Nachmittagssitzung.

[46] OBERSTLEUTNANT JAMES R. GIFFORD, GERICHTSMARSCHALL: Hoher Gerichtshof! Der Angeklagte Heß ist abwesend.

PROF. DR. EXNER: Wir sprechen von einem Verbrechen, begangen durch Dulden.

Was Jodl betrifft, gilt folgendes: Was ein Offizier oder Beamter zu tun oder zu hindern rechtlich verpflichtet ist, das hängt von der Zuständigkeitsordnung ab, und wir wissen, wie streng Hitler auf ihre Einhaltung bedacht war, wie scharf er die politische Führung und die militärische, wie scharf er Militär und SS in ihrem Aufgabenkreis zu scheiden wußte. Das war ja auch der Grund, weshalb Jodl bei jeder Gelegenheit gegen die Ausweitungspläne der SS auftrat, denn es war klar, wenn etwas einmal Bereich der SS geworden war, dann hatte die Wehrmacht das Recht verloren, mitzureden. Daher will es zum Beispiel auch nicht viel sagen, wenn Jodl anwesend war bei einer Besprechung Hitlers mit Dr. Best, bei der unter anderem von Terror in Dänemark und seiner Bekämpfung die Rede war, RF-90. Die Erwähnung von sogenannten »Gegenmorden«, wofern wirklich dergleichen zur Sprache kam, hat Jodl nicht mitangehört – Teile der Sitzung hat er nämlich nicht mitgemacht. Seine Anwesenheit in dieser Sitzung bedeutet nun deshalb nicht viel, weil die ganze Sache das besetzte Gebiet betraf und den Chef WFSt nichts anging, der wegen anderer Verhandlungsgegenstände zu dieser Besprechung zugezogen worden war. Also, auch wenn Jodl damals drastischere Dinge zu Ohren bekommen hätte, als der Fall war, wäre eine Einmischung nicht in Frage gekommen und sofort zurückgewiesen worden.

Der Vorwurf des Duldens setzt ferner voraus, daß die Möglichkeit bestand, das Verbrechen zu verhüten. Für Jodl kommen hier in erster Linie nur Befehle des Führers in Frage, die, wie man sagt, er hätte verhüten müssen. Wie es aber mit der Einflußnahme auf Hitlers Entschließungen stand, darüber ist hier genug gesprochen worden. Solange sein Entschluß noch nicht feststand, konnten unter günstigen Bedingungen gute Argumente noch Eindruck auf ihn machen; wenn aber einmal die Entscheidung gefällt war, war sie unumstößlich. Jede gegenteilige Auffassung beruht einfach auf Unkenntnis der Verhältnisse.

Jodl hat allerdings im Laufe der Zeit andere Methoden entwickelt, um auf Entschlüsse des Führers einzuwirken oder wenigstens ihre praktische Auswirkung zu beeinflussen. Er wandte eine Taktik der Verzögerung an; entweder er wartete ab, um womöglich die Sache in Vergessenheit geraten zu lassen, oder er machte Schwierigkeiten und Einwendungen, wobei freilich die Art der Gegenargumente auf Hitlers Denkweise zugespitzt sein mußte – [46] Kommissarbefehl; oder er holte von verschiedenen Stellen gutachtliche Äußerungen ein, um Zeit zu gewinnen – Tiefflieger; mußte ein Befehl hinausgehen, so schrieb er häufig hinein, auf wessen Antrag er erlassen sei, um den Oberbefehlshabern zu zeigen, daß er sich mit dieser Sache nicht identifizierte – norwegische Dörfer. Oder er suchte die Praxis dadurch zu beeinflussen, daß er befehlswidriges Verhalten nicht beanstandete – Kommandobefehl – und so weiter.

Wenn man aber meint, er hätte einen unmoralischen Befehl zu entwerfen einfach verweigern können, so sei auf den Kommandobefehl verwiesen, bei dem diese Methode gerade das Gegenteil vom gewollten Erfolg erreichte.

Ich komme jetzt zum zweiten Teil des zitierten lateinischen Satzes: Die Tat an sich ist kein Verbrechen, nisi sit mens rea.

Es ist dies der letzte Punkt meiner Darlegung, zugleich der schwierigste, zugleich der in einem modernen Strafprozeß wichtigste.

»Ohne Schuld keine Strafe«, dieser Grundsatz ist seit der Renaissancezeit in allen Kulturstaaten anerkannt, mögen auch über das Wesen der Schuld da und dort verschiedene Ansichten bestehen.

Gestatten Sie mir zunächst einen kurzen Vergleich zwischen der anglo-amerikanischen Rechtsauffassung und der kontinentalen beziehungsweise deutschen. Er ist für die Beurteilung einiger Fälle von Bedeutung.

Einen wichtigen Punkt des Schuldproblems habe ich bei der Besprechung der Angriffskriege schon berühren müssen. Wenn man Jodl, den Generalstäbler, überhaupt für die Führung dieser Kriege verantwortlich machen will, so ist jedenfalls von entscheidender Wichtigkeit, wie er die gesamte Sachlage ansah. Glaubte er auf Grund der Meldungen, die ihm vorlagen, daß Tatsachen gegeben waren, die, wenn sie wahr waren, eine Kriegführung rechtfertigten, dann kann Jodl nicht vorgeworfen werden, er habe wissentlich einen rechtswidrigen Krieg geführt. Das gilt auch, wenn seine Annahme auf Irrtum beruht hat. Dieser Irrtum schließt den Vorsatz aus. In einer Entscheidung Green versus Tolson wird gesagt:

»At common law a reasonable belief in the existence of circumstances, which, if true, would make the act for which a prisoner is indicted an innocent act has always been held to be a good defense.«

In einer anderen Entscheidung Regina versus Prince heißt es:

»It seems to me to follow that the maxim as to ›mens rea‹ applies whenever the facts which are present to the prisoner's mind, and which he has reasonable ground to believe and does believe to be the facts, would, if true, make his act no criminal offence at all.«

[47] In einem dritten Fall – amerikanische Entscheidung – Commonwealth versus Pressby wird ein gutes Beispiel gegeben: Ein Wachposten schießt auf seinen Kommandeur, welcher auf ihn zukommt, im Glauben, es sei ein Feind. Dieses letzte Beispiel hat eine nahe Verwandtschaft mit den Angriffskriegen, die hier zu beurteilen sind.

Unkenntnis des Strafrechte entschuldigt nach englischem Recht in der Regel nicht, doch findet man den bemerkenswerten Grundsatz:

»If however, there is a doubt as to a question of law, a person cannot be convicted and subjected to imprisonment if he has merely acted on a mistaken view as to the law.«

Ferner kann selbstverständlich auch Irrtum über privatrechtliche Vorfragen den kriminellen Vorsatz ausschließen:

»If a person takes what he believes to be his own, it is impossible to say that he is guilty of felony.«

Diese Regel könnte auf unserem Gebiet auch auf Irrtum über völkerrechtliche Bestimmungen Bedeutung erlangen.

Doch sehe ich in dieser Lehre vom Irrtum eine gewisse Differenz gegenüber dem deutschen Recht; denn im deutschen Recht schließt jeder Irrtum, mag er auch auf Fahrlässigkeit beruhen, den Vorsatz aus. Im englischen Recht scheint das nur für den Irrtum zu gelten, der »reasonable« ist, der »unaccompanied by negligence« ist. Wenn etwa jener Posten vorschnell und ohne genügende Orientierung geschossen hätte, wäre er bei uns unbestrittenermaßen nur wegen fahrlässiger Tötung zu verurteilen. In England und Amerika würde, wenn ich recht verstehe, dieser fahrlässige Irrtum nicht beachtet werden, und dieser Soldat hätte Verurteilung wegen vorsätzlicher Tötung zu erwarten. Allein diese Verschiedenheit der Rechtsauffassung dürfte in unserem Fall keine Rolle spielen. Denn schwerlich wird man Jodl zum Vorwurf machen, daß er auf Grund übereilter und fahrlässiger Prüfung seiner Meldungen zu seiner Auffassung der Lage gekommen sei.

Noch in einem weiteren Punkt geht das Recht auseinander.

Ich lese zwar in einer englischen Entscheidung, Absicht und Tat müssen zusammentreffen, um das Verbrechen zu konstituieren. Allein dieses Zusammentreffen nehmen wir genauer. Wegen vorsätzlicher Tötung kann nach deutschem Recht nur bestraft werden, wer den tödlichen Erfolg vorausgesehen und gewollt hat. Dagegen heißt es in der früher zitierten Entscheidung Regina versus Prince: »If a man strikes with a dangerous weapon, with intent to do grievous bodily harm, and kills, the result makes the crime murder. The prisoner has run the risk.« Dieser Mann könnte bei uns nur wegen erschwerter Körperverletzung, nie wegen vorsätzlicher Tötung, bestraft werden (Paragraph 226, Deutsches Strafgesetzbuch). Daß der »result«, der auf Zufall beruhen kann, die Tat zum Mord macht – das lehnen wir als ungerecht ab.

In einem dritten Punkt endlich, der hier wichtig ist, stimmen die Anschauungen wieder überein. Zu jedem schweren Verbrechen gehört Vorsatz, und zum Vorsatz gehört zwar nicht das Bewußtsein, [48] etwas Strafbares zu tun, wohl aber das Bewußtsein, daß es unrecht ist, so zu handeln.

»To constitute a criminal act there must, as a general rule, be a criminal intent. The general doctrine is stated in Hales ›Pleas of the Crown‹, that ›where there is no will to commit an offense, there can be no transgression‹.«

Bei uns hat man lange gestritten, ob der Täter wissen muß, daß er geradezu gesetzwidrig handele, oder ob es genügt, daß er sich bewußt ist, überhaupt etwas Pflichtwidriges zu tun. Und die herrschende Meinung, die auch der Entwurf unseres deutschen Strafgesetzbuches übernommen hat, geht dahin: Der Täter muß sich bewußt sein, »einem Gesetz zuwider zu handeln, oder sonst – in einem natürlichen Sinn – Unrecht zu tun«. Es hat mich höchst interessiert, den gleichen Gedanken, fast mit den gleichen Worten in einer englischen Entscheidung Green versus Tolson zu finden:

»It must at least be the intention to do something wrong. That intention may belong to one or other of two classes. It may be to do a thing wrong in itself and apart from positive law, or it may be to do a thing merely prohibited by statute or by common law, or both elements of intention may coexist with respect to the same deed.«

So gehört nach englischem Recht zum Vorsatz das Bewußtsein, nicht so handeln zu dürfen:

»There is a presumption that ›mens rea‹, an evil intention, or a knowledge of the wrongfulness of the act, is an essential ingredient in every offense.«

Diese Entscheidung führt einige Ausnahmen von diesem Grundsatz an, die aber hier nicht interessieren; sie betreffen die Bigamie, die Verführung, wo positive Bestimmungen des Statutarrechtes eingreifen, wie auch gewisse Übertretungen gegen die öffentliche Ordnung und dergleichen.

Unsere Frage ist nun: Hatte Jodl bei der Ausfertigung und Weiterleitung der verschiedenen Pläne und Befehle, die ihm heute zum Vorwurf gemacht werden, das Bewußtsein, etwas Unrechtes zu tun?

Nach meiner innersten Überzeugung; Nein.

Der einzige Beweis, den die Anklage dafür bringt, ist der Vorhalt, warum er denn, wenn er ein gutes Gewissen hatte, in manchen Fällen auf strenge Geheimhaltung bedacht gewesen sei. Dem ist zu entgegnen: Es gibt in militärischen Fragen die mannigfachsten Gründe, etwas nicht bekannt werden zu lassen. Es war dies vor dem Kriege so, um so mehr im Kriege, und sogar jetzt nach dem Kriege schwebt zum Beispiel ein tiefes Geheimnis um die Atombombe. Mit Schuldbewußtsein muß eine derartige Geheimhaltung[49] nicht zusammenhängen. Und wenn Jodl sagt, er habe den einen der beiden Kommandobefehle – abgesehen von anderen Gründen – wegen seiner abstoßenden Schlußbestimmung geheimhalten lassen, so hat er es vermutlich um der Ehre der deutschen Wehrmacht willen getan, aber wahrhaftig doch nicht deshalb, weil er glaubt, er selbst tue etwas Unrechtes, indem er den Befehl weitergab, den er ja nicht verfaßt und – nach seiner Überzeugung – nicht zu verantworten hatte.

Diese Feststellung ist zu unterstreichen, sie hat allgemeine Bedeutung. Bei allen militärischen Ausarbeitungen Jodls, ob er nun Pläne für Kriege machte oder Entwürfe für Befehle oder Merkblätter, kommt es nicht nur darauf an, ob er wußte, daß dieser Krieg oder dieser Befehl ein rechtswidriger sei, sondern entscheidend ist, ob er sich bewußt war, durch seine Mitwirkung, durch sein Tun, ein Unrecht zu begehen. Daß Jodl kein schlechtes Gewissen hatte, geht, scheint mir, klar genug daraus hervor, daß er vor seiner Gefangennahme drei Wochen Zeit gehabt hätte, die meisten dieser Schriftstücke zu verbrennen, und es nicht tat, weil er eben überzeugt war, nichts verbergen zu brauchen.

Er hatte bei der Abfassung dieser Befehle kein Unrechtsbewußtsein. Er konnte es schon aus zwei Gründen nicht haben: Teils weil er sich durch die Befehle des Führers gebunden fühlte, teils weil er – abgesehen von einem konkreten Befehl – der Überzeugung war, in seiner Stellung als Chef WFSt zu solchem Verhalten verpflichtet zu sein.

Sehen wir näher zu:

Über den Befehl und seine rechtliche Bedeutung will ich nicht länger sprechen. Ein Punkt muß jedoch, scheint mir, aufgeklärt werden.

Mr. Jackson hat den Paragraphen 47 des deutschen Militärstrafgesetzbuches zitiert, um zu beweisen, daß nach deutschem Recht der Befehl des Vorgesetzten den Untergebenen nicht entschuldigt.

Nebenbei bemerkt fällt auf: Bei der Conspiracy wird das englisch-amerikanische Recht, beim Befehl das deutsche herangezogen – jeweils das, welches für den Angeklagten das ungünstigere ist. Ich weiß jedoch nicht, ob Mr. Jackson sich auf den Paragraphen 47 MSTGB berufen hätte, wenn er wüßte, wie dieser Paragraph durch die höchsten Gerichte ausgelegt wurde und wie also der wirkliche Rechtszustand in Deutschland war.

Zunächst ist festzustellen: An der Spitze des Paragraphen 47 steht der Grundsatz: »Wird durch die Ausführung eines Befehls in Dienstsachen ein Strafgesetz verletzt, so ist dafür der befehlende Vorgesetzte allein verantwortlich.« Und nun folgt die Ausnahme, eine Ausnahme, welche die Praxis zugunsten der Aufrechterhaltung der militärischen Disziplin auf das äußerste eingeschränkt hat. Die [50] Praxis steht auf dem Standpunkt: Den Untergebenen trifft die Strafe des Teilnehmers nur, wenn der Befehl für ihn gar nicht verbindlich gewesen wäre – weil er zum Beispiel seiner Art nach außerhalb des Rahmens der Wehrmachtsaufgaben fällt – und dem Untergebenen bekannt war, daß die befohlene Handlung ein Verbrechen oder Vergehen bezweckte: Die Straftat muß also vom Befehlenden geradezu beabsichtigt sein, und der Untergebene muß dies sicher wissen. Daß er es hätte erkennen können und sollen, genügt nicht. Und selbst wenn der Untergebene verantwortlich ist, kann bei geringer Schuld von Strafe abgesehen werden.

Die ganze Bestimmung ist überaus bestritten, aber man sieht, wie die Gerichte ihre Geltung eingeschränkt haben, um den gehorchenden Soldaten möglichst zu decken. Tatsächlich kam eine Bestrafung derartiger Fälle höchst selten vor. Jodl ist aus seiner dreißigjährigen Dienstzeit kein einziger in Erinnerung.

Ich muß hier nun etwas einfügen, da Mr. Jackson vor einigen Tagen nachträglich ein Dokument vorgelegt hat, das sich mit diesem Problem befaßt – 3881-PS. Es sind Äußerungen, die Dr. Freisler als Präsident des Volksgerichtshofs in der Verhandlung gegen die Attentäter des 20. Juli 1944 getan hat. Freisler galt in Deutschland immer als Karikatur eines Richters, sein unwürdiges Geschrei in jener Attentatsverhandlung haben uns die Ankläger hier vor einigen Monaten im Tonfilm vorgeführt. Dieser juristische Experte – soweit der Sinn seiner aus dem Zusammenhang gerissenen Bemerkungen erkennbar ist – wollte sagen: Wenn ein Offizier einem Untergebenen befohlen hat, bei der Ermordung Hitlers behilflich zu sein, entschuldigt dieser Befehl nicht den Gehorchenden. Um dies festzustellen, bedürfte es allerdings nicht der »Autorität« Freislers. Wenn es je einen militärischen Befehl gegeben hat, der außerhalb der Wehrmachtsaufgaben lag, also unverbindlich war, also nicht entschuldigte, so ist es der Befehl, das Haupt eben dieser Wehrmacht zu ermorden. Wie man aber den Befehl irgendeines Offiziers, das Staatsoberhaupt zu töten, vergleichen kann mit dem Befehl des Staatsoberhauptes, eine völkerrechtswidrige Handlung zu begehen, ist mir unverständlich.

Ich führe indessen diesen Gedanken nicht weiter aus.

Man wird nun nicht zu einem Verständnis von Jodls Situation durchdringen und nicht zu einer richtigen Beurteilung seiner Handlungen gelangen, wenn man nicht die beiden Männer ins Auge faßt, die sich hier gegenübergestanden haben.

Die Ankläger haben es sich leicht gemacht. Wäre Hitler noch am Leben, würde er als Haupt dieser Hauptkriegsverbrecher an der ersten Stelle der Anklagebank sitzen und gälte als Urgrund und Quelle allen entsetzlichen Geschehens. Nun, da er tot ist, wird bei[51] der Beurteilung der übrigen Angeklagten seine Person bagatellisiert und ihr Verhalten behandelt, fast, als ob er überhaupt nicht dagewesen wäre. Dieser Gewaltmensch, diese infernalische Größe, wie Jodl ihn nannte, kann nicht als quantité négligeable übergangen werden, wenn es gilt, dem Tun und Lassen seiner nächsten Umgebung gerecht zu werden.

Immer mußte ich in diesen Monaten an die Zusammenhänge von Genie, Irrsinn und Verbrechen denken, die der tiefblickende Cesare Lombroso einst aufgezeigt hat. In der Geschichte entscheidet der Erfolg über Wert und Unwert der Menschen. Darum wird das Urteil der Geschichte über Hitler vielleicht ein vernichtendes sein. Aber man vergesse nicht seine Anfänge: Wenn man die Lage Deutschlands etwa Ende 1932 und Ende 1938 vergleicht, so wundert einen nicht das unvergleichliche Prestige, das er besaß gerade in der Zeit, als Jodl ihm nahe kam.

Diesem Manne nun stand Jodl gegenüber. Jodl, ein gerader Soldat, hervorragend begabt, aber nie etwas anderes anstrebend als ein gewissenhafter Soldat zu sein, nüchtern, realistisch denkend aller Diplomatie, allem politischen Getriebe abhold, aufgewachsen in den Idealen des deutschen Offizierkorps – Tapferkeit, Treue, Gehorsam –, ausgebildet in der hundertjährigen Tradition des deutschen Generalstabs, der nur Pflichterfüllung, selbstlose Arbeit und wieder Arbeit kannte.

Daß dieser Mann, an Adolf Hitlers Seite arbeitend, in seinen Bann geraten mußte, ist selbstverständlich. Man muß eben die Zeit berücksichtigen, in der dies geschah. Ein Vertrauensverhältnis freilich konnte sich nicht bilden, aber Jodl war auch nicht der Mann, der sich widerspruchslos beugte. Es gab Zusammenstöße, Explosionen genug. Jodl galt als derjenige, der am meisten von allen dem Führer Opposition zu machen wagte. Er konnte ihm, wie Kesselring berichtete, mit einer Schärfe entgegentreten, die gelegentlich bis an die Grenzen des militärisch Zulässigen ging.

Gerade darum glaube ich auch nicht, daß Befehl und Gehorsam dasjenige ist, was uns Jodls Verhalten dieser Jahre restlos verständlich zu machen vermag.

Es war vielmehr der viel umfassendere Gedanke der Pflichterfüllung: Restloser Einsatz für das, was ihm in kritischer Zeit als Aufgabenkreis zugewiesen war. Man vergegenwärtige sich die Lage, in der sich Jodl befand: Der Existenzkampf seines Vaterlandes, die Anforderungen des immer grausamer werdenden Krieges, und zugleich die von allem Herkommen abweichenden Anschauungen seines Obersten Befehlshabers über das, was in einem Krieg zulässig und unzulässig ist. Da wird ganz klar, daß Jodl in Konflikte geraten mußte, in Konflikte mit Hitler, in Konflikte mit sich selbst.

[52] Erlauben Sie mir einen Vergleich. Sie, meine Herren Richter, fühlen sich, wie Sie uns bereits verkündet haben, an die Charte dieses Gerichts gebunden. Nun werden manchen von Ihnen vielleicht Zweifel aufgetaucht sein, ob alle die Bestimmungen dieser Charte dem geltenden Völkerrecht und den allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen entsprechen Aber Sie haben solche Zweifel zurückgeschoben, weil Sie sich als Richter gebunden halten durch die Order, die Ihre vier Regierungen vereinbart haben.

Ähnlich mag es Jodl als Generalstabsoffizier gegangen sein. Er fühlte sich gebunden, bei den Anordnungen seines Obersten Befehlshabers behilflich zu sein, mochten ihm auch da oder dort Zweifel an ihrer völkerrechtlichen Zulässigkeit aufgetaucht sein. Aber er fühlte sich durch sein Amt verpflichtet, Kriegspläne zu entwerfen, ohne zu prüfen, ob und unter welchen Bedingungen sie durchgeführt wurden, er hatte Tausende von Befehlen zu formulieren und herauszugeben, wenn er mit manchen auch nicht einverstanden war. Wenn weder Gegenvorstellung noch seine Verzögerungstaktik halfen, mußte er sich fügen. Als Generalstäbler hatte er eben nur eine helfende Funktion. Daß er unrecht tun könne, solange er diese Funktion nach bestem Wissen und Gewissen erfülle, kam ihm gar nicht in den Sinn.

Man sagt nun: auf dieses oder jenes hätte sich Jodl unter keinen Umständen einlassen dürfen. Was hätte er tun sollen?

Wer jemandem vorwirft, so oder so gehandelt zu haben, muß zu sagen imstande sein, welches Verhalten in dieser Lage richtig gewesen wäre.

Er hätte zurücktreten sollen, sagt man.

Das wäre freilich ein einfacher Ausweg. In Friedenszeiten konnte man ihn gehen, aber im Kriege war das anders.

Jodl versuchte wiederholt, vom OKW loszukommen und an die Front kommandiert zu werden, vergeblich. Vollends Rücktrittsgesuche waren erfolglos, es sei denn, daß sie dem Führer erwünscht wären, wie bei Brauchitsch und Leeb. Im Kriege verbat er sich jegliches Rücktrittsgesuch seiner Generale auf das strengste. Das sei Fahnenflucht, auch der Musketier in der ersten Linie könne nicht zurücktreten, wenn es ihm ungemütlich werde. Auch der General habe, wie jener, auf der Stelle auszuhalten, wo er hingestellt sei. Im Jahre 1944 wurde dieser Befehl schriftlich in schärfster Form wiederholt und begründet. Wenn ein General aus Gewissensgründen abgehen wolle, so möge er wissen: Der Führer trägt die volle und alleinige Verantwortung für seine Befehle, der General habe nur für ihre genaueste Durchführung einzustehen. Ein so begründetes Gesuch sei unsoldatisch und strafbar.

Also zurücktreten konnte Jodl nicht. Hätte er etwa eine Krankheit simulieren sollen? Auch das ist Fahnenflucht und im Kriege [53] ein todeswürdiges Verbrechen. Kann man einem Offizier, der in der guten alten Tradition aufgewachsen ist, ernstlich zumuten, daß er wie ein Feigling sein Vaterland, dem er sein ganzes Leben gewidmet hat in Notzeiten verrät, mit der Wirkung, daß er keinem einrückenden Rekruten mehr offen ins Gesicht sehen kann? Ich glaube nicht.

Da gab es also nur den dritten Ausweg: Mord und Revolution. Im Frieden hätte dies zugleich Bürgerkrieg bedeutet, im Krieg sofortigen Zusammenbruch der Front und Untergang des Reiches. Er hätte also ausrufen sollen: Fiat justitia pereat patria?

Die Anklage scheint in der Tat auf dem Standpunkt zu stehen, es wäre von den Angeklagten ein derartiges Verhalten zu fordern gewesen. Ein erstaunlicher Gedanke! Ob Mord und Verrat je sittlich zu rechtfertigen ist, darüber mögen Ethiker und Theologen streiten. Für Juristen ist so etwas jedenfalls indiskutabel.

Bei Strafe verpflichtet zu sein, das Staatsoberhaupt zu ermorden? Noch dazu als Soldat? Noch dazu im Kriege? Man bestraft seit jeher die Leute, die ein solches Verbrechen begehen, aber sie zu bestrafen, weil sie es nicht tun, wäre neu.

Freilich gibt es auch für den Juristen Grenzen rechtlicher Verpflichtung, aber in Konfliktslagen, die nur derartige Auswege bieten, gilt der alte Satz: Ultra posse nemo obligatur.

Jodl war kein Rebell. Sein Gewissen sagte ihm: Das Vaterland ist in Not, jeder Mann auf seinem Posten!

Jodls Posten war an der Spitze des Wehrmachtführungsstabes. Er hat ihn nicht freiwillig bekommen, er hat ihn nicht freiwillig behalten. Es war ein hartes Muß. Er erfüllte die Aufgabe, die diese Stelle ihm auferlegte nach bestem Können und Gewissen – bis zum bitteren Ende.

Meine Herren Richter! Erlauben Sie mir zum Schluß eine persönliche Reminiszenz, die noch ein Licht auf Jodls Persönlichkeit wirft:

Ich lernte ihn vor etwa 20 Jahren im Hause seines Onkels des Philosophen Friedrich Jodl, in Wien kennen. Dort hatte ich mit ihm ein Gespräch über die Erziehung zum Offiziersberuf. Was der junge Hauptmann darüber sagte, war von solchem sittlichen Ernst und so fern von allem, was man Militarismus nannte, daß ich es immer im Gedächtnis behalten habe.

Ich hatte dann keinerlei Kontakt mehr mit ihm, bis ich im letzten Herbst die überraschende Aufforderung bekam, ihn hier zu verteidigen. Mein erster Gedanke war: »Diesem braven Soldaten sollte geholfen werden.« Aber ich zweifelte anzunehmen, da ich kein berufsmäßiger Anwalt bin. Doch als ich ihn im Gerichtsgebäude zum erstenmal traf, da sagte er mir ein Wort, das alle Zweifel zerstreute: »Seien Sie versichert, Herr Professor«, sagte er, »wenn ich einen [54] Funken Schuld in mir fühlte, hätte ich nicht Sie zum Verteidiger gewählt.«

Meine Herren Richter, ich glaube, so spricht ein Gentleman, nicht ein Verbrecher.

Ich bitte, den Generaloberst Alfred Jodl freizusprechen.

VORSITZENDER: Ich rufe Dr. Steinbauer für den Angeklagten Seyß-Inquart auf.

DR. GUSTAV STEINBAUER, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN SEYSS-INQUART: Euer Lordschaft, Hoher Militärgerichtshof!

Nürnberg, die alte ehrwürdige Kaiserstadt, die nicht nur der deutschen Nation, sondern der Welt einen ihrer tiefgründigsten Maler, Albrecht Dürer, einen unübertroffenen Kunstschnitzer, Veit Stoß, und den Meistersinger Hans Sachs geschenkt hat, ist auf ihren Trümmern die Bühne für den größten Strafprozeß, den die Rechtsgeschichte kennt, geworden. Nürnberg sah in seinen Mauern nicht nur die alte Kaiserpracht, in seinen Mauern rollten Jahr für Jahr auch die Parteitage der NSDAP ab, als ein Teil jener Propagandamaschine, die es verstand, in einer gigantischen, aber auch diabolischen Regie mit Fahnen und Standarten, Trommeln und Fanfaren, Millionen Menschen unter der Parole der deutschen Gleichberechtigung in Bewegung zu setzen, um schließlich in der Maßlosigkeit ihrer Zielsetzung ein Volk, das der Menschheit so viel Gutes und Schönes gegeben, an den Rand des Abgrundes zu führen.

Wir haben hier die Anklage vernommen, die in umfassender Weise zu beweisen sucht, daß sich die Männer verschworen hätten, die friedliche Welt durch Führung von Angriffskriegen zu erobern. Die Durchführung dieser Kriege habe weiters nicht nur die Verträge, die den Krieg verhindern sollten und ferner die Regeln für eine humane Kriegführung verletzt, sondern habe Grundrechte der Menschlichkeit auf das erbärmlichste mit Füßen getreten. Wir sahen durch Monate wie Berge von Dokumenten, eine lange Kette von Zeugen die Anklage erhärten sollten und andererseits die Verteidigung als Hüter und Diener des Rechts bemüht war, dem Gericht bei der Wahrheitsfindung zu helfen. Im Zuschauerraum aber saßen die Vertreter aus allen Teilen der Welt, und nur zu oft hielt die ganze Welt den Atem an, wenn die dunklen Nebelschwaden zerrissen und das Schauen immer wieder in Abgründe ungeahnter Verbrechen ermöglichten. Draußen vor den Toren des Gerichts aber steht tief erschüttert das deutsche Volk, zu dessen gewesenen Führern ja die Angeklagten zählen. Wie immer aber der Prozeß ausgehen mag, eines wird man als verdienstvoll für die Verteidigung anrechnen müssen, daß man bei der Frage der Schuld des deutschen Volkes nie mehr von einer Mit- oder Kollektivschuld wird sprechen können, vielleicht eher von einer Kollektivschmach reden können, weil es ja [55] deutsche Männer waren, unter deren Führung Verbrechen entsetzlichster Art geschahen.

Nun hebt sich zum Schlußakt in dieser Welttragödie der Vorhang, um noch einmal der Verteidigung Gehör zu schenken, um dann ein Urteil zu fällen, das nicht nur den fundamentalen Grundsätzen des Rechts entsprechen soll, sondern auch dabei mitzuhelfen hat, daß Verbrechen, wie sie die Anklage schildert, für immer verhindert werden.

Am 20. November 1945, bei Beginn des Verfahrens, hat der Herr Vorsitzende erklärt, daß dieser Prozeß von großer Wichtigkeit für Millionen von Menschen in der ganzen Welt ist. Aus diesem Grunde habe jeder, der an ihm teilnimmt, die feierliche Verantwortung, seiner Pflicht ohne Furcht und ohne Begünstigung für irgend jemand gemäß den Grundsätzen des Rechts und der Gerechtigkeit nachzukommen. Diese Pflicht wurde dem Verteidiger oft eine fast zu schwere Last. Nicht wegen des Umfanges des Prozeßstoffes, nicht wegen der Fülle oft ganz neuartiger Rechtsfragen, sondern deshalb, weil hier Dinge enthüllt wurden, die so gräßlich und abgrundtief sind, daß ein normales Gehirn an die Möglichkeit solchen Geschehens gar nicht glauben will. Ich denke dabei nicht an die präparierte Menschenhaut, an die Seifenstücke aus Menschenfett, die man uns vorgewiesen, ich denke nicht an die Systematik, mit der man Millionen schuldloser Menschen gequält, gefoltert, erschlagen, erschossen, gehängt und vergast hat, nein, ich denke an die vielen ergreifenden Einzelbilder, die zutiefst auf mich persönlich und wohl auch auf alle anderen Eindruck gemacht haben.

Ich höre noch einmal den Bericht des Ortspfarrers Mogon über die Erschießung der Geiseln aus dem Lager Choisel in Chateaubriant: »Herr Pfarrer, wir besitzen nicht Ihre religiöse Überzeugung, aber wir sind in der Liebe für unser Vaterland vereinigt. Wir wollen sterben, damit das französische Volk glücklicher wird!«

Ich sehe den Zug der Juden aus Dubne, der langsam sich der Hinrichtungsstätte nähert, wie sich die einzelnen Opfer gegenseitig beim Entkleiden helfen, wie der kleine Junge seinen Eltern zuredet, doch tapfer zu sterben und wie sie eine alte Frau tragen, deren Lahmheit sie hindert, selbst die paar Schritte zu machen zur Grube, wo die tödliche Kugel aus der Maschinenpistole auf sie wartet.

Ich erlebe noch einmal das Zeugnis der französischen Journalistin Marie-Claude Vaillant-Couturier, die in herzergreifenden Worten schildert, wie man in dem Lager der Vernichtung die heiligen Gefühle der Mutterschaft und Frauenehre schamlos mit Füßen trat.

Dreieinhalb Millionen Menschen, Männer, Frauen und Kinder, hat Auschwitz allein verschlungen. Das ist ja die furchtbarste Waffe der Anklageschaft, daß die Geister aller dieser schuldlosen Opfer sich mahnend und sühnefordernd neben den Ankläger stellen. Aber auch ich stehe nicht allein. An meine Seite treten die vielen unschuldigen Kriegsopfer auf deutscher Seite, Frauen und Kinder, die den Terrorangriffen in Freiburg, in Köln, in Dresden, in Hamburg, Berlin und Wien und in fast allen anderen deutschen Städten zum Opfer gefallen sind. Neben mich treten weiter meine Kameraden aus der Wehrmacht, die zu Hunderttausenden, Junge und Alte, [56] ihrem Fahneneid getreu als ehrliche und anständige Soldaten ihr Leben dem Vaterland aufgeopfert haben.

Aber wenn auch sie nicht wären, wenn der Angeklagte ganz allein vor seinen Richtern stünde, dann ist es um so mehr meine beschworene Anwaltspflicht, ihm helfend zur Seite zu stehen und Schild und Abwehr zu sein, und Ihnen, meine sehr verehrten Richter, bei der Fülle des furchtbaren Anklagematerials zuzurufen: Richtet nicht im Zorne, sondern sucht vielmehr – wie unser österreichischer Dichter Wildgans, der selber Richter war, einem jungen Richter ins Stammbuch geschrieben hat – »das Edelreis, das unter Dornen blüht«.

Bevor ich mich mit der Anklage in ihren einzelnen Punkten beschäftige, möchte ich kurz ein Bild von der Persönlichkeit des Angeklagten entwerfen. Auch von ihm gilt Schillers Wort im Wallenstein: »Von der Parteien Haß und Gunst verzerrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.« Die Anklage bezeichnet ihn im Trial-Brief als einen gerissenen, kalt berechnenden, politischen Gelegenheitsjäger, der eine Mission vor sich sah. Es sei mehr als offenkundig, daß er seine Stellung als Minister mißbrauchte, um durch sein Doppelspiel Österreich den Verschwörern auszuliefern, in Polen und in den Niederlanden hat er kalt Grausamkeiten begangen und unbekümmert um staatsrechtliche Verpflichtungen das Recht der kleinen Nationen auf religiöse und politische Gedankenfreiheit mit Füßen getreten. Ähnlich urteilt George S. Messersmith in 1760-PS, der sagt, daß Dr. Seyß-Inquart, mit dem er selbst wenig persönlich Fühlung hatte – der Angeklagte bestreitet, Messersmith jemals kennengelernt zu haben –, nach ihm zugekommenen und nach verläßlichen Informationen seinem Freunde, dem Bundeskanzler Schuschnigg gegenüber vollständig unaufrichtig war. Die Behauptung, daß Schuschnigg und Seyß-Inquart in Freundschaft verbunden waren, ist übrigens falsch. Messersmith hatte Wien im Frühjahr 1937 verlassen. Damals war Dr. Schuschnigg, wie alle Zeugen bekunden, mit Seyß-Inquart überhaupt erst in Verbindung gekommen. Messersmith fügt aber wörtlich hinzu, es gibt nur eins, was zugunsten von Seyß-Inquart in jener Zeit gesagt werden kann, und zwar, daß er vielleicht deutschen Beteuerungen glaubte, die man ihm machte, nämlich, daß die österreichische Unabhängigkeit geachtet werden würde.

Herr Gedye, der viele Jahre in Wien Korrespondent englischer und amerikanischer Blätter war, hat in seinem Buch: »Der Selbstmord Österreichs« auch Seyß-Inquart erwähnt und von ihm gesagt: Er ist ein wohlerzogener Nationalsozialist, was doppelt beunruhigend sei, ein junger, intelligenter Advokat, von gutem Aussehen und guten Manieren, welcher deutlich betone, daß er gegen das Bombenwerfen und gegen lärmende Demonstrationen sei und der in den Salons von dem Primate der geistigen Waffen über grobe, materielle Methoden predige. Martin Fuchs, der Verfasser des von mir zitierten Buches »Un Pact avec Hitler« sagt vom Angeklagten: »Seyß-Inquart war in der Öffentlichkeit als Nationalsozialist bekannt, aber praktizierender Katholik und Repräsentant einer österreichischen Nazi-Bewegung, welche Österreich an Seite des Reiches bewahren sollte.« In Österreich[57] verurteilt man jetzt den Angeklagten, weil er durch sein Telegramm den deutschen Einmarsch veranlaßt hätte. Mancher meiner Freunde, die aus Dachau und Mauthausen wiederkehrten, haben mir daher Vorwürfe gemacht, daß ich den Mann, der unser Land verraten habe, als Anwalt vor Gericht vertrete. Holländer, die ich um die Persönlichkeit des Angeklagten befragte, erklärten mir, daß das niederländische Volk ihn als den obersten Repräsentanten Hitlers im Lande haßte, zumal er bei Beginn der Besatzung erklärt habe, er komme als Freund der Niederländer und sie hierin getäuscht habe.

Ich selbst kannte in Wien den Angeklagten nur als Berufskollegen. Er galt allgemein als tüchtiger und anständiger Anwalt, politisch stand er den nationalen Kreisen nahe, ohne besonders hervorzutreten. In den vielen Aussprachen aber, die ich im Laufe des Prozesses mit dem Angeklagten hatte, suchte ich mir nun ein genaues Bild über seine Persönlichkeit zu machen. Wir sprachen miteinander von unseren Familien, von unserem gemeinsamen Fronterlebnis, insbesondere in den Bergen Tirols, wo er seinen Leuten ein tapferer und umsichtiger Kompanieführer war und verwundet wurde. Er sprach auch gerne von kühnen Bergfahrten, aber am liebsten von Musik, und ich habe mir oft gedacht, ein Mensch, der so feinsinnig über Bach, Mozart, Beethoven und Bruckner reden kann, das kann kein Unmensch und vor allem kein grausamer kaltblütiger Verbrecher sein, denn die Liebe zur Natur und zur Musik kann nur im Herzen eines guten Menschen eine Heimstätte finden!

Sein politisches Programm war die Anschlußidee, und dies ist bei seiner Herkunft auch verständlich. Seine engere Heimat ist die alte Bergwerkstadt Iglau, eine deutsche Sprachinsel im slawischen Meer. Frühzeitig lernte er den Kleinkampf zweier sich feindlich gegenüberstehender Nationen kennen. Tief ergriffen vernahm er die Kunde, daß der Sturm der Zeit im vorigen Jahre auch über seine engere Heimat hinweggebraust ist, und daß Iglau, das 800 Jahre deutsch war, nunmehr deutsch gewesen ist. Wir dürfen daher bei der Beurteilung des Angeklagten keineswegs vergessen, daß es das Grenzlanddeutschtum war, das von jeher die völkische Not am brennendsten erlebte und stärker und inniger den Gedanken des großen deutschen Vaterlandes empfunden hat, als die oft aus Selbstsicherheit in Selbstgenügsamkeit sich einwiegenden Staatsbürger des übrigen Reiches. Es ist daher kein Zufall, daß führende Männer in der Anschlußbewegung, deren Namen in meinen Dokumenten aufscheinen, aus dem Sudetenland stammen. Doktor Otto Bauer, der verstorbene Führer der Sozialisten, stammt aus Untertannowitz in Mähren, also auch aus dem sudetendeutschen Land.

Da ich seit dem Herbst 1938 den Angeklagten nicht mehr getroffen und erst hier wiederum im Gefängnis gesehen habe, habe ich auch einen seiner von den Niederländern geachteten Mitarbeitern in den Niederlanden, der kein Nationalsozialist war und durch seine frühere Stellung als höherer Richter verläßlich ist, um eine objektive Beurteilung der Persönlichkeit Dr. Seyß-Inquarts gebeten.

Er schreibt:

»Im Dienst fielen mir als hervorstechende Eigenschaften gleich sein klarer durchdringender Verstand und die Systematik auf, mit der er seine vielseitigen Kräfte ganz zur Erfüllung seiner Pflichten ansetzte.

Er hat sich dabei nie, wie viele ihm Gleichgestellte seiner Zeit, die Erkenntnis der Wirklichkeit durch fanatisch vorgefaßte Meinungen verbaut,[58] sondern sich immer bemüht, nüchtern, ohne Vorurteile, wie es zum Wesen eines verantwortungsbewußten Politikers gehört, an die Dinge heranzu kommen und sie zu sehen, wie sie wirklich sind. Damit hat er auch die Fähigkeit und innere Sicherheit erworben, andere Menschen, auch seine Untergebenen, in Ruhe anzuhören, mit ihnen gemeinsam zu überlegen und sich auch überzeugen zu lassen... Das gesellige Leben in seinem Hause hatte ein gediegenes, selten hohes Niveau. Man merkte der Atmosphäre des Hauses sofort an, daß der Hausherr ein kultivierter Mensch sein mußte. Er hat nicht gehaßt und wenn er glaubte, daß ihm Haß entgegenschlug, nicht aus Haß oder Rache, sondern nur mit Maßnahmen geantwortet, die ihm nach Lage der Sache erforderlich schienen.

Es ist die große Tragik seines Lebens und Schaffens, daß ihm in der Person Hitlers und einiger Menschen seines nächsten Mitarbeiterkreises Kräfte in den Weg traten, die stärker waren, als die seinen...

Als intellektueller und geistiger, kultivierter Mensch war er den Hauptmächten um den Führer der Parteibürokratie, Bormann und der SS-Leitung, Himmler, ohne weiteres verdächtig, wenn er auch das goldene Ehrenzeichen der Partei trug und einen hohen Ehrenrang in der SS hatte. Er blieb das junge Parteimitglied aus der Intellektuellenschicht, die stets mit Mißtrauen betrachtet wurde. Für diese Mächte aber war er ›zu weich‹. Im ganzen aber hoffte er, das Hineinregieren eigenständiger Stellen aus dem Reich in seinen Wirkungsbereich mehr und mehr ausschalten zu können, indem er selbst allmählich stärker das Vertrauen des Führers gewann. In seinem Verhältnis zum Führer liegt nun, wie ich bereits sagte, sein Schicksal.

Das erstaunliche Wissen, die bezwingende Tatkraft und die großen innen- und außenpolitischen Erfolge Hitlers in den ersten Jahren nach der sogenannten Machtergreifung hatten Seyß-Inquart, wie viele andere, so auch führende Männer des Auslandes in dessen Bann gezogen. Er wurde ein treuer Gefolgsmann Hitlers und glaubte ehrlich, daß bei diesem die Liebe zum deutschen Volk die Haupttriebkraft seines Handelns sei. An seiner Treue glaubte er – jedenfalls zunächst und in der aufs höchste gesteigerten Bedrängnis des deutschen Volkes – auch festhalten zu müssen, als ihm Schwächen und Fehler Hitlers aufzugehen begannen...

Ich bin aber der festen Überzeugung, daß er, wie ein großer Teil unseres Volkes, so mehr unbewußt ein Opfer, als ein williges Werkzeug der dämonischen Kraft Hitlers war.«

Dies ein Urteil eines aufrechten deutschen Richters.

Die Anklage legt dem Prozeß den Begriff der Verschwörung zugrunde, um auf diese Weise um die Angeklagten einen Ring zu legen, der sie zu gemeinsamer Verantwortlichkeit zusammenfassen soll. Meine gelehrten Kollegen haben schon ausführlich über den Begriff der Verschwörung und seiner Auswirkung in diesem Prozeß gesprochen. Es hieße Eulen nach Athen tragen, wenn man diese Ausführungen wiederholen möchte. Da dies aber die Hauptidee des Prozesses ist, die vor allem meinem Klienten die Verantwortung für alle welterschütternden Geschehnisse zuschieben soll, möchte ich noch einige Gedanken zu diesem Gegenstand dem Gericht vortragen.

[59] Wenn wir die Blätter der Geschichte durchgehen, so finden wir gar oft dargestellt, daß sich Männer zusammengetan haben, um einen ihnen mißliebigen Herrscher oder ein ihnen verhaßtes System zu stürzen und die Macht an sich zu reißen. Alle diese Fälle sind nach einer oberflächlichen, zusammenfassenden Sprachweise »Verschwörungen« gewesen. Der Italiener Malaparte hat in seinem in Paris erschienenen Buche: »Die Technik des Staatsstreiches« die technischen Methoden darzustellen versucht, mit denen Verschwörungen und Revolutionen von Catilina bis Hitler und Mussolini herauf gemacht wurden. Schon allein bei dieser Technikübersicht wird deutlich, wie unberechtigt es ist, alle diese Unternehmungen als Verschwörungen zu bezeichnen, wenn mit dem Wort überhaupt ein bestimmter, strafrechtlich faßbarer Begriff erfaßt werden soll. Sicher ist jedenfalls, daß man nicht alle die volkstümlich kurzweg sogenannten Verschwörungen unter den von der Anklage verwendeten Begriff der Conspiracy bringen kann. Vielleicht ist eine echte Conspiracy das sogenannte »Gunpowder Plot« gewesen, als Guy Fawkes und seine Spießgesellen unter Jakob I. versuchten, das englische Parlament in die Luft zu sprengen. Noch heute feiert das englische Volk am 5. November eines jeden Jahres mit Feuerwerk und Freudenfeuer und unter Verbrennung einer Strohpuppe die Erinnerung an die damals glücklich verhinderte Übeltat. Aber man darf nicht jedes Zusammenarbeiten zu politischen Zielen einfach Conspiracy nennen. Denn die Verschwommenheit des Sprachgebrauches hat es immer wieder ermöglicht – das ist besonders wichtig und zu betonen – in politischen Kämpfen das Wort »Verschwörung« zu benützen, um damit mangels genügender Rechtsgründe die Vernichtung der politischen Gegner zu rechtfertigen, die vor der Geschichte vielleicht als die Vertreter der besseren Sache erscheinen.

Da mich insbesondere die Niederlande in diesem Prozeß interessieren, will ich aus deren Geschichte zwei Beispiele bringen. Das eine soll an den Freiheitskampf der Niederlande gegen König Philipp II. erinnern, den unsere beiden größten Dichter Goethe im »Egmont« und Schiller in seiner »Geschichte des Abfalls der Niederlande« zum Gegenstand ihrer Darstellung gemacht haben. Schiller schreibt vom Heldentode der beiden tapferen Niederländer Egmont und Horn: »Beide Grafen waren der beleidigten Majestät schuldig erkannt, weil sie die abscheuliche Verschwörung des Prinzen von Oranien begünstigt und gefördert, die konföderierten Edelleute in Schutz genommen und in ihren Statthalterschaften und anderen Bedienungen dem König und der Kirche schlecht gedient hätten. Beide sollten öffentlich enthauptet, ihre Köpfe auf Spieße gesteckt und ohne ausdrücklichen Befehl des Herzogs nicht abgenommen werden. Alle ihre Güter, Lehen und Rechte waren dem königlichen Fiskus zugesprochen. Das Urteil war von dem Herzog allein und von dem Sekretär Pranz unterzeichnet, ohne daß man sich um die Beistimmung der übrigen Kriminalräte bemüht hätte.«

Zwei Jahrzehnte später hatte die gemeinsame Führung der Republik durch den Ratspensionär Johann von Oldenbarnevelt als Staatsmann und durch Moritz von Nassau-Oranien als Feldherr in den bekannten zehn Jahren von 1588-1598 dem jungen niederländischen Staat seine endgültige Sicherung gegeben. Der Gegensatz dieser beiden Männer aber sollte zu einem tragischen Ausgang führen. Der hochverdiente greise Ratspensionär Oldenbarnevelt wurde ebenso wie sein[60] Freund Hugo Grotius, der Vater des Völkerrechts, wegen Verschwörung gefangengesetzt. Während der Groot sein Leben durch die Flucht aus dem Gefängnis in einem Bücherkasten rettete, fiel das Haupt Oldenbarnevelts, weil er, wie die Urteilsbegründung lautete, die Kirche Gottes sehr betrübt habe. Die Einheit des Staates war jedoch gerettet. Die Vorherrschaft Spaniens zur See ging an die kleine Republik der Niederlande über.

Dem französischen Ankläger möchte ich aus seiner Geschichte ein Beispiel des wohl ungerechtfertigten Vorwurfes einer Verschwörung aus der Geschichte seines Landes Frankreich bringen. Ludwig XVI. wurde der Verschwörung gegen das Volk angeklagt und schuldig erkannt. Seine Verteidigung führte an der Barre des Nationalkonvents am 26. Dezember 1792 im ersten Jahre der Republik der Bürger de Sèze. Es war wohl eine der ergreifendsten Gerichtsreden, die je gehalten wurden, eine Rede, in der sich der Verteidiger zugleich gegen eine andere Gefahr jeder Strafgerichtsbarkeit aus politischem Anlaß oder aus politischer Leidenschaft wenden mußte, nämlich gegen einen Verstoß gegen den Rechtsgrundsatz nullum crimen et nulla poena sine lege. Kühn und unerschrocken führte er aus: »Wo kein Gesetz vorhanden ist, welches zur Vorschrift diene, und kein Richter, welcher den Ausspruch tun kann, da darf man sich nicht auf den allgemeinen Willen beziehen. Der allgemeine Wille kann als solcher weder über einen Menschen noch über eine Tatsache sprechen. Ist nun aber kein Gesetz vorhanden, nach dem man erkennen kann, so ist auch kein Urteilsspruch möglich, so läßt sich auch keine Verurteilung denken.« Wir finden diesen Grundsatz des nullum crimen nulla poena sine lege auch heute noch in fast allen Gesetzbüchern fest verankert. Wir finden ihn im deutschen und im österreichischen Strafgesetzbuch, und wir finden ihn auch im französischen Recht, Artikel 4 des Code Pénal, welcher sagt:

»Nulle contravention, nul délit, nul crime, ne peuvent être punis de peines qui n'étaient pas prononcées par la loi avant qu'ils fussent commis.«

Mit Recht schrieb die amerikanische Wochenzeitung »Time« in ihrer Nummer 22 vom 26. November 1945 bei einer Betrachtung. »Was immer für Gesetze die Alliierten für die Zwecke des Nürnberger Prozesses aufzustellen versuchen, die meisten dieser Gesetze haben zur Zeit als die Taten begangen wurden noch nicht existiert. Seit den Tagen Ciceros ist eine Bestrafung ex post facto von den Juristen verdammt worden.«

Daß dieser Grundsatz noch heute, während hier der Prozeß läuft, an Bedeutung nicht verloren, sondern im Gegenteil seine volle Wirkung noch behalten hat, ergibt sich daraus, woran ich wiederum den Herrn französischen Ankläger erinnern möchte, daß die französische Verfassung, die am 19. April 1946 der Nationalversammlung vorgelegt wurde, ausdrücklich als Statut des Menschenrechts im Artikel 10 feststellt: »Das Gesetz hat keine rückwirkende Kraft. Niemand kann verurteilt und bestraft werden außer nach dem Gesetz, das vor der zu bestrafenden Tat verkündet und veröffentlicht worden ist. Jede unter Anklage stehende Person wird vorbehaltlich als unschuldig [61] angesehen, bis sie für schuldig erklärt ist. Niemand kann für die gleiche Handlung zweimal bestraft werden.«

Was nun Menschenrecht für den Franzosen ist, muß wohl auch Menschenrecht für den Deutschen bleiben.

Dieser Grundsatz ist nicht nur im Landesrecht, sondern auch im Völkerrecht fest verankert. Als nach dem ersten Weltkrieg die Alliierten von den Niederlanden die Auslieferung des Kaisers Wilhelm II., der dort ein Asylrecht gefunden hatte, forderten, verweigerte die Holländische Regierung die Auslieferung des Kaisers mit folgenden Worten: »Artikel 227 des Vertrages von Versailles ist am 10. Januar 1920 in Kraft getreten und figurierte nicht auf der Liste der strafbaren Handlungen, die in den Gesetzen Hollands oder in den Verträgen, die Holland abschloß, vorgesehen sind. Dieses neue Verbrechen war auch nicht vorgesehen durch die Strafgesetzgebung der Länder, welche die Auslieferung des Exkaisers verlangen.«

Im gleichen Sinne äußern sich auch A. Morignhac et E. Lemonon, »Droit des gens et la guerre de 1914-1918«, Band II, Seite 572: »Nul ne peut être puni autrement qu'en vertu d'une loi auparavant adoptée et publiée, pour cette raison, ce qu'on exige de la Hollande c'est de collaborer à un procès contraire à l'idée même de la justice.«

Als im Jahre 1935 der Gedanke der Analogie in das deutsche Strafrecht Eingang fand, fand diese Neuerung in den Juristenkreisen auch außerhalb Deutschlands starke Kritik. Der Zweite Internationale Kongreß für vergleichende Rechtswissenschaft, abgehalten in Den Haag im Jahre 1937, formulierte eine Resolution gegen die Analogie im Strafrecht. In dieser Resolution sprach sich der Kongreß zugunsten des Grundsatzes »nulla poena sine lege« aus. (Siehe: »Vœux et Résolutions du Deuxième Congrès International de Droit Comparé, La Haye, 4-11 Août 1937«.)

Aus dem Gesagten ergibt sich schon, daß es rechtlich unzulässig ist, in diesem Prozeß Grundsätze anzuwenden, die einer gesetzlichen Grundlage entbehren. Das kontinentale Recht kennt den Begriff der Conspiracy nicht. Das österreichische Recht, das als Landesrecht für meinen Klienten in Frage kommen könnte, kennt diesen Begriff auch nicht. Es finden sich höchstens ganz schwache Ähnlichkeiten, wenn wir darauf verweisen, daß das Sprengstoffgesetz vom 27. Mai 1885, Paragraph 5, die Verabredung der Ausführung eines Sprengstoffverbrechens für strafbar erklärt. Paragraph 174 IC des Strafgesetzbuchs macht den Diebstahl zum Verbrechen, wenn der Dieb den Diebstahl als Mitglied einer Bande begeht, die sich zur gemeinsamen Verübung von Diebstählen verbunden hat. Das deutsche Recht kennt nur die Verantwortlichkeit im Strafrecht für die Tat eines anderen als Mittäter, Anstifter und Gehilfen. Ähnlich liegen die Verhältnisse im französischen Recht, und es sei der Kürze halber auf die Artikel 59, 60, 89 und Artikel 265 des Code Pénal verwiesen.

Daß diese Sache unklar und zumindest zweifelhaft ist, gibt ja auch der angesehene russische Völkerrechtslehrer Professor A. M. Trainine in seinem Buch »La responsabilité pénale des Hitlériens« zu. Er sagt auf Seite 13:

[62] »Die Probleme des internationalen Strafrechts sind unglücklicherweise sehr wenig studiert, es fehlt eine theoretisch klare Definition des Fundamentalbegriffs ›Internationales Delikt‹, und ein wohlgeordnetes System dieses Rechts bleibt noch zu schaffen.«

Nach der Anklage sind das Ziel oder die Mittel der Conspiracy Verbrechen gegen den Frieden, gegen das Kriegsrecht und gegen die Humanität. Über die Strafbarkeit einzelner wegen Bruches des zwischenstaatlichen Friedens hat Professor Jahrreiss bereits ausführlich gesprochen und den Stand der außerdeutschen Völkerrechtswissenschaft dargestellt und gewürdigt. Da sich aber auch Juristen deutscher Zunge mit dieser Frage beschäftigt haben, möchte ich mir eine ergänzende Bemerkung erlauben.

Der bekannte österreichische Gelehrte des Völkerrechts Alfred von Verdruß hat in seinem Buch »Völkerrecht« festgestellt:

»Nach der herrschenden Ansicht können Subjekte eines völkerrechtlichen Delikts nur Staaten sowie andere völkerrechtsunmittelbare Rechtsgemeinschaften, nicht aber auch Einzelmenschen sein.

Eine völkerrechtliche Verpflichtung eines Einzelmenschen würde nur vorliegen, wenn das Völkerrecht selbst einen Tatbestand mit einer Unrechtsfolge verknüpfen und anordnen würde, daß diese Normen unmittelbar auf den von einem Menschen gesetzten Tatbestand anzuwenden sind. Erst dadurch würden die Menschen, die nach geltendem Recht nur dem staatlichen Zivil- und Strafrecht unterworfen sind, ausnahmsweise unmittelbar durch das Völkerrecht verpflichtet werden.«

Nach diesen kurzen ergänzenden Ausführungen zu den Rechtsgrundlagen des Prozesses wende ich mich zur Anklage, die meinem Klienten vorwirft, bei der Besitzergreifung und Inkontrollnahme Österreichs als Verschwörer mitgewirkt und in Polen und in den Niederlanden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Humanität begangen zu haben.

Der erste Akt spielt also in Österreich, der zweite in den Niederlanden nach einem kurzen Zwischenspiel in Polen.

Östlich über Berchtesgaden liegt der Obersalzberg, in tausend Meter Höhe, ein von Wiesen und Wald bedeckter Berghang am Nordfuß des Hohen Göll, mit verstreuten Gehöften und herrlicher Aussicht. Oberhalb der alten Straße liegt der stattliche Berghof, 1936 durch Umbau des Hauses Wachenfeld entstanden. Hier, nicht am Rhein, nicht im Teutoburger Wald oder an den Gestaden der Nordsee, hat Adolf Hitler seinen Wohnsitz aufgeschlagen, wenn er fern der Reichskanzlei Erholung suchte. Durch eine kleine Anhöhe verdeckt liegt hinter dem nahen Hintereck das Haus des Generalfeldmarschalls Göring.

Sinnend steht Adolf Hitler an dem breiten Fenster seines Landhauses und seine Blicke gleiten hinüber zu den schneebedeckten Bergen. Das Land, das diese Berge schützen, ist Österreich, sein Heimatland. Es ist ein deutsches Land, frei und unabhängig und nicht seinem Willen unterworfen wie das Reich, dessen absoluter Führer er geworden ist. Als er auf der Feste Landsberg sein [63] Lebenswerk schrieb, da schrieb er gleich auf der ersten Seite seines Buches: »Deutsch-Österreich muß zurückkehren in das große deutsche Vaterland!«

Aus den Tiefen der Täler steigen langsam die Schatten der Nacht, und seine Gedanken gleiten über die Berge zur alten Kaiserstadt Wien an der Donau, die er liebt und haßt zugleich. Es ist die Stadt seiner freudlosen Jugend, angefüllt mit der Erinnerung von Not und Elend. In seinem Buche »Mein Kampf« vergleicht er nun diese Stadt mit München und sagt von letzterer:

»München, eine deutsche Stadt, welch ein Unterschied gegen Wien, mir wurde schlecht, wenn ich an dieses Rassenbabylon zurückdachte.«

Und doch bleibt diese Stadt das Ziel seiner Sehnsucht, und er nennt die gleiche Stadt Wien in den Märztagen 1938 eine Perle, der er die Fassung geben wird, die ihre Schönheit verdient. Auf seinem Tische liegt ein Buch »Die Geschichte der Deutschen Österreichs«. Hitler hat dieses Buch immer und immer wieder gelesen, es ist die Geschichte seiner Heimat, und auch wir wollen nun ein wenig, soweit dies hier die Zeit erlaubt, darinnen blättern. Wir lesen: Österreich war durch viele Jahrhunderte einer der stärksten Pfeiler deutschen Lebens, sein Werden, sein Aufstieg und Niedergang bildeten einen wesentlichen Teil deutscher Geschichte. Österreich war und ist ein Stück deutscher Seele, deutschen Ruhmes und deutschen Leides. Österreich hat aus dem Altreich unschätzbare Kraft empfangen, es hat aber auch selbst Großes und Wertvolles für die Entfaltung gesamtdeutscher Kultur geleistet.

Seine geschichtlichen Anfänge gehen auf den Franken Karl den Großen zurück, der zum Schutz des Reiches gegen Osten die erste Ostmark geschaffen hat. Sie fiel dem Vordringen der Magyaren zum Opfer. Der Sieg des deutschen Königs Otto I. auf dem Lechfelde 955 ist die Stunde der Wiedergeburt eines Österreichs, das nun unter der Herrschaft des fränkischen Geschlechts der Babenberger fast drei Jahrhunderte Wachtturm gegen Osten bleibt. Als der letzte Babenberger im Kampfe gegen Ungarn gefallen war, kam Österreich an das alemannische Haus Habsburg, das durch Jahrhunderte die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation tragen und durch seine Vormachtstellung das stärkste Schild des Reiches sein sollte. Die mystische Kraft der Reichsidee gibt Friedrich III. den unerschütterlichen Glauben an die universale Zukunft des Hauses Österreich: Austria erit in orbe ultima. Unter Maximilian wird Wien Hauptsitz des Humanismus. Karl V. geht über die Nation hinaus und ist erfüllt von der Weltmachtsidee des mittelalterlichen Imperiums. Die Verteidigung und Befreiung Wiens im Jahre 1683 ist eine gesamtdeutsche Tat von größter Bedeutung. Unter der Lehensfahne des deutschen Königs kämpften Katholiken und Protestanten, Söhne aller deutschen Stämme, um das Schicksal der Hauptstadt der Christenheit. Im 18. Jahrhundert hebt sich im Widerstreit der Territorialstaaten gegen das Reich, Fürstentum gegen Reichsidee, der deutsche Dualismus ab, der von nun ab für das Reich und Österreich andererseits tragisches Geschick sein sollte. Österreich und Preußen, Maria Theresia und Friedrich der Große. Die große Kaiserin und der große König. An dem Widerstreite der beiden Mächte ging das alte Römische Reich deutscher Nation 1806 zugrunde.

Das Reich starb, aber die Reichsidee lebte. Bei Leipzig kämpften 1813 Preußen und Österreicher Schulter an Schulter unter Schwarzenberg, Scharnhorst, Gneisenau und Blücher um die Befreiung von[64] dem Joche des korsischen Tyrannen. Am 11. Januar 1849 versammelten sich zu Frankfurt am Main die Deputierten aller deutschen Länder zur konstituierenden Nationalversammlung. Der österreichische Abgeordnete Bergassessor Karl Wagner aus Steyr in Oberösterreich sprach damals die denkwürdigen Worte:

»Lassen Sie eine Lücke für uns, daß wir hereinkommen, wir werden kommen, leider vielleicht nicht mehr Alle, wir Deutsche Österreichs kommen, wie und wann, wer kann es sagen? Wer kann im Buche der Zukunft lesen? Wir kommen aber!«

Im Jahre vorher hatte in der Paulskirche, wo sich die Vertreter aller deutschen Länder und Staaten getroffen hatten, der Dichter Ludwig Uhland als Abgeordneter die denkwürdigen Worte gesprochen:

»Mag immerhin Österreich den Beruf haben, eine Laterne für den Osten zu sein, es hat einen näheren, höheren Beruf: ›Pulsader zu sein im Herzen Deutschlands!‹«

Aber auf den Schlachtfeldern von Königgrätz wird 1866 eine tausendjährige Gemeinschaft Österreich und Deutschland vernichtet und Österreich gezwungen, aus dem deutschen Bunde auszuscheiden.

Wie unbefriedigend die Lösung der deutschen Frage durch Bismarcks gewaltsamen Ausschluß Österreichs aus dem Verbande der Deutschen Staaten war, wurde auch im Reiche erkannt, wo Paul de Lagarde 1875 schrieb: »Aber trotzdem ist 1886 und das Deutsche Reich eine Episode. Nikolsburg kann nicht trennen, was Geographie und Geschichte zum Zusammensein bestimmt haben, wenn dieses Zusammensein noch lange nicht eine Einheit sein wird.«

Noch einmal jedoch, bevor der Habsburgische Doppelaar für immer niedersinkt, kämpfen 1914 bis 1918 Schulter an Schulter Deutsche und Österreicher in Nibelungentreue um die Freiheit des Vaterlandes.

Die fast tausendjährige gemeinsame Geschichte, vor allem aber die gemeinsame Sprache und Abstammung, gleiches Brauchtum und gleiche Lebensformen bedingen eine engste Gemeinschaft der Einheit auf dem gesamten Gebiete der geistigen Kultur, des dichterischen Schaffens und der wissenschaftlichen Forschung.

Wenn hier der Österreicher eine Sonderstruktur aufweist, so ist es vor allem die Tatsache, daß er insbesondere auf dem Gebiete der Dichtkunst und Musik Leistungen hervorbrachte, die die Schöpfungen anderer deutscher Stämme weit überflügelten oder ihnen doch gleichkamen. Wie auch hervorgehoben werden kann, daß das Jahrhunderte andauernde enge Zusammenleben mit anderen Nationen den Österreicher auszeichnet, Widersprüche auszugleichen und Gegensätze zu überbrücken. Seine Freude am Sinnfälligen, am Farbigen und sein Sinn für das Äußere des Lebens mögen ihn dazu besonders geeignet machen. Der enge Rahmen des Prozesses legt hier einer ausführlichen Schilderung des gemeinsamen Kulturlebens berechtigte Schranken auf. Ich beschränke mich auf die Zitierung der Namen: Die Sänger des Nibelungenliedes, die Minnesänger, Walther von der Vogelweide, Ulrich von Lichtenstein und Oswald von Wolkenstein. Die Humanisten Aeneas Sylvius und Konrad Celtis, der Orientalist Hammer-Purgstall, der Dichter der Wehrmannslieder von Collin, der klassische Dramatiker Franz Grillparzer, die Dichter des Vormärzes Raimund und Nestroy, Stifter und Bauernfeld, die Heimatdichter Stelzhammer und Rosegger und zuletzt Rainer Maria Rilke, Franz [65] Werfel, Anton Wildgans und Hermann Bahr. Wenn ich mich dem Zauberreich der Musik zuwende, so ist es ein ganzes Füllhorn glanzvoller Namen: Mozart, Haydn und Schubert, die Walzerkönige Lanner und Strauß, der Symphoniker Anton Bruckner, sie alle waren Österreicher.

Aber ist es nicht ein Symbol geistiger Einheit, daß gleich dem norddeutschen Dichter Hebbel auch Beethoven und Brahms das kunstsinnige Wien zur dauernden Stätte ihres Wirkens machten? Es gibt keine deutsche Musik ohne Österreich. Aber nicht nur auf dem Gebiete der Kunst, sondern auch auf dem Gebiete der Wissenschaft und Technik leistete Österreich seinen Teil zum kulturellen Leben des deutschen Volkes.

Doch kehren wir zum Obersalzberg zurück. Liebte Hitler, der dämonische Psychopath, seine Heimat mit der Liebe eines abgewiesenen Freiers, so war die Liebe Hermann Görings ganz anderer Art. Auch er blickte gern hinüber ins nahe Österreich. Er verbrachte dort seine Jugendzeit, sie war nicht freudlos und leer.

Im Lande Salzburg mit seiner alten Bischofsstadt, seinen Seen und Bergen lernte Hermann Göring österreichische Eigenart kennen, Volk und Land lieben. Was war das doch für den kühnen Jäger und späteren Flieger eine Freude, als er im Felsenkar die erste Gemse ins Fadenkreuz des Zielfernrohrs bekam. Als er dann am 9. November 1923 am Odeonsplatz in München durch eine Maschinengewehrgarbe schwer verwundet wurde, da brachten ihn treue Freunde, begleitet von der selbst todkranken Gattin Karin, auf einsamen Wildpfaden vor den nachfolgenden Häschern in die freien Tiroler Berge Österreichs. In der großen Halle von Karinhall prangte später ein großes Relief, in dem lange vor dem Anschluß schon Österreich ohne Grenzlinien in die Karte Deutschlands eingezeichnet war. Aber Hermann Göring war auch Leiter des Vierjahresplanes und wußte, daß Österreich nicht nur schön und an Ehren reich war, sondern auch den Erzberg besitzt, wo es Erz und Stahl für den Guß von Kanonen gab, er kannte die reichen Wälder Österreichs, wo es Holz für Zellulose, zum Schiffbau und zur Aufrüstung gab, ihm war nicht unbekannt, daß in Österreich die größten Bauxit- und Magnesit-Vorkommen der Welt lagen und daß Österreich die reichen Erdölquellen in Zistersdorf hat. Nur der Starke hat recht. Wenn Deutschland in der Welt wieder was mitreden sollte, dann mußte es ein starkes Heer und eine starke Flotte haben. Auch darum liebte er Österreich.

Hermann Göring hat auch aus dieser seiner Gesinnung nie ein Hehl gemacht und dies auch deutlich den Diplomaten der Großmächte wiederholt zum Ausdruck gebracht. Er hat zum Beispiel Lord Halifax offen erklärt, daß es ein integrierender Bestandteil der deutschen Politik sei, welche Regierung auch immer an der Macht sei, daß der Augenblick geschaffen werden müßte, damit die Vereinigung der beiden Brudervölker rein deutschen Herkommens und Blutes stattfinden könnte. Er hat auch mit menschlicher Offenheit als Zeuge hier vor Gericht bekundet, daß er, als die Anschlußfrage in ihr akutes Stadium kam, diese lang und heißersehnte Möglichkeit zur totalen Lösung ergriffen habe und für alles, was damals geschah, hundertprozentig die Verantwortung auf sich nehme. Es ist ihm daher auch zu glauben, wenn er weiter erklärte, daß er alles dabei tun würde, daß der Anschluß zu keiner Erschütterung des Friedens führe.

VORSITZENDER: Ich glaube, daß der Gerichtshof sich mit der Geschichte Österreichs bekannt machen kann, ohne daß Sie sie uns im Laufe Ihres Plädoyers verlesen. Bis jetzt haben Ihre zwanzig Seiten nichts anderes enthalten als die Geschichte Österreichs.

DR. STEINBAUER: Herr Präsident, ich bitte um Entschuldigung. Ich halte dies für notwendig, die Grundlage Österreichs darzutun, von der aus mein Klient ausgegangen ist. Ich bin jetzt fertig und gehe weiter zu Tatsachen über.

Der geballte gemeinsame Wille der beiden Großen des Dritten Reiches, Österreich bei passender Gelegenheit einzustecken, das ist [66] der Schlüssel zur Lösung der Anschlußfrage. Dazu braucht man keine Verschwörung; was noch mittat, waren Figuranten am Schachbrett der beiden Männer, Komparserie im großen Welttheater.

Doch kehren wir zu Österreich zurück.

Nur wenn wir die Geschichte dieses Landes in der Zeit von 1818 bis 1938 kennen, dann sind wir in der Lage, die Rolle des Angeklagten in dieser Frage gerecht zu beurteilen.

Ich habe schon im Beweisverfahren darauf hingewiesen, daß drei Gründe meiner Meinung nach zum Anschluß führten und habe diese auch durch die vorgelegten Dokumente, auf die ich hiermit verweise, zu erhärten versucht:

Erstens, die wirtschaftliche Not,

zweitens, die dadurch entstandene Uneinigkeit,

drittens, das Verhalten der Großmächte Österreich gegenüber, insbesondere in den kritischen Tagen des März 1938.

Dr. Karl Renner, der Bundespräsident der Republik Österreich, der das Vertrauen der vier Besatzungsmächte genießt, und auf den das gesamte österreichische Volk mit Ehrfurcht blickt, weil er zum zweitenmal in schwerer Not das Steuer des Staatsschiffes in die Hand genommen hat, hat in seiner Denkschrift 1945 sehr treffend die Geschichte des Anschlusses dargestellt:

»Der politische Grund, warum die Anschlußidee am Schlusse des ersten Weltkrieges beinahe ganz Österreich ohne Ausnahme ergriff, lag in den wiederholten Proklamationen der Siegermächte, daß der Krieg für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen geführt werde.

... daß jede Nation ein Anrecht auf ihren eigenen, geschlossenen, nationalen Staat besitze und der Friede diesen Anspruch erfüllen werde.

Aber dieser politische Grund war bei der Masse nicht entscheidend. Österreich ist ein Bergland mit viel zu wenig Ackerboden, ein Land ganz einseitiger ökonomischer Struktur, seine Hauptstadt beherbergt allein ein Drittel der Bevölkerung, seine Industrie nährt einen großen Teil derselben nur dadurch, daß es für die Nachbarn arbeitet und von ihnen Rohstoff und Brot bezieht. Die plötzliche Lostrennung der hochagrarischen Teile des vordem einheitlichen Zollgebietes der Donaumonarchie, die 18 hochschutzzöllnerischen Maßnahmen der Sukzessionsstaaten nahmen dem Lande zugleich seine Nahrungsquellen und seine Absatzgebiete. Die Furcht, sich allein nicht ernähren und daheim nicht Arbeit finden zu können, die plötzliche Einengung des Arbeitsmarktes waren es daher, die 1918 beinahe jedermann den Anschluß als einzigen denkbaren Ausweg erscheinen ließen. Von irgendwelchem nationalen Chauvinismus konnte bei der Arbeiterklasse Österreichs um so weniger die Rede [67] sein, als diese ja ihre Herkunft in einem sehr hohen Prozentsatz auf Eltern nichtdeutschen Volkstums zurückschreibt und den Zusammenhang mit der Heimat kaum eingebüßt hatte. Drohend stand vor den Arbeitern aller Branchen die überwältigende Konkurrenz der reichsdeutschen und der tschechoslowakischen Industrie, mit der das kleine vom Meer vollkommen abgeschnittene roh stoffarme Ländchen die Konkurrenz nicht halten zu können befürchtete. Erst diese ökonomische Lage begreifen, heißt, die Anschlußbewegung verstehen und bringt die Einsicht, wieso Hitlers ruhmredige Verkündigung, die Arbeitslosigkeit aus der Welt geschafft zu halben, auf die österreichische Arbeiterschaft so tiefen Eindruck machte, daß der Abwehrwille gegen die Annexion innerhalb dieser Arbeiterschaft anfänglich so gering war.«

Vor mir liegt ein wirtschaftsstatistischer Vergleich aus dem Jahre 1938. Daraus nur einige Ziffern, die sprechen Bände:

Deutsches ReichÖsterreich

Bevölkerung681500006710000

Fläche in qkm47071483868

Bevölkerungs-

bewegung 1936plus 7.2minus 0.1

auf je 1000

Einwohner

Arbeitslose 19342353000 363000

1937573000319000


Österreichs Außenhandel 1937

  • Ausfuhr: Nach Deutschland 179,8 Millionen
    Nach Italien 172,6 Millionen Nach Ungarn 111,2 Millionen Nach der Tschechoslowakei 87,5 Millionen

Mit Entscheidung vom 5. September 1931 erklärte der Ständige Internationale Gerichtshof im Haag mit acht gegen sieben Stimmen die zwischen Deutschland und Österreich geplante Zollunion mit dem Genfer Protokoll vom 4. Oktober 1922 nicht vereinbar. Dies war der letzte amtliche Versuch der Regierungen, zu einem engeren beiderseitigen staatsrechtlichen Verhältnis mit ausdrücklicher Zustimmung der Siegermächte zu kommen. Er scheiterte. Mußte da in den Köpfen fanatischer Anschlußanhänger nicht die Überzeugung wach werden, daß dieses nationale Hochziel nur auf eigener Spur genommen werden kann?

Ein Jahr darauf erreichte das Passivum des österreichischen Außenhandels 613 Millionen Schilling. Dr. Dollfuß schloß am 15. Juli 1932 ein Anleiheabkommen in Lausanne unter der Bedingung ab, die Anschlußfrage auf weitere zehn Jahre zurückzustellen. Die Ratifizierung erfolgte in der Sitzung des Nationalrates am 30. August 1932 mit 82 gegen 80 Stimmen. Im Bundesrat hatte der Sozialdemokrat Körner, der heutige Bürgermeister von Wien, Einspruch gegen das Gesetz im Hinblick auf eine engere Gemeinschaft mit dem Deutschen Reich erhoben. Im Jahre darauf gelangte [68] Hitler zur Macht. Die Sozialdemokraten sahen ihre Partei im Reiche aufgelöst und die Gewerkschaften zerschlagen, sahen den Reichstagsbrand und die beginnende Verfolgung der Juden, und ihre Führer wandten sich vom Anschluß ab. Die katholischen Kreise, die durch den Anschluß das katholische Element im Reich stärken wollten, wandten sich wegen der im Reich einsetzenden Kirchenverfolgung ebenfalls ab, und für den Anschluß traten allein die Nationalsozialisten ein, deren Anhängerschaft sich in kurzer Zeit verzehnfacht hatte. Da Dr. Dollfuß das Parlament und daher den Weg zur Macht mittels des Stimmzettels ausgeschaltet hatte, strebten die Nationalsozialisten mit allen Mitteln unter Führung des Landesinspekteurs Theo Habicht zur Macht im Staate. Es kommt zu den blutigen Ereignissen des Jahres 1934. Dr. Dollfuß stirbt unter Mörderhand, und sein Nachfolger Dr. Schuschnigg sucht das tieferschütterte Staatswesen wieder in Ordnung zu bringen. Die Sozialisten aber stehen wegen der Februarereignisse des Jahres 1934 schmollend abseits. Auch außenpolitisch ändert sich die Situation. Stand im Jahre 1934 Italien noch auf Seite Österreichs, und hatte Mussolini seine Divisionen drohend gegen Norden auf den Brenner gestellt, so drängte das abessinische Abenteuer Italien an die Seite Hitlers. Österreich ist gezwungen, den Kurswechsel mitzumachen, und es schließt auch, um die wirtschaftliche Situation zu verbessern, das Übereinkommen vom 11. Juli 1936 ab. In diesem Übereinkommen erkennt Deutschland die Unabhängigkeit Österreichs an und stellt den Wirtschaftskrieg ein. Der Preis aber dafür ist eine Reihe von Maßnahmen, die den Nationalsozialisten in Österreich neuen Auftrieb geben. Um die schmale Pattform seiner Regierung zu erweitern und eine wirkliche Befriedung herbeizuführen, erklärte Kanzler Dr. Schuschnigg, auch die sogenannten Nationalen zur Mitarbeit heranzuziehen. Unter diesen Männern ist auch der Angeklagte, der im Mai 1937 auch österreichischer Staatsrat wird. Wie schon oben erwähnt, war sein politisches Programm die Anschlußidee. Daraus hat er nie ein Hehl gemacht. Er kommt auch, was nicht übersehen werden darf, aus den Reihen der nationalen Opposition. Der Anschluß hat ihn auch dem Nationalsozialismus näher gebracht, und es scheint müßig, lange Untersuchungen anzustellen, wann er tatsächlich, also formell, Mitglied der Partei geworden ist. Unter den bei seiner Verhaftung abgenommenen Dokumenten befand sich jedenfalls auch seine Mitgliedskarte mit der Nummer über sieben Millionen. Diese Angaben über die Parteizugehörigkeit bestätigen auch die Zeugen Gauleiter Rainer und Uiberreither. Als der neue Staatsrat dann in Berlin dem Stellvertreter des Führers Heß einen Antrittsbesuch machte, ist derselbe sehr höflich aber kühl und bedauert, daß Seyß-Inquart kein alter Kämpfer sei. Die Aufgabe des Dr. Seyß-Inquart ist, die Durchführung des Juli-Übereinkommens zu überwachen und zwischen der [69] Österreichischen Regierung einerseits, den nationalen Kreisen anderer seits und dem Reiche Mittler zu sein. Diese Aufgabe ist eine dornenvolle und undankbare gewesen. Die vaterländischen Kreise nämlich können den Terror der Nationalsozialisten in der Dollfuß-Zeit nicht vergessen. Die Nationalsozialisten, deren Führer nunmehr Hauptmann Leopold ist, sind mit der Methode des nationalen Vertreters Seyß-Inquart bei der Regierung nicht zufrieden. Es gibt fortwährend zwischen den beiden Männern Differenzen, die so weit führen, daß Seyß-Inquart seinen Auftrag, eine Verständigung zu fördern, aufgeben will. Ich verweise diesbezüglich der Kürze halber auf die Urkunde 44, Schreiben des Staatssekretärs Keppler an General Bodenschatz, 45, Telegramm Göring an Keppler – und 46, US-704 – meines Dokumentenbuches. Es gibt fortgesetzt Verletzungen des Juli-Übereinkommens, und die österreichische Polizei findet den unter dem Namen Tafs-Plan bekannten Umsturzplan, der eine gewaltsame Änderung der Regierung herbeizuführen sucht. Minister Guido Zernatto hat bekundet, daß sich der Angeklagte von allen diesen Bestrebungen distanzierte. Es kam dann die Unterredung vom 12. Februar 1938 am Obersalzberg. Der Verlauf dieser Unterredung ist bekannt. Daß sich der Angeklagte am Vorabend dieser Besprechung nicht nur mit Zernatto, dem Vertreter und Vertrauten des Kanzlers in der Regierung, sondern auch mit den nationalen Führern besprach, wird verständlich, wenn man sich immer wiederum die jederzeit offen erklärte Vermittlerrolle des Angeklagten vor Augen hält. Derselbe mußte ja auch die Forderungen der Opposition kennen, wenn bei der Zusammenkunft der beiden Staatsmänner in Berchtesgaden eine Bereinigung der Differenzen erfolgen sollte. Daß die Nationalsozialistische Partei die Kenntnis der Situation zu ihrem Vorteil auszunützen suchte und durch die Entsendung des Mühlmann schneller als der ahnungslose Kanzler Schuschnigg war, kann dem Angeklagten doch nicht als Doppelspiel im Rahmen einer Verschwörung angelastet werden. Auch hier sei auf den in der Emigration verstorbenen Minister Zernatto verwiesen, der bekundete, daß er den sicheren Eindruck hatte, daß Seyß-Inquart von den am Obersalzberg getroffenen Vereinbarungen noch keine Kenntnis hatte. Auf Grund dieses Übereinkommens wurde Seyß-Inquart Innen- und Sicherheitsminister. Er fährt als solcher nach Berlin, um dem Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches einen Staatsbesuch zu machen, um ihm bei diesem Anlaß ein aus der dem Gericht vorgelegten Aktennotiz, Exhibit Nummer 61, bekanntes politisches Programm zum Verhältnis der beiden Staaten zueinander zu entwickeln. Die Darstellung des Angeklagten als Zeuge über diese Unterredung erscheint vollkommen glaubwürdig. Hitler war offensichtlich damals aus Gründen verschiedenster Natur noch nicht [70] entschlossen, den Anschluß durchzuführen. Hier sei auf die Aussage des Angeklagten Göring verwiesen, der, am 14. März als Zeuge vernommen, erklärte:

»Ich war in Berchtesgaden nicht dabei, ich war auch nicht mit diesem Übereinkommen einverstanden, weil ich gegen jede Festlegung, die wieder diesen Schwebezustand weiter hinausschiebt, gewesen bin.«

Durch das Berchtesgadener Abkommen waren den Nazis in Österreich in gewissem Sinne die Betätigung und Propaganda erlaubt worden. Die aus den Gefängnissen auf Grund der Amnestie entlassenen 2000 Parteiangehörigen und die aus dem Reich wenigstens zum Teil zurückgekehrten Mitglieder wirkten speziell in den Bundesländern in erhöhtem Maße für ein rasches Anwachsen der Partei und benützten insbesondere Hitlers Reichstagsrede vom 20. Februar als Signal zu staatsfeindlichen Demonstrationen mit dem Ziele, in kürzester Frist an die Regierungsmacht zu kommen. Nicht nur Schuschnigg, sondern auch die breiten Massen der Arbeiterschaft erkannten nun die Gefährlichkeit der Situation. Die drohende Gefahr ließ die vergangenen Differenzen vergessen, und Verhandlungen zwischen Schuschnigg und den sozialistischen Arbeiterführern und den christlichen Gewerkschaften schienen Gewähr zu geben, durch Bildung einer gemeinsamen Abwehrfront aller demokratischen Kräfte den bevorstehenden Angriff des Nazismus abzuwehren. Rasches Handeln war notwendig, und Schuschnigg kündigte seine Volksabstimmung an. Das ganze Land erwachte aus seiner Lethargie. Arbeiter und Bauern wurden zur Abwehr aufgerufen und unter Führung Zernattos in der kurzen Frist die Wahlvorbereitungen in den Fabriken und bis in die fernsten Bergtäler getroffen. Es war klar, daß dieser Versuch des Kanzlers Schuschnigg, noch im letzten Moment das Steuer herumzuwerfen und den Kurs zu ändern, nicht nur den Widerstand der Nationalsozialisten in Österreich, sondern auch der im Reich hervorrufen müsse. Hitler tobte, und Mussolini hatte leider nur zu recht, wenn er Schuschnigg vor der Wahl mit dem Hinweis warnte, sie werde eine Bombe sein, die in seinen eigenen Händen explodieren werde.

Und nun zurück zum Angeklagten. Er war nicht nur Regierungsmitglied, er war Vertrauensmann der nationalen Opposition und Garant für Berchtesgaden dem Reiche gegenüber. Wenn die Staatsanwaltschaft ihm vorwirft, daß er Schuschnigg das Ehrenwort bezüglich der Wahl gegeben habe und dieses Wort dann nicht gehalten hat, so stimmt das nicht. Es sei auf die Rede verwiesen, die Gauleiter Rainer am 11. März 1942 vor den Berliner Parteigenossen hielt. Auf Seite 12 dieser Urkunde, 4005-PS, wird bekundet, daß die Sekretärin Zernattos geheimes Mitglied der NSDAP[71] war und sofort nach Kenntnisnahme des Abstim mungsplanes denselben ihren Parteigenossen verriet. Rainer sagt, wir wußten schon um 11.30 Uhr desselben Abends den ganzen Plan.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird jetzt eine Pause einschalten.


[Pause von 10 Minuten.]


DR. STEINBAUER: Der Protest, den Seyß-Inquart namens der Nationalen gegen die Volksabstimmung dem Kanzler gegenüber zum Ausdruck brachte, war formaljuristisch vollkommen berechtigt. Abgesehen davon, daß infolge der Kürze der Zeit keine Kautelen für eine geordnete Wahl gegeben waren, war die Wahl auch verfassungsrechtlich nicht begründet. Artikel 65 der österreichischen Verfassung vom 1. Mai 1934 bestimmt genau, unter welchen Umständen das Volk zur Abstimmung aufgerufen werden kann. Dr. Schuschnigg stützt sich daher auch bei der Ausschreibung der Wahl auf Artikel 93 der Verfassung, welcher Artikel nur allgemein sagt: »Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik.« Die Durchführung der Wahl oblag der Vaterländischen Front, also der politischen Organisation. Die Weiterentwicklung ist bekannt, insbesondere die Ereignisse vom 11. März 1938. Hier ist der Hauptvorwurf der Verschwörung wohl der, daß Seyß-Inquart durch sein Telegramm über angebliche Unruhen den Einmarsch der deutschen Truppen verursacht habe. Wir finden diese Geschichtslüge, die dem Angeklagten den Namen eines »Judas von Österreich« eingebracht hat, in den Darstellungen des Anschlusses. Wir finden ihn zum Beispiel in Raphael Lemkins »Axis rule in Occupied Europa«, Seite 109. Wir finden ihn vor allem noch in der Eröffnungsrede des amerikanischen Hauptanklägers, Oberrichter Jackson, obwohl durch die Vorlage der Telephongespräche Görings, 2949-PS, in Verbindung mit der Zeugenaussage Görings einwandfrei erwiesen ist, daß dieses Telegramm nie abgegangen und in einem Zeitpunkt diktiert würde, und zwar an eine dritte Person, in welchem die deutschen Truppen schon den Befehl hatten, über die Grenze zu marschieren. Diese Telephongespräche Görings stellen daher ein historisches Dokument von größter Bedeutung dar. Die Kärntner Rede Rainers und seine Aussage als Zeuge vor Gericht widerlegt auch die Anklage hinsichtlich der Beteiligung Seyß-Inquarts an der Machtergreifung. Es war nach dieser Urkunde, 4005-PS, Globocznik, der das Telephon des Bundeskanzleramtes mißbrauchte, um die Bundesländer zu alarmieren. Durch den erzwungenen Rücktritt Schuschniggs zum Bundeskanzler designiert, bespricht der Angeklagte die Bildung des Ministeriums, lädt die Minister zum Eintritt ein und bringt den scheidenden Regierungschef im eigenen Wagen nach Hause. Wenn man dann schließlich noch aus der Aussage der Zeugen Stuckart und Glaise-Horstenau erwähnt, unter welchen [72] Umständen das Anschlußgesetz zustandegekommen ist, dann kann man wohl sagen, daß Zernatto recht gehabt hat, wenn er schreibt, daß Österreich erobert worden ist: seiner Meinung nach sogar gegen Seyß-Inquart und dessen Regierung: Exhibit Nummer 63. Wer daher leidenschaftslos die ganzen Ereignisse der Märztage 1938 bezüglich des Anschlusses überblickt und insbesondere die Rolle des Angeklagten untersucht, der kann nur zu dem Schluß kommen, daß da von einem sorgfältig erwogenen »Verschwörungsplan«, von einer genau aufeinander abgestimmten Durchführung eines Verbrechens wohl nicht gesprochen werden kann. Was Österreich aber anbelangt, so hat der Engländer Geyde recht, wenn er sagt, mit dem Einmarsch der Truppen war der Vorhang in der »Tragödie Österreich« gefallen. Er sollte sich bald noch einmal erheben, zu einem neuen Schauspiel: »Das Martyrium Österreich«.

Am 15. März 1938 kam Adolf Hitler nach Wien. Wir haben hier im Gerichtssaal im Film seine Begrüßung gesehen. Mit innerer Bewegung meldete ihm der Angeklagte:

»Wonach Jahrhunderte deutscher Geschichte gerungen haben, wofür ungezählte Millionen der be sten Deutschen geblutet haben und gestorben sind, was in heißem Ringen letztes Ziel, was in bittersten Stunden letzter Trost war, heute ist es vollendet. Die Ostmark ist heimgekehrt. Das Reich ist wiedererstanden, das Volksdeutsche Reich ist geschaffen.«

Hiermit hatte Seyß-Inquart sein politisches Ziel ausgesprochen, das der Leitstern seines Handelns war und blieb.

Mit dem Führer kam Josef Goebbels und ließ seine gigantische Propagandamaschine auf höchsten Touren laufen. Eine Kundgebung jagte die andere. Feste wurden gefeiert. Im ganzen Lande gab es kein Haus, das nicht Flaggenschmuck trug. Der Führer der sozialistischen Arbeiter sagte: »Ich stimme mit Ja«, und die Bischöfe mahnten zur Erfüllung einer nationalen Pflicht »Gebt Gott, was Gottes und dem Kaiser, was des Kaisers ist.« Beide sollten getäuscht werden. Denn mit Goebbels kam auch Himmler mit seiner Gestapo und SS. Bereits in der Nacht zum 13. März begann eine große Verhaftungsaktion in Wien. Sie umfaßte die Angehörigen der früheren Wehrverbände samt den prominenten Führern des sozialistischen Schutzbundes, die im politischen und öffentlichen Leben wirkenden Juden, Kommunisten und Monarchisten, Priester und Freimaurer, selbst die Leiter der Pfadfinder und der österreichischen Jugendorganisationen. Allein in Wien wurden über 76000 Verhaftungen durchgeführt. Schon am 2. April 1938 rollte der erste Dachauer Transport aus dem Westbahnhof mit 165 führenden Funktionären, darunter der jetzige Bundeskanzler Figl, Unterrichtsminister Hurdes und der Justizminister Dr. Gerö. Am 21. Mai folgte der zweite Transport, Ende Mai der dritte, und dann [73] ging es so fort. Pünktlich alle acht Tage gingen die Transporte nach Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen ab. Am 10. Mai 1946 hat das Wiener Volksgericht Anton Brunner zum Tode verurteilt, der die Verschickung von 49000 Menschen, meistens Juden, in die Vernichtungslager Theresienstadt, Auschwitz, Minsk und Riga veranlaßte.

Und der Angeklagte? Er wurde kaltgestellt und an die Wand gedrückt. Zum Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich wurde der Sieger der Saarwahlschlacht Josef Bürckel bestellt und mit diktatorischer Macht ausgerüstet. Die Befugnisse des Angeklagten waren kaum größer als die eines Oberpräsidenten im Reich, also einer Verwaltungsbehörde zweiter Instanz. Im Gegenteil, er hatte unmittelbar vor sich Bürckel, der unter dem Prätext der Angliederung in alles eingriff und alles für sich beanspruchte, insbesondere die Kirchen- und Judenfrage, was die Dokumente 67, 70, 91 beweisen. Der Angeklagte stellte sich gegen Bürckels Methoden. Er hat ja selbst bei Hitler gegen Bürckels Vorgehen in Graz am 8. April 1938 Einspruch erhoben.

Wir wissen dies aus den Zeugenaussagen Neubacher, Schirach und Stricker und aus den von der Verteidigung vorgelegten Dokumenten. Aber Bürckel, den Churchill in seinem Buche »Schritt für Schritt« als den »Gouverneur« für Wien bezeichnet hat, blieb der Stärkere, und der unbequeme Mahner Seyß-Inquart wird als Provinzkommissar nach Südpolen abgeschoben. Schon diese Behandlung durch seine angeblichen Mitverschwörer zeigt doch nur allzu deutlich, daß Seyß-Inquart, geleitet von seiner Anschlußbegeisterung, kein Verschwörer gewesen sein kann. Kein Führer, sondern ein Geführter oder nach meiner Ansicht noch richtiger ein Irregeführter, oder vielleicht auch williges Werkzeug in der Hand der beiden Großen Hitler und Göring, aber nur für sein politisches Ideal: den Anschluß ohne jede Angriffskriegsabsicht.

Gewiß hat es in Österreich nach dem Anschluß so etwas wie eine wirtschaftliche Konjunktur gegeben, es war zum Teil die Scheinkonjunktur der Aufrüstung. Aber was sich sonst abspielte, war nicht der Anschluß, wie sich ihn auch die begeisterten Anschlußanhänger in Österreich vorgestellt hatten, besonders als der Krieg Anlaß und Vorwand bot, die Gleichschaltung und Unterdrückung jeder anderen oder kritischen Meinung auf das rücksichtsloseste zu betreiben.

Österreich hörte nicht auf, auf seine Befreiung zu hoffen und dafür zu kämpfen. Viel Leid gab es und vielfachen Tod. 6000 wurden in Österreich hingerichtet. Im Wiener Landesgericht starben allein 1200 Mann unter dem Fallbeil, darunter 800 nur wegen ihrer antinazistischen Gesinnung. In den letzten Tagen des Krieges stürzten die schönsten Bauten Wiens in Trümmer und ging der [74] Stephansdom, eines der erhabensten Denkmäler deutscher Gotik, in Flammen auf. So erfüllte sich das Versprechen, das Hitler am 15. März 1938 gegeben hat; »Die Perle hat die Fassung, die ihre Schönheit verdient.«

Nicht die Anschlußidee, das heißt der Wunsch, die nationale Einigung eines Volkes herbeizuführen, war ein Verbrechen; verbrecherisch aber war die Einführung eines Systems, das seine Verwirklichung vermutlich auf immer verschüttete. Dies wollte der Angeklagte doch bestimmt nicht.

Zum Abschluß meiner Ausführungen über die österreichische Frage gehe ich nunmehr dazu über, kurz vom Standort des Angeklagten Seyß-Inquart her die Frage zu prüfen, was in rechtlicher Hinsicht auf die Anklage gegen meinen Mandanten zu sagen ist.

Zur Klarstellung seiner rechtlichen Verantwortung fasse ich nun sein Verhalten in folgender Übersicht kurz zusammen. Zuerst in seiner politischen Tätigkeit:

Erstens: Nach dem Übereinkommen vom 11. Juli 1936 hat Bundeskanzler Dr. Schuschnigg den Angeklagten Seyß-Inquart als einen Vertreter der nationalen Opposition zur Mitarbeit herangezogen, also nicht als politischen Gesinnungsgenossen und Parteigänger, wie zum Beispiel den Zeugen Guido Schmidt.

Zweitens: Seyß-Inquart hat immer – zum erstenmal zu Dr. Dollfuß im Juli 1934 – erklärt, die nationale Opposition bestehe nur mehr aus Nationalsozialisten, die sich nur nach dem Willen Hitlers richten, jedenfalls niemals gegen den Willen Hitlers handeln werden.

Drittens: Seyß-Inquart erklärte, Nationalsozialist zu sein, er vertrat also auch immer die Interessen der österreichischen Nationalsozialisten. Das bestätigt nicht nur der Zeuge Skubl, sondern darauf verweisen die von mir früher zitierten Gewährsmänner.

Viertens: Um jeden militärischen oder internationalen Konflikt zu vermeiden, verfolgte Seyß-Inquart das Ziel, Betätigung für die von der Reichspartei unabhängigen österreichischen Nationalsozialisten bei engstem Zusammengehen Österreichs und Deutschlands.

Fünftens: Seyß-Inquart erklärte, dies Ziel könnte nur erreicht werden, wenn Hitler damit einverstanden ist und die österreichischen Nationalsozialisten auf diese Politik ausdrücklich verweist. Dies will er erreichen.

Sechstens: Den Kulminationspunkt fanden Seyß-Inquarts Bemühungen in der Unterredung mit Hitler am 7. Februar 1938. Obwohl Minister, sozusagen von Hitlers Gnaden, vertrat er sein österreichisches Programm.

Hier liegt der Irrtum Seyß-Inquarts. Er glaubte, Hitler und Berlin würden Politik machen, das heißt – um mit [75] Bismarck zu sprechen – die Kunst des Möglichen üben. Aber Berlin wollte ja keine Politik machen. Vor dieser Tatsache ist die Politik Seyß-Inquarts am 11. März zusammengebrochen. Ist dieser Irrtum straffällig, zumal die österreichischen Staatsführer den gleichen Weg der Verständigung gehen wollten und Dr. Schuschnigg ihn in Kenntnis seines Programms wirksam sein ließ?

Angesichts dieser Grundhaltung des Angeklagten bis März 1938 sind Einzelheiten des politischen, taktischen Verhaltens von untergeordneter Bedeutung.

Und nun die Tätigkeit des Angeklagten als Innen-und Sicherheitsminister.

Siebentens: Von irgendeiner nazistischen Einflußnahme auf die österreichische Exekutive ist keine Spur zu finden. Der Zeuge Skubl bestätigte dies mit nicht zu überbietender Deutlichkeit. Seyß-Inquart verbot der Polizei jede politische Stellungnahme, Dokument 51; er verbot nationalsozialistische Demonstrationen, Dokument 59; er wich solchen Gelegenheiten aus, Dokument 59; er forderte die österreichischen Nazis zur Legalität auf, Dokument 52.

Achtens: Am 11. März 1938 erfüllte Seyß-Inquart seine Verpflichtungen als Verbindungsmann laut Berchtesgadener Übereinkommen. Mit Glaise-Horstenau gab er Dr. Schuschnigg am Vormittag des 11. März eine vollkommen offene Darlegung der Lage. Er verwies insbesondere auf drohende nationalsozialistische Kundgebungen und die Möglichkeit eines deutschen Einmarsches. Nachmittags überbrachte er Görings Forderungen an Schuschnigg, beziehungsweise dessen Antworten zu Göring.

Neuntens: Nach Dr. Schuschniggs Demissionsangebot zog sich Seyß-Inquart zurück. Er befolgte in keiner Weise Görings Verlangen, die Übertragung der Bundeskanzlerschaft zu betreiben, beziehungsweise die Macht zu ergreifen. Die Ultimaten mit der Einmarschdrohung des Reiches wurden bekanntlich durch Botschaftsrat von Stein und General von Muff überreicht, deren Druck Präsident Miklas schließlich nachgab. Dies ergibt sich aus den Aussagen des Präsidenten Miklas, 3697-PS, und der Zeugen Rainer und Schmidt.

Zehntens: Erst nach der Abschiedsrede Schuschniggs forderte Seyß-Inquart öffentlich zur Aufrechterhaltung der Ordnung auf. Er bezeichnete sich nicht als provisorische Regierung, sondern in gutem Glauben als Innen- und Sicherheitsminister, wie Zeuge Schmidt bestätigte. Den Auftrag, den deutschen Truppen keinen Widerstand zu leisten, übernahm er aus Dr. Schuschniggs Abschiedsrede.

Elftens: Seyß-Inquart versuchte solange als möglich, Österreichs Unabhängigkeit zu wahren, und zwar in den telephonischen Gesprächen mit Göring, Dokument 58; aus den Gründen für die Aufforderung an Guido Schmidt, als Außenminister in sein Ministerium [76] zu treten, wie Zeuge Schmidt bestätigt; nach den Darlegungen des Zeugen Skubl; aus der Ablehnung des verlangten Telegramms, Dokument 58; aus dem Ersuchen an Hitler, nicht einzumarschieren, wie Göring bestätigt; aus dem Ersuchen an Hitler, auch österreichische Truppen ins Reich marschieren zu lassen.

Zwölftens: Am 13. März 1938 wurde das Anschlußgesetz gemäß Artikel III der österreichischen Verfassung vom 1. Mai 1934 erlassen. Die psychologische Situation für Seyß-Inquart war die gleiche wie für alle Österreicher, die am 10. April in einem geheimen Wahlgang mit 4381070 Ja- gegen etwa 15000 Nein-Stimmen für den Anschluß gestimmt haben.

Seyß-Inquart wird unter anderem vorgeworfen:

Erstens: Einmal habe er seine verschiedenen Stellungen und seinen persönlichen Einfluß dazu benutzt, die Besitzergreifung, Eingliederung und Kontrolle Österreichs durch die Nazi-Verschwörer zu fördern.

Zweitens: Zum anderen als integrierender Bestandteil seiner bösen Absicht im Sinne der Anklage habe er an den politischen Plänen und Vorbereitungen der Nazi-Verschwörer für Angriffskriege und Verbrechen unter Verletzung internationaler Verträge, Vereinbarungen, Zusicherungen teilgenommen.

Zu Eins: Was die erstgenannte Beschuldigung anlangt, so verweise ich auf die obige Übersicht und kann mich dazu auf folgende kurze Feststellungen beschränken:

Die Angliederung Österreichs an das Deutsche Reich als politisches Ziel ist nirgends unter Strafe gestellt, und nur für eine solche war der Angeklagte tätig. Die Anklage geht hier – wie übrigens auch noch in anderen Punkten – über den Rahmen des Statuts hinaus.

Zu Zwei: Was die zweite Beschuldigung anlangt, der Mitangeklagte Seyß-Inquart habe sich konspiratorisch an Verbrechen gegen den Frieden beteiligt, so ist sie an Paragraph 6, Absatz 2a des Statuts zu messen. Dort ist unter anderem gemeinsames Planen, Vorbereitung oder Durchführung eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung internationaler Abmachungen als Friedensbruch unter Strafe gestellt.

Ich überlasse es der Prüfung des Gerichts, ob auf den Fall des Einmarsches in Österreich die Anwendung dieser Bestimmung überhaupt in Frage kommen könnte, obgleich es hier nicht zu einem Kriege gekommen ist. Es spricht viel dafür, daß nach dem Sinn der genannten Vorschrift der Ausbruch eines Krieges Bedingung der Strafbarkeit wegen Friedensbruches ist.

Ich kann mich jedenfalls mit einer Auslegung dieser Bestimmung nicht befreunden, die so ungemein weit geht, daß sie auch [77] aufgegebene Kriegsplanung oder eine schließlich unblutig verlaufene Eventualplanung eines Krieges unter Strafe des vollendeten Verbrechens stellt.

Mit größtem Nachdruck aber muß darauf hingewiesen werden, daß keinerlei Beweis dafür erbracht ist, mein Mandant habe seine Tätigkeit in der Anschlußfrage jemals in der Vorstellung entfaltet, es könne mit Österreich oder mit irgendeiner anderen Macht wegen des Anschlusses, oder in Verfolg desselben zu einem Kriege kommen. Im Gegenteil, sein Entschluß nach dem Drama des 25. Juli 1934, sich aktiv mit Politik zu befassen, war ja allein von dem Bestreben diktiert, die Anschlußfrage nicht zur Ursache militärischer oder internationaler Verwicklungen kommen zu lassen. Und darüber hinaus mußte ihm die Vorstellung völlig fern bleiben, Hitler oder seine Umgebung hätte eine derartige Folge als möglich ernsthaft ins Auge gefaßt. Der Ausgang des Österreich-Unternehmens hat ihm recht gegeben. Die deutschen Truppen sind bei ihrem Einmarsch in Österreich mit Jubel und Blumen empfangen worden.

Was die großen Mächte anbelangt, so protestierten Frankreich und England zwar am 12. März 1938 wegen dem Anschluß. Aber das war nur ein sehr milder und platonischer Protest. Eine militärische Unterstützung Schuschniggs erfolgte nicht; vor allem wurde der Völkerbund, der Garant der Unabhängigkeit Österreichs, nicht angerufen.

Am 14. März 1938 ließ die Englische Regierung im Unterhaus erklären, sie habe mit den Freunden der Genfer Entente die neue Sachlage beraten, und es sei Einstimmigkeit darüber erzielt worden, daß eine Erörterung in Genf zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis führen wird.

Als der Völkerbund durch das deutsche Auswärtige Amt vom Anschluß verständigt wurde, hat er davon widerspruchslos Kenntnis genommen und dem österreichischen Vertreter beim Völkerbund, Pflügl, die Pässe zugestellt.

Der Haager Schiedsgerichtshof hat sein österreichisches Mitglied, den Wiener Professor Verdroß, von der Richterliste gestrichen. Die diplomatischen Vertretungen wurden abberufen oder in Konsulate im Deutschen Reich verwandelt.

Es verging auch nur eine ganz kurze Zeit, und schon wenige Monate nach der Besetzung und Angliederung dieses kleinen Landes wurde mit dem angeblichen Aggressor am 29. September 1938 in München ein Staatsvertrag hinsichtlich eines zweiten kleinen Staates geschlossen.

Der französische Ankläger de Menthon hat in seiner Anklagerede die Erinnerung an den großen Politiker und Staatsmann Politis wachgerufen. Auch ich will hier an ihn erinnern. Er hat kurz [78] vor seinem vorzeitigen Tode in seinem Buch: »La morale internationale« die Worte geschrieben: »Qui menace les petites nations menace l'humanité tout entière.«

Diesen Satz haben die Völkerbundsmächte im Falle Österreich nicht beachten zu müssen geglaubt.

Aber sie haben auch noch ein anderes internationales Ordnungsprinzip gegenüber dem österreichischen Anschluß anzuwenden sich nicht veranlaßt gesehen.

Jenen Grundsatz meine ich, der unter der Bezeichnung Stimson-Doktrin in die Wissenschaft des Völkerrechts und die Diplomatensprache Eingang gefunden hat.

Es ist der Satz, nach dem die Staaten der Welt es ablehnen, gewaltsam herbeigeführte Gebietsverschiebungen anzuerkennen. Dieser Satz ist mindestens ebenso stark in das internationale Rechtsbewußtsein der Gegenwart eingegangen, wie das Verbot des Angriffskrieges, auf dem sich der Nürnberger Prozeß als einem seiner großen Grundpfeiler aufbaut. Ich erinnere hier zum Beleg für diese Tatsache an den Vorschlag des brasilianischen Vertreters Braga auf der zweiten Völkerbundsversammlung, in dem er gegen Angreiferstaaten einen »blocus juridique universel« vorschlug und dabei als eine der zu beschließenden Maßnahmen die Verweigerung des Rechts von Annexionen für Angreiferstaaten. Sie finden diese Erklärung abgedruckt in dem Urkundenbuch, das Professor Jahrreiss als Ergänzung zu seinen rechtlichen Ausführungen dem Gericht vorgelegt hat, und das sich dort als Stück Nummer 10 Seite 35 abgedruckt findet.

Ferner erinnere ich an den sogenannten Saavedra-Lamas-Pakt, den am 10. Oktober 1933 in Rio de Janeiro einige südamerikanische Staaten abschlossen und dem die Kleine Entente und Italien beigetreten sind. Hier verpflichteten sich die Signatare dazu, die Gültigkeit einer gewaltsamen Besetzung oder Annexion von Staatsgebiet nicht anzuerkennen. Die VII. Panamerikanische Konferenz akzeptierte am 26. Dezember 1933 diesen Grundsatz unter Beteiligung der Vereinigten Staaten von Amerika.

Es stimmt inhaltlich überein mit einem dem Völkerbundsrat bereits vorher, am 14. Januar 1930, seitens des peruanischen Delegierten Cornejo vorgelegten Antrag.

Es ist vor allem enthalten in den berühmten Noten des amerikanischen Staatssekretärs Stimson an China und Japan vom 27. Januar 1932, in welchen Noten der Satz steht: »Die Amerikanische Regierung beabsichtigt nicht, irgendeine Lage, einen Vertrag oder ein Abkommen anzuerkennen, die durch Mittel herbeigeführt sind, die den Satzungen und den Verpflichtungen von Paris vom 27. August 1928 widersprechen.«

Und endlich rufe ich dem Gericht ins Gedächtnis die Erklärungen des Völkerbundsrates vom 16. Februar 1932, in welcher die Stimson-Doktrin, ins Grundsätzliche erhoben, folgenden Ausdruck gefunden hat:

»Kein Einbruch in die territoriale Unversehrtheit und keine Verletzung der politischen Unabhängigkeit eines Mitgliedes des Völkerbundes, begangen entgegen dem Artikel 10 (der Völkerbundsatzung), könnte von den Mitgliederstaaten als rechtsgültig anerkannt werden.«

Und dennoch haben sämtliche Staaten der Erde die Einverleibung Österreichs in das Deutsche Reich anerkannt, ohne daß sie sich dabei um die Stimson-Doktrin kümmern zu müssen glaubten.

Hiermit ist zugleich Wesentliches gegen die Anklage wegen vertragsverletzenden Friedensbruchs gesagt. Drei Verträge soll [79] Deutschland gebrochen haben: Nämlich einmal das deutsch-österreichische Abkommen vom 11. Juli 1936, zum anderen Artikel 80 des Vertrags von St-Germain, endlich Artikel 80 des Vertrags von Versailles.

Auch hier ist darauf hinzuweisen, daß sämtliche in Betracht kommenden Staaten den Vertragsbruch nicht nur hingenommen, sondern ihn darüber hinaus durch ihre Haltung stillschweigend gebilligt haben. Hierin liegt zumindest ein völkerrechtlicher Verzicht, und die beteiligten Mächte haben sich dadurch jeden Rechtes auf eine nachträgliche Reaktion wegen Vertragsverletzung enthoben, die jeder Billigkeit widersprechen würde.

Was im besonderen Artikel 88 des Vertrags von St-Germain anlangt, so kann eine Verletzung dieser Bestimmung der Deutschen Regierung und damit dem Angeklagten Seyß-Inquart als angeblichem Mitverschwörer schon deshalb nicht zur Last gelegt werden, weil Deutschland an diesen Vertrag, den es nicht mit unterzeichnet hatte und der für es eine Res inter alia acta darstellte, nicht gebunden war.

Der deutsch-österreichische Vertrag vom 11. Juli 1936 andererseits war für andere Mächte als Deutschland und Österreich eine Res inter alia acta; hier hätte nur Österreich Vertragsbruch einwenden können. In diesem Zusammenhang sei auch darauf aufmerksam gemacht, daß das wiedererstandene Österreich nicht zu den Signataren des Londoner Abkommens vom 8. August 1945 gehört. Demgemäß sind die vier Gründerstaaten des Internationalen Militärgerichtshofs nicht dazu berechtigt, in diesem Prozeß österreichische Belange geltend zu machen.

Was Artikel 80 des Vertrags von Versailles anlangt, so widerstehe ich der Versuchung einer Erörterung der Frage nach der Rechtsgültigkeit dieser Bestimmung; insbesondere will ich nicht auf die Bedeutung eingehen, die der Widerspruch dieses Artikels zu den sogenannten 14 Wilson-Punkten in rechtlicher Beziehung haben könnte.

Aber einen allgemeinen Gedanken kann ich zum Schluß dieser meiner Rechtsausführungen über die österreichische Angelegenheit nicht ganz unterdrücken:

Eines der großen internationalen Ordnungsprinzipien, das sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts unter Schmerzen, vielen Wirrungen und Abwegen durchgerungen und immer mehr verwirklicht hat, ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

So stark hat sich dieser Grundsatz vom Selbstbestimmungsrecht der Völker in den zwischenstaatlichen Rechtsvorstellungen unseres Jahrhunderts verankert, daß man zu dem Gedanken gedrängt ist, ihn den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts zuzuzählen, ein Gedanke, der demokratischem Denken besonders nahe liegt.

[80] Als allgemeiner Völkerrechtsgrundsatz aber würde er neben dem Statut, dem völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht und drittens dem Vertragsrecht die maßgebliche Urteilsform für den Nürnberger Internationalen Militärgerichtshof bilden, der sich ja auch in anderen Fragen auf eine solche Grundlage berufen muß. Und weiter würde er, wie alle allgemein anerkannten Rechtsgrundsätze, zwingenden Charakters sein und Vorrang, insbesondere vor völkerrechtlichem Vertragsrecht haben.

Eine Reihe von Staaten verdanken diesem erhabenen Ausdruck demokratischer Gedanken ihr Dasein. Den Österreichern ist nach dem ersten Weltkrieg solche Gnade versagt geblieben. Obgleich das Volk in Österreich wie in Deutschland im Jahre 1918 übereinstimmend zusammenstrebte, wurde Österreich dazu gezwungen, als ein künstliches naturwidriges Staatengebilde, das nicht leben und nicht sterben konnte, sein Dasein zu fristen.

Wie bitter klingen die Worte der Enzyklika »Ubi areano« vom 23. Dezember 1922:

»Wir hofften auf den Frieden, aber er brachte nicht das Heil; wir hofften auf die Heilung, aber es kam der Schrecken; wir hofften auf die Stunde der Genesung, aber es kam die Wirrnis; wir erwarteten das Licht, aber es kam die Finsternis.«

Auch im Jahre 1938 strebten Österreich und Deutschland nach dem überwiegenden Wunsche ihrer Bürger zusammen, und diesmal gelang es.

Unter weltgeschichtlichen Aspekten bedeutet die Einverleibung Österreichs nichts anderes als die erfolgreiche Integration eines mächtigen, in unserer Zeit lebendigen internationalen Ordnungsprinzips, des »Selbstbestimmungsrechts der Völker«.

Diese Dynamik ist über künstliche und unnatürliche Vertragsbestimmungen hinweggerollt.

Wer darf hier von Schuld sprechen?

Zur Frage der Tschechoslowakei habe ich nichts zu sagen und zur Frage Polens nicht viel, denn mein Klient ist den Polen gegenüber in der kurzen Zeit seines Aufenthalts überhaupt nicht in Erscheinung getreten, sondern war in der Hauptsache mit den organisatorischen Fragen des Aufbaus des deutschen Verwaltungsapparates beschäftigt. Es genügt in dieser Frage, wenn ich auf die Ergebnisse des Beweisverfahrens verweise.

Auch über seinen Ehrengrad in der SS will ich nicht mehr sprechen, als daß ein Ehrenrang niemals unter der Befehls- und Disziplinargewalt Himmlers stand, noch, selbst eine solche Gewalt in der SS hatte.

Was seine Stellung als Minister ohne Geschäftsbereich anlangt, so wird die Bedeutung dieser Funktion im Rahmen der Organisationen beim Kapitel »Reichsregierung« erörtert werden.

[81] Ich eile daher, ohne weiter auf dieses Zwischenspiel einzugehen, zum zweiten Schauplatz dieser Rechtssache, zu den Niederlanden.

Die Niederlande: Viele kennen diese nur als das Land der Windmühlen, Holzschuhe und Pluderhosen, den roten Backsteinbauten, den großen Viehherden auf den grünen Matten und den weiten, bunten Tulpenfeldern. Ich kannte es als das Land, das der Menschheit einen Rembrandt und die vielen Meister der niederländischen Schule, den großen Völkerrechtslehrer de Grotius schenkte, das in blutigen Kämpfen mit Philipp II. von Spanien um seine Freiheit rang und den großen Seehelden de Ruyter hervorbrachte, der am 21. August 1673 eine der größten Seeschlachten der Geschichte gewann. Hier im Prozeß aber lernten wir kennen, daß von allen besetzten Ländern die Niederlande den geschlossensten und zähesten politischen und einen immer wirksameren tatsächlichen Widerstand leisteten, und daß dieses Volk die ganzen Jahre hindurch nie die Hoffnung aufgab, daß der Tag der Freiheit wieder einmal kommen müßte!

Der Wahlspruch der niederländischen Provinz Seeland: »Luctor et emergo«, »Ich ringe und bleibe oben«, war das Losungswort des ganzen Landes geworden.

In dieses Land kam im Mai 1940 Seyß-Inquart als oberster Chef der zivilen Verwaltung. Was immer er gedacht und geplant haben mag, es ist seine Tragik, daß er als der Repräsentant Adolf Hitlers und eines in der Welt verhaßten Systems kam. Hunderte von Gesetzen, Verordnungen und Erlassen trugen immer wieder seine Unterschrift, und mögen sie auch noch so gesetzlich vollkommen korrekt gewesen sein, so waren sie doch in den Augen des Volkes immer Maßnahmen des Feindes und Seyß-Inquart sein Bedrücker. Mein Klient hat sich zu diesem Amt nicht gedrängt; er hatte vielmehr gebeten, als Soldat an die Front gehen zu dürfen. Adolf Hitler hat dies abgelehnt. Seyß-Inquart hat auch seine Verantwortung nie bestritten und sich auch nach dem Zusammenbruch selbst gestellt. Bei Beurteilung seiner Verwaltungstätigkeit muß, falls die Rechtsmeinung der Verteidigung hinsichtlich des höheren Befehls von dem Gericht nicht geteilt wird, schon mit Rücksicht auf Paragraph 8 des Statuts, die Gesamtorganisation des Reiches einerseits und andererseits das Verhalten der niederländischen Bevölkerung beachtet werden. In welcher Weise Seyß-Inquart sich grundsätzlich mit seinen beiden widerstreitenden Aufgaben auseinandergesetzt hat, nämlich die Interessen des Reiches zu vertreten und doch der Obsorge für die Bevölkerung im Sinne der Haager Landkriegsordnung nachzukommen, ergibt sich aus seiner diesbezüglichen Stellungnahme wie folgt:

Folgende rechtliche Vorstellungen sind es, von denen sich mein Mandant bei der Verwaltung Hollands vornehmlich hat leiten lassen.

[82] Die Entwicklung der Kriegstechnik, insbesondere auch im Bereich des Luftkrieges, die ungemeine Ausdehnung des Wirtschaftskrieges, die Ausweitung des Krieges zum »totalen und unteilbaren Kriege«, die Entstehung des Begriffs der totalen Blockade haben das Völkerrecht, wie es in den Jahren 1899 und 1907 bei Entstehung der Haager Abkommen in Kraft war, teils unter dem Gesichtspunkt der Clausula rebus sic statibus gegenstandslos gemacht, teils hat es sich zufolge der neuen Bedürfnisse und Gegebenheiten als durchaus lückenhaft und unbrauchbar erwiesen. Nur wenige Reste aus der alten Zeit ragten noch in den zweiten Weltkrieg hinein.

Besonders drastisch zeigt sich dieser Wandel gegenüber den durch die ungeheuere Entwicklung der Flugtechnik und der Sprengstoffe ermöglichten Bombenangriffe auf Wohnviertel, die nach früherem Recht keinerlei Berechtigung hatten und die, wenn sie sich überhaupt rechtfertigen lassen, dies nur aus dem Begriff des totalen Krieges können.

Insbesondere aber hat diese Entwicklung das Einzelindividuum, nicht zuletzt auch unter dem Einfluß des anglo-amerikanischen Kriegsbegriffs, als Objekt in den Krieg mit einbezogen.

Dementsprechend sind auch die feindliche Zivilbevölkerung, ebenso wie die Ressourcen besetzter Gebiete, im Zuge dieser Entwicklung zum Kriegspotential der besetzenden Macht bis an die durch die Menschlichkeit gebotenen Grenzen geworden.

Eine weitere Grenze bildet der allgemeine Völkerrechtsgrundsatz, daß die Inanspruchnahme dieser Kräfte für die Zwecke des Krieges notwendig sein muß, und drittens muß ex aequo et bono diese Anspruchnahme zumutbar sein.

Totalität und Unteilbarkeit des modernen Krieges verbieten es dabei auch, einzelne Räume gesondert zu behandeln. Es geht nicht mehr an, die personellen und wirtschaftlichen Kräfte eines bestimmten Gebietes nur für dessen Bedürfnisse in Anspruch zu nehmen, wie das die Haager Landkriegsordnung zum Teil noch vorschreibt. Diese Kräfte haben nunmehr dem ganzen Machtbereich eines kriegführenden Staates als einer Einheit zur Verfügung zu stehen, fruktifizieren andererseits von ihrer Zugehörigkeit zum Ganzen. Die neuzeitliche technische Entwicklung, besonders auf dem Gebiete des Nachrichten- und Verkehrswesens stellt ferner die Einstellung zu einem anderen Problem der Kriegführung, nämlich zu dem der sogenannten Partisanen, vor neue, schwerwiegendste Aufgaben.

Das Partisanenwesen hat gegenüber der Zeit des ersten Weltkrieges geradezu unvorstellbare Ausmaße im zweiten Weltkrieg angenommen und ist für die kämpfende Truppe zu einer ungeheuren Gefahr geworden, höchstens vergleichbar mit dem zermürbenden Guerillakrieg gegen Napoleon I. in Spanien. Zur[83] Abwendung dieser Gefahr stellte das alte Völkerrecht keinerlei irgendwie ausreichende Regeln zur Verfügung.

Der beherrschende Grundsatz bei solcher Bekämpfung muß selbstverständlich die Sicherheit der kämpfenden Truppe um jeden Preis sein.

Das bedeutet, sowohl für die Armee wie auch die Okkupationsverwaltung, Recht wie Pflicht der Vornahme strengster Repressiv- und Präventivmaßnahmen bis zur Grenze der Zumutbarkeit und Menschlichkeit.

Nach diesen Richtlinien hat mein Mandant sein Amt ausgeübt und in der steten Vorstellung verwaltet, damit seine Pflicht nach den Weisungen des völkerrechtlichen Rechtssubjektes, das ist der Obersten Reichsführung, zu erfüllen. Jeder Gedanke, etwa rechtswidrig zu handeln oder gar sich strafbar zu machen, hat ihm dabei ferne gelegen.

Das hat nichts mit der Anwendbarkeit des Grundsatzes auf diesen Fall zu tun, daß Nichtwissen des einschlägigen Strafrechts einen Täter nicht vor Strafe schützt. Denn es handelt sich hier nicht um nationales Strafrecht, sondern um Völkerrecht, und es handelt sich zum andern nicht um Rechtsirrtum, sondern um subjektive Pflichtauffassung, die da und dort fehlgegangen sein mag, aber stets gutgläubig war!

Nunmehr nach dieser grundsätzlichen Auseinandersetzung auf die einzelnen Verwaltungsakte des Angeklagten eingehend, muß darauf hingewiesen werden, daß, wie überall in den besetzten Gebieten, insbesondere aber in Deutschland selbst, die nationalsozialistische Verwaltung eine immer mehr und vielfacher sich schneidende Überorganisation und zugleich eine äußerst straffe Zentralisation nach Berlin aufwies. Es gab sohin in den Niederlanden folgende Zuständigkeiten:

  • 1. Das Reichskommissariat (Zivile Verwaltung und Wahrung der Reichsinteressen).

  • 2. Den Wehrmachtsbefehlshaber und die verschiedenen Oberbefehlshaber, einschließlich eigener Gerichte.

  • 3. Die Polizei, auf die ich noch zu sprechen komme.

  • 4. Vierjahresplan Göring.

  • 5. Einsatzstab Rosenberg.

  • 6. Generalarbeitseinsatz Sauckel.

  • 7. Rüstungsministerium Speer und

  • 8. nicht zuletzt die NSDAP mit ihren Dienststellen und Organisationen.

Den Weisungen dieser Zentralstellen hatte der Reichskommissar laut Führerbefehl also de jure unbedingt Folge zu leisten, beziehungsweise durfte er in deren Maßnahmen nicht eingreifen: [84] Es wird vielleicht noch einmal eine spätere Geschichtsschreibung aufhellen, mit wieviel Geschick der Angeklagte manches hiervon verhindert oder zumindest gemildert hatte.

Was nun die niederländische Bevölkerung anbelangt, so verhielt sich dieselbe, wie bereits erwähnt, absolut ablehnend, und nahmen die Kräfte der Widerstandsbewegung, organisiert, ausgerüstet und geleitet durch die Niederländische Regierung in London, Jahr für Jahr zu. Von diesen beiden Gesichtspunkten muß man das Verhalten des Angeklagten betrachten, um zu einem gerechten Urteil zu kommen.

Ich wende mich nun der Anklage zu, indem ich in großen Zügen der Einteilung der französischen Ankläger folge.

Der erste Vorwurf ist der angebliche Bruch der Souveränität des Landes durch die Einführung des Reichskommissariats mit seinen vier Generalkommissariaten, Aufhebung der bürgerlichen Freiheiten, Einführung des Führerprinzips und Auflösung der gesetzlichen Körperschaften und politischen Parteien. In diesen Maßnahmen kann kein Bruch des Völkerrechts erblickt werden. Da sich Deutschland, das so wie die Niederlande Signatarmacht des IV. Haager Abkommens von 1907 war, während des Krieges auf die Landkriegsordnung berief, muß trotz des Fehlens der Allbeteiligungsklausel nach Eintritt der Sowjets in den Krieg die Geltung der Landkriegsordnung im Sinne der Einschränkung eingangs dieser Ausführungen auch für die Niederlande angenommen werden. Die Grundsätze derselben scheinen nicht verletzt. Durch die vollständige Besetzung des Landes und die Flucht der Königin und der Minister aus demselben ging die höchste Regierungsgewalt in zivilen Angelegenheiten von der Krone und dem Parlament auf die Besatzungsmacht und sohin auf den Reichskommissar über. Der mit besonderen Vollmachten im Lande zurückgelassene General Winkelmann hat auf die Ausübung jeder Befugnis in der bedingungslosen Kapitulation vom 10. Mai 1940 verzichtet. Es ist überdies anerkanntes Recht der Besatzungsmacht, die Verwaltung so zu regeln, wie es ihre Bedürfnisse verlangen. Es darf nur hierbei nichts unternommen werden, was die endgültige Klärung des Schicksals des Landes vorwegnimmt. Dies wurde auch vom Obersten Gerichtshof der Niederlande in der von mir vorgelegten Entscheidung vom 12. Januar 1942 ausdrücklich anerkannt. Auch die im Führererlaß vorgesehene Teilung der Gewalt zwischen dem Reichskommissar und dem Wehrmachtsbefehlshaber ist eine interne Kompetenzverteilung der Besatzungsmacht. Dies stellt das British Manual of Military Law von 1936 ausdrücklich fest. Daß das Staatsparlament suspendiert, die Tätigkeit des Staatsrates auf die Abgabe von Gutachten in Verwaltungsstreitigkeiten beschränkt und die parlamentarischen Parteien schließlich aufgelöst wurden, ist [85] ebenfalls kein Verstoß gegen das Völkerrecht; denn während der Besetzung entscheidet der Okkupant selbst, inwieweit eine Notwendigkeit zu legislativen Maßnahmen und zur Abänderung der Landesgesetzgebung besteht.

Um die 150 Sitze des niederländischen Parlaments pflegten sich bei jedem Wahlgang 50 Parteien rund zu bekämpfen. Da die sich einander streitenden Parteien aber in der Ablehnung der Besatzungsmacht nicht nur einig waren, sondern sich auch vielfach in den verschiedensten Widerstandsbewegungen aktiv gegen die Besatzungsmacht betätigten, war ihre Suspendierung und spätere Auflösung, die erst mit Verordnung vom 5. Juli 1941 erfolgte, ein gutes Recht der Besatzungsmacht, zumal das Land auf der Linie der zu gewärtigenden Kriegsereignisse lag und mit einer Invasion gerechnet werden konnte. Dies machte eine straffe Zusammenfassung des Verwaltungsapparats unter Ausschaltung aller parlamentarischen Hemmnisse und der in diesen Institutionen gelegenen Möglichkeit feindlicher Propaganda notwendig.

Wenn dagegen darauf hingewiesen wird, daß die NSB dafür gefördert wurde, so ist kurz zu sagen, daß der Reichskommissar die Bildung einer Regierung durch diese Parteien konsequent ablehnte. Daß die Parteien, die im Lande vorhanden waren oder sich neu bildeten und weltanschaulich der Besatzungsmacht nahestanden, von ihr gefördert wurden, ist ebenfalls völkerrechtlich nicht unzulässig. Da der NSB keine offiziellen Verwaltungsbefugnisse eingeräumt wurden und politische Organisationen keinen Einfluß auf die Verwaltung erhielten, spielte auch die im Jahre 1943 erfolgte Erklärung dieser Partei zum Vertreter des politischen Willens des niederländischen Volkes keine Rolle. Es war und ist auch heute noch Gepflogenheit der Besatzungsmächte, ihnen nahestehende Parteien zu fördern und zu unterstützen.

Auch der erhobene Vorwurf der Germanisierung ist unzulässig. Das niederländische Volk wurde seiner Abstammung nach immer zu den Germanen gerechnet, und man kann daher aus ihm nicht Germanen machen wollen. Wenn man die niederländische Geschichte durchblättert, so sehen wir, daß die Niederlande durch Jahrhunderte im Reichsverband des Deutschen Reiches waren, und wer durch das Land wandert, kann in Groningen noch den Reichsadler im Wappen sehen, genau so wie Amsterdam die Kaiserkrone seit 1489 im Wappen führt. In Utrecht starben der erste und der letzte salische Kaiser Konrad II. und Heinrich V. Daß die Besatzungsmacht das durch die Blockade vom Meer und den Kolonien abgeschlossene Land zur Mitte Europas orientieren will, war begreiflich, aber es bestand niemals die Absicht, jedenfalls nicht beim Reichskommissar, die völkischen Eigenschaften und Selbständigkeit der Niederländer auszuschalten. Mit Recht hat der Angeklagte in seiner [86] Rede vom 9. November 1943 in Utrecht – Dokumentenbuch 102 – unter anderem gesagt:

»Wir selbst würden aufhören, Europäer zu sein, wenn wir unsere Berufung nicht mehr darin sehen würden, diesen Blütenreichtum der arteigenen und blutgebundenen Kulturen der europäischen Völker zu erhalten und zu fördern.«

Auch der Vorwurf der Französischen Anklage, die Niederlande zur Teilnahme an dem Kriege zu gewinnen, ist ungerechtfertigt. Die Einstellung von Freiwilligen niederländischer Staatsangehörigkeit in die Deutsche Wehrmacht war nicht unzulässig. Artikel 45 der Landkriegsordnung verbietet nur die Zwangsrekrutierung zu Kriegshandlungen gegen das eigene Vaterland. Hierdurch wurden die von der Anklage angezogenen, während des Krieges durch königliche Verordnung verschärften Bestimmungen des niederländischen Strafrechts dem freiwilligen Waffennehmer gegenüber nicht aufgehoben. Das gleiche gilt auch bezüglich der Regelung der Staatsbürgerschaft bezüglich dieser Kriegsfreiwilligen und der Verheiratung mit deutschen Staatsbürgern. Da diese Verordnungen des Reichskommissars nur im Rahmen des Deutschen Reiches Rechtswirkungen haben konnten, kann man mit gutem Gewissen die Rechtsauffassung vertreten, daß sie keinen Widerspruch, keinen Mißbrauch der Souveränität im Sinne der Anklage darstellen. Daß eine Presse, die notorisch gegen die Besatzungsmacht Stellung nahm, zum Stillstand gebracht wurde, ist eine Maßregel, die selbstverständlich ist.

Die Französische Anklage sieht eine weitere Unterdrückung der Souveränität durch Ausschaltung des geistigen Lebens in der Schließung von Universitäten und Forderung einer Loyalitätserklärung. Es wird insbesondere auf die Schließung der Universität von Leyden verwiesen. Die Sperre der Universität von Leyden erfolgte aber wegen Studentenunruhen, und dies stellt daher eine völkerrechtlich nicht zu beanstandende Maßnahme zur Sicherung der Besatzungsmacht dar. Auch die Loyalitätserklärung bewegt sich im Rahmen der Landkriegsordnung. Artikel 45 verbietet, die Bevölkerung eines besetzten Landes zur Leistung des Treueides zu zwingen. Nach dem Text der verlangten Erklärung wird nur versprochen, sich jeder gegen das Deutsche Reich oder seine Armee gerichteten Handlungen zu enthalten. Da die Bevölkerung der besetzten Gebiete zum Gehorsam gegenüber der die Staatsgewalt ausübenden Besatzungsmacht jedoch verpflichtet ist, kann sohin in dieser Erklärung, die kein aktives Begehren stellt, nichts Völkerrechts widriges erblickt werden.

Die Behördenorganisation wurde fast ganz übernommen und trotz ausgesprochen ablehnender, ja feindseliger Haltung beibehalten und insbesondere ein Eingriff in die Gerichtsbarkeit unterlassen. Der einzige Vorwurf in dieser Richtung ist die [87] Absetzung des Gerichtspräsidenten von Leeuwarden. Der Angeklagte hat ausdrücklich erklärt, für diesen Fall die Verantwortung zu übernehmen, und er kann dies auch mit vollem Recht tun. Die Besatzungsmacht darf in die Rechtspflege nur dann eingreifen, wenn der Besetzungszweck gefährdet wurde. Wenn ein Richter sich weigert, Recht zu sprechen, zumal der Grund seiner Beschwerde vom Reichskommissar behoben wurde, wie es im vorliegenden Falle geschehen ist, dann war die Besatzungsmacht im Recht, wenn sie den in Frage kommenden Richter aus dem Amte entfernt hat.

Die Französische Anklage fährt fort und behauptet, daß der Angeklagte eine Reihe von Terrorakten gesetzt habe. Wir haben im Beweisverfahren hierzu gehört, was es für eine Bewandtnis mit den Kollektivstrafen gehabt hat. Ferner wurde durch die Zeugenschaft des Kammergerichtsrats Rudolf Fritsch und des Präsidenten Joppich bewiesen, daß der Angeklagte äußerst gewissenhaft bei der Ausübung des Gnadenrechts war und Kapitalstrafen möglichst einschränkte, und bezüglich der Polizeistandgerichte haben der Angeklagte und der Zeuge Wimmer nachgewiesen, daß es sich um ein von einem richterlichen Beamten geleitetes Verfahren, zu dem der jeweils Angeklagte einen freigewählten Verteidiger, auch einen Niederländer, beiziehen konnte, in Ausnahmefällen gehandelt habe, das übrigens ganz kurz, nämlich vierzehn Tage, in Ausübung stand.

Wir finden solche Ausnahmeverfahren auch jetzt noch bei den einzelnen Besatzungsmächten in viel schärferer Form. Die Ausschaltung der ordentlichen Gerichte und Überantwortung der Aburteilung der Saboteure und Widerstandsleute ab Juli 1944 erfolgte trotz des Protestes des Angeklagten auf direkten Führerbefehl. Einer der Schwerpunkte der Anklage ist die Geiselfrage, die ich daher ausführlich besprechen muß. Über die rechtliche Seite im allgemeinen hat schon Herr Dr. Nelte gesprochen, und ich verweise auf dessen Ausführungen.

Die Anklage hat nun insbesondere in F-879 zwei Fälle herausgegriffen: die sogenannte Geiselerschießung in Rotterdam und die nach dem Attentat auf den Höheren SS- und Polizeiführer Rauter. Schon in seiner ersten Vernehmung durch den Ankläger hat der Angeklagte bezüglich des ersten Falles von der Forderung nach 25 bis 50 Geiseln durch die Wehrmacht gesprochen. Der Zeuge Wimmer hat bestätigt, daß diese Geiseln von der Wehrmacht verlangt wurden, daß die Zahl durch Einwirkung des Angeklagten schließlich auf fünf herabgesetzt wurde, und daß die Durchführung der Erschießung in den Händen des Höheren SS- und Polizeiführers lag.

Das Verhältnis der Wehrmacht zum Reichskommissar, sowie das Verhältnis der Wehrmacht zur Polizei ist in dem Erlaß vom [88] 18. Mai 1940, Reichsgesetzblatt Teil I, Seite 778, 1376-PS, im Paragraph 2 und 3 geregelt.

Um den Angeklagten zu überführen, hat der Ankläger das Beschuldigten-, also nicht ein Zeugenprotokoll des Generals Christiansen vorgelegt. In einer Beschuldigtenvernehmung ist der Aussagende nicht zur Wahrheit verpflichtet. Aus diesem Protokoll ergibt sich nun:

  • a) Der Befehl erging mit Rücksicht auf die schweren Sabotagefälle von der Wehrmacht, und zwar in Analogie des inzwischen bekanntgewordenen sogenannten »Geiselrechts« in Belgien und Frankreich.

  • b) Die Verhaftung der Geiseln erfolgte sodann auf Befehl des Wehrmachtsbefehlshabers der Niederlande durch die deutsche Polizei, »Befehl ist Befehl«.

  • c) OKW oder Kommando West beharrt trotz Vorstellungen auf der Durchführung.

  • d) Vollzug durch die Polizei.

  • e) Proklamation I in der juristischen Abteilung des WBN gemacht; Proklamation II vom Höheren SS-und Polizeiführer verfaßt.

Würde das Gericht die Verantwortung des Angeklagten für stichhaltig erachten, wenn er sich zu seiner Verantwortung der Argumente des Generals Christiansen bedienen würde?

Was nun den zweiten sogenannten Geiselfall anbelangt, so handelt es sich hier um die Folgen eines Attentats im März 1945 gegen den Höheren SS- und Polizeiführer, SS-Obergruppenführer Rauter, den höchsten Polizeifunktionär in den Niederlanden, der Himmler direkt unterstellt war. Wenn wir uns erinnern, welche Folgen eintraten, als im Mai 1942 der Tyrann Heydrich von tschechischen Patrioten ermordet wurde, so können wir uns vorstellen, wie Himmler im Jahre 1945, auf der Höhe seiner Macht, darauf drängte, daß ein Anschlag gegen eines seiner nächsten und unmittelbaren Organe entsprechend gerächt werde. Daß auch der Angeklagte anläßlich des Attentats auf einen seiner Generalkommissare als Chef der Verwaltungsmacht im Sinne der Generalprävention abschreckende Maßnahmen verlangte, ist verständlich. Er hat aber keine Geiselnahme verlangt, sondern den Vollzug bereits rechtskräftig abgeschlossener Kriminalfälle. Aus F-879 ergibt sich die Richtigkeit dieser Behauptungen, indem die Zeugen Schöngarth, Lages, Kolitz und Gerbig übereinstimmend bestätigen, daß nur bereits zum Tode Verurteilte, und zwar nicht 200, sondern 117, zum Teil vielleicht vor dem vorgesehenen Vollstreckungstermin, hingerichtet wurden. Dies bestätigt auch der Kriminalkommissar Munt in D II des holländischen Regierungsberichts und ebenso der als [89] Zeuge vor Gericht vernommene Dr. Friedrich Wimmer. Es handelt sich demnach in diesem Falle gar nicht um Geiseln im eigentlichen Sinne, sondern um vom Standpunkt der Besatzung an sich gerechtfertigte Exekutionen von Saboteuren, Plünderern et cetera, die man der Bevölkerung gegenüber zur Abschreckung als Geiselhinrichtung bezeichnete. Daß es dem Angeklagten gelang, die von Himmler ursprünglich geforderte Ziffer von 500 wirklichen Geiseln auf 117 Vollstreckungsfälle herabzubringen, kann nicht Anlaß sein, den Angeklagten für die Grausamkeiten Himmlers verantwortlich zu machen.

Die Anklage behauptet weiter, daß der Angeklagte als Reichskommissar die Verschickung einer ungeheuren Anzahl niederländischer Staatsbürger in das Reich billigte, leitete und unterstützte. Was nun die prinzipiellen Fragen der Verwendung ausländischer Arbeiter anlangt, so wurde dies bereits von anderen Verteidigern eingehend besprochen. Es seien aber auch zu diesem Anklagepunkt noch einige Bemerkungen erlaubt. Wie ich durch Auskunft des statistischen Amtes nachgewiesen habe, war die Arbeitslosigkeit von 300000 bis 500000 Menschen bei weniger als neun Millionen Einwohnern vor dem Kriege eine chronische Erscheinung im Wirtschaftsleben der Niederlande, die mit mehr oder weniger Recht als eines der reichsten Länder Europas angesehen wurden. Als daher mit der Besetzung die Regierungsgewalt in die Hände des Reichskommissars überging, war es geradezu seine Pflicht, zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung der Arbeitslosigkeit entgegenzutreten. Daß dies nicht nach liberalistischen Grundsätzen erfolgte, war klar, zumal auch in Ländern liberaler Wirtschaftsordnung die Wirtschaft entsprechend den Erfordernissen der Kriegszeit einheitlich gelenkt wurde. Bis zum Jahre 1943 erfolgte der Arbeitseinsatz nach dem Prinzip der Freiwilligkeit. Daß eine gewisse wirtschaftliche Nötigung vorlag, hat der Angeklagte selbst erklärt. Er hatte insbesondere bei Minister Speer großes Verständnis dafür gefunden, durch Verlegung von Arbeiten aus dem Reich in die Niederlande die Möglichkeit zu schaffen, den Arbeiter in seiner Heimat verwenden zu können. Im Jahre 1943 erfolgte ein Aufruf von drei Jahrgängen, und zwar junger unverheirateter Männer, durch die Arbeitsämter und nicht durch gewaltsame Aktionen. Als im Jahre 1944 das Reich 250000 Arbeiter verlangte, hat der Reichskommissar dies, was auch Lammers bestätigt hat, abgelehnt. Als dann im Herbst 1944 die so genannte »Menschenfangaktion« durch Zusammenfangen der wehrfähigen Bevölkerung erfolgte, war dies, wie die Zeugen Hirschfeld, Schwebel und Wimmer bestätigt haben, eine Aktion der Wehrmacht, für die der Angeklagte nicht verantwortlich gemacht werden kann. Es muß im Gegenteil hier ausdrücklich festgehalten werden, daß der Reichskommissar durch[90] die inzwischen erfolgte Ausstellung von 1000000 Rückstellungsscheinen und durch Drängen auf eine geregelte Transportmöglichkeit, sowie durch die von ihm eingeleitete Arbeitsmobilisierung die Härten dieser Maßnahmen abschwächte, wobei nicht übersehen werden darf, daß das ständige Anwachsen der Widerstandsbewegung die Wehrmacht mit Recht befürchten ließ, daß die in den Südwestprovinzen massierten Menschen eine ernste Gefahr für die Besatzungsmacht darstellen. Zusammenfassend muß hier rechtlich bemerkt werden, daß der Angeklagte an die Weisungen der Zentralstellen im Rahmen des Vierjahresplans gebunden war, ohne solche Weisungen und Anforderungen niemals Arbeiter ins Reich geschickt hätte, und daß er, soweit die Durchführung nicht den Gesetzen der Humanität entsprach, Einspruch erhob. Im Rahmen seiner Aktionen hat der Angeklagte die Humanität gewahrt.

Was den nächsten Punkt der Anklage, die sogenannte Wirtschaftsausplünderung des Landes betrifft, sei gleichfalls auf die grundsätzlichen Eingangserklärungen verwiesen. Die Beschlagnahme der Rohstoffe erfolgte sogleich bei Besatzungsbeginn im Rahmen des Vierjahresplans und wurde unter Einschaltung der niederländischen Behörden durchgeführt, die dabei Gelegenheit hatten, unnütze Härten zu vermindern. Daß der Angeklagte lieber alle diese Vorräte in seinem Verwaltungsbereich behalten hätte, ist klar. Der Angeklagte hat bei allen Requisitionen auf einem ordentlichen Entschädigungsverfahren bestanden, den ungerechtfertigten Transport von Institutionen, wie zum Beispiel bei der Margarinefabrik in Dortrecht oder des Kälteinstituts in Leyden, verhindert. Da die Niederländer nicht schlechter gestellt werden sollten als die deutschen Staatsbürger laut einem auf Drängen des Reichskommissars gegebenen Versprechen Görings, so erscheint bei einer nicht zu engen Auslegung auch in diesem Punkte – was den Angeklagten betrifft – die Haager Landkriegsordnung, Artikel 53, gewahrt. Daß die Beschlagnahmen in erster Linie von der Wehrmacht ausgingen und durch die Kriegslage bedingt waren, ergibt sich aus dem Bericht des Feldwirtschaftsoffiziers beim Wehrmachtsbefehlshaber Niederlande vom 9. Oktober 1944, RF-132, und aus dem Bericht des Leutnants Haupt, 3003-PS, US-196, welch letzterer insbesondere darauf hinweist, daß eine Schwierigkeit in der ganzen Lage darin besteht, daß der Reichskommissar Seyß-Inquart noch in dem Gebiete steht, wenn er auch fast zurückgetreten ist. Das deutet wohl darauf hin, daß der Angeklagte immer wiederum auch auf diesem Gebiet, soweit es in seiner Macht war, Härten verminderte oder entgegentrat. Daß die Wehrmacht im totalen Kriege nach der Invasion bei Herannahen des Feindes Rohstoffe und rollendes Material entfernte, ist ebenfalls völkerrechtlich vollkommen vertretbar.

[91] Die durch den Krieg geschaffene Zwangslage verlangte eine Neuausrichtung der niederländischen Wirtschaft auf dem europäischen Kontinent. Nach einer offiziellen Statistik waren in den Niederlanden vor dem Kriege 39 Prozent der Erwerbstätigen in Gewerbe und Industrie, 23 Prozent in Handel und Verkehr, 20 Prozent in der Landwirtschaft beschäftigt. Durch die Absperrung von der Außenwelt war die Schiffahrt vollständig stillgelegt, und es sei nur als ein Beispiel angeführt, daß 60 Prozent des Handels, der über den Rotterdamer Hafen ging, den deutschen Warenverkehr betraf. Die hochentwickelte Landwirtschaft war eine ausgesprochene Veredelungswirtschaft und auf den Kunstdünger aus Südamerika und Kraftfutter aus Kanada abgestellt. Wir haben aus der Zeugenaussage des Dr. Hirschfeld entnommen, wie relativ günstig die Landwirtschaft der Niederlande, insbesondere deren weltberühmte Viehzucht, den Krieg überstand. Dies war nur durch ein verständnisvolles Zusammenarbeiten des Reichskommissars mit den einheimischen Dienststellen und Unterstützung derselben durch den Angeklagten möglich.

Die Ausrichtung der Wirtschaft auf den europäischen Großraum, der während des Krieges fast ganz von Deutschland mit seinen Verbündeten beherrscht wurde, bot zweifellos große Absatzmöglichkeiten für den niederländischen Handel und Industrie. Es war daher selbstverständlich, daß auch in finanzieller Beziehung eine Angleichung der Wirtschaft an die Verhältnisse im Deutschen Reich, respektive an den europäischen Wirtschaftsraum, erfolgen mußte. Schon im Hinblick auf die Preispolitik war eine Regelung der Finanzwirtschaft notwendig. Es würde über den Rahmen dieses Prozesses hinausgehen, hier Näheres auszuführen.

Der Anklage gegenüber sei nur darauf hingewiesen, daß der Angeklagte auf die Höhe der Besatzungskosten keinerlei Einfluß, ja nicht einmal eine Überprüfungsmöglichkeit hatte, lediglich der zivile Haushalt des Reichskommissariats wurde vom Reichskommissar geregelt, unter Genehmigung durch das Reich und der Überwachung durch den Reichsrechnungshof. Einvernehmlich mit den niederländischen Dienststellen wurde der zivile Bedarf mit drei Millionen Gulden monatlich festgesetzt, nicht überschritten, im Gegen teil, Ende 1943 ergab sich eine Einsparung von 60 Millionen Gulden, die in den Niederlanden blieben. Das Fallen der Zollgrenzen im zwischenstaatlichen Verkehr war durch die gemeinsame Preispolitik gerechtfertigt und konnte sich nur zugunsten der Niederlande auswirken. Auch die Relation zwischen Mark und Gulden wurde einvernehmlich festgesetzt. Eine Differenz ergab sich erstmalig erst bei Aufhebung der Devisensperre. Hier gingen die Meinungen des bisherigen niederländischen Generalsekretärs Trip [92] und die des Generalkommissars Fischböck auseinander. Der Angeklagte, der ja schließlich kein Finanzmann war, hat diese wichtige Frage den zentralen Reichsstellen zur Entscheidung vorgelegt, und der Angeklagte Göring hat im Beweisverfahren ausdrücklich erklärt, daß er gegen die Meinung des Wirtschaftsministers Funk sich für die Auffassung Dr. Fischböcks entschied. Den Angeklagten kann daher keine strafrechtliche Verantwortung treffen, nicht einmal eine Culpa in eligendo, wenn er an Stelle des zurückgetretenen Generalsekretärs Trip nun Rost van Tonningen berief, der als ehemaliger Völkerbundskommissar sicherlich ein ausgezeichneter Finanzfachmann war.

Der Angeklagte Funk hat hier auch bekundet, daß er immer die Clearingschulden für echte Schulden aufgefaßt habe. Im niederländischen Regierungsbericht wird darauf verwiesen, daß die finanzielle Anforderung des Reiches in allen besetzten Westgebieten ungefähr die gleiche Höhe erreicht habe und nur die Methoden verschieden waren. Die in den Niederlanden befolgte Methode hätte bei einem für Deutschland erfolgreichen Kriegsausgang das Ergebnis gehabt, daß die Niederlande eine echte Forderung in der Höhe von viereinhalb Milliarden Gulden gegen das Reich gehabt hätten. Die ganze Frage gehört daher nicht in einen Strafprozeß, sondern in die Friedensverhandlungen. Es wurde übrigens über alles genau Buch geführt; so sei nur bemerkt, daß die Schaffner der niederländischen Straßenbahngesellschaften immer fein säuberlich notierten, wenn ein Wehrmachtsangehöriger mit Freifahrschein die Trambahn benutzte. Was die angebliche Ausplünderung von Museen und Bibliotheken anbelangt sowie des königlichen Vermögens, so sei der Kürze halber auf die Ergebnisse des Beweisverfahrens verwiesen, aus dem sich zweifellos ergibt, daß der Angeklagte besonders auf die Wahrung der weltberühmten öffentlichen Kunstschätze bedacht war und Übergriffe der Reichsstellen, falls solche vorlagen, auf ein Minimum herabdrückte.

Soweit die Wegnahme nichtkriegswichtiger Dinge, zum Beispiel Kunstschätze, Bibliotheken et cetera in Frage kommt, hat sich der Angeklagte daran nicht beteiligt. Die wenigen von ihm für Wien gekauften Bilder erwarb er auf dem freien Markt. Bezüglich des königlichen Vermögens selbst gab er aber solche Anweisungen, daß diese Vermögenseinziehung nur eine Demonstration blieb. Dies läßt auch der niederländische Regierungsbericht erkennen. Die mehrfach erwähnte Bibliothek Rosenthaliana kam nicht ins Reich; der Angeklagte hielt den wider seinen Willen erfolgten Abtransport in Groningen auf. Ebenso erscheint der Fall Arnheim durch die Zeugen Dr. Hirschfeld und Wimmer und den Bericht des Feldwirtschaftskommandos, Dokument 81, geklärt.

[93] Mit den Wirtschaftsfragen steht auch im gewissen Zusammenhang die Judenfrage. Bevor ich auf diesen Hauptpunkt eingehe, muß ich unbedingt über die Stellung der Polizei in den Niederlanden sprechen. Die Anklage will beweisen, daß die Polizei, und zwar auch die deutsche Polizei, insbesondere auch die Sicherheitspolizei, dem Angeklagten unterstand; diesem Versuch kommt die Tatsache entgegen, daß bei allen Signatarmächten, mit Ausnahme der Sowjets, die Polizei tatsächlich ein Teil der zivilen, insbesondere der inneren Verwaltung ist. In Deutschland war die Sachlage so: De facto und nicht de jure war Himmler selbständig, sogar mächtiger als jeder Minister, obwohl er nominell Staatssekretär im Innenministerium war. Ihm als Reichsführer unterstand, straff und zentral geleitet, die SS. Der Angeklagte Keitel hat am 5. April 1946 ausgesagt, daß die SS seit Beginn des Krieges immer mehr ein selbständiger Machtfaktor innerhalb des Reiches geworden ist. Er und seine Mitarbeiter hätten keine Einsicht in die Vollmachten Himmlers gehabt, und Himmler und Heydrich hatten die Rechtsprechung über Leben und Tod in den besetzten Ländern durch den mehrfach erwähnten Führerbefehl an sich gerissen.

Wie war nun die Lage in den Niederlanden?

Erstens: Schon im Führererlaß vom 18. Mai 1940 ist ersichtlich, daß die deutsche Polizei nicht ein Teil der Organisation des Reichskommissars und diesem unterstellt war. Es heißt nämlich in dem Erlaß: »Die Polizei steht dem Reichskommissar zur Verfügung«, was nicht nötig wäre, wenn sie ein Teil der Dienststelle des Reichskommissars war.

Wenn also der Reichskommissar oberste Regierungsgewalt im zivilen Bereich ist, so ist darin die Polizei nicht enthalten.

Zweitens: In der Verordnung Nummer 4 hat der Reichskommissar die Verwaltungsorgane kundgemacht, und zwar so, daß die Niederländer klar sehen konnten, was sie angeht, ohne von der Aufspaltung der Reichsinstanzen berührt zu werden. Bezüglich der Polizei, und zwar der deutschen und der niederländischen, wird als zweiter Generalkommissar ein solcher für das Sicherheitswesen – Höherer SS- und Polizei führer – eingesetzt. Nach Paragraph 5 dieser Verordnung führt der Höhere SS- und Polizeiführer:

a) die deutsche Polizei und Waffen-SS. Diese Feststellung ist deklarativ für die Niederländer, denn der Höhere SS- und Polizeiführer wurde vom Führer auf Vorschlag Himmlers ernannt, ohne daß der Reichskommissar befragt wurde. Rauter stellte sich dem Reichskommissar als bereits ernannt vor, und für die Waffen-SS hätte der Reichskommissar auch nach Ansicht der Anklage niemals den Befehlshaber ernennen können.

[94] b) Die niederländische Polizei. Diese Feststellung ist konstitutiv, denn für die niederländische Polizei war der Reichskommissar zuständig.

Der niederländische Zeuge, Dr. Hirschfeld, der durch die ganze Besatzungszeit Generalsekretär war, hat ausdrücklich bestätigt, daß Rauter direkt Himmler unterstellt war, und daß die laut Verordnung scheinbare Einheit der Polizei und Verwaltung in Wirklichkeit nicht bestanden hat.

Raphael Lemkin hat in seinem Buche »Axis rule in Occupied Europe« auf Seite 21 als Aufgabe der Polizei die Liquidation von politisch unerwünschten Personen und Juden bezeichnet, wie auch der Polizei die Hauptverantwortung für die Erfassung und Deportation der Arbeitskräfte des Arbeitseinsatzes in den besetzten Ländern oblag.

VORSITZENDER: Wäre jetzt nicht ein passender Zeitpunkt für die Vertagung?


[Das Gericht vertagt sich bis

22. Juli 1946, 10.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 19, S. 46-96.
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Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

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