhalb solchen testen weltanschaulichen Rahmens schrumpften die Gefahren strafrechtlicher Analogie, die im Paragraph 2a StGB zudem ja noch weiter eingeengt war, sehr zusammen.

Demgegenüber ist eine bestimmte weltanschauliche Grundlage des Statuts nicht erkennbar. Da seine Unterzeichner auf weltanschaulich recht verschiedenem Boden stehen, wird man bei ihm wie im bisherigen Völkerrecht von der liberalen Idee der Weltanschauungsfreiheit ausgehen müssen. Damit aber muß ihm der Rechtssatz »Nulla poena sine lege« besonders heilig sein. Dies wird ja auch dadurch bewiesen, daß der Kontrollrat für Deutschland ihn durch Wiederbeseitigung der strafrechtlichen Analogie im Paragraph 2a Strafgesetzbuch allen Deutschen erneut in schärfster Form einprägte.

Um so unverständlicher und für deutsches Rechtsempfinden untragbar wäre es, wenn er Deutschen gegenüber, die wegen Kriegsverbrechens angeklagt wurden, nicht gelten sollte. An sich ist das Statut ja bereits dadurch ein Ausnahmegesetz, [547] daß es nur gegen Angehörige der Achsenmächte geschaffen wurde auf Grund eines nur für einjährige Dauer geschlossenen und dann kündbaren Abkommens. Wenn es dann noch den Satz »Nulla poena sine lege praevia« beseitigen würde, und zwar sogar für Handlungen, die sich nicht nur im Rahmen der deutschen Legalität hielten, sondern von der derzeitigen Führung des damals souveränen deutschen Staates unter schärfsten Strafandrohungen zur Pflicht gemacht wurden, dann versagt jedes Verständnis für die Auffassung, das Gericht sei an dies Statut gebunden.

Auch eine Prüfung der mit dem Statut verbundenen politischen Zielsetzung hilft da nicht mehr weiter. Justice Jackson hat das Statut und den Prozeß einen Schritt in der Richtung genannt: »Eine rechtliche Sicherung zu schaffen, daß, wer einen Krieg beginnt, auch persönlich dafür bezahlt.« Der amerikanische Kommentator Walter Lippmann hat an anderer Stelle ausgeführt, daß das Kriegsverhütungssystem der kollektiven Sicherheit zusammengebrochen sei. Niemand sei bereit gewesen, einen ihn nicht gerade unmittelbar angehenden Krieg dadurch verhindern zu helfen, daß er dem Friedensstörer den Krieg erklärte. Es sei eben ein solches Mittel zur Bekämpfung der Kriegskrankheit genau so schlimm gewesen wie diese selbst. Infolge des Fiaskos der kollektiven Methode habe sich im letzten Kriege bei den Gegnern Deutschlands der Gedanke durchgesetzt, die Sicherheit künftig zu gründen auf die Verantwortlichmachung der friedensstörend tätigen Einzelpersonen. So sei es zum Nürnberger Prozeß gekommen. Von seiner Tatsache aus könne man heute rückblickend sagen: Während des zweiten Weltkrieges habe sich eine revolutionäre Entwicklung vollzogen. Sie habe die Menschheit über die Grenzen dessen hinweggetrieben, was bis vor kurzem noch das moderne Zeitalter war: Die ersten, aber wesentlichen Schritte zu einem Weltstaate seien getan.

Den hier gezeigten Weg zum Frieden wird man grundsätzlich gern begrüßen, auch wenn man bezüglich seiner Zuverlässigkeit Zweifel hat. Justice Jackson hat auch selbst Bedenken geäußert, ob die von einer Bestrafung ausgehende Abschreckungswirkung künftige Friedensbrüche wirklich zu verhindern vermöchte. Denn zu einem Kriege entschließt sich ja sowieso nur einer, der seines Sieges sicher zu sein glaubt und der daher mit einer, ihn doch nur im Falle seines Unterliegens treffenden Strafe gar nicht ernstlich rechnen wird. Deshalb erscheint wichtiger als die Abschreckungswirkung, die ja auch schon durch eine Strafandrohung für die Zukunft erreicht werden kann, die erzieherische Bedeutung dieses Prozesses durch Stärkung des Rechtsgedankens. Der Politiker muß verstehen, daß das Prinzip der Gewaltenteilung auch von ihm einzuhalten ist und daß er keinen Richter findet, seine Fehler nachträglich wieder gutzumachen, indem er auch auf Grund nachträglicher Gesetze straft. Durch einen solchen Spruch würde das Vertrauen in die internationale Rechtsprechung, die heute noch unter dem Verdacht leidet, sie möchte gar zu leicht für politische Zwecke mißbraucht werden, gewaltig gesteigert werden. Umgekehrt würde [548] es leiden müssen unter einer Verurteilung von Taten, deren Strafbarkeit zweifelhaft bliebe.

Also findet nicht einmal unter dem Gesichtspunkt politischer Zweckmäßigkeit die Verletzung des Satzes »Nulla poena sine lege« eine Rechtfertigung. Wohl aber muß man umgekehrt erkennen, daß die Stärkung des Glaubens an die Unbeugsamkeit des Rechtes als des ruhenden Pols in der ungeheuren Dynamik der politischen Kräfte dem Frieden am besten zu dienen vermöchte.

Dieses Ergebnis kann auch durch die von den Herren Anklagevertretern vorgebrachten Einzelerwägungen nicht in Frage gestellt werden.

Die Herren französischen Anklagevertreter haben betont, daß an ein lebendiges Völkerrecht nicht gedacht werden könne ohne internationale Moral und daß allen Freiheitsansprüchen der einzelnen wie der Nationen das Sittengesetz voranzugehen habe. Das sind gewiß beherzigenswerte Wahrheiten. Sie sprechen aber nur für meinen Standpunkt, daß man die Stärkung des Rechtsgedankens nicht mit einer Verletzung beginnen darf.

Wenn der Herr französische Hauptanklagevertreter erklärte, daß es ohne Bestrafung der Hauptschuldigen Nazi-Deutschlands künftig keinen Glauben an die Gerechtigkeit mehr geben könnte, so ist er offensichtlich zu weit gegangen. Gerechtigkeit erwächst nicht dar aus, daß verletztem Rechtsgefühl um jeden Preis Genugtuung verschafft wird. Sonst würden wir rasch wieder bei der nackten Vergeltung, bei der endlosen Unheilskette der Blutrache angelangt sein. Nein –, Gerechtigkeit verlangt Maßhalten und Abwägen von Gründen und Gegengründen. Und da verletzt schon das einseitige Vorgehen nur gegen Angehörige der Achsenmächte die Idee der Gerechtigkeit. Unmöglich aber kann man mit ihr geradezu einen Verstoß gegen sie, nämlich gegen den sonst allgemein geltenden Satz: »Nulla poena sine lege« rechtfertigen.

Der Herr englische Hauptanklagevertreter hat selbst die Möglichkeit nachträglicher Gesetzgebung für eine der widerwärtigsten Doktrinen der nationalsozialistischen Rechtsprechung bezeichnet. Er meint indes, daß die Ermöglichung der Bestrafung einer früher schon als Verbrechen gebrandmarkten Handlung keine Änderung der Rechtslage bedeute, sondern nur ihre logische Fortentwicklung, und deshalb zulässig wäre. Aber die damit von ihm gerechtfertigte Einsetzung des Gerichtshofs soll ja gar nicht beanstandet werden. Es handelt sich vielmehr um die Frage, ob dieser Gerichtshof strafen muß, obwohl er kein Strafgesetz findet, das die Taten schon zur Zeit ihrer Begehung mit Strafe bedroht hätte. Die Bejahung dieser Frage würde viel weiter gehen, als die von dem Herrn englischen [549] Hauptanklagevertreter so scharf abgelehnte nationalsozialistische Rechtsprechung. Er hat für sie auch nicht den geringsten Grund vorgetragen und scheint sie deshalb selbst zu verwerfen.

Im übrigen dürfte er bereit sein zuzugeben, daß das Statut, wenn es schon die Strafbarkeit der von ihm betroffenen Handlungen nicht bloß voraussetzen, sondern unter Umständen selbst begründen wollte, dies klar und unzweideutig hätte zum Ausdruck bringen müssen. Der fragliche Satz im Paragraph 6 des Statuts entbehrt aber solcher Deutlichkeit durchaus. Seine Fassung: »Die folgenden Handlungen oder einzelne von ihnen stellen Verbrechen dar, für deren Aburteilung der Gerichtshof zuständig ist«, läßt sich sowohl im Sinn einer bloßen Zuständigkeitsregelung auslegen, wie darüber hinaus, wenn auch mit Mühe, zugleich als eine die Strafbarkeit erst begründende Vorschrift. Dieser Satz muß daher auf jeden Fall nach der alten Rechtsregel »in dubio pro re« zugunsten der Angeklagten gedeutet werden. Der ihm folgende Satz: »Der Täter solcher Verbrechen ist persönlich verantwortlich«, wie auch die in dem weiteren Paragraphen angeführten materiellen Strafrechtsbestimmungen, bieten ihrem Wortlaut nach zu Auslegungszweifeln keinen Anlaß. Sie enthalten aber nur Modifikationsbestimmungen für eine an sich vorausgesetzte Strafbarkeit. Das Gericht mag entscheiden, ob und inwieweit es sie für vereinbar hält mit dem Grundsatz: »Nulla poena sine lege praevia«.

Am schwierigsten zu verstehen ist für mich der Standpunkt des Herrn amerikanischen Anklagevertreters. Einerseits verwirft er alle Rechtswillkür der Nazis, andererseits ist er nicht bereit, sich mit der Verurteilung der Angeklagten nur wegen der Straftaten zu begnügen, die schon zur Zeit ihrer Begehung nicht bloß strafwürdig, sondern bereits wirklich mit Strafe bedroht waren. Einerseits will er keine Hinrichtungen oder Bestrafungen ohne in fairer Weise zustande gekommene Feststellung ihrer Schuld, andererseits verlangt er eine strenge Anwendung des Statuts, auch sofern es neues, die Angeklagten überraschendes Recht enthält. Einerseits möchte er den Prozeß einmal der Nachwelt als die Erfüllung menschlichen Sehnens nach Gerechtigkeit erscheinen lassen, andererseits bezieht er sich Einwendungen gegen das Statut gegenüber auf die Macht der Sieger, die ja mit den Angeklagten überhaupt nicht soviel Umstände hätten machen brauchen.

Mir scheint, daß aus ihm doch allzusehr nur der Ankläger spricht, der er ja nach seinen eigenen Worten auch nur sein will. Für den Ankläger – zumal im anglo-amerikanischen Prozeßverfahren – hat das Wort »Gerechtigkeit« nun einen anderen Sinn als für den Richter und gar für den Angeklagten. Außer als Ankläger fühlt sich Justice Jackson aber fraglos in nicht weniger hohem Maße noch als Politiker. Ihm soll dieser Prozeß nicht nur dazu dienen, begangenes Unrecht zu sühnen, sondern auch und vor allem, um Rechtsregeln zu entwickeln und durch Präzedenzverurteilung auch gleich in Kraft zu setzen, von denen er sich eine Festigung des Völkerrechts im Sinne künftiger Kriegsverhütung verspricht. Wer mit soviel vorgefaßten Meinungen und Absichten an eine Sache herangeht, der [550] lebt in einer so ganz anderen Welt als die Angeklagten, daß von diesen zu ihr und umgekehrt kaum Wege des Verstehens zu finden sind.

Was die politische Seite dieses Prozesses angeht, so habe ich schon dargelegt, weshalb sie auf die Abwicklung des Verfahrens keinen Einfluß nehmen darf. Ich möchte hier nur noch darauf hinweisen, daß eine Politik, die von Siegern an den Besiegten ausprobiert wird und daher wohl als eine solche »des geringsten Widerstandes« charakterisiert werden darf, schon einmal – nämlich in der Abrüstungsfrage laut Versailler Vertrag – sich als Fehlschlag erwiesen hat.

Verzichtet Justice Jackson wirklich auf eine bloße Machtentscheidung und ist er wirklich bereit, sich, obwohl er es nicht nötig hätte, einem Gerichtsverfahren ein- und unterzuordnen, dann muß er aber auch darauf verzichten, Argumente zu bringen, die in ein Gerichtsverfahren nicht hineingehören. Ein Zwitterding, das weder ein klarer Gewaltakt ist noch ein Prozeß im üblichen Sinne – mag man es auch unter dem Namen eines politischen Prozesses in eine Mittelstellung zu rücken suchen –, ein solches Zwitterding ist ein Unding! Gewiß kennt die Geschichte auch sonst ähnlich unklar schillernde sogenannte »politische« Prozesse. Ich erinnere bloß an die Aburteilung Ludwigs XVI. durch die französische Nationalversammlung. Da war es aber klar, sowohl durch die Zusammensetzung des Richtergremiums wie durch das angewandte Verfahren, daß es sich nicht um Rechtsfindung handelte, sondern um einen revolutionären Gewaltakt, zu dem man sich durch gegenseitiges Zureden nur Mut machen wollte. Hier aber sind von den Siegermächten die hervorragendsten Berufsrichter mit der Abwicklung des Verfahrens beauftragt worden. Man hat ihnen im Gründungsstatut zwar eine gewisse Marschroute mitgegeben, im übrigen aber doch ihrer richterlichen Einsicht weitgehendste Vertrauensvollmacht erteilt. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß die Politiker hier die Richter aufgerufen haben, ihnen eine Arbeit abzunehmen, mit der sie selbst nicht fertig wurden. Und die Richter werden nunmehr aus eigener Kompetenz zu entscheiden haben, ob und inwieweit es ihnen möglich ist, den Auftrag zu erledigen. Mit dem etwa verbleibenden Rest müssen und werden die Politiker dann schließlich doch ihrerseits irgendwie fertig werden.

Ich habe auch den Argumenten Justice Jacksons kein einziges entnehmen können, das das Gericht veranlassen könnte, Handlungen zu bestrafen, die zur Zeit ihrer Begehung noch gar nicht unter Strafe gestellt waren. Deshalb werde ich nachfolgend zur Anklage im einzelnen nur von der für die fraglichen Tatzeiten maßgebenden Rechtslage aus Stellung nehmen.

Von den allen Angeklagten zur Last gelegten Vergehen ist zeitlich und gegenständlich am umfassendsten die Conspiracy. Mit der Bedeutung dieses Rechtsbegriffs für unseren Prozeß hat sich Professor Exner als Universitätslehrer des Strafrechts besonders befaßt. Zur Vermeidung eines doppelten Vortrags hat Professor Exner mir im Interesse der Zeitersparnis das Ergebnis seiner Forschung zur Verwertung zur Verfügung gestellt. In Übereinstimmung mit ihm habe ich zu dieser Frage folgendes auszuführen:

Der Begriff der »Conspiracy« gehört dem anglo-amerikanischen Rechtskreis an. Freilich ist er dort keineswegs unbestritten, ja, bemerkenswerterweise wird in England mancherseits die Auffassung vertreten, dieser Begriff sei veraltet: »It has been said that in England this law has become entirely disused.« Das für dieses Verfahren Wichtige ist etwas anderes. Der Begriff der »Conspiracy« in dem Sinn, wie ihn die Anklage verwendet, ist dem deutschen Recht schlechterdings unbekannt. An die Spitze meiner [551] kurzen Rechtsbetrachtung möchte ich daher zwei Zweifelsfragen stellen:

Erstens: Darf ein Strafverfahren, das Gerechtigkeit verwirklichen will, Rechtsbegriffe zur Anwendung bringen, die den Angeklagten und dem Rechtsdenken ihres Volkes völlig fremd sind und immer fremd gewesen sind?

Zweitens: Wie ist das vereinbar mit dem vorhin behandelten Satz »nullum crimen sine lege praevia«, den der englische Hauptankläger als ein Grundprinzip kultivierter Strafrechtspflege anerkannt hat? Kann ehrlicherweise behauptet werden, daß schon vor dem Jahre 1939 nicht nur das Entfesseln eines rechtswidrigen Krieges als individuell strafbare Handlung anerkannt gewesen ist, sondern darüber hinaus auch die »Conspiracy« zur Entfesselung derartiger Kriege? Die Bejahung dieser Frage durch die Anklage hat Erstaunen erregt, und zwar nicht nur in Deutschland. Ein Mißverständnis sei in diesem Zusammenhang aufgeklärt. Es wurde behauptet, der nationalsozialistische Staat habe selbst Strafgesetze erlassen, die dem Grundsatz »nullum crimen sine lege« widersprechen, und die Angeklagten seien daher nicht berechtigt, sich auf ihn zu berufen. Es ist nun keineswegs meine Absicht, die nationalsozialistische Strafgesetzgebung zu verteidigen, aber die Ehrlichkeit gebietet zu sagen: Das ist ein Irrtum. Das dritte Reich hat – wie bereits vorhin erwähnt – drei Gesetze erlassen, welche die Strafbarkeit einer Handlung mit Rückwirkung erhöhen, indem sie die Todesstrafe für Taten vorsehen, die zur Zeit ihrer Begehung nur mit Freiheitsstrafen bedroht waren. In keinem einzigen Fall aber wurde ein bisher strafloses Vergehen mit Rückwirkung für strafbar erklärt und so eine Tat, die zu ihrer Zeit kein Crimen war, mit Rückwirkung zu einem Crimen gemacht. Um diesen Fall gerade handelt es sich hier.

Allein das Statut, das ich hier zugrunde lege, hat den Begriff der Conspiracy anzuwenden vorgeschrieben. Ich verfolge daher diese Zweifelsfragen nicht weiter. Doch geht jedenfalls aus ihnen hervor: Wenn jener Begriff auf Deutsche angewandt werden soll, darf das nur mit allen durch die Billigkeit gebotenen Einschränkungen geschehen.

Conspiracy bedeutet nach anglo-amerikanischem Recht die Verabredung mehrerer Personen zur Begehung von Verbrechen: »A combination or an agreement between two or more persons for accomplishing an unlawful end or a lawful end by unlawful means.«

Ähnliche Definitionen kehren immer wieder. Das Charakteristische sind zwei Punkte: das »Agreement« und der »Common Plan«.

Das Agreement bedeutet eine ausdrückliche oder stillschweigende Vereinbarung. Wenn ein paar Leute unabhängig voneinander dasselbe Ziel verfolgen, ist das keine Conspiracy. Es genügt also nicht, [552] daß der Plan ihnen allen gemein ist, sie müssen Kenntnis haben von dieser Gemeinsamkeit, und jeder muß den Plan freiwillig als den seinen akzeptieren. Schon im Wort »Konspirieren« liegt, daß jeder mit seinem Wissen und Willen dabei ist. Wer gezwungen mittut, ist kein Konspirant, denn Zwang ergibt kein Agreement, sondern höchstens äußere Beistandsbereitschaft. Wenn also einer seinen Willen den anderen aufoktroyiert, so ist das keine Verschwörung. Darum ist eine Verschwörung mit einem Diktator an der Spitze ein Widerspruch in sich selbst. Der Diktator verschwört sich nicht mit seinen Gefolgsleuten, er schließt kein Agreement mit ihnen, er diktiert.

Das Wissen und Wollen der Konspiranten richtet sich auf einen gemeinsamen Plan. Der Inhalt dieses Planes kann ein sehr verschiedener sein. Im englischen Recht zum Beispiel gibt es eine Conspiracy zur Begehung eines Mordes, eines Betrugs, einer Erpressung, einer falschen Anschuldigung, gewisser Wirtschaftsdelikte und so weiter. In allen diesen Fällen wird die Conspiracy als Delikt besonderer Art behandelt und daher sind die Konspiranten wegen Vergehens der Conspiracy strafbar ohne Rücksicht darauf, ob es im Einzelfalle wirklich zu einem Mord, zu einem Betrug oder auch nur zu einem Versuch eines derartigen Verbrechens gekommen ist. Nach deutscher Terminologie würden wir sagen: Die Conspiracy ist einer der Fälle, in denen bereits die Vorbereitung eines Verbrechens strafbar ist. Dergleichen gibt es auch im deutschen Strafrecht. Strafbar ist, wer an einer Verbindung teilnimmt, welche Verbrechen wider das Leben bezweckt. Er wird nach Paragraph 49b wegen eines »Vergehens der Vorbereitung zur Tötung« bestraft, auch wenn es nicht zur beabsichtigten Tat gekommen ist. In gewissem Sinne kann man auch den Paragraph 129 hier anführen. Die Teilnahme an einer Verbindung, welche gewisse staatsfeindliche Zwecke verfolgt, ist strafbar, auch hier wieder unabhängig davon, ob eine Tat begangen wurde. Kommt es aber zur Tat, wird jeder nach seinem Verschulden an dieser Tat zur Verantwortung gezogen. Ist der einzelne Konspirant weder als Täter noch als Anstifter, noch als Gehilfe an diesem konkreten Verbrechen mitschuldig, kann er nur wegen Teilnahme an einer staatsfeindlichen Verbindung, nicht aber wegen dieses Verbrechens in Anspruch genommen werden.

Die Ankläger in diesem Prozeß gehen nun weiter. Sie wollen unter bestimmten Umständen die Konspiranten auch für Einzeltaten bestrafen, an denen sie unbeteiligt sind. Um gleich das bezeichnendste Beispiel herauszugreifen: Sie wollen einen Verschwörer auch für jene Verbrechen verantwortlich machen, welche vor seinem Eintritt in die Verschwörung begangen worden sind.

Mit den wenigen mir zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln konnte ich keinen Beleg dafür finden, daß dies nach englischem oder [553] amerikanischem Recht begründet ist. Sicher ist jedoch, daß diese Folgerung dem deutschen Strafrecht auf das schärfste widerspricht. Denn diesem gilt als selbstverständlicher und von niemandem angefochtener Grundsatz, daß man nur dann für eine Tat verantwortlich ist, wenn man sie verschuldet oder wenigstens mitverschuldet hat.

Betrachten wir nun das Statut: Im Statut sind zwei Fälle erwähnt, die für strafbar erklärt werden und zur Zuständigkeit des Gerichtshofs gehören:

Erstens: Nach Artikel 6a die Teilnahme an einem gemeinsamen Plan oder einer Verschwörung zur Begehung eines Verbrechens gegen den Frieden. Als solches gilt Planung, Vorbereitung, Entfesselung und Führung eines Angriffskrieges oder eines auf Bruch internationaler Verträge oder Zusicherungen begangenen Krieges. Auffallend ist, daß hier ein Begriff, der dem innerstaatlichen Straf- und Privatrecht Englands und Amerikas angehört, kurzerhand auf zwischenstaatliche Tatbestände angewendet wird. Das Statut tut dies, indem es Personen, die rechtswidrige Kriege planen oder führen, wie Gangster behandelt, die an einem Straßenraub teilnehmen. Das ist eine juristische Kühnheit, denn in diesem Falle steht zwischen den Einzelpersonen und dem Erfolg ihres Handelns der souveräne Staat, was dem Vergleich mit den Tatsachen des innerstaatlichen Alltags jede Grundlage entzieht. Dem Völkerrecht ist der Begriff der Conspiracy bisher unbekannt.

Zweitens: Nach Artikel 6, letzter Absatz des Statuts sind die Teilnehmer an einer Conspiracy oder an einem gemeinsamen Plan zur Begehung von Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsrecht oder Menschlichkeit verantwortlich für alle Taten, die irgendein Teilnehmer in Ausführung dieses Planes begangen hat. Dies ist nun grundsätzlich etwas anderes als der zum ersten Punkt genannte Fall. Es bedeutet nicht Strafe für das Delikt der Verschwörung, sondern Verantwortlichkeit für die Einzeltat einer anderen Verschwörung. Mit anderen Worten: Conspiracy ist hier nicht ein besonderer Delikttatbestand, sondern eine Form der Mitschuld an den Taten der Konspiranten. Richter Jackson hat das Beispiel gebracht: Wenn von drei verschworenen Räubern einer das Opfer erschlägt, dann sind alle wegen Mitschuld am Totschlag verantwortlich.

Dieser unter Punkt 2 genannte Fall ist für unseren Prozeß von größter Wichtigkeit. Der einzelne Verschwörer soll für Taten bestraft werden, die nicht er, sondern ein anderer Verschwörer begangen hat. Ein Angeklagter, der mit der Judenvernichtung nichts zu tun hatte, soll wegen dieses Verbrechens gegen die Menschlichkeit bestraft werden, nur weil er an einer Conspiracy teilnahm.

[554] Die grundsätzliche Frage lautet: Sind in diesem Prozeß Haftungsgrundsätze anzuwenden, die über unser deutsches Strafrecht hinausgehen?

Der Artikel 6 des Statuts sagt: Alle Verschwörer seien mitverantwortlich für jede Tat, die irgendein Mitverschwörer »in execution of such plan« begeht. Dies sind die für die Auslegung entscheidenden Worte.

Meines Ermessens ist der Sinn dieser Worte der folgende: Die anderen Konspiranten sind für jene Taten ihrer Kameraden mitverantwortlich, die innerhalb des gemeinsamen Planes liegen, also von ihnen mitgedacht und mitgewollt oder mindestens mit in Kauf genommen worden sind. Einige Beispiele:

Fall a). A, B, C, D begehen einen verabredeten Villeneinbruch. Sie treffen im Haus ein Mädchen an. A vergewaltigt es; B, C, D können wegen dieser Notzucht nicht in Anspruch genommen werden, denn A befand sich, als er dies tat, nicht in »execution of the plan«, sondern höchstens in »occasion of execution of the plan«. Er handelte nicht in Durchführung des Planes, sondern lediglich bei Gelegenheit der Durchführung desselben. Das dürfte unbestritten sein, ist aber wichtig, weil daraus erhellt, daß von einer Verantwortlichkeit für alle Taten der Mitverschwörer jedenfalls keine Rede sein kann.

Fall b). Bei der Durchsuchung der Villa geraten B und C in Streit über ein Beutestück; B schlägt C nieder. Auch diese Tat geschah nicht in »execution of the plan«, sie war planfremd. A und D haften nicht für diesen »Exzeß«.

Der dritte Fall c). Bei der Durchsuchung der Villa werden die Einbrecher vom Besitzer ertappt. D erschießt ihn. Hier kommt es auf die besondere Lage des Falles an. Kehren wir zum Beispiel zu Richter Jacksons Beispiel von den drei Räubern zurück, deren einer das Opfer erschlägt. Bei der Art des amerikanischen Gangsterwesens würde es das durchaus Normale sein, daß die einzelnen beteiligten Mitglieder der Räuberbande sich der Möglichkeit eines derartigen Ausgangs bewußt und ihn in Kauf zu nehmen bereit waren. Liegt der Fall so, dann müssen sie auch nach unserer Auffassung als Mittäter oder Gehilfen für die Tötung einstehen. Bei dieser Sachlage wäre gegen Justice Jacksons Lösung nichts einzuwenden. Liegt aber der Fall anders, war der tödliche Ausgang von den übrigen nicht vorausgesehen, ja vielleicht nicht einmal voraussehbar – weil sie zum Beispiel annahmen, die Bewohner des Hauses seien verreist –, dann entfällt die Verantwortlichkeit der Mitverschwörer. Denn sie haften nur für das, was in »execution of the plan« geschieht. Zum gemeinsamen Plan gehört aber nur, was, von vornherein von den Planenden als zur Erreichung des Zieles [555] möglicherweise in Frage kommend, vorausgesehen und gebilligt ist. Andere Durchführungswege sind planfremd.

Das Trügerische der von Justice Jackson gebrachten Beweisführung liegt darin, daß er aus einer Entscheidung, die für den »Normalfall« gerade seines Beispiels von den Straßenräubern gilt und einleuchtend ist, einen allgemeinen Grundsatz ableitet, der für andere Situationen keineswegs zutrifft. Nach alledem wäre Mitverantwortlichkeit an der Einzeltat nur bei den Verschwörern zu bejahen, welche die Tat ihres Kameraden vorausgesehen und gebilligt haben.

Ein Rechtssatz, der die Verantwortlichkeit der Mitverschwörer auf Fälle ausdehnt, die von ihrer Schuld nicht umfaßt sind, ist dem deutschen Recht fremd. Mag er dem anglo-amerikanischen Recht angehören oder nicht, es würde seine Anwendung in unserem Prozeß jedenfalls Taten unter Strafe stellen, die bisher straflos waren. Das widerspräche auf das deutlichste dem Grundsatz »nullum crimen sine lege praevia«, ein Grundsatz, der auch vom englischen Anklagevertreter, wie ich bereits vorhin hervorgehoben habe, ausdrücklich anerkannt worden ist. Angesichts der Tatsache also, daß Artikel 6 verschiedene Auslegungen zuläßt, ist von den zwei möglichen Deutungen jene als dem Willen der Urheber entsprechend anzusehen, die dem genannten Grundsatz nicht widerstreitet.

Es gibt ein Austreten aus der Conspiracy und auch ein späteres Eintreten in sie. Da fragt es sich nun: Wie steht es mit der Haftung für Taten, die in der Zeit der Nichtzugehörigkeit begangen sind. Die Ankläger scheinen der Ansicht zu sein: Wenn jemand der Verschwörung beitritt, so genehmigt er alles, was vorher irgendeiner der Verschwörer in Verfolgung des gemeinsamen Planes getan hat. Diese Behauptung entstammt wohl dem zivilrechtlichen Gedanken von der nachträglichen Genehmigung eines Geschäftsabschlusses. Im Strafrecht ist das unhaltbar. Im Statut steht nichts dergleichen, denn der gemeinsame Plan, in dessen Vollzug die Tat geschah, war doch nur den damaligen Mitgliedern gemein: Selbst wenn man in dem Eintritt in die Verschwörung eine Billigung ihrer bisherigen Taten erblickt, begründet doch die Billigung eines geschehenen Verbrechens noch nicht die Teilnahme an diesem Verbrechen. Der später Eintretende hat nichts mit ihnen zu tun. Ebenso wird man beim Austritt aus der Verschwörung den Ausgetretenen nur für das verantwortlich machen können, was zur Zeit seiner Zugehörigkeit geschehen ist, mag auch der Erfolg dieses Geschehens nach seinem Austritt eingetreten sein. Jede andere Anschauung käme wie der zu dem Ergebnis, daß es sich um ein »ex post facto«-Gesetz handelt. Haben nun die zwei Angeklagten an einer Verschwörung im Sinne der Anklage teilgenommen, das [556] heißt an einer Verschwörung zum Begehen von Verbrechen gegen Frieden, Kriegsrecht und Menschlichkeit?

Wenn eine derartige Verschwörung bestanden hätte, so wäre – daran zweifelt niemand – Hitler der Anführer der Verschwörer gewesen. Nun wurde aber schon hervorgehoben: Eine Verschwörung mit einem Diktator an der Spitze ist ein Widerspruch in sich selbst. Hitler hätte wohl gelächelt, wenn man ihm nachgesagt hätte, er habe eine Vereinbarung mit seinen Ministern, Parteileitern und Generalen getroffen, ein Agreement mit ihnen geschlossen, diesen oder jenen Krieg zu führen oder den Krieg mit diesen oder jenen Mitteln zu führen. Er war Selbstherr. Es kam ihm nicht auf das Einverständnis dieser Leute an, sondern auf die Ausführung seiner Entschlüsse durch sie, mochten sie diesen Entschlüssen beistimmen oder nicht. Aber abgesehen von dieser juristischen Erwägung sah – in rein tatsächlicher Hinsicht – die Umgebung Hitlers ganz anders aus als eine verschworene Gemeinschaft, wie die Ankläger – vor dem Beweisverfahren – sie sich vorgestellt haben. Wenn wir eine kleine Parteiclique unberücksichtigt lassen, so umgab ihn eine Atmosphäre des Mißtrauens. Er vertraute weder dem »Defaitisten-Klub« seiner Minister noch seinen »Generalen«. So war es schon vor dem Kriege, und wie es während des Krieges um ihn aussah, haben Zeugen mit erschütternder Eindringlichkeit geschildert. Ein raffiniertes Geheimhaltungssystem bewirkte, daß die Pläne und Absichten des Führers seiner Umgebung solange als irgend möglich verborgen blieben, so daß seine nächsten Mitarbeiter immer wieder durch die Ereignisse überrascht wurden, ja, manches davon erst im Prozeß zu ihrem Erstaunen erfuhren. Dieses Geheimhaltungssystem bewirkte ferner eine Isolierung einzelner Mitglieder, da die eine Hand nicht wissen durfte, was die andere tat. Sieht das wie eine Conspiracy aus? In Wahrheit beklagte sich Hitler gelegentlich, daß die Generale gegen ihn »konspirieren« und gebrauchte sonderbarerweise dieses Wort gerade auch gegenüber jenen, die heute angeklagt sind, mit ihm konspiriert zu haben! Im Beweisverfahren war zwar wiederholt von Verschwörungen die Rede, aber von Verschwörungen gegen Hitler. Es ist ja auch – rein psychologisch betrachtet – mindestens höchst unwahrscheinlich, daß die zwei Dutzend Männer, welche die Anklage unter den Überlebenden des Dritten Reiches auf die Anklagebank gesetzt hat, eine Verschwörerbande im Sinne der Anklage gebildet hätten. Mangelt doch dieser Gruppe von Menschen jede Homogenität in Bezug auf Gesinnung, Herkunft, Bildungsstand, Stellung und sozialer Funktion, und haben sich doch die Angeklagten zum Teil erst auf der Anklagebank kennengelernt.

Die Anklage hält die Partei mit ihren Organisationen für den Kern, um den sich die Verschwörung gebildet habe. Aber man bedenke die verschiedenen Einstellungen der einzelnen auch in [557] diesem Punkte. Manche haben der Partei gar nicht oder die längste Zeit nicht angehört, nur wenige haben in ihr eine wirkliche Rolle gespielt. Manche hatten leitende Stellungen in der Partei und ihren Organisationen und widmeten ihre ganze Arbeit den Zielen dieser Organisationen. Andere wieder taten alles in ihrer Macht stehende, um die Einnüsse von Partei und SS aus ihrem Tätigkeitsbereich fernzuhalten.

Die NSDAP wurde gegründet in einer Zeit völliger Machtlosigkeit des Staates und allgemeiner Kriegsmüdigkeit des Volkes, in einer Zeit, in der wahrhaft kein vernünftiger Mensch an einen zweiten Krieg oder gar an einen Angriffskrieg dachte.

Aber gab es vielleicht bei den Angeklagten Ziele, die ohne Krieg erreichbar waren?

Gewiß: Der Wunschtraum jedes guten Deutschen war die Vereinigung aller angrenzenden deutschen Gebiete unter dem Reich. Also das Saarland, Österreich, Memel, Danzig und als ferne Hoffnung auch das Sudetenland. Sie alle hatten einst zum Deutschen Reich gehört, sie alle wären schon 1919 zum Deutschen Reich zurückgekehrt, wenn das feierlich versprochene Selbstbestimmungsrecht der Völker verwirklicht worden wäre. Aber diese Ziele deutscher Sehnsucht waren auf friedlichem Wege erreichbar. In der Tat sind sie auch ohne Schuß und ohne Schwerthieb erreicht worden mit einziger Ausnahme von Danzig, das bei einem Funken Geduld des Führers und einem Funken guten Willen seitens der Polen in friedlicher Form den gleichen Weg gegangen wäre.

Aber einen Krieg wollten sie nicht, an einen Krieg glaubten sie nicht. Man traute Hitler zwar Bluffs großen Stils, aber nicht die Katastrophe eines Krieges zu. So kann ich denn an eine Verschwörung zur Durchführung von Verbrechen gegen Frieden und Kriegsrecht nicht glauben. Nur zwei Punkte von allgemeiner Bedeutung seien noch hinzugefügt:

Erstens: Der erste Punkt betrifft Görings Verhalten unmittelbar vor dem Kriegsausbruch. Er war damals der Vertraute Hitlers, der zweite Mann im Staat und ist jetzt die Hauptfigur unter den Angeklagten. Wenn es damals wirklich eine Verschwörung zur Führung von Angriffskriegen gegeben hätte, so wäre er der zweitwichtigste Mann in dieser Verschwörung gewesen, aber gerade er hat in den letzten Tagen des August 1939 noch alle Anstrengungen gemacht, den Angriff auf Polen abzuwenden, ja sogar hinter Hitlers Rücken sich um die Erhaltung des Friedens bemüht. Wie ist das vereinbar mit einer Verschwörung zur Führung von Angriffskriegen? Er war auch mit der Führung eines Krieges gegen Rußland nicht einverstanden und hat dem Führer dringend abgeraten.

Zweitens: Hätte es eine Verschwörung zur Begehung von Kriegsverbrechen gegeben, so wäre doch von Anfang an der Krieg mit [558] aller Rücksichtslosigkeit und Verachtung des Kriegsrechts geführt worden. Das Gegenteil ist geschehen. Gerade in den ersten Kriegsjahren wurde, wie unbestritten ist, das Völkerrecht von beiden Seiten im großen und ganzen eingehalten. Gerade anfangs war man bemüht, den Kampf mit Anstand und Ritterlichkeit zu führen. Bedarf es dafür eines Beweises, so genügt ein Blick in die Vorschriften, die das OKW für das Verhalten der Truppe in Norwegen, Belgien, Holland herausgegeben hat.


VORSITZENDER: Der Gerichtshof vertagt sich bis morgen.


[Das Gericht vertagt sich bis

5. Juli 1946, 10.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 17, S. 538-560.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wette, Adelheid

Hänsel und Gretel. Märchenspiel in drei Bildern

Hänsel und Gretel. Märchenspiel in drei Bildern

1858 in Siegburg geboren, schreibt Adelheit Wette 1890 zum Vergnügen das Märchenspiel »Hänsel und Gretel«. Daraus entsteht die Idee, ihr Bruder, der Komponist Engelbert Humperdinck, könne einige Textstellen zu einem Singspiel für Wettes Töchter vertonen. Stattdessen entsteht eine ganze Oper, die am 23. Dezember 1893 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt wird.

40 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon