Vormittagssitzung.

[7] PROFESSOR DR. FRANZ EXNER, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN JODL: Herr Präsident, meine Herren Richter!

Ich setze mit der Verlesung meines Exposés fort. Ich erinnere daran, daß ich gestern gezeigt habe, daß Jodl jedenfalls nicht bis zum Jahre 1939 Mitglied einer Verschwörung gewesen sein kann. Verzeihung, Seite 8.

Aber vielleicht wird behauptet, Jodl sei erst nach 1939 der Conspiracy beigetreten.

Wie einer meiner Vorredner bereits dargetan hat, kann ein Offizier, der an der ihm zugewiesenen Stelle an der Durchführung eines Kriegsplanes mitwirkt, nie als Verschwörer betrachtet werden. Er hat zwar einen Plan, der ihm mit seinem Oberhaupt gemein ist, aber er hat ihn nicht freiwillig zu dem seinigen gemacht, er hat kein »agreement« abgeschlossen, sondern: Innerhalb der normalen Dienstordnung tut er einfach das, was der Posten, auf dem er steht, verlangt.

Gerade Jodl kann dafür als ein charakteristisches Beispiel betrachtet werden. Er geht nicht auf Grund freier Entscheidung nach Berlin. Daß er im Kriegsfall in den Stab des Führers einzutreten habe, stand längst fest. Das bestimmte die Ordnung, die für das laufende Mobilmachungsjahr getroffen war. Dieses Mobilmachungsjahr ging mit dem 30. September 1939 zu Ende, für das folgende Jahr war bereits General von Sodenstern als Chef des Wehrmachtführungsstabes bestimmt. Wäre also der Krieg sechs Wochen später ausgebrochen, wäre Jodl als Kommandeur seiner Gebirgsdivision in den Krieg gezogen. Er würde dann aller Wahrscheinlichkeit nach heute nicht auf dieser Anklagebank sitzen. Man erkennt: Seine gesamte Tätigkeit im Krieg ist durch eine Regelung bestimmt, die von seinem Willen unabhängig und im voraus längst festgelegt gewesen ist. Diese Tatsache ist meines Erachtens allein schon ein schlagender Beweis gegen seine Teilnahme an einer Verschwörung zur Führung von Angriffskriegen.

Als Jodl am 23. August 1939 in Berlin eintraf, war der Kriegsbeginn auf den 25. August festgesetzt. Aus ihm unbekannten Gründen wurde er sodann noch sechs Tage aufgeschoben. Der Plan für den Feldzug lag fertig vor; ihn herzustellen, brauchte er nicht zu konspirieren. Wenn es damals eine Verschwörung gegen Polen gab, so saßen, wie wir jetzt aus dem deutsch-russischen Geheimvertrag wissen, die Mitverschwörer ganz wo anders.

[7] Dem Führer wurde Jodl erst am 3. September 1939 vorgestellt, also erst nach Kriegsbeginn, zu einer Zeit, in der das Entscheidende bereits entschieden war.

Von nun an führte ihn seine Dienststellung in die Nähe Adolf Hitlers. Freilich muß man beifügen: Nur in seine räumliche Nähe. Wirklich nahegestanden ist er ihm nie. Er lernte Hitlers Pläne und Absichten auch jetzt nicht kennen und wurde jeweils nur so weit in sie eingeweiht, als seine Arbeit es unbedingt erforderte. Jodl wurde nie Vertrauter Hitlers und kam nie in innerliche Beziehung zu ihm. Es blieb ein rein dienstliches Verhältnis und oft genug ein Konfliktverhältnis.

Auch sonst war Jodl der Partei fremd geblieben. Keine Rede davon, daß er etwa in Wien Berührung mit den dortigen Parteiführern gesucht hätte, obgleich das nahe genug gelegen gewesen wäre.

Die meisten Parteiführer und die meisten der Angeklagten lernte er erst bei ihren gelegentlichen Besuchen im Führerhauptquartier kennen. Mit Ausnahme der Offiziere blieb er ohne Beziehung zu ihnen. Die Parteiclique im Hauptquartier war ihm ein Greuel und ein unerfreulicher Fremdkörper im Rahmen des Militärischen. Gegen die Parteieinflüsse in der Wehrmacht hat er zu kämpfen nie aufgehört.

Parteiveranstaltungen hat er auch jetzt nicht mitgemacht. An Reichsparteitagen hat er nicht teilgenommen, abgesehen davon, daß er dort einmal – dienstlich befohlen – die Vorführungen der Wehrmacht mit angesehen hat. Die Münchener Gedenktage am 9. November hat er nie mitgemacht.

Nun hat der Ankläger immer wieder seine Gauleiterrede herangezogen, um zu beweisen, daß Jodl sich trotz alledem mit der Partei und ihren Bestrebungen identifiziert habe, daß er doch nicht nur Soldat, sondern am Politiker war, daß er ein enthusiastischer Anhänger Hitlers gewesen ist.

Da ist zunächst festzustellen: Das Dokument L-172, das uns als diese Gauleiterrede vorgelegt wird, ist nicht das Manuskript dieser Rede, sondern eine von seinem Stab zusammengestellte Materialsammlung, auf deren Grundlage Jodl erst sein Manuskript verfaßte. Überdies wurde die Rede frei gehalten; bei keinem Wort dieses Dokuments ist erwiesen, daß Jodl es wirklich gesprochen hat.

Ferner muß der Anlaß der Rede in Rücksicht gezogen werden. Nach vier harten Kriegsjahren, nach dem eben erfolgten Abfall Italiens und vor der neuerlichen ungeheuren Belastung, welche Hitler als letzte äußerste Anstrengung der Bevölkerung auferlegen wollte, in diesem kritischen Moment hing alles davon ab, daß der Wille des Volkes zu weiterem Durchhalten aufrecht blieb. Daher [8] versuchte die Partei eine fachmännische Information über die Kriegslage zu bekommen, um den sinkenden Mut wieder stärken zu können. Für diese Aufgabe bestimmte der Führer den Generaloberst Jodl. Herr Präsident, ich befinde mich auf Seite 13. Jodl war dafür zweifellos die allein zuständige Persönlichkeit. Mancher hätte diese Gelegenheit begrüßt, sich bei den Parteiführern beliebt zu machen. Aber Jodl übernahm die Aufgabe contre cœur, gegen seinen Willen. Der Titel des Vortrags lautet:

»Die militärische Lage am Anfang des 5. Kriegsjahres.« Sein Inhalt ist eine rein militärische Darstellung der Kriegslage an den verschiedenen Fronten und wie es zu ihr gekommen war. Anfang und Ende bringen, nach dem vorliegenden Dokument wenigstens, ein Loblied auf den Führer, aus dem die Ankläger bedenkliche Schlüsse ziehen. Allein, wenn ein Redner vor allem zuerst einmal das Vertrauen seiner Hörerschaft, dieser aus Parteiführern bestehenden Hörerschaft, gewinnen muß, und seine Aufgabe ist, Zuversicht zu verbreiten in die höchste militärische Führung, sind derartige rhetorische Floskeln etwas ziemlich Selbstverständliches.

Übrigens bestreitet Jodl ja nicht, manche Eigenschaften und Fähigkeiten des Führers aufrichtig bewundert zu haben. Nur sein Vertrauter war er nie, nie sein Mitverschwörer, und er ist auch im Oberkommando der Wehrmacht der unpolitische Mensch geblieben, der er immer war.

Jodl war also nicht Glied einer Verschwörung, und kein Conspiracy-Begriff kann helfen, ihn verantwortlich zu machen für Handlungen, die er nicht selbst schuldhaft begangen hat.

Ich wende mich nun diesen einzelnen Handlungen zu, die Jodl zum Vorwurf gemacht werden.

Nach Artikel 6 der Charte ist das Gericht zuständig für gewisse Verbrechen gegen den Frieden, gegen Kriegsrecht, gegen die Menschlichkeit, die in der Charte aufgezählt sind und für die man individuelle strafrechtliche Haftbarkeit der schuldigen Einzelpersonen festgesetzt hat. Wenn wir zunächst absehen von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, für die etwas Besonderes gilt, sind es zwei Voraussetzungen, unter denen eine individuelle Bestrafung der Angeklagten stattfinden kann:

Erstens: Es muß eine Völkerrechtswidrigkeit vorliegen, an der sie sich irgendwie mitschuldig gemacht haben. Der Sinn dieses ganzen Prozesses und der Sinn der Charte liegt ja darin, daß die Normen des Völkerrechts durch strafrechtliche Sanktionen in ihrer Kraft verstärkt werden sollen. Wenn also eine Völkerrechtswidrigkeit bestimmter Art begangen wird, soll nicht nur, wie bisher, die Haftung des rechtsverletzenden Staates eintreten, sondern darüber hinaus sollen künftig schuldige Einzelpersonen dafür bestraft werden.

[9] Daraus folgt: Ohne Völkerrechtswidrigkeit keine Strafe.

Zweitens: Aber nicht für alle Völkerrechtswidrigkeiten ist eine derartige Haftung von Einzelpersonen vorgesehen, sondern nur für die im Statut ausdrücklich genannten. Artikel 6 a nennt die Verbrechen gegen den Frieden, Artikel 6 b Verbrechen gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges. Andere Taten, mögen sie auch völkerrechtswidrig sein, gehören nicht hierher.

Es wäre uns mancher Verhandlungstag erspart geblieben, wenn die Anklagebehörde diese zwei Punkte von Anfang an berücksichtigt hätte. Denn, wie noch zu erweisen ist, zeigt sich die Tendenz, über diese Grenzen hinaus die Angeklagten auch für Völkerrechtswidrigkeiten, die nicht in der Charte genannt sind, in Anspruch zu nehmen; aber damit nicht genug: Auch für Taten, die überhaupt nicht rechtswidrig sind, sondern allenfalls als unmoralisch gelten können, sollen sie zur Verantwortung gezogen werden.

Ich halte mich in folgendem an die klare Disposition des anglo-amerikanischen Trial-Briefes und füge hinzu, was noch von den beiden anderen Anklägern gegen Jodl vorgebracht worden ist.

Punkt 1: Die Mithilfe zur Ergreifung und Konsolidierung der Macht seitens der Nationalsozialisten ist, wie schon hervorgehoben, fallen gelassen.

Punkt 2 und 3 betrifft Aufrüstung und Rheinland besetzung.

Mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und mit der Aufrüstung hatte Jodl nichts zu tun.

Jodls Tagebuch enthält kein Wort über Aufrüstung. Er war Mitglied des Reichsverteidigungsausschusses, der aber mit Aufrüstungsfragen nicht befaßt war.

Er beschäftigte sich hier mit den Maßnahmen, welche die Zivilbehörden für den Mobilmachungsfall zu ergreifen hatten. Darin lag nichts Rechtswidriges. Eine Mobilmachung, zum Beispiel im Falle eines feindlichen Angriffs, war uns nicht versagt. Die Vorbereitungen in der entmilitarisierten Zone, die Jodl dem Ausschuß vorschlug, beschränkten sich ebenfalls auf die Zivilbehörden und bestanden ausschließlich darin, eine Räumung des westrheinischen Gebietes vorzubereiten, um im Falle einer französischen Besetzung die Rheinlinie zu verteidigen. Diese Arbeiten waren rein defensiv. Wenn Jodl trotzdem strengste Geheimhaltung dieser defensiven Maßnahmen empfahl, zeugt das doch nicht von verbrecherischen Plänen, sondern war eine Selbstverständlichkeit. In der Tat war besondere Vorsicht nötig, denn die französische Ruhrbesetzung stand ja noch in frischer Erinnerung.

Auch mit der Rheinlandbesetzung hatte Jodl nichts zu tun, er erfuhr erst fünf Tage vor der Ausführung von diesem Beschluß des Führers.

[10] Weitere Ausführungen meinerseits sind überflüssig, denn nach der Charte gehört weder die Aufrüstung noch die Rheinlandbesetzung, mögen sie auch völkerrechtswidrig gewesen, sein, zu den Straftaten des Artikels 6:

Nur wenn man darin eine Vorbereitung eines Angriffskrieges zu erblicken hätte, fielen diese Fälle unter die Charte. Allein wer hätte in jener Zeit an einen Angriffskrieg gedacht? Wir konnten 1938 mangels ausgebildeter Mannschaften nicht den sechsten Teil der Divisionen ins Feld stellen wie unsere vermutlichen Gegner: Frankreich, die Tschechoslowakei und Polen. Die erste Stufe der Aufrüstung sollte 1942 erreicht, der Westwall 1952 fertig werden, schwere Artillerie fehlte ganz, die Panzer waren in der Erprobung, die Munitionslage war katastrophal.

1937 hatten wir kein einziges Schlachtschiff, noch 1939 nicht mehr als 26 ozeanfahrende U-Boote, das war weniger als ein Zehntel der englischen und französischen. An Kriegsplänen existierte nur ein Grenzschutzplan gegen den Osten. Sehr charakteristisch ist die Darstellung unserer Lage im Reichsverteidigungsausschuß: Als ganz selbstverständlich wurde gesagt, daß ein künftiger Krieg im eigenen Land sich abspielen würde, also nur ein Defensivkrieg sein könne. Dies war, wohlgemerkt, eine Äußerung in einer geheimer Sitzung jenes Ausschusses. Die Eventualität einer Offensivaktion wurde gar nicht erwähnt. Aber auch zu ernster Defensive waren wir damals nicht fähig. Darum kamen sich die Generale schon bei der Rheinlandbesetzung als Vabanquespieler vor. Daß aber jemand von ihnen utopisch genug gewesen wäre, an eine Offensive zu denken, dafür liegt nicht der Schein eines Nachweises vor.

Als Punkt 4 bis 6 nennt der Trial-Brief: Teilnahme an der Planung und Ausführung des Angriffs auf Österreich und die Tschechoslowakei.

Einen Aufmarschplan gegen Österreich gab es überhaupt nicht. Die Ankläger haben das Dokument C-175 als solchen angeführt. Allein das ist ein Mißverständnis. Es ist dies ein Programm für die Ausarbeitung der verschiedensten Kriegspläne, also zum Beispiel für einen Krieg gegen England, gegen Litauen, gegen Spanien und so weiter. Unter diesen theoretischen Kriegsmöglichkeiten wird auch der Fall »Otto« erwähnt, das heißt eine Intervention in Österreich im Falle eines Restaurationsversuches der Habsburger. Dieser Fall sei zwar nicht auszuarbeiten, sondern lediglich zu »durchdenken«, so heißt es in dem Dokument. Allein da keinerlei Anzeichen für einen derartigen Versuch der Habsburger vorhanden waren, wurde hierfür überhaupt nichts vorgearbeitet.

Die Sitzung am 12. Februar 1938 am Obersalzberg hat Jodl nicht mitgemacht. Zwei Tage nachher wurde befohlen, gewisse Täuschungsmanöver vorzuschlagen, offenbar um einen Druck auf Schuschnigg [11] auszuüben, sich an die Obersalzberger Abmachungen zu halten. Darin liegt nichts Rechtswidriges, wenn auch der Ankläger von »verbrecherischen Methoden« spricht. Vom Einmarschbeschluß des Führers wurde Jodl zwei Tage vor dessen Durchführung völlig überrascht. Diesen Einmarschbefehl gab der Führer telephonisch. Jodls schriftlicher Befehl diente nur dazu, ihn aktenkundig zu machen. Wäre dies erst der maßgebende Befehl gewesen, wäre er ja viel zu spät gekommen. Er wurde am 11. März um 9.00 Uhr abends ausgegeben, der Einmarsch fand am nächsten Morgen statt. Sein Verlauf wurde uns hier geschildert. Die Truppe war rein friedensmäßig ausgerüstet. Die Österreicher kamen ihr über die Grenze zur Begrüßung entgegen. Österreichische Truppen fügten sich in den Zug ein und machten den Marsch nach Wien mit. Es war ein Triumphzug mit Jubel und Blumen.

Es folgt der Fall Tschechoslowakei.

Noch im Frühjahr 1938 erklärte Hitler, er beabsichtige nicht, »die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit anzugreifen«. Nach der unprovozierten tschechischen Mobilisierung änderte er diesen Standpunkt und beschloß, ab 1. Oktober 1938 – also nicht am 1. Oktober 1938 – die tschechische Frage zu lösen, wofern ein Eingreifen der Westmächte nicht zu erwarten sei. Jodl hatte daher die generalstabsmäßigen Vorbereitungen zu treffen. Er tut es in der Überzeugung, daß seine Arbeit Theorie bleiben würde, denn da der Führer einen Konflikt mit dem Westen unter allen Umständen vermeiden wollte, waren friedliche Vereinbarungen zu erwarten. Jodl bemühte sich nur darum, daß nicht durch eine tschechische Provokation dieser Plan gestört würde. In der Tat ist es so, wie erwartet, gekommen. Nachdem die Untersuchung durch Lord Runciman die Unhaltbarkeit der nationalen Verhältnisse in der Tschechoslowakei und die Berechtigung des deutschen Standpunktes dargetan hatte, kam es zum Münchener Abkommen mit den Großmächten.

Jodl wird nun der Vorwurf gemacht, daß er in einer Vortragsnotiz vorgeschlagen hat, eventuell einen Zwischenfall als Anlaß des Einmarsches »organisieren« zu lassen; die Gründe dafür hat er uns hier dargetan. Es ist jedoch nicht zu einem Zwischenfall gekommen.

Ein Völkerrechtsbruch ist diese Vortragsnotiz schon darum nicht, weil es sich um interne Erwägungen handelt, die nach außen nie Bedeutung erlangt haben. Aber selbst wenn es zur Ausführung der Idee gekommen wäre, so sind doch derlei Listen immer üblich gewesen, seit die Griechen ihr trojanisches Pferd gebaut haben. Odysseus, der Urheber dieses Gedankens, ist deshalb vom antiken Dichter als der »Listenreiche« gepriesen, nicht aber als »verbrecherisch« gebrandmarkt worden. Ich sehe in Jodls Verhalten auch nichts Unmoralisches, schließlich gelten im Verkehr der Staaten [12] doch etwas andere Moralgrundsätze als in Erziehungsinstituten für christliche junge Mädchen.

Die Besetzung des Sudetenlandes selbst ist ebenso friedlich verlaufen wie die Österreichs. Von der befreiten Bevölkerung auf das herzlichste begrüßt, marschierten die Truppen in das deutsche Gebiet ein, das das tschechische Militär bis zur verabredeten Linie geräumt hatte.

Diese beiden Einmärsche sind keine nach der Charte strafbaren Taten. Das waren keine Angriffe, dazu gehört Gewaltanwendung, noch weniger Kriege, dazu gehört Waffenkampf, geschweige denn Angriffskriege. Derartige friedliche Invasionen als »Angriffskriege« zu betrachten, ginge noch über die berüchtigten Analogieschlüsse der nationalsozialistischen Strafgesetzgebung hinaus. Die vier Signatarstaaten hätten ja diese Invasionen, die noch in frischer Erinnerung waren, in den Artikel 6 mit aufnehmen können, allein man tat es nicht, man wollte eben offenbar die völlig neuartige Bestrafung von Einzelpersonen auf Kriege beschränken, nicht aber auf derartige unkriegerische Aktionen. Ganz allgemein muß man ja sagen: Jede extensive Auslegung der Strafbestimmungen der Charte ist unzulässig. Es gilt der alte Satz: »Privilegia stricte interpretenda sunt.« Hier liegt nun ein Privilegium odiosum vor. Ja, es hat wohl kaum je ein sinnfälligeres Beispiel eines Privilegium odiosum gegeben als die Strafverfolgung einseitig nur von Angehörigen der Achsenmächte.

Man könnte nun noch auf den Gedanken kommen, Jodl dafür verantwortlich zu machen, daß er einen Aufmarschplan gegen die Tschechoslowakei zu einer Zeit entworfen hat, in der der friedliche Ablauf noch nicht gesichert war.

Allein Jodl hat mit einer friedlichen Lösung gerechnet und sie mit guten Gründen erwartet. Es fehlte ihm also die Absicht, einen Angriffskrieg vorzubereiten.

Zu dieser tatsächlichen Feststellung, welche die Schuldfrage ausschließt, kommt eine juristische Erwägung: Wir haben festgestellt, und darüber dürfte kein Zweifel sein: Keine Strafe für Verbrecher gegen den Frieden ohne Völkerrechtswidrigkeit. Wenn nun die Charte Vorbereitung des Angriffskrieges unter Strafe stellt, so meint sie offenbar: Wer einen stattgefundenen Angriffskrieg vorbereitet, solle bestraft werden. Kriegspläne dagegen, die Pläne bleiben, gehören nicht hierher. Sie sind nicht völkerrechtswidrig. Das Völkerrecht kümmert sich nicht um das, was in den Köpfen und Büros geschieht. Was international bedeutungslos ist, widerspricht nicht dem internationalen Recht. Angriffspläne, die unausgeführt blieben, ebenso die Angriffsabsichten, mögen unmoralisch sein, rechtswidrig sind sie nicht und fallen nicht unter die Charte.

[13] Hier nun handelt es sich um unausgeführte Pläne, denn die auf internationaler Vereinbarung beruhende friedliche Besetzung des Sudetenlandes war kein Angriffskrieg, und die übrigens ebenfalls widerstandslos und ohne Krieg erfolgte Besetzung des restlichen Landes hing mit Jodls Plänen nicht mehr zusammen.

Diese Besetzung des restlichen tschechoslowakischen Gebietes im März 1939 braucht hier nicht näher besprochen werden, denn Jodl war damals in Wien und an dieser Aktion unbeteiligt. Er hatte auch mit ihrer Planung nichts zu tun, denn sie steht mit Jodls seinerzeitigen Generalstabsarbeiten in keinerlei Zusammenhang. Seither hatte sich ja die militärische Lage völlig geändert: Das Sudetenland mit seinen Grenzbefestigungen war jetzt in deutschem Besitz. Der kampflose Einmarsch, der nun stattfand, geschah daher nach ganz anderen Plänen, sofern solche überhaupt vorhanden waren. An diesem Einmarsch selbst nahm Jodl nicht teil.

Punkt 7 des Trial-Briefes betrifft Kriegsplanung gegen Polen: Hierüber ist das Wesentliche schon gesagt. Als Jodl Berlin verließ, existierte kein Aufmarschplan gegen Polen, als er am 23. August 1939 zurückkehrte, bestand die Absicht, am 25. in Polen einzumarschieren, der Plan dafür war natürlich fertig, Jodl an ihm unbeteiligt.

In der Anklage wird noch hervorgehoben, Jodl sei am 3. September in Polen im Führerzug anwesend gewesen, das sei ein Beweis, daß er den Krieg mitgemacht habe. Ist auch dies ein Vorwurf gegen einen Soldaten?

Punkt 8 des Trial-Briefes betrifft Angriffe auf die sieben Staaten von Norwegen bis Griechenland. Der Trial-Brief faßt diese Kriege in einem Punkt zusammen. Mit Recht. Sie bilden eine Einheit, weil sie alle mit militärischer Notwendigkeit und logischer Konsequenz sich aus dem Polenkrieg und dem Eingreifen Englands ergeben haben. Gerade darum ist es für die Beurteilung Jodls so wichtig, daß er mit der Entfesselung des Polenkrieges nichts zu tun hatte.

Die Historiker werden noch lange zu forschen haben, ehe man weiß, wie alles wirklich kam. Für das Urteil über Jodls Verhalten ist allein entscheidend, wie sich für ihn jeweils die Lage zeigte, ob er nach dem, was ihm bekannt war, den jeweiligen Kriegsentschluß Hitlers als berechtigt ansah und wieweit er Einfluß auf die Entwicklung hatte. Nur dies geht uns hier an.

a) Norwegen und Dänemark.

In dieser Hinsicht, meine Herren Richter, kann ich mich auf das berufen, was Dr. Siemers hier vorgestern ausgeführt hat, und ich übergehe daher das Nächstfolgende, möchte aber eine Einfügung machen, und zwar eine Einfügung völkerrechtlicher Natur, die in meinem Manuskript nicht enthalten ist; im Hinblick nämlich auf die Ausführungen, die Dr. Siemers vorgestern hierzu gemacht hat, möchte ich, um jedes Mißverständnis auszuschließen, folgendes sagen:

[14] Erstens: Es besteht nicht der geringste Zweifel, daß die Handelsschiffe eines kriegführenden Staates neutrales Küstengewässer durchfahren dürfen. Wenn sein Gegner also zwecks Verhinderung eines derartigen Verkehrs das Küstengewässer vermint, ist dies ein klarer Neutralitätsbruch.

Auch Kriegsschiffe haben das Durchfahrtsrecht, sofern sie sich an die vorgeschriebenen Fristen halten und im Küstengewässer keine Kampfhandlungen vornehmen. Wenn dies sogar für Kriegsschiffe gilt, gilt es um so mehr für Schiffe, die Kriegsgefangene transportieren.

Zweitens: Die Tatsache, daß ein Krieg ein Angriffskrieg ist, beeinflußt in keiner Weise die Geltung und Anwendung des normalen Kriegs- und Neutralitätsrechts. Die gegenteilige Auffassung würde zu absurden Ergebnissen führen und würde ein Totengräber des gesamten Kriegsrechts sein. Es gäbe keine neutralen Staaten, und die Beziehungen der Kriegführenden wären beherrscht von den Grundsätzen nackter Gewaltanwendung. Jeder Schuß wäre Mord, jede Gefangennahme strafbare Freiheitsberaubung, jede Bombardierung kriminelle Sachbeschädigung. Dieser Krieg ist jedenfalls von keiner Seite nach solchen Grundsätzen geführt worden. Auch die Anklage steht nicht auf diesem Standpunkt...


DER VORSITZENDE, LORD JUSTICE SIR GEOFFREY LAWRENCE: Einen Augenblick, Herr Dr. Exner.


[Der Gerichtshof berät sich.]


Fahren Sie bitte fort.

PROF. DR. EXNER: Auch die Anklage steht nicht auf diesem Standpunkt, sonst hätte sie nicht den Angeklagten ganz bestimmte Taten als Verbrechen gegen das geltende Kriegs- und Neutralitätsrecht vorwerfen können.

Die ganze Anklage nach Punkt 3 wäre unverständlich. Im übrigen hat Professor Jahrreiss diese Frage auf Seite 32 bis 35 seines Plädoyers grundsätzlich behandelt.

Ich setze nun fort auf Seite 30, letzter Absatz, meines Manuskripts:

Jodl hörte im November 1939 erstmals, und zwar von Hitler selbst, von den Befürchtungen der Marine, daß England die Absicht habe, nach Norwegen zu gehen. Er erhielt dann Nachrichten, die keinen Zweifel ließen, daß diese Befürchtungen im Kern richtig waren. Ferner hatte er fortlaufend Berichte, wonach die norwegischen Küstengewässer immer mehr und mehr unter englischen Herrschaftsbereich kamen, somit Norwegen tatsächlich nicht mehr neutral war.

Jodl war fest überzeugt und ist es heute noch, daß die deutschen Truppen noch in letzter Minute die englische Landung [15] verhütet haben. Wie auch immer die Entscheidung Hitlers rechtlich beurteilt werden mag, Jodl hat sie nicht beeinflußt, hat sie für rechtmäßig gehalten und mußte sie für rechtmäßig halten.

Selbst wenn man also Hitlers Entschluß als Neutralitätsbruch ansehen wollte, so hat Jodl ganz sicher durch seine Generalstabsarbeit nicht schuldhafte Beihilfe geleistet.

b) Belgien, Niederlande, Luxemburg.

Jodl wußte wie jeder militärische Fachmann: Wenn Deutschland den Krieg im Westen durchfechten mußte, blieb kein anderer Weg als derjenige der militärischen Offensive. Angesichts der unzulänglichen Hilfsmittel der damaligen deutschen Rüstung und angesichts der Stärke der Maginot-Linie war aber militärisch keine andere Möglichkeit zur Offensive gegeben als durch Belgien. Hitler stand also aus rein militärischen Gründen vor der Notwendigkeit, durch Belgien zu operieren. Jodl wußte aber auch wie jeder Deutsche, der den August 1914 erlebt hatte, genau, welcher schwere politische Entschluß damit ins Auge gefaßt wurde, sofern Belgien neutral war, das heißt, gewillt und imstande war, dem Krieg fernzubleiben.

Die Meldungen, die Jodl zu Gesicht bekam und gegen deren Richtigkeit keine begründbaren Bedenken aufkommen konnten, zeigten nun, daß die Belgische Regierung neutralitätswidrig bereits mit den Generalstäben der Feinde Deutschlands zusammenarbeitete. Dies kann jedoch hier bei der Verteidigung Jodls dahingestellt bleiben. Es genügt zu wissen, und das ist unbestreitbar, daß Belgien mit einem Teil seines Staatsgebietes, nämlich mit dem Luftgebiet, von den Westgegnern Deutschlands für ihre militärischen Zwecke fortgesetzt in Anspruch genommen wurde.

Und vielleicht noch stärker gilt dies von den Niederlanden. Seit den ersten Tagen des Krieges durchflogen die englischen Maschinen nach Gefallen niederländischen und belgischen Luftraum. Nur in einem Teil der zahllosen Fälle protestierte die Reichsregierung, und das waren 127 Fälle.


VORSITZENDER: Herr Dr. Exner! Möchten Sie dem Gerichtshof den Beweis mitteilen, den Sie für diese Behauptung haben?


PROF. DR. EXNER: Welche meinen Sie, Herr Präsident?


VORSITZENDER: Daß die Reichsregierung in 127 Fällen protestierte.


PROF. DR. EXNER: Da berufe ich mich auf die Zeugenaussage von Ribbentrop, er hat gesagt 127 Protestfälle.


VORSITZENDER: Fahren Sie fort.


PROF. DR. EXNER: Die Anklage stellt die Rechtsfrage nicht richtig. Bevor der Luftkrieg zu seiner heutigen Bedeutung aufstieg, [16] war es so: Ein Staat, der neutral bleiben wollte, konnte sein Gebiet der ständigen und beliebigen militärischen Benutzung durch einen der Kriegführenden vorenthalten, oder es gab die klare Beendigung des Neutralitätsstandes. Seit der Luftkriegsmöglichkeit kann ein Staat den Luftteil seines Gebietes einem der Kriegführenden preisgeben oder preisgeben müssen und dabei äußerlich diplomatisch neutral bleiben. Den Schutz der Neutralität kann aber nach dem Wesen des Gedankens nur derjenige Staat in Anspruch nehmen, dessen ganzes Staatsgebiet objektiv außerhalb des Kriegstheaters bleibt.

Die Niederlande und Belgien waren längst vor dem 10. Mai 1940 tatsächlich nicht mehr neutral, denn ihr Luftgebiet stand mit oder gegen ihren Willen dem Gegner Deutschlands praktisch zur freien Verfügung. Welchen Beitrag sie damit zur militärischen Stärke Englands, das heißt eines der Kriegführenden leisteten, weiß jedermann. Man braucht nur an Deutschlands »Achillesferse« denken, an das Ruhrgebiet.

Unsere Gegner standen offenbar auf dem Standpunkt: Soweit die Barriere Hollands und Belgiens unser Industriegebiet gegen Flieger schützt, ist ihre Neutralität unbeachtlich, soweit sie aber Frankreich und England schützt, ist Bruch dieser Neutralität ein Verbrechen.

Jodl erkannte selbstverständlich die Lage. Seine Meinung über die Rechtsfrage war freilich für Hitler völlig gleichgültig. Seine Tätigkeit blieb auch hier die normale Tätigkeit eines Generalstabsoffiziers.


VORSITZENDER: Einen Augenblick bitte, Herr Dr. Exner! Behaupten Sie, daß es im Einklang mit dem Völkerrecht wäre, daß, wenn das Luftgebiet über einem bestimmten neutralen Land von einer der kriegführenden Mächte benützt würde, dann die andere kriegführende Macht in diesen neutralen Staat einfallen kann, ohne diesen vorher davon zu unterrichten?


PROF. DR. EXNER: In dieser Hinsicht möchte ich sagen, daß dieses fortdauernde Benützen des Luftgebietes eines neutralen Staates, und zwar zum Zweck von Angriffshandlungen – nicht wahr, diese Flieger sind durchgeflogen, um Deutschland anzugreifen – ein Neutralitätsbruch war. Und dieser Neutralitätsbruch berechtigte dazu, Belgien seitens Deutschlands nicht mehr als neutral zu betrachten. Und so kann daher also vom Standpunkt des Kellogg-Paktes, vom Standpunkt einer etwaigen vorherigen Zusicherung der Neutralität, Deutschland nicht ein Vorwurf gemacht werden.

Ob man ihm einen Vorwurf machen kann daraus, daß es den Krieg nicht vorher angekündigt hat, das möchte ich dahingestellt [17] sein lassen. Schließlich war es auch so, daß vermutlich die Durchfliegungen von seiten der englischen Flieger nicht vorher angekündigt worden sein dürften.


VORSITZENDER: Sie sind nicht vorbereitet, um auf meine Frage zu antworten?


PROF. DR. EXNER: Ja, Ihre Frage war dahingehend, ob eine vorherige Ankündigung notwendig gewesen wäre, nicht wahr, Herr Vorsitzender?


VORSITZENDER: Ob man ein neutrales Land angreifen könne ohne vorherige Warnung, das heißt: Ob es mit dem Völkerrecht im Einklang steht, ein neutrales Land ohne vorhergehende Warnung unter solchen Umständen anzugreifen, das ist die Frage.


PROF. DR. EXNER: Die Behauptung geht dahin, daß das kein neutraler Staat mehr war, nicht wahr, als er angegriffen wurde.


VORSITZENDER: Dann ist Ihre Antwort bejahend. Sie sagen, daß man ohne Warnung angreifen könne. Ist das richtig?


PROF. DR. EXNER: Es besteht eine völkerrechtliche Vereinbarung, daß überhaupt ein Krieg vorher anzusagen ist, und so weitgehend wäre auch die Verpflichtung Deutschlands gewesen, den Krieg vorher anzusagen. Aber darüber hinaus, weil gerade das kein neutraler Staat war, glaube ich, besteht keine weitere Verpflichtung. Ich wüßte nicht, warum gerade eine Verpflichtung gegenüber diesem Staat bestünde, weil er einmal neutral war.


VORSITZENDER: Sie sagen also, es bestehe eine allgemeine Verpflichtung, den Krieg zu erklären, bevor man wirklich einfällt. Sie sägen doch nicht, daß die Tatsache, daß Holland neutral war, Sie von dieser Pflicht entbinde?


PROF. DR. EXNER: Das will ich nicht annehmen; eine allgemeine Verpflichtung, ja. Ich glaube nicht, daß eine besondere Verpflichtung wegen der ehemaligen Neutralität Hollands und Belgiens vorlag. Ich wüßte nicht, wie sie zu begründen wäre.


VORSITZENDER: Fahren Sie fort.


PROF. DR. EXNER: Ich komme zu c) Griechenland.

Hitler wollte den Balkan aus dem Kriege heraushalten, aber Italien hatte Anfang Oktober 1940 gegen seinen Willen Griechenland angegriffen. Als die Italiener in Bedrängnis kamen, wurde deutsche Hilfe erbeten. Jodl riet ab, weil dann mit einem Eingreifen Englands auf dem Balkan gerechnet werden mußte und damit jede Hoffnung auf Lokalisierung des italienisch-griechischen Konflikts verlorenginge. Hitler befahl dann, alles für die doch vielleicht auftretende Notwendigkeit vorzubereiten, daß deutsche Hilfe für Italien und gegen Griechenland unvermeidlich würde. Das sind die Befehle vom 12. November und 13. Dezember 1940.

[18] Wenn es nicht gelang, den griechisch-italienischen Konflikt zu lokalisieren, war es klar, daß Griechenland in den deutsch-englischen Großkampf hineingerissen würde. Die Frage war nun, ob Griechenland innerhalb des britischen oder innerhalb des deutschen Kriegskontrollbereichs liegen würde. Und so wie im Falle Norwegen, Belgien und Holland ein Teil des Staatsgebietes dieser Länder schon vor Beginn des offenen Krieges bereits England zur Verfügung gestanden hatte, sie also – mindestens objektiv – nicht mehr neutral waren, vielleicht nicht mehr neutral sein konnten, so war es auch mit Griechenland. Die griechische Anklage stellt fest, daß englische Truppen am 3. März 1941 auf dem griechischen Festland gelandet sind, nachdem Kreta schon einige Zeit vorher in den englischen Kontrollbereich gekommen war. Hitler hat erst am 24. März 1941 den Luftkampf bei Kreta und am 6. April die Landangriffe eröffnet.

Jodl hatte auch hier auf die Entschlüsse Hitlers keinen Einfluß. Es konnte für ihn nicht zweifelhaft sein, daß Hitlers Entschluß unvermeidlich war, so wie sich der Krieg der Weltmächte nun einmal entwickelt hatte. Es war keine Wahl; das griechische Staatsgebiet wäre immer weiter in die englische Machtsphäre gezogen worden und zum Absprunghafen für Bombengeschwader gegen das rumänische Erdölgebiet geworden, wenn Deutschland dies nicht aufgehalten hatte. Überdies schreckten die Erfahrungen des ersten Weltkrieges. Von Saloniki war damals der Todesstoß geführt worden.

d) Jugoslawien:

Hitler wollte auch Jugoslawien aus dem Krieg heraushalten. Die deutschen Truppen auf dem Balkan hatten strengste Anweisung, dessen Neutralität rigoros zu respektieren. Hitler lehnte sogar den Antrag des Chefs des Generalstabs des Heeres ab, von der Jugoslawischen Regierung die Erlaubnis zur Durchführung plombierter deutscher Nachschubzüge durch ihr Gebiet zu erbitten.

Den Simowitsch-Putsch in Belgrad in der Nacht nach dem Beitritt Jugoslawiens zum Dreimächte-Pakt hat Hitler als heimtückischen Verrat empfunden. Er war der Meinung, daß der Belgrader Regierungswechsel, der das außenpolitische Steuer um 180 Grad herumwarf, nur möglich war, weil England oder die Sowjetunion Rückendeckung gegeben hatten. Nunmehr war für ihn gewiß, daß der Balkan völlig in die Kriegswirren einbezogen wurde. Es war für ihn gewiß, daß die deutschen Truppen in Bulgarien aufs äußerste gefährdet waren und desgleichen die deutsche Nachschublinie, die ganz nahe der jugoslawischen Grenze verlief.

In dieser Lage hat Hitler am Morgen nach dem Belgrader Putsch den Kriegsbeschluß gefaßt, zu dem jede Vorbereitung fehlte. Die [19] Vorschläge Jodls und später auch Ribbentrops, durch ein Ultimatum die Dinge eindeutig zu klären, wurden gar nicht erwogen. Er wollte sicherstellen, daß Jugoslawien und Griechenland nicht in die englische, sondern in die deutsche Kontrollzone fielen.

Die Nachrichten der nächsten Tage über das Freundschaftstelegramm Moskaus an die Belgrader Putsch-Regierung und über den schon im Gange befindlichen jugoslawischen Aufmarsch – bestätigt durch den Zeugen Greiffenberg, Dokument III, AJ-12 –, endlich der russisch-jugoslawische Freundschaftspakt sind für Jodl unwiderlegliche Zeichen dafür gewesen, daß Hitler die Zusammenhänge richtig gesehen hatte.

Der Entschluß zum Kampf wurde von Hitler, und nur von Hitler gefaßt.

Punkt 9 betrifft Krieg gegen die Sowjetunion.

Was jede der beiden Regierungen, die Berliner und die Moskauer, mit dem Vertrag vom 23. August 1939 eigentlich erreichen wollten, das steht heute nicht fest. Sicher ist aber: Diese bisherigen feindlichen Partner schlossen nicht eine Liebesehe. Und die Sowjetunion war für den deutschen Partner eine völlig rätselhafte Größe und ist es geblieben. Wer diese Tatsache nicht beachtet, kann den Entschluß Hitlers zum militärischen Angriff überhaupt nicht beurteilen, vor allem nicht die Schuldfrage.

Wenn je, so hat Hitler im russischen Fall seine Entscheidung getroffen, ohne von irgend jemandem auch nur den geringsten Rat anzuhören, geschweige anzunehmen. Er schwankte durch viele Monate in seiner Meinung über die Absichten der Sowjetunion.

Das Verhältnis der beiderseitigen Truppen an der Demarkationslinie war von Anfang an reich an Zwischenfällen. Die Sowjets besetzten die Gebiete der Ostseestaaten und Polens sofort mit unverhältnismäßig starken Kräften.

Im Mai und Juni 1940, als nur noch fünf bis sechs deutsche Sicherungsdivisionen im Osten standen, machte der von Canaris gemeldete russische Aufmarsch gegen Bessarabien mit mindestens 30 Divisionen und der Aufmarsch im Baltikum schwere Sorge. Am 30. Juni 1940 war die Auffassung wieder beruhigt, so daß Jodl sogar, wie das Dokument 1776-PS gezeigt hat, auf Rußland als Helfer beim Kampf gegen das Britische Weltreich zählen zu können glaubte. Im Juli aber: erneute Sorgen. Der russische Einfluß drang im Balkan und im Baltikum energisch vor.

Hitler begann, russische Angriffsabsichten zu fürchten, wie er Jodl am 29. Juli sagte.

Die Entsendung einiger Divisionen aus dem Westen, wo sie nicht mehr gebraucht wurden, hatte damit freilich nichts zu tun. Sie geschah auf Antrag des Oberbefehlshabers im Osten, der mit [20] seinen schwachen Kräften die Sicherungsaufgabe nicht mehr erfüllen konnte. Hitlers Sorge galt vor allem den rumänischen Ölquellen. Am liebsten hätte er diese Bedrohung noch im Jahre 1940 durch eine überraschende Aktion ausschalten wollen. Jodl erwiderte, daß wegen der schlechten Aufmarschmöglichkeit im deutschen Ostbereich vor dem Winter daran nicht zu denken sei. Hitler verlangte Nachprüfung dieses Urteils, und Jodl veranlaßte in einer von der Russischen Anklagebehörde offensichtlich verkannten Besprechung mit seinem Stab in Reichenhall die nötigen Untersuchungen. Am 2. August befahl Hitler die Verbesserung der Aufmarschmöglichkeiten im Osten, eine Maßnahme, die für eine Verteidigung nicht weniger unerläßlich war als für eine Offensive.

Gegen Ende August, das ist die Weisung vom 27. August, wurden zehn Infanteriedivisionen und zwei Panzerdivisionen in das Generalgouvernement gebracht für den Fall, daß eine Blitzaktion zum Schutz der rumänischen Ölfelder notwendig würde. Die deutschen Truppen, nunmehr im ganzen 25 Divisionen, sollten freilich stärker erscheinen als sie waren, damit eine Aktion sich überhaupt erübrige.

Dies ist der Sinn von Jodls Anweisung für die Gegenspionage, 1229-PS. Hätten damals offensive Absichten bestanden, dann hätte man die eignen Kräfte lieber kleiner erscheinen lassen, als Sie waren.

Um die gleiche Zeit scheint Hitler, ohne daß Jodl etwas davon erfuhr, dem Generalstab des Heeres den Auftrag gegeben zu haben, einen Operationsplan für alle Fälle gegen Rußland vorzubereiten. Jedenfalls hat seit Herbst 1940 der Generalstab des Heeres Operationspläne dieser Art bearbeitet, General Paulus.

Ungünstige Nachrichten häuften sich dann nach dem Wiener Schiedsspruch vom 30. August 1940. Bei Hitler verfestigte sich, wenn Jodl seinen Äußerungen glauben durfte, die Überzeugung, die Sowjetunion sei fest entschlossen, Deutschland, wenn es gegen England engagiert ist, durch Überfall zu vernichten. Die Führung der Roten Armee hatte nach einer Meldung vom 18. September den deutsch-russischen Krieg für unvermeidlich erklärt, Dokument C-170. Dazu kamen Meldungen über fieberhafte russische Vorbereitungen längs der Demarkationslinie. Hitler rechnete mit dem russischen Angriff für Sommer 1941 oder Winter 1941/1942. So entschloß er sich für den Fall, daß die Besprechungen mit Molotow die Lage nicht günstig klären sollten, für das Prävenire. Denn dann war die einzige Chance für Deutschland die offensive Verteidigung. Für diesen Eventualfall wurden am 12. November 1940 vorbereitende Maßnahmen von Hitler angeordnet, 444-PS.

Der Fehlschlag der Besprechungen mit Molotow entschied die Frage. Am 18. Dezember 1940 befahl Hitler die militärischen [21] Vorbereitungen. Sollten die kommenden Monate die Lage aufhellen, um so besser. Aber bereit mußte man sein, um spätestens im Frühsommer 1941 den Schlag zu führen. Es war voraussichtlich der letztmögliche Zeitpunkt, aber auch der früheste, denn für den Aufmarsch werden mehr als vier Monate gebraucht.

Jodl hat als Fachmann Hitler nachdrücklichst auf das ungeheure militärische Risiko hingewiesen, zu dem man sich nur entschließen dürfe, wenn wirklich jede politische Möglichkeit der Abwendung des russischen Angriffs ausgeschöpft sei. Jodl gewann damals die Überzeugung, daß Hitler jede Möglichkeit ausgenutzt habe.

Die Lage verschlechterte sich. Nach den Meldungen, die der Generalstab des Heeres erhielt, waren Anfang Februar 1941 150 russische Divisionen, das heißt zwei Drittel des uns bekannten Gesamtbestandes der russischen Kräfte gegenüber Deutschland aufmarschiert. Der deutsche Aufmarsch aber hatte gerade mit der ersten Staffel begonnen.

Das Freundschaftstelegramm der Sowjetregierung an die Belgrader Putschisten am 27. März 1941 brachte Hitler um die letzte Hoffnung. Er entschloß sich zum Angriff, der allerdings wegen des Balkankrieges um mehr als einen Monat hinausgeschoben werden mußte. Der Aufmarsch wurde dabei so vorgenommen, daß die schnellen deutschen Verbände, ohne die ein Angriff überhaupt nicht zu führen war, erst in den letzten zwei Wochen, nämlich seit dem 10. Juni an die Front gebracht wurden.

Der echte Präventivkrieg gehört zu den unerläßlichen Mitteln der Selbsterhaltung. Er war aber auch nach dem Kellogg-Briand-Pakt unbestreitbar erlaubt. So ist das Verteidigungsrecht von allen Unterzeichnerstaaten begriffen worden.

Die deutschen militärischen Führer sind, wenn die Lage irrig aufgefaßt worden sein sollte, wegen ihres Irrtums nicht zu tadeln. Sie hatten glaubwürdige Meldungen über russische Vorbereitungen, die nur dann Sinn hatten, wenn sie Angriffsvorbereitungen waren.

Die Meldungen wurden später bestätigt; denn als der deutsche Stoß die russischen Heere traf, war er nach dem Eindruck der deutschen Frontführung ein Stoß in einen gigantischen Aufmarsch gegen Deutschland. General Winter hat das hier in Ergänzung der Angaben Jodls, vor allem für die ungeheuere Anzahl von neuen Flugplätzen nahe der Demarkationslinie, eingehend dargetan mit besonderem Hinweis auf die Ausstattung der russischen Stäbe mit Karten von deutschen Gebietsteilen. Feldmarschall von Rundstedt hat es als Zeuge vor der Kommission ebenfalls bestätigt. Das wird im weiteren Verlauf des Prozesses vor das Gericht kommen.

Jodl glaubte fest, daß Hitler nie und nimmer den Krieg gegen Rußland geführt hätte, wenn er nicht felsenfest davon überzeugt [22] gewesen wäre, daß ihm überhaupt kein anderer Weg blieb. Jodl wußte, daß Hitler das Risiko eines Zweifrontenkrieges genau kannte und nur in unausweichlicher Not den – wie er meinte – gar nicht mehr fraglichen Sieg über England aufs Spiel setzte.

Jodl hat nur seine Aufgaben als Generalstabsoffizier erfüllt. Er war überzeugt und ist es auch heute noch, daß wir einen echten Präventivkrieg geführt haben.

Nun komme ich zu Punkt 10 des Trial-Briefes, betreffend Krieg gegen USA.

Daß Jodl nicht den Willen hatte, die Zahl unserer Feinde um eine Weltmacht zu vermehren, ist selbstverständlich, überdies durch Dokumente erwiesen.

Wie steht es nun mit der Verantwortlichkeit für diese Feldzüge? Eine Kriegserklärung ist eine außenpolitische Entscheidung, die wichtigste der gesamten Außenpolitik.

Wer diese Entscheidung zu verantworten hat – politisch, strafrechtlich, moralisch –, hängt von dem staatsrechtlichen Aufbau des konkreten Staates ab, von der Art, wie verfassungsgemäß die außenpolitische Willensbildung in diesem Staate sich gestaltet. Professor Dr. Jahrreiss hat darüber gesprochen; im Führerstaat ist es ausschließlich der Führer, der diese Entscheidung zu treffen hat. Wer ihn darin berät, kann nicht verantwortlich sein, denn wenn das, was der Führer befiehlt, recht ist, kann der, der diesen Befehl beeinflußt, nicht unrecht tun. Die Charte vertritt offenbar den Standpunkt, auch derjenige, der an der Führerentscheidung irgendwie mitwirkt oder sie beeinflußt, ist mitverantwortlich. Unterstellen wir diese Rechtsauffassung als maßgebend, so stüzt sich die Frage der Verantwortlichkeit auf ein Problem der Zuständigkeit.

In jedem Gemeinwesen muß der Aufgabenkreis seiner Organe abgegrenzt sein, muß eine Zuständigkeitsordnung herrschen, die regelt, was der einzelne Funktionär zu tun und zu lassen berufen ist. So ist in allen Staaten selbstverständlich das Verhältnis zwischen Militär und Zivilverwaltung geordnet, und auch innerhalb des Militärs und innerhalb der Verwaltung sind die Aufgabenbereiche und Beziehungen zwischen ihren Tausenden von Dienststellen geregelt. Wäre es anders, so gäbe es ein Chaos. Besonders im Kriege wird das Problem der Zuständigkeit im Verhältnis zwischen politischer und militärischer Führung wichtig. Denn das Militär ist das bedeutsamste Instrument der Politik, und nahe liegt es, daß der Gehilfe sich zum Herren zu machen sucht, das Militär sich in die Politik einmischt. Deutsche Tradition war es, dies zu vermeiden. Mit großer Konsequenz suchte schon das Bismarcksche Reich den Offizier von aller Politik fernzuhalten. Er hatte kein Wahlrecht, durfte nicht in politische Versammlungen gehen, jede [23] politische Äußerung eines Offiziers wurde mit scheelen Augen angesehen. Sie konnte ja irgendwie als Parteinahme betrachtet werden; Parteinahme aber war auf das schärfste verpönt. Das Militär sollte politisch blind, absolut neutral sein und nur einen Standpunkt kennen, den der Legitimität, das heißt Unterordnung unter den legitimen Herrscher. So war es denn auch in den Jahren der Kriegsgefahr 1866 und 1870 nicht Moltke, sondern Bismarck, der die politische Entscheidung dem König anriet. Dies hat sich während der letzten Jahre des ersten Weltkrieges geändert. General Ludendorff wurde durch die Kraft seiner Persönlichkeit und die Schwäche seiner politischen Gegenspieler der mächtigste Mann im Reich. Man spricht gerne vom preußischen Militarismus; für jene Zeit, in der der Soldat die politische Macht an sich gerissen hatte, war das berechtigt. Der Weimarer Staat hat damit gründlich aufgeräumt. Mit aller Schärfe wurde der unpolitische Charakter der Reichswehr betont, das Militär wieder auf sein eigenstes Gebiet beschränkt. Das ging so weit, daß man zum Kriegsminister, der die Reichswehr politisch im Reichstag zu vertreten hatte, einen Zivilisten machte. Die längste Zeit war es ein liberaldemokratischer Minister, der peinlich besorgt war, jeden politischen Einfluß der Generale zu unterbinden.

Adolf Hitler hat bei der Begründung der Wehrmacht diese scharfe Scheidung von Politik und Militär aufrechterhalten, ja in gewissem Sinne noch betont. Er, der das ganze Volk zu politisieren trachtete, wollte eine unpolitische Wehrmacht. Der Soldat war politisch entrechtet, er durfte nicht wählen, keiner Partei angehören, nicht einmal der NSDAP, solange das alte Wehrgesetz galt. Folgerichtig hielt er auch seine Generale und höchsten militärischen Berater von jeder Einmischung in politische Belange fern. Er blieb auch gegenüber der eigenen Partei konsequent. Als nach Abgang von Fritsch ein neuer Oberbefehlshaber des Heeres zu ernennen war, wäre es nahe genug gelegen, den nationalsozialistisch eingestellten von Reichenau zu wählen, allein er ernannte von Brauchitsch. Er wollte keine politischen Generale, auch keine nationalsozialistischen. Sein Standpunkt war: Er sei der Führer, er der Politiker, die Generale hätten sich um ihre eigenen Geschäfte zu kümmern, von Politik verstünden sie nichts. Nicht einmal einen Ratschlag duldete er, wenn es sich um Politik drehte. Zwar wagten die Generale wiederholt, Bedenken gegen seine politischen Pläne zu äußern, aber mußten sich dabei streng auf rein militärische Gesichtspunkte beschränken.

Diese scharfe Scheidung von politischer und militärischer Zuständigkeit ist übrigens nicht charakteristisch deutsch. Sie gilt, wenn ich recht sehe, ebenso in den angelsächsischen Demokratien, und zwar besonders streng.

[24] Jedenfalls war es unter Hitler so: Die politische Entscheidung hatte er, nur auf ihre militärische Ausführung hatten die Generale Einfluß. Ihre Aufgabe war es, für alle politischen Eventualitäten die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Aber Hitler war es, der auf den Knopf drückte, um die Maschine in Gang zu setzen. Das »Ob« und »Wann« entschied der Führer. Sie hatten nicht die Zweckmäßigkeit, die politische Möglichkeit oder rechtliche Zulässigkeit zu erwägen.

Psychologisch verschärft sich dieser Standpunkt des Führers durch das kaum faßliche Mißtrauen, das er gegenüber seinen Generalen hegte. Eine merkwürdige Erscheinung – wer sie übersieht, kann nie zu einem Verständnis der Atmosphäre gelangen, die das Führerhauptquartier beherrschte. Es war ein Mißtrauen gegenüber der, wie er meinte, reaktionären Einstellung des Offizierkorps. Daß die Reichswehr 1923 auf Nationalsozialisten geschossen hat, hat er nie vergessen. Es war ferner das natürliche Mißtrauen des militärischen Dilettanten, der doch Stratege sein wollte, gegenüber dem militärischen Fachmann und wohl auch das Mißtrauen des politischen Fachmannes gegenüber den politischen Dilettanten in Offiziersuniform.

Dieses Mißtrauen in den politischen Blick seiner militärischen Umgebung war übrigens keineswegs unbegründet. Hatten ihn doch die Generale bremsen wollen in seinen Aufrüstungsplänen, zurückhalten wollen von der Besetzung des Rheinlandes, Bedenken geäußert gegen den Einmarsch in Österreich, gegen die Besetzung des Sudetenlandes. Und doch waren alle diese Aktionen ohne Blutvergießen glatt gelungen. Die Generale kamen sich bei ihrer Durchführung wie Hasardeure vor, Hitler war seiner Sache sicher. Kann man sich wundem, daß ihr politisches Urteil bei ihm nicht allzuviel Gewicht hatte, und kann man sich wundern, daß auf der anderen Seite die scheinbare Unfehlbarkeit seines politischen Urteils mehr und mehr Anerkennung fand?

So also duldete Hitler keine Einmischung in seine politischen Pläne, und das Ergebnis war, wie es uns hier drastisch geschildert wurde: Wenn ein General Bedenken gegen Hitlers politische Entscheidung erhoben hätte, so hätte man ihn zwar nicht erschossen, aber man würde an seinem Verstand gezweifelt haben.

Sich beraten zu lassen, war überhaupt nicht Sache dieses Machtmenschen. So wurden bei Beginn militärischer Unternehmungen die Chancen des Planes fast nie in gemeinsamen Besprechungen erwogen. Keine der wichtigsten Entscheidungen seit 1938 erfolgte auf Grund von Beratungen, vielmehr kam die Entscheidung der militärischen Führung oft völlig überraschend. So zum Beispiel beim Einmarsch in Österreich, von dem Jodl zwei Tage zuvor erfuhr, oder gar bei dem Angriff auf Jugoslawien, der von Hitler [25] abrupt beschlossen und ohne jede Vorbereitung innerhalb weniger Tage in die Tat umgesetzt wurde. Die angeblichen Besprechungen beim Führer, deren Verlauf der Zeuge Milch anschaulich schilderte, waren nichts anderes als eine »Befehlsausgabe«.

Selbstverständlich waren auch innerhalb der Wehrmacht die Zuständigkeiten der einzelnen Dienststellen scharf abgegrenzt, und interessant ist die Methode, die Hitler anwandte, um diese Grenzen möglichst unübersteigbar zu machen. Das geschah durch die Methode der Geheimhaltung. Von ihr war ja genug die Rede, insbesondere von dem sogenannten »Scheuklappenbefehl«, der jedem verbot, in die Arbeit des anderen Einblick zu gewinnen. So kam es, daß jede Dienststelle isoliert und streng auf ihren Aufgabenkreis beschränkt wurde. Offenbar wollte Hitler mit diesem System erreichen, daß er der einzige war, der allseits informiert wurde und daß er als der allein Informierte die Zügel in der Hand behielt.

Ja, noch mehr: Er verstärkte dieses System noch, indem er nur zu oft die einzelnen Persönlichkeiten, Gruppen und Dienststellen gegeneinander ausspielte, um jeglicher Conspiracy zwischen ihnen vorzubeugen.

Herr Präsident, ich wäre beim Absatz angelangt.


VORSITZENDER: Wir vertagen uns jetzt.


[Pause von 10 Minuten.]


PROF. DR. EXNER: Diese Methoden der Isolierungen, von denen ich gerade sprach, sind deshalb interessant, weil sie oft mit einem Grundgedanken des Nationalsozialismus, dem Führerprinzip, in Konflikt kommen mußten, aber auch ihm gegenüber durchgesetzt wurden. So zum Beispiel, wenn die Zuständigkeit zweier Stellen auf dasselbe Territorium Bezug hatte, etwa die Zuständigkeit des Militärbefehlshabers und Himmlers im selben besetzten Gebiet. Was der eine befahl, ging den anderen nichts an, obgleich die Ausführung des Befehls in die Ordnung eingreifen mußte, für die der andere verantwortlich war. So war der Militärbefehlshaber keineswegs Herr in seinem Gebiet. Ähnlich übrigens in der Zivilverwaltung: Das Nebeneinander von Landrat als Staatsfunktionär und Kreisleiter als Parteifunktionär; Statthalter einerseits und Gauleiter andererseits – überall ein Dualismus der Machtverhältnisse und dadurch eine Zersplitterung der Macht. Darin liegt die Methode: Sie verhütet ein Übermächtigwerden unterer Organe und sichert die Macht der obersten Führung. Zugespitzt kann man sagen, das Führerprinzip war nur im Führer verwirklicht.

Wie steht es nun mit der Zuständigkeit Jodls innerhalb dieses ganzen Getriebes? Er war Chef des Wehrmachtführungsstabes, [26] dieser war ein Amt des OKW, das Keitel unterstand. Jodls Hauptaufgabe war, wie der Name des Amtes sagt, den Obersten Befehlshaber bei der operativen Führung der Wehrmacht zu unterstützen. Er war Berater des Führers in allen operativen Fragen, in gewissem Sinn Generalstabschef der Wehrmacht. Die Aufgabe dieses Generalstabschefs ist in allen Ländern, die diese Einrichtung kennen, nicht eine befehlende, sondern eine beratende, helfende und ausführende. Schon daraus geht hervor, daß Jodls Stellung im Lauf des Prozesses mehrfach mißverstanden worden ist.

Erstens: Er war nicht Stabschef Keitels, sondern er war Chef des wichtigsten Amtes des OKW, hatte aber mit den übrigen Ämtern und Abteilungen des OKW nichts zu tun.

Nun werde ich etwas einführen, das abweicht von meinem Manuskript. Er war auch nicht Stellvertreter Keitels. Keitel wurde in Berlin durch den ältesten Amtschef vertreten, das war Admiral Canaris. Im Führerhauptquartier befand sich nur der Wehrmachtführungsstab, für den Jodl dem Führer direkt Vortrag hielt. Mit den anderen Ämtern des OKW hatte er nichts zu tun.

Zweitens: Falsch ist ferner, wenn Jodl in der Anklage als Befehlshaber dieses oder jenes Feldzuges bezeichnet wird. Er hatte keine Befehlsgewalt, geschweige denn, daß er ein Heerführer war.

Drittens: Falsch ist auch, wenn wiederholt gesagt wurde, Warlimont sei bei der Sitzung vom 23. Mai 1939 als Jodls »Vertreter« oder als sein Gehilfe anwesend gewesen. Warlimont war damals im OKW, Jodl war im Oktober 1938 aus dem OKW ausgeschieden und hatte im Mai 1939 mit Warlimont nichts mehr zu tun.

Was folgt nun aus allem für die Verantwortlichkeit Jodls für die wirklichen oder angeblichen Angriffskriege?

Im allgemeinen kann man nur verantwortlich gemacht werden für das, was man schuldhaft tut, obgleich man es unterlassen sollte, und für das, was man schuldhaft unterläßt, obgleich man es tun sollte. Was ein Offizier oder ein Beamter zu tun und zu unterlassen hat, ist eine Frage seiner Zuständigkeit. Hier also bekommt das Problem der Zuständigkeit seine Bedeutung für uns. Sehen wir näher zu: Man wirft Jodl vor, daß er gewisse Kriege geplant und vorbereitet hat, die völkerrechtswidrig waren. Dieser Vorwurf ist nur dann berechtigt, wenn es zu seiner Zuständigkeit gehörte, vor Ausführung seiner Aufgabe die Rechtmäßigkeit des eventuell zu unternehmenden Krieges zu prüfen und seine Mitarbeit von dieser Entscheidung abhängig zu machen.

Das ist auf das schärfste zu bestreiten. Das »Ob« des Krieges ist eine politische Frage und geht den Politiker an. Nur das »Wie« des Krieges ist die Frage, die das Militär betrifft. Das Militär kann geltend machen, daß der Krieg bei der Stärke des Gegners zu [27] riskant, daß er bei der derzeitigen Jahreszeit nicht durchführbar ist; die endgültige Entscheidung ist aber eine politische.

Ich könnte mir allerdings vorstellen, daß der Chef des Wehrmachtführungsstabes – wenigstens moralisch – mitschuldig würde an einem Angriffskrieg, wenn er an der entscheidenden Stelle zum Krieg gehetzt oder unter Hinweis auf eigene militärische Überlegenheit der politischen Führung den Rat gibt, den Augenblick zu nützen, um weitgespannte Eroberungspläne auszuführen. In solchen Fällen konnte man ihn mitschuldig nennen, weil er über seine militärische Aufgabe hinaus eingreift in die Politik und die kriegerische Entscheidung provoziert. Aber wenn er eventuell, das heißt für den Fall, daß die politische Führung sich für den Krieg entscheidet, den Kriegsplan entwirft und dann ausführt, tut er nichts anderes als seine selbstverständliche Pflicht.

Man bedenke die außerordentlichen Konsequenzen, die sich bei einer gegenteiligen Auffassung ergeben: Die zuständige Stelle erklärt den Krieg, und der Generalstabschef, der ihn für völkerrechtswidrig betrachtet, macht nicht mit. Oder der Generalstabschef ist glücklicherweise derselben Anschauung wie das Oberhaupt, aber einer der Armeeführer hat Bedenken und weigert sich zu marschieren, der andere zweifelt und muß es sich erst überlegen. Läßt sich da überhaupt ein Krieg führen, sei es ein Verteidigungskrieg oder ein Angriffskrieg?

Solch eine Rechtsauffassung käme für die Zukunft zu Ergebnissen, die gar nicht zu verantworten wären. Der Sicherheitsausschuß der Alliierten Nationen hat die Aufstellung einer Weltpolizei beschlossen, welche die Aufgabe hat, den Weltfrieden gegen Aggressionen zu schützen. Und auch ein Weltgeneralstab ist in Erwägung gezogen, der diesen Exekutionskrieg zu planen und zu führen hätte. Nun stelle man sich vor: Der Sicherheitsausschuß beschließt einen Exekutionskrieg, und der Generalstabschef erwidert, nach seiner Anschauung liege keine Aggression vor. Würde da nicht die ganze Sicherheitsapparatur von der subjektiven Anschauung einer einzelnen noch dazu unpolitischen Persönlichkeit abhängen, das heißt überhaupt illusorisch werden?

Nur nebenbei sei noch bemerkt: Dränge diese Anschauung durch, welcher tüchtige Mann würde sich noch entschließen, den Offiziersberuf zu ergreifen, wenn er bei Erreichung einer hohen Stelle riskieren müßte, im Falle der Niederlage wegen Verbrechens gegen den Frieden vor ein Gericht gestellt zu werden? Übrigens ist es schon aus rein tatsächlichen Gründen abwegig, einem General die Verpflichtung aufzuerlegen, die Rechtmäßigkeit eines Krieges zu prüfen. Ob der von ihm anzugreifende Staat seine Neutralität gebrochen hat oder ob er mit einem Angriff droht oder nicht, das wird der General nur selten zu beurteilen in der Lage sein. Und [28] ferner: Der Begriff des Angriffs-und rechtswidrigen Krieges ist, wie Professor Jahrreiss geschildert hat, unter, den Praktikern und Theoretikern des Völkerrechts noch völlig ungeklärt und bestritten. Und da soll nun ein General, der fernab steht von allen diesen Erwägungen, eine rechtliche Prüfungspflicht für sich anerkennen?

Aber selbst wenn er den Krieg als rechtswidrig erkannt hätte, bedenke man die geradezu tragische Lage, in der sich dieser General befindet. Auf der einen Seite seine selbstverständliche Pflicht dem eigenen Staat gegenüber, von ihm als Soldat besonders beschworen, auf der anderen Seite diese Pflicht, keinen Angriffskrieg zu unterstützen, eine Pflicht, die ihn zu Hochverrat, Fahnenflucht und Eidbruch zwingt. Er muß in der einen oder anderen Weise zum Märtyrer werden.

In Wahrheit liegen die Dinge so: Solange es nicht eine überstaatliche Autorität gibt, die unparteiisch feststellt, ob im konkreten Fall eine derartige Verpflichtung für den einzelnen besteht, solange es nicht eine überstaatliche Macht gibt, die den, der diese Pflicht befolgt, vor Bestrafung gegen Hochverrat und Fahnenflucht schützt, kann ein Offizier für Friedensbruch strafrechtlich nicht verantwortlich sein. Unter allen Umständen muß hier auf einen Widerspruch verwiesen werden: Auf der einen Seite wirft die Anklage den Generalen vor, daß sie nicht reine Soldaten, sondern auch Politiker gewesen sind, auf der anderen Seite verlangt sie von ihnen, daß sie gegen die politische Führung demonstrieren, deren Beschlüsse sabotieren, kurz – daß sie nicht reine Soldaten, sondern Politiker sein sollten.

Die Ankläger anerkennen dies übrigens bis zu einem gewissen Grade. Sie sagen, man wolle die Generale nicht bestrafen, weil sie den Krieg geführt hätten, das sei nun einmal ihre Aufgabe, sondern man werfe ihnen vor, daß sie den Krieg herbeigeführt hätten.

Und das zweite Argument, das öfters wiederkehrt: Ohne die Generale als Helfer hätte Hitler die Kriege nicht führen können, und das mache sie mitverantwortlich.

Diese Argumentation widerspricht sich. Denn die Hilfe, welche die Generale Hitlers leisteten, bestand ja gerade im Planen und Durchführen der militärischen Operationen, also in dem Führen des Krieges, was ihnen auch nach Ansicht der Ankläger strafrechtlich nicht vorgeworfen werden kann.

Sehen wir näher zu: Jodl soll Kriege herbeigeführt haben. Daß er an der Entfesselung des Polenfeldzuges völlig unbeteiligt war, ist ausreichend bewiesen. Und dieser Feldzug war es ja gerade, der alles weitere mit strategischer Notwendigkeit nach sich zog.

Übrigens braucht man gar nicht die Vorgeschichte der einzelnen Kriege zu untersuchen, um nach allem, was wir jetzt wissen, sagen [29] zu können: In jener Behauptung liegt eine ungeheuere Überschätzung der Macht Jodls im Hitler-Staat.

Der Entschluß zum Krieg war seinem Einfluß entzogen. Ratschläge der Generale wurden gerade in diesem Punkt nicht gehört. Höchstens rein militärische Erwägungen konnten angebracht werden. Und der norwegische Feldzug war der einzige unter all diesen Feldzügen, der von einem Militär dem Führer als strategische Notwendigkeit angeraten wurde. Das war aber nicht Jodl. Was ihn betrifft, wäre die Behauptung, er habe Kriege herbeigeführt, durch nichts begründet. Man zeige das Protokoll, man zeige die Vertragsnotiz oder ein sonstiges Dokument, nach welchem Jodl irgendwann einmal zum Kriege gehetzt oder auch nur den Kriegsbeschluß anempfohlen hätte. Da wird nun seine Gauleiterrede gegen ihn ins Feld geführt. Jodl zeigt darin, rückwärtsblickend, wie sich die Ereignisse auseinander entwickelt haben. So zum Beispiel, wie durch den Anschluß Österreichs das Vorgehen gegen die Tschechoslowakei erleichtert wurde, durch die Besetzung der Tschechoslowakei die Aktion gegen Polen. Allein ist es eine schlechte Psychologie, daraus zu schließen, es habe deshalb von vornherein ein Gesamtplan für all dies bestanden. Wenn ich mir ein Buch kaufe und durch seine Lektüre aufmerksam werde auf ein anderes und nun auch dieses Buch kaufe, folgt daraus, daß ich beim ersten Ankauf schon die Absicht hatte, auch das zweite zu erwerben? Falls Hitler von Anfang an weitgespannte Pläne gehabt haben sollte, Jodl hat sie nicht gekannt, geschweige gebilligt. Sein rein defensiver Aufmarschplan von 1938 ist allein schon ein Beweis dafür.

Freilich hat er jedesmal, wenn der Feldzug beschlossen war, das Seinige getan, um ihn erfolgreich durchzuführen. Diese unterstützende Tätigkeit ist es nun, was das zweite der früher genannten Argumente im Auge hat.

Und es ist wahr: Ohne seine Generale hätte Hitler die Kriege nicht führen können. Doch nur ein Laie kann darauf eine Verantwortlichkeit aufbauen. Wenn die Generale ihre Arbeit nicht tun, gibt es keinen Krieg, aber man muß hinzufügen, wenn der Infanterist nicht marschiert, wenn sein Gewehr nicht losgeht, wenn er nichts zum Anziehen und Essen hat, so gibt es auch keinen Krieg. Ist darum der Soldat, der Büchsenmacher, der Schuster, der Bauer, mitschuldig am Kriege? Dem Argument liegt eine Verwechslung zu grunde von Verschuldung und Verursachung. All diese Personen und noch viele andere haben wirksam mitgeholfen an der Kriegführung. Aber kann man ihnen darum eine Schuld anrechnen? Ist Henry Ford mitschuldig an den Tausenden von Unfällen, die seine Wagen jährlich verursachten? Mit der Bejahung der Verursachung ist eben die Frage des Verschuldens noch nicht beantwortet. Die Anklage unterläßt es sogar, sie auch nur zu stellen.

[30] Über die Frage der Schuld wird noch später zu sprechen sein. Hier sei nur folgendes vorweggenommen: Eine schuldhafte Teilnahme am Planen und Führen eines Angriffskrieges setzt zweierlei voraus:

Erstens, daß der Täter gewußt hat, daß dieser Krieg ein rechtswidriger Angriffskrieg ist,

zweitens, daß er auf Grund dieses Wissens verpflichtet war, von einer Mithilfe abzusehen.

Das letztere berührt sich mit dem schon Gesagten: Jodl war kraft seiner Stellung verpflichtet, Pläne zu entwerfen. Ob sie benutzt wurden oder unbenutzt blieben, hing nicht von ihm ab. Charakteristisch ist, daß Jodl eine ganze Reihe von Aufmarschplänen entworfen hat, die nie zur Ausführung gekommen sind. Alle Generalstabsarbeiten sind eben nur für einen Eventualfall verfaßt, für den Fall, daß die politische Führung »auf den Knopf drücken sollte«. Oft hat sie es getan, oft nicht.

Das war nicht mehr Sache des Generalstabsoffiziers.

Die andere Voraussetzung des Schuldvorwurfs ist, daß der Täter den Krieg als Angriffskrieg erkennt. Es handelt sich also darum, wie die Dinge sich in seinen Augen darstellen. Wie sie wirklich waren, das interessiert den Historiker. Für den Strafrechtler ist die entscheidende Frage: Welche Meldungen lagen Jodl über das Verhalten des Gegners vor? War diesen Meldungen zu entnehmen, daß der Gegner seiner Neutralität entgegenhandelte, daß er einen Angriff auf uns vorbereitete, et cetera, et cetera?

Nicht, ob die Meldungen wahr gewesen sind, sondern ob sie von Jodl für wahr gehalten wurden, ist das Maßgebende. Ich muß dies unterstreichen, weil hier gelegentlich gesagt wurde: »Ob ein Angriffskrieg vorlag, entscheidet das Gericht.«

Das ist selbstverständlich richtig, denn wenn das Gericht den Angriffskrieg verneint, scheidet eine Verurteilung wegen Angriffskrieg von vornherein aus. Wenn aber das Gericht annimmt, der Krieg sei tatsächlich rechtswidrig entfesselt worden, so ist irgendwessen Schuld damit noch nicht bejaht. Wer eine fremde Uhr wegnimmt im Glauben, sie sei seine eigene, ist kein Dieb. Es fehlt ihm die Schuld, denn wenn es wirklich seine eigene gewesen wäre, so wäre er nicht zu bestrafen. Wenn also Jodl Tatsachen für gegeben angenommen hat, die – wenn sie wahr gewesen wären – den Krieg zu einem rechtlich zulässigen Krieg gemacht hätten, so entfällt eine Verurteilung wegen Verbrechens gegen den Frieden.

Nun haben die Ankläger wiederholt an die Generale die ironische Frage gestellt, wie es sich mit dem Ehrenkodex des Offiziers vereinbare, Hilfe zu leisten bei einem Kriege, den sie als rechtswidrig erkannt hätten.

[31] Nehmen wir an, Jodl sei überzeugt gewesen, der Krieg sei rechtswidrig und hätte aus Gewissensgründen seine Arbeit verweigert. Welcher Unterschied bestünde sodann zwischen ihm und einem Soldaten, der in der Schlacht sein Gewehr wegwirft und sich zurückzieht? Beide wären wegen Gehorsamsverweigerung im Kriege des Todes schuldig. Zwar weiß ich, daß die Vereinigten Staaten großzügig genug sind, einem Soldaten, der aus religiösen Gründen die Waffe zu nehmen ablehnt, zu respektieren und nicht wie wir zu behandeln. Doch das gilt nur für einen religiösen Grund, nicht für einen, der aus völkerrechtlichem Bedenken den von der politischen Führung beschlossenen Krieg nicht mitmacht. Man würde ihm entgegenhalten, es sei nicht seine Sache, nicht Sache seines Gewissens, die Zulässigkeit des Krieges zu prüfen, sondern das sei Sache der zuständigen Stellen. Nach kontinentalem Recht wäre eine derartige Begründung für die Gehorsamsverweigerung von vornherein indiskutabel.

Übrigens sehe ich in jener ironischen Frage an die Generale nur den Versuch einer moralischen Herabsetzung, nicht aber einen Vorwurf, der zum Gegenstand dieses Gerichtsverfahrens gehört. Der Internationale Militärgerichtshof ist kein Ehrengericht, das über ehrenrühriges Verhalten der Beschuldigten erkennt, sondern ist ein Strafgericht, das bestimmte, nach der Charte für strafbar erklärte Handlungen, zu beurteilen hat. Die Ankläger scheinen mir das wiederholt aus den Augen gelassen zu haben.

Bevor ich zum letzten, dem elften Punkt des englischen und amerikanischen Trial-Briefes übergehe, zu den Verbrechen gegen Kriegsrecht und Menschlichkeit, muß ich einiges vorausschicken.

Zunächst sei ein Mißverständnis aufgeklärt. Die Anklage sagt, wir hätten einen totalen Krieg führen wollen und versteht dabei unter totalem Krieg einen Krieg, der mit allen Mitteln geführt wird, gleichgültig, ob rechtswidrig oder rechtmäßig, – kurz, einen Krieg unter rücksichtsloser Vergewaltigung des Kriegsrechts. Ich war nicht wenig erstaunt, als ich dies las. Wir haben allerdings in den letzten sieben Jahren genug vom totalen Krieg gesprochen, aber darunter etwas gänzlich anderes verstanden. Als »totalen Krieg« bezeichneten wir einen Krieg, der mit allen geistigen, personellen und materiellen Mitteln geführt wird, der die ganze Volkskraft mobilisiert; also Umstellung der gesamten Wirtschaft auf Kriegsbedarf, Einziehung des letzten waffenfähigen Mannes, der letzten arbeitsfähigen Frau und womöglich auch der Jugendlichen, und so weiter. Deutsche Soldaten vom Osten, die das Beispiel Rußlands kannten, spotteten, wenn wir vom »totalen Krieg« sprachen, bei uns wären ja in jeder Straße noch drei Gemüsehändler, an jeder Ecke noch Tabakläden. Das sei kein totaler Krieg, in dem so viele Arbeitskräfte für nicht-kriegerische Zwecke eingereiht seien, – in dem noch ganze Fabriken Dinge fabrizierten, die mit dem Krieg nichts zu tun hätten, und so weiter. Der Krieg müsse wirklich ein totaler Krieg sein, wenn er gewonnen werden solle. Mit Verachtung des Kriegsrechts hat das nicht das geringste zu tun. Nie habe ich das Wort, in diesem Sinne aufgefaßt, gehört.

Im englisch-amerikanischen Trial-Brief werden Jodl im ganzen drei Schriftstücke zur Last gelegt. (Sie betreffen: Kommandobefehl und Kapitulation Leningrad. Ein viertes (886-PS) ist später von der Anklagebehörde ihm gegenüber zurückgezogen worden.)

Die französischen und russischen Ankläger haben allerdings Weiteres beigefügt.

[32] Wir müssen uns zunächst wiederum die Frage vorlegen: Worauf bezog sich Jodls Zuständigkeit als Chef des Wehrmachtführungsstabes? Jodl war, wie wir wissen, vor allem der Berater des Führers in der operativen Führung der Wehrmacht. Sein Stab hatte aber neben den Operationsabteilungen der drei Wehrmachtsteile noch andere Abteilungen. Als im Winter 1941/1942 die operativen Aufgaben sich unerhört mehrten, trat eine Arbeitsteilung zwischen dem Chef OKW und Jodl ein, wonach Jodl nur die militärischen Operationen und die Abfassung des Wehrmachtsberichtes hatte, der Chef OKW alles übrige mit der Quartiermeisterabteilung und der Organisationsabteilung des Wehrmachtführungsstabes bearbeitete. Aus alledem folgt: Jodl hatte nichts zu tun mit den Kriegsgefangenen, für die eine besondere Abteilung im OKW zuständig war, nichts zu tun mit der Verwaltung der besetzten Gebiete, daher auch nichts mit den Geiselmaßnahmen und Deportationen et cetera. Über UK-56 wird noch zu sprechen sein. Jodl hatte nichts zu tun mit polizeilichen Aufgaben im Operationsraum oder im rückwärtigen Heeresgebiet. Der Wehrmachtführungsstab hatte keine Befehlsgewalt, trotzdem gilbt es viele Befehle, welche Jodl entweder »im Auftrag« unterschrieben oder mit seinem »J« abgezeichnet hat.

Wir müssen nun diese Befehle und die Verantwortlichkeit für sie durchsprechen:

Erstens: Es sind da Befehle, die mit den Worten »Der Führer hat befohlen« beginnen und von Jodl unterschrieben sind oder auch von Keitel unterschrieben und von Jodl paraphiert. Es handelt sich hier um Befehle, die vom Führer mündlich gegeben wurden, mit dem Auftrag an Jodl, sie zu stilisieren beziehungsweise schriftlich niederzulegen. Für die Verantwortlichkeit gilt hier grundsätzlich nichts anderes als für die vom Führer unterschriebenen Befehle. Denn zur Feststellung der Verantwortlichkeit muß man die Frage stellen: Was war die Aufgabe des Beauftragten? Was zu tun war sein Recht und seine Pflicht?

Wenn der Inhalt der Anordnung in allen wesentlichen Punkten festlag, war die Aufgabe Jodls nur eine formale: Er hatte das bereits Feststehende zu formulieren, in die übliche militärische Befehlsform zu bringen, ohne an dem Inhalt etwas ändern zu dürfen. Man darf nicht übersehen, daß das Schuldhafte des Befehls nur in seinem Inhalt gelegen sein kann und daß hier gerade auf den Inhalt der Untergebene keinen Einfluß hat. Hier liegt nicht der Grund für die Straflosigkeit des Untergebenen etwa in dem Befehl des Vorgesetzten, so und so zu handeln, sondern in der mangelnden Zuständigkeit, an den gegebenen Tatsachen etwas zu ändern. Wenn die Anklage also in der Formulierung des Befehls eine strafbare Beihilfe sieht, so kann dem nicht beigepflichtet werden. Zunächst weil es eben ein Führerbefehl ist, der Recht schafft und an dem [33] eine strafbare Beihilfe nicht möglich ist. Aber auch, wenn man dies nicht anerkennt, vielmehr auch einen Führerbefehl als rechtswidrig und strafwürdig betrachtet, kommt man doch nicht darum herum, daß es nicht Sache Jodls war, die Rechtmäßigkeit zu prüfen, sondern lediglich den Befehl richtig, das heißt dem Willen des Befehlenden entsprechend auszufertigen. Wenn er dies und nur dies getan hat, trifft ihn keine Verantwortung. Der Vorgesetzte hat hier, der Sache nach, den Befehl selbst gegeben, der Untergebene hat ihn lediglich in Worte gefaßt.

Nun freilich wird man einen Unterschied machen wollen, ob ein Schreiber den Auftrag erhält, den Befehl niederzuschreiben oder ein hoher General. Dieser wird zwar nicht die rechtliche, aber vielleicht die moralische Pflicht haben, dem Vorgesetzten gegenüber seine Bedenken zu äußern. Jodl hat dies in der Tat stets getan; es war die mindeste seiner verschiedenen Methoden, um eine Rechtswidrigkeit zu verhüten, wovon noch zu sprechen ist.

Zweitens: Ein weiterer sehr häufiger Fall ist, daß Jodl seinen Befehl »I. A.«, das heißt »Im Auftrag« unterschrieb, oder auch Befehle, die von Keitel unterschrieben waren, mit seinem »J« paraphiert hat. Wie steht es hier mit der Verantwortlichkeit? Hier werden wir zwischen militärischer und strafrechtlicher Verantwortlichkeit zu unterscheiden haben. Militärisch verantwortet den Befehl der Vorgesetzte, dessen Auftrag unterschrieben ist. Das Strafrecht legt aber auf das Verschulden den Ton, will also den wirklich Schuldigen, nicht den militärisch Verantwortlichen treffen. Da nun aber der Träger des Initials und der, welcher »Im Auftrag« unterzeichnet, meist der Verfasser des Schriftstückes ist, so kann sein, daß dieser strafrechtlich haftet, obwohl er militärisch nicht verantwortlich ist. Darum ist hier die tatsächliche Beteiligung der beiden Unterzeichner in jedem Falle festzustellen und danach über Verschulden zu entscheiden.

Drittens: Wenn Jodl seine Initiale nicht rechts unter dem letzten Wort des Schriftstückes, sondern auf der ersten Seite rechts oben hinsetzte, so bedeutet dies lediglich, daß das Schriftstück ihm zur Einsicht vorgelegt worden ist. Ob er es wirklich gelesen hat und ob er es gebilligt hat, ist damit nicht gesagt. Eine derartig gesetzte Initiale bringt daher für sich allein den Paraphierenden in keinen strafrechtlich erheblichen Zusammenhang mit dem Befehl.

Viertens: Es werden nun auch gewisse Notizen Jodls ihm zum Vorwurf gemacht, teils sogenannte »Vortragsnotizen«, teils handschriftliche Bemerkungen, die er auf Entwürfe und andere Schriftstücke gesetzt hat. Wie steht es mit der rechtlichen Bedeutung derartiger Sätze?

Es wurde schon im Fall »Grün« im Zusammenhang mit dem Vorschlag, eventuell einen Zwischenfall zu konstruieren, folgendes [34] von mir dargelegt: Eine Vortragsnotiz enthält Erwägungen, Tatsachenmitteilungen, Meinungsäußerungen des Verfassers oder anderer Stellen und so weiter. Es ist kein Befehl, sondern die Unterlage, auf Grund derer der Vorgesetzte sich entschließen kann, ob er einen Befehl und welchen Befehl er erlassen wird. Solange solch eine Notiz bleibt, ist es ein rein interner Akt ohne jede völkerrechtliche Bedeutung und kann nie als ein Vergehen gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges betrachtet werden, wie das im Artikel 6 b des Statuts ausdrücklich zur Voraussetzung einer Strafe gemacht wird. Gleiches gilt von den Randbemerkungen, die so oft in den Akten des OKW zu finden sind: »Ja«, »nein«, »das geht nicht« und so weiter. Allerdings können derartige Vortragsnotizen oder Randbemerkungen auch rechtliche Bedeutung erlangen. Enthält eine Notiz einen Vorschlag, der dem Völkerrecht widerspricht und beeinflußt sie den Vorgesetzten derart, daß er einen Befehl gleichen Inhalts erläßt, so könnte das eventuell als Teilnahme an einem völkerrechtlichen Delikt betrachtet werden. Ergeht aber kein Befehl oder ein Befehl, der dem Vorschlag widerspricht, so ist dieser Vorschlag wirkungslos geblieben, eine rein interne Sache und unter allen Umständen straflos.

Ferner kann eine Notiz oder Randbemerkung ein Symptom sein für die Gesinnung des Schreibers. Es kann ihr zu entnehmen sein, daß er völkerrechtsfreundlich eingestellt ist oder auf völkerrechtliche Bedenken keinerlei Rücksichten nimmt. Das mag oft zur Beurteilung seiner Persönlichkeit eine wichtige Handhabe bieten. Aber die Gesinnung bestrafen wir nicht. Mordabsichten werfen zwar ein übles Licht auf das Subjekt, sind aber straflos. Freilich ist bei der Beurteilung derartiger Bemerkungen Vorsicht geboten: Sie sind oft salopp hingeworfen, ohne viel Überlegung, nur für den betreffenden Leser berechnet und so weiter.

Wenn wir das alles in Rücksicht ziehen, entfallen von vorneherein einige der Vorwürfe, welche die Ankläger gegen Jodl erheben:

Erstens entfällt als strafbar sein Verhalten in der Sache der Tiefflieger, 731-PS, 735-PS. Es war vorgeschlagen worden, Tiefflieger, die in wahrhaft verbrecherischer Weise die Zivilbevölkerung angreifen, wie es immer und immer wieder vorkam, der Lynchjustiz des Volkes zu überlassen. Jodl war gegen diese Idee, da sie zu einem Massenmord an allen abspringenden Fliegern führen mußte. Jodl machte in Form von Randbemerkungen Einwendungen und wieder Einwendungen. Es gelang ihm, dadurch den Befehl zu sabotieren. Die Wehrmacht hat nie einen derartigen Befehl erlassen. Das sollte Jodl zum Verdienst angerechnet werden, aber offenbar wird ihm übelgenommen, daß er nicht auch Worte moralischer Entrüstung gefunden hat, um den Vorschlag abzulehnen. Das wäre[35] in der damaligen Lage wahrscheinlich sogar zweckwidrig gewesen. Jedenfalls liegt keine Straftat vor.

Zweitens: Der Kommissarbefehl – 884-PS. Auf diesen grausamen Befehlsentwurf, es ist nur ein Entwurf, der schon vor dem russischen Kriegsausbruch verfaßt wurde, machte Jodl die Bemerkung, er würde Vergeltungen gegen unsere Soldaten hervorrufen; man ziehe die Sache lieber als Repressalie auf, das heißt, man warte ab, wie sich die Kommissare wirklich verhalten, um dann eventuell Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Wieder wird ihm nicht zum Verdienst angerechnet, daß er sich dagegen ausspricht, sondern vorgeworfen, wie er es tut. Rechtlich ist das bedeutungslos. Jodl ist später mit dieser Sache nicht mehr befaßt worden. Er erfuhr auch nichts über den Erfolg seiner Einwendungen.

Drittens: Genfer Konvention – D-606. Hier hat Jodl nicht nur eine Vortragsnotiz, sondern ein ausführliches Gutachten Hitler vorgelegt, weil er dessen Plan, diese Konvention zu kündigen, unter allen Umständen durchkreuzen wollte. Darin bringt er alle Gründe gegen die Kündigung vor und beruhigt dann Hitler, indem er sagt, man könne sich ja auch ohne Kündigung der Konvention über mancherlei Bestimmungen hinwegsetzen. Auch dies ist keine völkerrechtswidrige Tat, sondern zeugt höchstens von völkerrechtswidriger Gesinnung. Richtiger: Es scheint so. In Wahrheit war dies nichts als eine bewährte Taktik, Hitler von seinem schändlichen Plan abzubringen. Die Kündigung unterblieb. Wenn man Jodl die unmoralische Argumentation vorwirft, übersieht man, daß Jodl nach fünfjähriger Erfahrung besser wußte als wir, mit welchen Argumenten sein Chef zu überzeugen war.

Viertens: Befehl betreffend Leningrad – C-123.

Unter dem 7. Oktober 1941 hat Jodl dem Oberbefehlshaber des Heeres mitgeteilt – und es ist nichts als eine Mitteilung –, daß Hitler einen schon früher erlassenen Befehl wiederholt habe, wonach ein Kapitulationsangebot weder von Leningrad noch von Moskau angenommen werden dürfe. Es ist aber nie solch ein Angebot gemacht worden; der Befehl hätte daher überhaupt nie ausgeführt werden können. Die ganze Angelegenheit ist auf dem Papier stehengeblieben und begründet schon deshalb keine Völkerrechtswidrigkeit. Auch sie kann höchstens als Symptom für die Gesinnung des Urhebers gewertet werden, aber gehört nicht in eine Anklage wegen Verdachts einer strafbaren Handlung.

Zur Erklärung der Sache sei jedoch folgendes beigefügt:

Jodl legte in diesem Schreiben die unbestreitbare Zwangslage dar, die Hitler zu seinem Befehle veranlaßte:

  • a) ein Kapitulationsangebot würde nur scheinbar gemacht werden. Leningrad nämlich war unterminiert und würde bis zum letzten Mann verteidigt werden, wie der russische Rundfunk bereits [36] angekündigt hatte. Die bösen Erfahrungen, die man mit den planmäßig vorbereiteten Spätzündungen in Kiew, Odessa und Charkow gemacht hatte, lehrten die deutsche Führung, wessen man sich zu versehen hatte.

  • b) Dazu kam die schwere Seuchengefahr, die auch bestünde, wenn wirklich kapituliert würde. Deutsche Truppen dürften schon deshalb die Stadt nicht betreten. Die Annahme einer Kapitulation war somit technisch gar nicht durchführbar.

  • c) Dazu kam ferner die einfache Unmöglichkeit, eine halbverhungerte städtische Millionenbevölkerung durch deutsche Truppen zusätzlich zu ernähren. Die Eisenbahngeleise waren noch nicht auf deutsche Spurweite verlegt – schon der Nachschub für die eigenen Truppen bereitete größte Sorge. Und endlich die militärische Gefahr für die deutschen Operationen, über die der Feldmarschall Leeb dem Angeklagten Keitel geklagt hatte.

Das alles zwang dazu, die Bevölkerung der Städte nicht durch die deutschen Linien nach Westen und Süden fliehen zu lassen, sondern ihr die Flucht nach Osten zu ermöglichen, ja, dieses zu begünstigen. Darum die Anordnung, im Osten Lücken in der Front zu lassen.

Außerhalb der militärischen Erwägungen stand es, daß Hitler erkennen ließ, wie er die militärisch-technische Zwangslage im Rahmen seiner Ostpläne ausnützen wollte. Das hat mit dem Befehl selbst nichts zu tun. Es kommt nur darauf an, ob er militärisch unvermeidlich war, und das war er in der Tat aus den oben erwähnten Gründen. Ob der Befehl von Jodl erneut mitgeteilt wurde oder nicht, konnte an der Lage nichts ändern.

In folgendem habe ich einzelne Kriegsverbrechen zu erörtern, die Jodl zur Last gelegt werden:

a) Der Kommandobefehl:

Zwei von Hitler Wort für Wort verfaßte und unterschriebene Befehle vom 18. Oktober 1942 haben im Prozeß eine besondere Rolle gespielt: Der sogenannte Kommandobefehl an die Truppe – 498-PS – und der dazugehörige Erläuterungsbefehl an die Befehlshaber – 503-PS.

Diese Befehle liegen nach ihrem Gegenstand außerhalb von Jodls Arbeitsbereich. Wenn Jodl mit der Angelegenheit überhaupt befaßt wurde, dann aus einem besonderen Grunde: Diese Befehle sind Ausführungsanordnungen zu einem elf Tage vorher von Hitler gegebenen, ebenfalls von ihm persönlich verfaßten und an den Wehrmachtsbericht vom 7. Oktober 1942 angefügten Befehl. Jodl hat, wie sonst, auch diesen Wehrmachtsbericht abgefaßt und darum auch den Zusatz über die Vorgeschichte des Befehls, den dann Hitler als Schlußstück an den Wehrmachtsbericht setzen ließ. Hitler hat [37] ihn dann aufgefordert, Entwürfe für den Ausführungsbefehl auszuarbeiten. Jodl hat es nicht getan; hat auch einen Entwurf, den sein Stab aus eigenem Antrieb verfaßt hatte, Hitler nicht vorgelegt. Vielmehr ließ er Hitler – mit dem er damals in stärkster Spannung lebte – sagen, er sei außerstande, dem Verlangen nachzukommen. Darauf hat Hitler diese zwei Befehle selbst verfaßt.

Jodl wird nun zweierlei zur Last gelegt:

Er hat die von Hitler verfaßten Befehle im Geschäftsgang verteilt und hat den zweiten, den Erläuterungsbefehl, an die Kommandeure mit einer besonderen Geheimhaltungsbestimmung versehen.

Entstanden ist der Befehl aus der Erregung Hitlers über zwei Arten der Verschärfung des Krieges, die etwa gleichzeitig im Herbst 1942 auftraten. Die eine war die verhängnisvolle Wirksamkeit von hervorragend ausgerüsteten, von See her oder aus der Luft abgesetzten Sabotagetrupps; die andere war eine besondere Verwilderung der Kampfmethoden von Feinden, die einzeln oder in kleinen Gruppen tätig wurden.

Jodl hat hier im Zeugenstand geschildert, wie diese Verwilderung nach den Meldungen und Lichtbilderaufnahmen der Truppe aussahen. Die Praxis zeigte, daß die gegen alles Soldatische verstoßenden Methoden besonders bei den Sabotagetrupps angetroffen wurden. Hitler wollte nun diese unsoldatischen Methoden treffen und die für die deutsche Kriegführung so gefährliche Sabotagetätigkeit unterbinden, wußte aber freilich, daß Sabotage, ausgeführt von normalen Soldaten, völkerrechtlich nicht zu beanstanden war.

So erklärt sich dann der erste Befehl Hitlers, derjenige im Wehrmachtsbericht, ganz einfach: Gegenüber feindlichen Soldaten, die in Sabotagetrupps auftreten und sich »wie Banditen« benehmen, also sich in ihrer Kampfführung außerhalb des Soldatischen stellen, soll es keinen Pardon geben.

Die Ausführungsanordnungen hätten nun die Maßstäbe für das Soldatische präzisieren müssen. Hitlers Ausführungsanordnung hat nicht diese Präzision, hat aber im Entscheidenden überhaupt keine Präzision, und das ermöglichte es, den Befehl im Sinn des unbestreitbar berechtigten Kerngedankens anzuwenden und dort nicht anzuwenden, wo auch nur Zweifel auftreten, ob man es mit »Banditen« zu tun habe.

Jodl fand nach allem, was damals an Meldungen über feindliches Verhalten eingelaufen war, die Grundtendenz der Anordnung Hitlers im Wehrmachtsbericht verständlich und die von Hitler im Kommandobefehl vom 18. Oktober 1942 getroffenen und in gewissen Punkten unklaren Anordnungen zum Teil völkerrechtlich erlaubt, zum Teil völkerrechtlich vielleicht bedenklich. Er wisse heute so wenig wie damals genau, ob und wie weit jene Anordnungen [38] völkerrechtswidrig gewesen seien. Sicher sei nur, daß die unpräzise Fassung des Befehls es den Befehlshabern ermöglicht hat, den Befehl nur gegenüber Menschen anzuwenden, die sich schlechthin außerhalb des Soldatischen gestellt hatten.

Jodl hat diese Anwendungsmethode erhofft und, soweit er nur konnte, gefördert, wie die Beweisaufnahme ergeben hat. Er hat nach Kräften dazu geholfen, daß die praktische Anwendung des Kommandobefehls im Rahmen dessen blieb, was zweifelsfrei zulässig war. Er hat überdies dafür gesorgt, daß in großen Territorien – Italien nämlich – die Anwendbarkeit des Befehls wegfiele, nämlich im größten Teil Italiens, sobald sich Hitler nur überhaupt eine örtliche Einschränkung abringen ließ, 551-PS.

Die Geheimhaltung wird als Zeichen für Jodls Schuldbewußtsein gedeutet. Allein diese Geheimhaltung hatte triftige Gründe anderer Art. Die Feinde durften nach Möglichkeit nicht erfahren, welche schweren Schäden ihre banditenhaft vorgehenden Sabotagetrupps anrichteten. Darum die besondere Geheimhaltungsanordnung nur im Befehl 503-PS, der über die Schäden Aufschluß gibt, während der Hauptbefehl durch den Wehrmachtsbericht aller Welt bekannt war. Jodl hat freilich auch aus einem zweiten Grund die besondere Geheimhaltung des Erläuterungsbefehls verfügt. Er wollte die Schlußbestimmung nicht verbreitet sehen, wonach gefangene Kommandoangehörige nach ihrer Vernehmung zu erschießen waren. Dies stieß ihn menschlich ab, mochte es völkerrechtlich zulässig sein oder nicht, unsoldatische Kämpfer aus dem Bereich der Genfer Konvention auszuschließen. Die Kommandeure würden, so hoffte er, Wege finden, durch eine gesunde Auslegung im Einzelfall Unmenschlichkeiten zu vermeiden. Und Unberufene sollten die Bestimmung nicht wissen.

Der Grundgedanke, über den ja die Praxis nicht hinauszugehen brauchte, entsprach dem Völkerrecht, das nur den soldatisch kämpfenden Menschen schützen will. Das ist ja die Tendenz des gesamten Kriegsrechtes, das einen ritterlichen Kampf voraussetzt. Es mußte in der Tat etwas geschehen, um den Gebrauch solcher verwilderter Methoden für die Feinde zu einem Risiko zu machen. Gegen Sabotagetrupps, die soldatisch kämpften, war gar nichts zu sagen. Die Feinde brauchten nur von jenen radikal völkerrechtswidrigen Methoden zu lassen.

Im übrigen ist zu betonen: Die Weitergabe eines Befehls begründet nicht Verantwortlichkeit für seinen Inhalt. Es ist hier ja nicht, wie in anderen Fällen, daß Jodl den Befehl angeraten oder verfaßt hätte, im Gegenteil: Er hat sich geweigert, ihn zu verfassen. Er hat ihn lediglich auftragsgemäß im normalen Geschäftsgang verteilt. Aber nicht deshalb oder besser, nicht nur deshalb, weil die Weitergabe aufgetragen war, ist er straflos, sondern weil er [39] keinerlei Einfluß hatte auf die weiterzugebende Anordnung. Sie zu prüfen, lag außerhalb seiner Zuständigkeit, seines Rechtes. Seine Tätigkeit war eine rein technische, vom Inhalt des Schreibens unabhängig. Theoretisch war er nicht einmal verpflichtet, es zu lesen. Man nehme an, Hitler hätte nach Abfassung des Befehls irgendeinem Leutnant gesagt, er solle ihn an die Oberbefehlshaber weitertelephonieren. Hätte dann der Leutnant auch das Recht und die Pflicht, den Inhalt des Schriftstückes auf seine rechtliche Zulässigkeit zu prüfen und dann zu sagen: »Das tue ich nicht« oder »Da muß ich erst die Haager Landkriegsordnung zu Rate ziehen, ob ich das darf«? Man käme zu grotesken Konsequenzen. Und in diesem Falle ist der Generaloberst auch nichts anderes als der Bote, der ihm Übergebenes weitervermittelt. Bezeichnend ist für die militärische Auffassung der Situation, was Jodl auf meine Frage antwortete, was geschehen wäre, wenn er die Weitergabe verweigert hätte: »Da wäre ich sofort abgeführt worden – und mit Recht.«

b) Der Bandenkampf.

Was den Bandenkampf betrifft, könnte man nur in zwei Fällen gegen Jodl einen Vorwurf erheben...

GENERAL R. A. RUDENKO, HAUPTANKLÄGER FÜR DIE SOWJETUNION: Herr Vorsitzender! Der Verteidiger nennt eine patriotische Bewegung, die, wie bekannt, aus Millionen von Patrioten besteht, die aufgestanden sind, um gegen die deutschfaschistischen Eindringlinge zu kämpfen, »Banden«. Ich finde, ein solcher Ausdruck des Verteidigers muß als eine Beleidigung gegen die Partisanen angesehen werden, die ungeheuer viel dazu beigetragen haben, die Hitler-Eindringlinge zu besiegen, und ich protestiere dagegen.

VORSITZENDER: Der Einwand scheint sich auf das eine russische Wort zu beziehen, das ich natürlich selbst nicht verstehe. Aber ich glaube, es besteht kein Einwand gegen das englische Wort »Partisan«; ich weiß nicht, wie das deutsche Wort heißt. Aber mir scheint, daß der Gerichtshof dagegen nichts einzuwenden hat.


PROF. DR. EXNER: Herr Vorsitzender! Es zweifelt niemand auf unserer Seite, daß Hunderttausende oder Millionen wirklicher Patrioten unter diesen sogenannten »Banden« waren. Ich gebrauche den Ausdruck, weil er der offizielle Ausdruck der deutschen Befehle war, nämlich sie sprachen von einer »Bandenvorschrift«. Wir gebrauchen den Ausdruck »Banden« nicht in einem abfälligen Sinn des Wortes; keineswegs. Es liegt darin kein Werturteil, wenn wir von einer »Bande« sprechen, oder, es muß kein Werturteil darin liegen, wenn wir von einer »Bande« sprechen.


VORSITZENDER: Dr. Exner! Gibt es ein anderes deutsches Wort für das englische Wort »Bandit« und das englische Wort »Partisan«?


[40] PROF. DR. EXNER: Ja, wir gebrauchen auch das Wort »Partisan«; das ist für uns ein Fremdwort, aber wir gebrauchen es auch; und dann sprechen wir von »Banden« in einem nicht notwendig abfälligen Sinn des Wortes und sprechen von »Banditen«, das sind Verbrecher.


VORSITZENDER: Warum beschränken Sie sich nicht einfach auf den Gebrauch des Wortes »Partisan«?


PROF. DR. EXNER: Ich kann ebensogut das Wort »Partisan« gebrauchen, Herr Vorsitzender. Ich habe nur von »Banden« gesprochen, weil wir eine »Bandenvorschrift« haben und das der offizielle Ausdruck ist. Aber ich habe nichts dagegen, von »Partisanen« zu sprechen.


VORSITZENDER: Wenn Sie einen Befehl zitieren, müssen Sie natürlich den Befehl mit den Worten des Befehls verlesen.


PROF. DR. EXNER: Gut. Dann der Partisanenkampf.

Der Partisanenkampf. Was diesen betrifft, könnte man nur in zwei Fällen gegen Jodl einen Vorwurf erheben:

Erstens: Wenn er zugelassen hätte, daß der Kampf ungeregelt oder »chaotisch« vor sich ginge, wie ein Zeuge behauptet hat, oder

zweitens, wenn er Kampfvorschriften zwar erlassen hätte, aber diese dem Völkerrecht widersprächen.

Keines von beiden trifft zu. Jodl war an sich für diese Angelegenheit nicht zuständig, er mußte sich aber für die Partisanen interessieren, als sie einen Umfang annahmen, der die militärischen Operationen zu stören begann. Er erließ 1942 die Bandenvorschrift, die dann 1944 durch eine zweite ersetzt wurde. Keine Rede also davon, daß für diesen Kampf keine Regeln bestanden hätten.

Auch im zweiten Punkt trifft Jodl kein Vorwurf. Obwohl Hitler gegen diese gefährlichen Gegner einen Kampf geführt wissen wollte, der von Moral und Völkerrecht wenig kannte, erließ Jodl – ohne sein Wissen – ein Merkblatt für diesen Kampf, das rechtlich nicht zu bemängeln ist. Er ging so weit, Partisanen in Zivil als Kriegsgefangene behandeln zu lassen und das Niederbrennen von Dörfern nur auf Befehl eines Divisionskommandeurs zu gestatten, was Verstöße gegen Artikel 50 der Haager Landkriegsordnung verhüten sollte und konnte. Ich verweise auf Dokument F-665 in meinem Dokumentenbuch Band II, Jo-44.

Nicht aber kann man Jodl zum Vorwurf machen, wenn der Kampf gegen die Partisanen trotzdem übel ausartete. Es ist nicht Sache des Chefs des Wehrmachtführungsstabes, auf vier Kriegsschauplätzen die Einhaltung seiner Vorschriften zu beaufsichtigen.

c) Das Niederbrennen von Häusern in Norwegen – 754-PS. Im Kreuzverhör hat die Anklagebehörde Jodl vorgeworfen, er habe die Zerstörung norwegischer Dörfer anbefohlen. Gemeint ist das [41] Fernschreiben vom 28. Oktober 1944 an das Gebirgs-Armeeoberkommando 20. Die Anklage verkennt die Rolle, die Jodl dabei zugefallen ist.

Die militärische Lage war damals so: Die Deutschen zogen sich zurück auf die noch nicht fertig ausgebaute Lyngenstellung. Und es bestand die Gefahr, daß die Rote Armee noch im Winter folgen und damit die viel schwächeren deutschen Verbände vernichten würde, wenn sie beim Vormarsch auf der einzigen zu dieser Jahreszeit benutzbaren Reichsstraße 50 die Wohnstätten und die ortskundige Bevölkerung vorfand. Ohne diese Unterkünfte und ohne diese Unterstützung durch die Bevölkerung war der russische Vormarsch unmöglich. Der Abtransport der Bevölkerung und die Vernichtung der Wohnstätten würden die Gefahr bannen und überdies einen Partisanenkrieg gegen die deutschen Truppen unmöglich machen. Der Abtransport der Bevölkerung war aber auch nötig im Interesse der Bevölkerung selbst.

In dieser Lage nun hat Hitler auf die Vorschläge nicht der Soldaten, sondern des Reichskommissars für die besetzten norwegischen Gebiete den Befehl erlassen, den Jodl im Auftrag dem Gebirgs-Armeeoberkommando 20 mit allen militärischen und moralischen Erwägungen Hitlers geschäftsordnungsmäßig mitgeteilt hat. Man hört ordentlich Hitlers radikale Sprache. Jodl, der durch ein Telephongespräch mit dem Stabe des Generals Rendulic wußte, daß die Gebirgstruppen einen so weitgehenden Befehl militärisch nicht brauchten und infolgedessen nicht wollten, war gegen den Befehl und suchte, als er ihn nicht verhindern konnte, nach einem Weg, der praktisch zum richtigen Ergebnis führte. Er wollte, daß der Befehl nur im Rahmen des militärisch unumgänglich Notwendigen und nach der Haager Landkriegsordnung Erlaubten von der Truppe ausgeführt würde, Artikel 23g Haager Landkriegsordnung. Er wußte, daß sein Bruder, der im Norden den Befehl hatte, genau wie er dachte, er kannte überhaupt den soldatischen Geist der Gebirgstruppen und wußte gerade in diesem Fall im voraus, daß dieser Befehl den Truppen zu weit ging. Damit er von vorneherein bei allen Stellen richtig verstanden würde, machte er am Eingang des Fernschreibens nicht nur klar, daß ein »Führerbefehl« vorlag – der zweite Absatz gebraucht das Wort ausdrücklich –, sondern ließ die Soldaten erkennen, daß der Führer auf Vorschlag des Reichskommissars, nicht der Soldaten, den Befehl erlassen hat. Sie wußten nun Bescheid und sind danach verfahren. Keine militärisch ungerechtfertigte Zerstörung ist vorgekommen. So sind unter anderem die drei Städte Kirkenes, Hammerfest und Alta unzerstört geblieben. Bei wörtlicher Anwendung des Befehls hätten sie zerstört werden müssen.

[42] d) Die. Deportation der Juden aus Dänemark – UK-56.

Die Anklage will Jodl verantwortlich machen für die Deportation der Juden aus Dänemark. Sie stützt sich dabei auf ein Fernschreiben, das Jodl im Auftrag an den Befehlshaber der deutschen Truppen in Dänemark geschickt hat. Dieser Vorwurf der Anklage ist besonders schwer zu begreifen. Denn aus den verschiedenen von der Anklagebehörde vorgelegten Urkunden ergibt sich eindeutig, daß die Deportation der Juden aus Dänemark auf eine Anregung des Dr. Best, also auf eine Anregung der zivilen Behörde und gegen die Bedenken des Befehlshabers der deutschen Truppen von Hitler beschlossen und dem Reichsführer-SS übertragen worden ist. Das OKW hat mit der ganzen Angelegenheit überhaupt nur deshalb zu tun bekommen, weil damals in Dänemark der militärische Ausnahmezustand verhängt war und der Befehlshaber der deutschen Truppen, also als oberste Vollzugsbehörde im Lande, von seiner vorgesetzten Stelle über die von Hitler befohlene und an Himmler übertragene Aktion informiert sein mußte, um Reibungen zwischen den deutschen Stellen in Dänemark zu verhüten.

Am 20. September 1943 hatten Keitel und Jodl durch ein Fernschreiben des deutschen Befehlshabers die erste Kunde von den zwischen Hitler, dem Auswärtigen Amt und Himmler gepflogenen Erörterungen erhalten. Jodl hatte nur den einen Wunsch, die Wehrmacht aus der Sache herauszuhalten. Sein temperamentvoller Vermerk auf dem Fernschreiben des Generals von Hanneken vom 3. Oktober 1943 – D-647 – zeigt das auch. Er schrieb da: »Ist für uns auch ganz gleichgültig« – nämlich, ob der Reichsführer-SS die Anzahl der verhafteten Juden bekanntgibt oder nicht. Das zeigt nur zu gut: mit moralischen Erwägungen hat das überhaupt nichts zu tun, weder positiv noch negativ.

Die Wehrmacht ging die ganze Sache nichts an. Nun aber konnten aus der Aktion Himmlers Schwierigkeiten erwachsen, weil ja die Wehrmacht für Ruhe und Ordnung in Dänemark verantwortlich war. Solchen Schwierigkeiten mußte vorgebeugt werden. An der von Hitler in dieser polizeilichen Angelegenheit getroffenen Entscheidung konnte die Wehrmacht nichts ändern und hätte sie nichts ändern können, auch dann nicht, wenn sie für die Sache überhaupt zuständig gewesen wäre.

Mit dem Fernschreiben UK-56 unterrichtete Jodl lediglich den Befehlshaber von der Entscheidung, die Hitler auf dem polizeilichen Gebiet getroffen hatte. Und der Reichsführer-SS, das Auswärtige Amt und der Befehlshaber des Ersatzheeres wurden von Jodl gleichzeitig benachrichtigt, daß er den Befehlshaber in Dänemark informiert habe. Nun war klare Linie, Reibungen zwischen deutschen Stellen ausgeschlossen, und nur darauf hatte das OKW zu sehen. Man kann nun nicht etwa sagen, daß die Benachrichtigung, [43] die Jodl gab, die Ausführung des Befehls, den Hitler abseits von der Wehrmacht beschlossen hatte, erleichtert hätte. Wer nur etwas von Hitlers Machtstellung weiß, ist sich klar darüber, daß Reibungen zwischen deutschen Stellen die Ausführung keinesfalls verhindert, sondern allenfalls etwas verzögert und ganz gewiß für die Betroffenen nicht erfreulicher gemacht hätten.

Meine Herren Richter! Es ist ein alter Satz des Strafrechts, ein Satz, den ich auch in ausländischen Entscheidungen immer wieder zitiert finde: »Actus non facit reum nisi mens sit rea.« Zu einem Verbrechen gehört zweierlei: der Actus, die objektive Seite des Verbrechens: die Tat. Und die Mens rea, die subjektive Seite: die Schuld. Die Anklage bewegt sich da in einem merkwürdigen Widerspruch: In einigen Fällen legt sie den Ton auf die Mens rea und übersieht, daß der verbrecherische Actus fehlt. Ich habe dies bei den erwähnten Randbemerkungen gezeigt, die keinerlei rechtswidrige Taten darstellen, sondern höchstens auf rechtswidrige Gesinnung schließen lassen könnten. In anderen Fällen sieht die Anklage nur auf den Actus, fragt aber nicht, ob auch eine Mens rea vorhanden ist. Dieser zweite Fehler ist gefährlicher, weil hier die äußere Seite des Verbrechens allen sichtbar vorliegt und oft nur eine feine psychologische Untersuchung zu dem Schluß kommt, daß dem Actus keine Mens rea entspricht. Davon wird später zu sprechen sein.

Was die Tat betrifft, ist gemeint, ein von der Charte als strafbar erklärtes Verhalten. Dieses Verhalten kann in einem positiven Handeln bestehen oder auch in einem Unterlassen. Wenn ein Vater sein Kind beim Baden ertrinken läßt und nichts tut, um es zu retten, obgleich er es könnte, so erklären wir ihn je nach seinem Verschulden des Mordes oder der fahrlässigen Tötung schuldig. Diese Begehung eines Verbrechens durch Unterlassen wird nun auch in diesem Prozeß bedeutsam. Die Anklage nämlich betont immer wieder, Jodl sei bei dieser oder jener Rede anwesend gewesen. Auf einer einzigen Seite des englisch-amerikanischen Trial-Briefes lese ich sechsmal: »Jodl was present at...« Was bedeutet das rechtlich? Anwesenheit und Anhören kann für die Bewertung einer späteren Tat von großer Wichtigkeit sein, denn der Täter kann sich nicht ausreden, »ich habe es nicht gewußt«, wenn er etwa bei der Besprechung dieses Planes beteiligt gewesen ist. Aber die Anwesenheit an sich macht noch nicht mitschuldig. Nach englischem Recht macht Anwesenheit sogar unmittelbar bei der Begehung eines Verbrechens nur dann mitschuldig, wenn eine »encouragement« dazu kommt, eine »Ermutigung«. So ist das auch bei uns. Soweit derlei aber nicht in Frage kommt, kann die Betonung der Anwesenheit etwa bei der Besprechung eines verbrecherischen Vorhabens nur den Vorwurf bedeuten: Er hat es gewußt und geduldet.

[44] Diesen Vorwurf des Duldens, diesen Vorwurf hören wir jetzt oft, nicht nur in diesem Gerichtssaal. Dem ganzen deutschen Volk wird vorgeworfen, es habe ein verbrecherisches Regime, es habe die Vernichtung von Millionen von Juden geduldet. Zweifellos kann ein Verbrechen auch durch ein Dulden begangen werden. Um jemandem aber daraus einen schweren kriminellen Vorwurf zu machen, zum Beispiel der vorsätzlichen Tötung, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein; erstens: die subjektive Seite: er muß gewußt haben, daß der Tod des Opfers bevorsteht, wenn er nicht eingreift; zweitens: er muß die Verpflichtung und die Möglichkeit gehabt haben, den Tod zu verhindern.

Herr Vorsitzender! Ist nicht vielleicht jetzt ein geeigneter Moment, eine Pause zu machen?


VORSITZENDER: Ja.


[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 19, S. 7-46.
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