Nachmittagssitzung.

GERICHTSMARSCHALL: Hoher Gerichtshof! Die Angeklagten Streicher und Raeder sind abwesend.

VORSITZENDER: Die Verfügung über das Verfahren, das in den Verhandlungen gegen die Organisationen angewandt werden soll, hat folgenden Wortlaut:

Erstens: Der Gerichtshof lenkt die Aufmerksamkeit der Anwälte für die Organisationen auf die Verfügung vom 1. Juli, in der vorgeschrieben wurde, daß das gesamte Beweismaterial, das in den Kornmissionen aufgenommen wurde und das die Verteidigungsanwälte oder die Anklagebehörde zu verwenden wünschen, dem Gerichtshof als Beweismittel angeboten und damit Teil des Protokolls werden muß, vorbehaltlich etwaiger Einwände. Es wäre dem Gerichtshof genehm, wenn das gesamte Beweismaterial zu Beginn der Verhandlung vorgelegt würde.

Punkt 2: Die Verteidigungsanwälte haben dann ihre Dokumentenbücher vorzulegen, die etwaigen Einsprüchen unterworfen werden können.

Punkt 3: Die Zeugen für die Verteidigung müssen sodann gerufen und durch die Verteidigungsanwälte vernommen werden, die die vor der Kommission gemachten Aussagen, die ihnen wichtig erscheinen, sowie etwaiges neues erhebliches Beweismaterial vorzutragen haben. Jede Organisation wird der Reihe nach behandelt, und das gesamte Beweismaterial für jede einzelne Organisation – sowohl das direkte Verhör wie auch das Kreuzverhör – soll angehört werden, bevor wir zu nächsten Organisationen übergehen.

Punkt 4: Der Anwalt für jede Organisation muß sodann sein Plädoyer halten, das sich mit dem Beweismaterial befaßt, das dem Gerichtshof vorgelegt worden ist. Er hat die erforderlichen Hinweise auf die als Beweismittel eingereichten Dokumente zu geben und muß ferner die Aufmerksamkeit des Gerichtshofs auf den Inhalt der Aussagen vor den Kommissionen lenken sowie auf die Zusammenfassungen aus den Affidavits, die ihm wichtig erscheinen und die er dem Gerichtshof zur besonderen Beratung vorlegen möchte.

Punkt 5: Die Anklagebehörde wird antworten, wenn alle Plädoyers der Verteidigungsanwälte gehalten worden sind.

Punkt 6: Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß die Plädoyers der Anklagebehörde und der Verteidigung kurz sein und einen halben Tag für jeden Fall nicht überschreiten sollten. Wenn diese Zeit überschritten werden soll, so muß bis spätestens Montag, den 29. Juli, ein besonderer Antrag an den Gerichtshof gestellt werden, in welchem die Gründe für eine derartige Zeitüberschreitung enthalten sind. – Das ist alles.

Ich rufe Dr. Seidl für den Angeklagten Heß.

[389] DR. ALFRED SEIDL, VERTEIDIGER DER ANGEKLAGTEN HESS UND FRANK: Herr Präsident, meine Herren Richter! Bevor ich mit den Ausführungen für den Fall des Angeklagten Heß beginne, bitte ich das Tribunal um die Erlaubnis, in Vertretung des Verteidigers des Angeklagten Göring noch zwei Beweisstücke vorlegen zu dürfen. Die beiden Beweisstücke sind vom Gericht genehmigt und beziehen sich auf den Fall Katyn, also auf die Frage der Ermordung von 11000 polnischen Offizieren in der Nähe von Smolensk.

Das erste ist Beweisstück Göring Nummer 60, ein Auszug aus dem deutschen Weißbuch, der Obduktionsbefund des italienischen Professors Palmieri und der Obduktionsbefund des bulgarischen Professors Borotin.

Das zweite ist Beweisstück Göring Nummer 61, ebenfalls ein Auszug aus dem deutschen Weißbuch zum Fall Katyn, das Protokoll der Internationalen Ärztekommission vom 30. April 1943.

Herr Präsident! Meine Herren Richter!

Als im Jahre 1919 das deutsche Volk nach einem verlorenen Weltkrieg daranging, sein öffentliches Leben nach demokratischen Grundsätzen neu zu gestalten, sah es sich Schwierigkeiten gegenüber, die nicht nur durch den Krieg selbst und dem damit verbundenen Substanzverlust bedingt waren. Der Angeklagte Rudolf Heß hat als einer der ersten Kampfgefährten Adolf Hitlers mit zu denen gehört, die das deutsche Volk immer wieder auf die großen Gefahren hinwiesen, die der deutschen Volkswirtschaft und der Weltwirtschaft aus der Reparationspolitik der Siegerstaaten von 1919 erwachsen mußten. Die Folgen dieser Politik mußten für Deutschland um so verheerender sich auswirken, als Frankreich im Jahre 1923 daranging, das Ruhrgebiet, das wirtschaftliche Kraftzentrum Deutschlands, militärisch zu besetzen. In dieser Zeit des wirtschaftlichen Zusammenbruches und der völligen Wehrlosigkeit Deutschlands machte Adolf Hitler zum erstenmal den Versuch, am 9. November 1923 im Wege der Revolution die Macht im Staate an sich zu reißen. Auch der Angeklagte Rudolf Heß war an dem Marsch zur Feldherrnhalle in München beteiligt. Zusammen mit Adolf Hitler verbüßte er die gegen ihn vom Volksgericht ausgesprochene Strafe auf der Festung Landsberg, auf der Hitler sein Buch »Mein Kampf« geschrieben hat.

Als im Jahre 1925 die Partei wieder gegründet wurde, war Rudolf Heß einer der ersten, die zusammen mit Adolf Hitler den Kampf um eine nationale Wiedergeburt des deutschen Volkes aufnahmen. In den ersten Jahren nach der Neugründung sollte die[390] Partei nur einen langsamen Aufstieg beginnen. Die deutsche Volkswirtschaft hatte sich von den schlimmsten Folgen des Ruhreinbruches wieder erholt. Die Währung war stabilisiert worden, und infolge umfangreicher Auslandskredite war es sogar gelungen, einen wirtschaftlichen Aufschwung herbeizuführen.

Sehr bald jedoch sollte es sich zeigen, daß der wirtschaftliche Aufschwung der Jahre 1927/1928/1929 nur eine Scheinblüte war, der jedenfalls in Deutschland keine Grundlage in einer gesunden und ausgeglichenen Volkswirtschaft hatte. Es ist richtig, daß die Wirtschaftskrise, die mit dem Jahre 1930 begonnen hat, eine allgemeine Krise der Weltwirtschaft war und daß der damalige Niedergang in Deutschland nur ein Teil des allgemeinen Verfalls innerhalb der Weltwirtschaft war. Es ist aber ebenso sicher, daß es sich hier nicht lediglich um einen konjunkturellen Abstieg innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft handelte, wie ihn die einzelnen Verkehrswirtschaften der Länder und die Weltwirtschaft vorher schon wiederholt erlebt hatten, sondern daß es sich hier um strukturelle Veränderungen handelte, die verschiedene Ursachen haben mögen, von denen eine der wichtigsten aber ohne jeden Zweifel die durch die unvernünftige Reparationspolitik verursachte Störung des Güterund Zahlungsmittelaustausches ist.

Ebenso sicher ist, daß die Folgen der Weltwirtschaftskrise in Deutschland nicht zuletzt deshalb so verheerend sein und am Ende ihren Ausdruck in einer Arbeitslosenziffer von fast sieben Millionen finden konnten, weil in Deutschland die durch die Reparationen im Gefüge der Volkswirtschaft verursachten Veränderungen besonders tiefgreifend waren.

Wenn daher in den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei einen großen Wahlsieg errungen hat und mit nicht weniger als 107 Abgeordneten in den neuen Reichstag eingezogen ist, dann ist das nicht zuletzt eine Folge der damaligen Wirtschaftskrise, der großen Arbeitslosigkeit und damit mittelbar auch der jeder wirtschaftlichen Vernunft widersprechenden Reparationsleistungen und der Weigerung der Siegerstaaten, trotz eindringlicher Warnungen in eine Neuregelung einzuwilligen. Es ist zwar richtig, daß durch den Dawes- und durch den Young-Plan die im Versailler Vertrag vorgesehenen Reparationsleistungen und die Art ihrer Abwicklung abgeändert wurden. Es ist aber ebenso richtig, daß diese Änderungen zu spät erfolgten und von Deutschland weiterhin Leistungen in einem Umfang und unter Bedingungen verlangten, die unfehlbar zu einer wirtschaftlichen Katastrophe führen mußten und dann auch tatsächlich geführt haben. In diesem Zusammenhang ist auf folgendes hinzuweisen: Die Anklagevertretung hat umfangreiches Beweismaterial in Bezug auf den Aufstieg der NSDAP bis zu ihrer Machtübernahme [391] vorgelegt. Ein Vergleich der Reichstagsmandate in den Jahren 1930 bis 1932 mit den Arbeitslosenziffern der gleichen Zeit würde ergeben, daß die Entwicklung dieser Ziffern ungefähr gleichlautend war. Je trostloser die durch die Arbeitslosigkeit bedingten sozialen Erscheinungen wurden – im Jahre 1932 dürften einschließlich der Familienangehörigen nicht weniger als 25 Millionen Menschen von den Folgen der Arbeitslosigkeit betroffen worden sein – desto eindrucksvoller wurden die Wahlerfolge der Nationalsozialisten. Ich glaube kaum, daß überzeugender der Beweis für das Bestehen eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen den Folgen der Reparationspolitik der Siegermächte von 1919 und dem Aufstieg des Nationalsozialismus geführt werden kann. Man kann diesen ursächlichen Zusammenhang auf die kurze Formel bringen: Ohne Versailler Vertrag keine Reparationen – ohne Reparationen kein wirtschaftlicher Zusammenbruch mit den besonders für Deutschland katastrophalen Folgen, wie sie in einer Arbeitslosenziffer von fast sieben Millionen ihren Ausdruck fanden – und ohne diesen Zusammenbruch keine Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Die sich aus diesem ursächlichen Zusammenhang auch ergebende politische und historische Verantwortlichkeit der maßgebenden Staatsmänner der Gegenseite liegt so offen zutage, daß im Rahmen dieses Prozesses weitere Ausführungen dazu sich er übrigen.

Diese Formel mag zugespitzt erscheinen, und es mag weiterhin zutreffen, daß nicht nur die wirtschaftliche Notlage und die große Zahl der Arbeitslosen am 14. September 1930 Millionen von Deutschen veranlaßt haben, zum ersten Male nationalsozialistisch zu wählen und die dann in der Folgezeit zu dem weiteren Machtanstieg der Partei geführt haben. Sicher war das aber mit einer der Hauptgründe. Und auch die anderen Gründe, die bei vielen Wählern in ihrem Willensentschluß mit eine Rolle gespielt haben, können letzten Endes auf die unheilvollen Auswirkungen des Versailler Vertrags und die Weigerung der Siegermächte – und hier vor allem Frankreichs – in eine Revision des Vertrags einzuwilligen, zurückgeführt werden. Das gilt vor allem für den von allen späteren demokratischen Regierungen erhobenen Anspruch auf Gleichberechtigung.

Als das deutsche Volk in Erfüllung des Friedensvertrags von Versailles abgerüstet hatte, konnte es mit Recht erwarten, daß auch die Siegermächte entsprechend ihrer im Vertrag übernommenen Verpflichtung abrüsten würden. Dies ist nicht geschehen, und es keinem Zweifel unterliegen, daß die Verweigerung der Gleichberechtigung beziehungsweise die Weigerung, nun auch selbst abzurüsten, mit einer der wesentlichsten Gründe für den Aufstieg des Nationalsozialismus in den Jahren 1931 und 1932 darstellte. Und wenn überhaupt ein Argument Hitlers im deutschen Volk einen Widerhall gefunden hat, dann war es das, daß man einem Volk wie [392] dem deutschen, einem Volk, das über eine Bevölkerung von mehr als 75 Millionen verfügt und im Herzen Europas gelegen ist und eine kulturelle Vergangenheit wie wenig andere Völker hat, auf die Dauer auch nach einem verlorenen Krieg die Gleichberechtigung nicht versagen kann. Es ist in diesem Saale schon einmal darauf hingewiesen worden, daß man ein Volk, das einen Luther, einen Goethe und einen Beethoven hervorgebracht hat, nicht auf unbeschränkte Zeit als Volk minderen Ranges behandeln kann. Immer wieder konnte Hitler auf die Tatsache verweisen, daß die Staatsmänner der Weimarer Republik kein Mittel unversucht ließen, um auf friedliche Weise die Revision der untragbarsten Bestimmungen des Versailler Vertrags zu erreichen. Acht Jahre lang sind die Staatsmänner des demokratischen Deutschlands, sind ein Stresemann und ein Brüning nach Genf gegangen, um die immer wieder versprochene Gleichberechtigung Deutschlands endlich zu erreichen, und immer wieder wurden sie mit leeren Händen nach Hause geschickt. Die sich daraus ergebenden Gefahren konnten niemandem verborgen bleiben. In der Tat wurde die Welt sowohl durch deutsche Staatsmänner als auch insbesondere durch einsichtige Politiker der ehemaligen Feinde Deutschlands gewarnt. Alle diese Warnungen wurden in den Wind geschlagen.

Als endlich im Jahre 1932 die Nationalsozialistische Partei mit 230 Reichstagsmandaten die weitaus stärkste Partei in Deutschland geworden war, konnte es nur noch eine Frage der Zeit sein, wann Adolf Hitler und seine Partei mit der Übernahme der Regierungsgewalt beauftragt wurde. Dies konnte auf die Dauer um so weniger verhindert werden, als die vorhergehenden Regierungen des Herrn von Papen und des Generals Schleicher im Reichstag über keinerlei nennenswerte Gefolgschaft verfügten und die Regierungsgewalt ausschließlich auf dem Notverordnungsweg des Artikels 48 der Weimarer Reichsverfassung ausübten. Als dann Adolf Hitler tatsächlich am 30. Januar 1933 vom Reichspräsidenten von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt und mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt wurde, ist das durchaus im Einklang mit den Bestimmungen der Reichsverfassung geschehen. Hatte doch die Nationalsozialistische Partei im Jahre 1932 bei den Reichstagswahlen Wählerstimmen in einem Umfange auf sich vereinigt, wie dies vorher seit dem Bestehen des Deutschen Reiches keiner Partei gelungen war. Wenn der Führer dieser stärksten Partei mit der Regierungsbildung beauftragt wurde, so war das insbesondere im Hinblick auf die damals in Deutschland bestehenden parlamentarischen Verhältnisse durchaus nichts außergewöhnliches, und es kann nicht der geringste Zweifel darüber bestehen, daß Hitler und seine Partei legal, das heißt verfassungsmäßig an die Macht gekommen sind. Richtig ist allerdings, daß sich im Laufe der folgenden Jahre die staatsrechtliche Struktur des Deutschen Reiches und insbesondere [393] die Stellung Hitlers geändert hat. Es liegen aber keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, daß auch diese Entwicklung nicht legal gewesen wäre. Ich nehme dabei, um Wiederholungen zu vermeiden, Bezug auf die Ausführungen des Zeugen Dr. Lammers. Es kann dabei völlig dahingestellt bleiben, ob man diese Entwicklung zur absoluten Alleinherrschaft Hitlers erklären will mit der Bildung eines sogenannten Staatsgewohnheitsrechtes oder ob man sich eine andere Theorie zurechtlegt. Entscheidend scheint mir für den Rahmen dieses Prozesses vielmehr zu sein, daß kein einziger Staat, mit dem Deutschland diplomatische Beziehungen unterhalten hat, und zwar weder bei der Machtübernahme noch anläßlich der vor aller Welt offen sich vollziehenden Umgestaltung der staatsrechtlichen Struktur, irgendwelche Bedenken erhoben oder gar diplomatische oder völkerrechtliche Konsequenzen daraus gezogen hat. Die diplomatische und völkerrechtliche Anerkennung des nationalsozialistischen Staates hat weder bei der Machtübernahme noch zu irgendeinem späteren Zeitpunkt in Frage gestanden. Nur ergänzend sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß das Gesetz, das in der Folgezeit für das Verhältnis zwischen Staatsbürger und Staat am bedeutungsvollsten werden sollte, noch von dem Reichspräsidenten von Hindenburg auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung erlassen wurde. Ich meine die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 (Reichsgesetzblatt Teil I, Seite 83). Im Paragraphen 1 dieser Verordnung wurden die wesentlichsten Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt und Beschränkungen der persönlichen Freiheit, das Recht der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegraphen-und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und von Beschlagnahmen sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen für zulässig erklärt. An der Rechtsgültigkeit dieser Verordnung kann in formaler Hinsicht ebensowenig ein Zweifel bestehen wie an irgendeinem andern vom Reichstag, von der Reichsregierung, vom Ministerrat für die Reichsverteidigung oder von Hitler selbst erlassenen sogenannten Verfassungs- oder Staatsgrundgesetz.

Meine Herren Richter! Ich habe im Namen des Angeklagten Rudolf Heß erklärt, daß dieser die volle Verantwortung übernimmt für alle Gesetze und Verordnungen, die er in seiner Eigenschaft als Stellvertreter des Führers, als Reichsminister und als Mitglied des Ministerrates für die Reichsverteidigung unterschrieben hat. Ich habe daher davon abgesehen, Beweismittel in Bezug auf Anklagen vorzulegen, die lediglich innere Angelegenheiten des Deutschen Reiches als souveränen Staat betreffen und in keinem Zusammenhang stehen mit dem von der Anklage behaupteten Verbrechen [394] gegen den Frieden und von Verbrechen gegen die Gebräuche des Krieges.

Ich werde daher auch jetzt nur auf solche Gesetze und staatsrechtlichen und politischen Maßnahmen eingehen, die in irgendeinem erkennbaren Zusammenhang stehen mit den eigentlichen Anklagepunkten und dem von der Anklage behaupteten gemeinsamen Plan oder Verschwörung.

Die Anklageschrift macht dem Angeklagten Rudolf Heß zum Vorwurf, die militärische, wirtschaftliche und psychologische Vorbereitung auf den Krieg gefördert und an der politischen Planung und Vorbereitung von Angriffskriegen teilgenommen zu haben. Zum Beweis dieser Behauptung hat die Anklage auf die Tatsache hingewiesen, daß der Angeklagte Rudolf Heß das Gesetz für den Aufbau der Wehrmacht vom 16. März 1935 in seiner Eigenschaft als Reichsminister ohne Geschäftsbereich mit unterschrieben hat. Mit diesem Gesetz wurde die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland wieder eingeführt und bestimmt, daß sich das deutsche Friedensheer in 12 Korpskommandos und 36 Divisionen gliedern solle.

Nicht minder wichtig als der Inhalt dieses Gesetzes scheint mir für das gegenwärtige Verfahren die Proklamation zu sein, die die Reichsregierung an das deutsche Volk im Zusammenhang mit der Verkündung dieses Gesetzes gerichtet und dem Gesetz im Reichsgesetzblatt vorangestellt hat.

Ich nehme auf den Inhalt dieser Proklamation, die als Beweisstück vorgelegt wurde, Bezug. Diese Proklamation vom 16. März 1935 enthält nichts an wesentlichen Argumenten, was nicht vorher schon von deutschen demokratischen Regierungen in der Zeit der Weimarer Republik in dieser Frage vorgebracht worden wäre.

Meine Herren Richter! Das Gericht hat mir zwar gestattet, zu dieser Frage wenigstens einen Teil meiner Ausführungen zu bringen. Im Hinblick aber darauf, daß der Verteidiger des Angeklagten von Neurath eingehend zu dieser Frage bereits Stellung genommen hat, nehme ich insoweit auf dessen Ausführungen Bezug, und ich verzichte darauf meinerseits, zu dieser Frage im einzelnen noch Stellung zu nehmen. Ich fahre vielmehr fort auf Seite 19 meines Exposés, und zwar auf den letzten vier Zeilen.

Die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht durch das Gesetz vom 16. März 1935 wird in der Anklageschrift offenbar nicht als selbständige strafbare Handlung betrachtet, sondern nur als Teil des von der Anklage behaupteten gemeinsamen Planes, der darauf abgezielt haben soll, Verbrechen gegen den Frieden, gegen das Kriegsrecht und gegen die Humanität zu begehen. Ob überhaupt jemals ein derartiger Plan bestanden hat ob und in welchem Umfang der Angeklagte Rudolf Heß daran beteiligt war und welche Rolle die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in diesem [395] Plan in objektiver und in subjektiver Beziehung gespielt haben, werde ich später eingehend darlegen.

Im Rahmen des gemeinsamen Planes, einen Angriffskrieg geplant und vorbereitet zu haben, wird der Angeklagte Heß auch persönlich beschuldigt, die Auslandsorganisation der NSDAP, den Volksbund für das Deutschtum im Ausland, den Bund Deutscher Osten, den Deutsch-Amerikanischen Bund und das Deutsche Auslandsinstitut in seiner Eigenschaft als Stellvertreter des Führers eingesetzt zu haben. Die von der Anklagevertretung in diesem Zusammenhang vorgelegten Dokumente vermögen nicht den Nachweis zu erbringen, daß der Angeklagte Heß selbst diesen Organisationen Weisungen oder Befehle erteilt hätte, die sie zu einer Tätigkeit ähnlich der einer Fünften Kolonne hätten veranlassen können. Die Vernehmung der Zeugen Bohle, Strölin und Alfred Heß hat im Gegenteil ergeben, daß gerade der Angeklagte Heß diesen Organisationen und Leitern auf das strengste untersagt hat, sich in die inneren Angelegenheiten der anderen Staaten zu mischen. Dafür, daß die genannten Organisationen tatsächlich eine Tätigkeit entwickelt hätten, die darauf gerichtet wäre, die fremden Staatsgebilde von innen heraus zu unterhöhlen, konnte vollends von der Anklage kein Nachweis erbracht werden. Unter diesen Umständen erübrigt es sich, näher auf die Tätigkeit der genannten Organisationen und Einrichtungen einzugehen, insbesondere nachdem auch keinerlei Anhaltspunkt dafür vorliegt, daß zwischen den Aufgaben und Funktionen dieser Organisationen und den Ereignissen, die dann im Jahre 1939 zum Kriegsausbruch führten, irgendein ursächlicher Zusammenhang besteht.

Mit mehreren von der Anklagevertretung vorgelegten Beweisstücken wird ferner der Nachweis zu führen versucht, daß der Angeklagte Rudolf Heß auch an der Besetzung Österreichs am 12. März 1938 maßgebend beteiligt gewesen sei. Ich beabsichtige nicht, im einzelnen auf die Geschichte des Anschlusses einzugehen und die Tatsachen rechtlich zu würdigen, die im Jahre 1938 tatsächlich zum Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich geführt haben.

Eines muß aber hier doch festgestellt werden: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker hat unter den 14 Punkten des Präsidenten Wilson einen hervorragenden Platz eingenommen. Tatsächlich ist aber keine Forderung des Amerikanischen Präsidenten in den Verträgen von Versailles und St-Germain so wenig verwirklicht worden als gerade dieses Selbstbestimmungsrecht. Dem Gericht wurde bereits der Beschluß der Provisorischen österreichischen Nationalversammlung vom 12. November 1918 als Beweismittel vorgelegt. In diesem neuen Grundgesetz wurde unter anderem bestimmt: »Deutsch-Österreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volk eingesetzt. Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik.« Nicht weniger eindeutig sind die Erklärungen, die der damalige sozialdemokratische Bundeskanzler Dr. Karl Renner als Begründung zu diesem Verfassungsgesetz gegeben hat, indem er unter anderem ausführt: »Unser großes Volk ist in Not und Unglück, das Volk, dessen Stolz es immer war, das Volk der Dichter und Denker zu heißen, unser deutsches Volk des Humanismus', unser deutsches Volk der Völkerliebe ist im Unglück tief gebeugt! Aber gerade in dieser [396] Stunde, wo es so leicht und bequem und vielleicht auch so verführerisch wäre, seine Rechnung abgesondert zu stellen und vielleicht von der List der Feinde Vorteile zu erhaschen, in dieser Stunde soll unser Volk in allen Gauen wissen: Wir sind ein Stamm und eine Schicksalsgemeinschaft!« Entgegen dem klaren Willen der überwältigenden Mehrheit der österreichischen Bevölkerung wurde von den Ententemächten der Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten verboten. Eine von der Österreichischen Nationalversammlung am 1. Oktober 1920 beschlossene Volksabstimmung über den Anschluß wurde von den Siegermächten unter Androhung einer Hungerblockade verhindert. Die trotzdem von einigen Landesregierungen selbständig durchgeführten Abstimmungen brachten eine überwältigende Mehrheit für den Anschluß. Und es ist in der Tat die Situation nicht besser zu kennzeichnen, als es Staatssekretär Lansing in seinem im Jahre 1921 erschienenen Buch »The Peace Negotiations« getan hat: »Eine klarere Verleugnung des angeblichen Selbstbestimmungsrechtes ist kaum zu denken als dieses Verbot des fast vom einmütigen Wunsche des deutsch-österreichischen Volkes getragenen Anschlusses an Deutschland.« Dieser Wunsch des österreichischen Volkes nach Anschluß an das Deutsche Reich hat nicht nur unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg bestanden, sondern er war auch in der Folgezeit lebendig. Es mag völlig dahingestellt bleiben, welche Gründe im einzelnen dafür immer maßgebend gewesen sein mögen und welche Gründe im Laufe der Zeit vorherrschend gewesen sind. Sicher ist, daß dieser Wunsch bestanden hat und daß die Verwirklichung des Anschlusses nur gescheitert ist an dem Widerstand entweder der Ententemächte oder an dem anderer Mächte, die glaubten, hier Irgendwelche angeblichen Interessen verteidigen zu müssen. In diesem Zusammenhang mag an eine Erklärung des Bundeskanzlers Dr. Renner vom 12. November 1928 erinnert werden, die ebenfalls von der Verteidigung bereits vorgelegt wurde und in der es unter anderem heißt: »Heute, zehn Jahre nach dem 10. November 1918, und immerdar halten wir in Treue an diesem Beschluß fest und bekräftigen ihn durch unsere Unterschrift.... Der Friede von St-Germain hat das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in Österreich vernichtet.... Laßt Österreichs Bürger frei abstimmen, und sie werden mit 99 von 100 Stimmen die Wiedervereinigung mit Deutschland beschließen...« Und in der Tat: Als am 12. März 1938 die deutschen Truppen in Osterreich einzogen, kamen sie nicht als Eroberer, sondern sie wurden unter dem Jubel der Bevölkerung in einem einzigen Triumphzug empfangen.

Um Zeit zu sparen, nehme ich auch hier Bezug auf die erschöpfenden Ausführungen des Verteidigers des Mitangeklagten Dr. Seyß-Inquart, und ich fahre in meinem Entwurf fort auf Seite 23 mit dem zweiten Absatz.

Was nun den Anteil des Angeklagten Rudolf Heß und der Partei an der Durchführung des Anschlusses anlangt, so hat auch hier die Beweisaufnahme ergeben, daß der Anschluß Österreichs ein Ereignis war, das mit der Nationalsozialistischen Partei im Reich als solcher so gut wie nichts zu tun hatte. Es genügt, in diesem Zusammenhang auf die Bekundungen der Angeklagten Göring und Dr. Seyß-Inquart im Zeugenstand hinzuweisen, aus denen sich ergibt, daß die Frage des Anschlusses ausschließlich vom Reich, also von der Staatsgewalt und nicht von der Partei gelöst worden ist. Falls darüber noch irgendwelche Zweifel bestanden haben sollten, so werden diese beseitigt durch das von der Anklage selbst vorgelegte Dokument US-61, 812-PS.

Es handelt sich hier um den Brief des Gauleiters von Salzburg, Dr. Friedrich Rainer, den dieser am 8. Juli 1939 an den Reichskommissar, Gauleiter Josef Bürckel, geschrieben hat und worin er unter anderem ausführt:

»Bald nach der Machtergreifung in der Ostmark flogen Klausner, Globocznik und ich nach Berlin, um dem [397] Stellvertreter des Führers, dem Pg. Rudolf Heß, einen Bericht über die Vorgänge, die zur Machtergreifung geführt haben, abzustatten.«

Ein Bericht wäre selbstverständlich nicht notwendig gewesen, wenn der Stellvertreter des Führers und die Partei selbst unmittelbar bei der Lösung der Anschlußfrage maßgebend beteiligt gewesen wären. Ich erwähne dies nicht etwa, um Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund zugunsten des Angeklagten Rudolf Heß anzuführen. Die Feststellung geschieht vielmehr ausschließlich im Interesse der historischen Wahrheit.

Ich komme nunmehr zur Frage des Anschlusses des Sudetenlandes.

Dreieinhalb Millionen Sudetendeutsche wurden mit achteinhalb Millionen Tschechen und Slowaken in einem Staat zusammengefaßt, ohne daß ihnen ein maßgeblicher Einfluß auf den Staat eingeräumt worden wäre. Alle Bemühungen dieser Volksgruppe, im Rahmen des tschechoslowakischen Staatsverbandes die Autonomie bewilligt zu erhalten, blieben erfolglos. Als die Anschlußfrage hinsichtlich Österreichs gelöst war, konnte es nicht ausbleiben, daß auch die künftige Stellung der Sudetendeutschen, bei denen es sich immerhin um dreieinhalb Millionen Menschen handelt und deren Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum außer jedem Zweifel steht, einer Prüfung unterzogen wurde. Ich habe nun nicht die Absicht, im einzelnen zu allen Fragen des Anschlusses des Sudetenlandes an das Reich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Stellung zu nehmen. Im Hinblick darauf, daß die Anklagevertretung in dem von ihr dem Gericht vorgelegten Trial-Brief gegen den Angeklagten Heß auf die sudetendeutsche Frage eingegangen ist und auch einige Dokumente als Beweisstück vorgelegt hat, erscheint es doch notwendig, kurz dazu Stellung zu nehmen. In dem Dokument 3258-PS, GB-262 – es handelt sich um eine Rede des Stellvertreters des Führers auf der Tagung der Auslandsorganisation der NSDAP am 28. August 1938 – nimmt dieser lediglich in allgemeinen Ausführungen zu der sudetendeutschen Frage Stellung, und zwar unter Betonung des Nationalitätenprinzips und des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Auch die übrigen von der Anklage vorgelegten Dokumente, US-126 (3061-PS) und US-26 (388-PS), lassen nichts erkennen, was auf eine entscheidende Beteiligung des Angeklagten Rudolf Heß bei der Lösung der sudetendeutschen Frage schließen lassen könnte. Es kann aber auch das Ausmaß dieser Beteiligung völlig dahingestellt bleiben, da der Anschluß des Sudetenlandes an das Reich für sich allein keinesfalls den Tatbestand einer nach internationalem Recht strafbaren Handlung erfüllen kann. Wurde doch der Anschluß des Sudetengaues nicht vollzogen auf Grund einer einseitigen Handlung Deutschlands oder auf Grund eines vielleicht anfechtbaren Vertrags zwischen dem Deutschen Reich und der [398] Tschechoslowakischen Republik. Der Anschluß erfolgte vielmehr auf Grund eines Abkommens, das am 29. September 1938 in München zwischen Deutschland, dem Vereinigten Königreich von Großbritannien, Frankreich und Italien geschlossen worden war. In diesem Abkommen wurden genaue und ins einzelne gehende Vereinbarungen über die Räumung des abzutretenden Gebietes und die etappenweise Besetzung durch deutsche Truppen getroffen. Die endgültige Festlegung der Grenzen ist durch einen internationalen Ausschuß vorgenommen worden. Ohne auf weitere Einzelheiten des Abkommens eingehen zu wollen, kann doch soviel mit Sicherheit gesagt werden, daß es sich hier um einen Vertrag handelt, der auf Grund freier Willensübereinstimmung zustande gekommen war und von dem alle Beteiligten die Erwartung hegten, daß er die Grundlage oder doch wenigstens eine wesentliche Voraussetzung für eine Verbesserung der internationalen Beziehungen in Europa abgeben könnte.

Ich komme nun zu einem anderen Gegenstand der Anklage. Sowohl im Rahmen der Gesamtanklage als auch in der von der Anklagevertretung gegen den Angeklagten Rudolf Heß erhobenen persönlichen Anklage wird dieser beschuldigt, am Ausbruch des Krieges mitbeteiligt und dafür verantwortlich zu sein. In der Tat hat der Angeklagte Rudolf Heß in mehreren Reden zu der Frage des Polnischen Korridors und zu dem Problem des Freistaates Danzig Stellung genommen. Aber hier ist doch folgendes vorauszuschicken:

Durch die Schaffung des Polnischen Korridors wurde nicht nur das Selbstbestimmungsrecht der Völker verletzt – ist doch auf diese Weise mehr als eine Million Deutscher unter polnische Herrschaft gekommen –, sondern es wurde darüber hinaus durch die Aufteilung des Staatsgebietes des Deutschen Reiches in zwei völlig voneinander getrennte Territorien ein Zustand geschaffen, der nicht nur jeder wirtschaftlichen Vernunft widerspricht, sondern darüber hinaus vom ersten Tage an die Ursache für dauernde Reibungen und Zwischenfälle werden mußte.

Tatsächlich ist vom Tage der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags an die Forderung nach einer Revision des Vertrags gerade in der Frage des Polnischen Korridors zu keiner Stunde verstummt. Es hat in Deutschland keine Partei und keine Regierung gegeben, die nicht die Notwendigkeit einer Revision des Vertrags vor allem in diesem Punkt anerkannt und verlangt hätte.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß, wenn schon überhaupt Polen unter allen Umständen einen selbständigen Zugang zur Ostsee haben sollte, dieses Problem vernünftiger hätte gelöst werden können als durch die Schaffung des sogenannten Korridors [399] und die dadurch bedingte Aufteilung des Deutschen Reiches in zwei völlig voneinander getrennte Gebiete.

Ähnliches gilt hinsichtlich des völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Statuts des Freistaates Danzig. Es ist nicht notwendig, hier näher auf die Tatsachen einzugehen, die im Laufe der Zeit zu immer größeren Schwierigkeiten geführt haben und am Ende einen Zustand herbeiführten, der eine Änderung der völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Stellung dieser rein deutschen Stadt notwendig machte.

Ebensowenig ist es notwendig, im einzelnen auf das durch den Polnischen Korridor und die Schaffung eines Freistaates Danzig aufgeworfene Minderheitenproblem näher einzugehen. Tatsache ist, daß im Laufe von zwei Jahrzehnten nicht weniger als etwa eine Million Deutscher gezwungen wurden, ihr Siedlungsgebiet zu verlassen, und zwar unter Umständen, die nicht ohne Rückwirkung auf die allgemein politischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der Republik Polen bleiben konnten. Es ist auch nicht so, als ob erst seit dem Machtantritt Adolf Hitlers die hier aufgeworfenen Probleme öffentlich behandelt worden wären.

Wenn ich das Tribunal recht verstanden habe, dann müssen die folgenden Seiten, bis Seite 29, wegbleiben.

Unter diesen Umständen konnte es niemanden überraschen, wenn nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler und seine Partei, die durch den Polnischen Korridor und die Abtrennung Danzigs vom Reich aufgeworfenen Fragen neuerdings einer Prüfung unterzogen wurden. Dies konnte um so weniger ausbleiben, als auch nach Abschluß des deutsch-polnischen Vertrags im Jahre 1934 die Bestrebungen Polens keineswegs aufhörten, in immer höherem Maße das deutsche Element auszuschalten.

Ich beabsichtige nicht, näher auf die Verhandlungen einzugehen, die vom Deutschen Reich mit der Polnischen Republik geführt wurden und die zum Ziele hatten, unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen Polens einen Modus vivendi zu finden. Immerhin erscheint es mir wesentlich, folgende Tatsachen festzuhalten; dies scheint mir schon deshalb wesentlich, weil von der Anklagevertretung immer wieder behauptet wurde, daß die Angeklagten, daß die Deutsche Regierung alles hätte tun müssen, um die Fragen einer Klärung zuzuführen, daß sie aber vor allem Verhandlungen hätte führen müssen und das eine nicht hätte tun dürfen, und zwar einen Krieg zu beginnen. Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, daß tatsächlich versucht wurde, auf dem Verhandlungsweg die Probleme, die nicht aus der Welt zu schaffen waren, einer Lösung zuzuführen.

Zum erstenmal hat der Reichsminister des Auswärtigen am 24. Oktober 1938 in einer Unterredung mit dem Polnischen [400] Botschafter die durch den Korridor und die Abtrennung der Stadt Danzig aufgeworfenen Fragen behandelt und eine Lösung vorgeschlagen, die auf folgender Grundlage aufgebaut sein sollte:

»1. Der Freistaat Danzig kehrt zum Deutschen Reich zurück.

2. Durch den Korridor würde eine exterritoriale, Deutschland gehörige Reichsautobahn und eine ebenso exterritoriale, mehrgleisige Eisenbahn gelegt.

3. Polen erhält im Danziger Gebiet ebenfalls eine exterritoriale Straße oder Autobahn und Eisenbahn und einen Freihafen.

4. Polen erhält eine Absatzgarantie für seine Waren im Danziger Gebiet.

5. Die beiden Nationen anerkennen ihre gemeinsamen Grenzen (Garantie) oder die beiderseitigen Territorien.

6. Der deutsch-polnische Vertrag wird um 10 bis 25 Jahre verlängert.

7. Die beiden Länder fügen ihrem Vertrag eine Konsultationsklausel bei.«

Die Antwort der Polnischen Regierung auf diesen Vorschlag wurde von der Anklagevertretung dem Tribunal selbst vorgelegt. Es handelt sich um das Dokument TC-73, Nummer 45, in welchem die Stellungnahme des polnischen Außenministers Beck vom 31. Oktober 1938 und sein Auftrag an den Polnischen Botschafter Lipski in Berlin enthalten ist. In diesem Dokument wird der deutsche Vorschlag rundweg abgelehnt, und zwar unter Hinweis darauf, ich zitiere:

»Daß irgendein Versuch der Eingliederung der Freien Stadt Danzig in das Reich unvermeidlich zu einem Konflikt führen werde, und zwar würden sich nicht nur örtliche Schwierigkeiten ergeben, sondern alle Möglichkeiten einer polnisch-deutschen Verständigung in allen ihren Formen würden damit unterbunden.«

Dieser Standpunkt wurde dann auch tatsächlich vom Polnischen Botschafter in einer neuerlichen Unterredung zwischen ihm und dem Reichsminister des Auswärtigen am 19. November 1938 vertreten. Auf die Frage, wie sich die Polnische Regierung zu dem deutschen Vorschlag einer exterritorialen Reichsautobahn und einer exterritorialen Eisenbahn durch den Korridor stelle, erklärte der Polnische Botschafter, daß er dazu offiziell nicht Stellung nehmen könne.

Man wird nicht bestreiten können, daß der von Deutschland gemachte Vorschlag sehr zurückhaltend ist und daß in ihm nichts enthalten ist, was mit der Ehre Polens und den lebenswichtigen [401] Interessen dieses Staates nicht in Übereinstimmung hätte gebracht werden können. Dies wird man um so mehr zugeben müssen, als die Schaffung des Korridors und die Abtrennung Ostpreußens vom Reich dem ganzen deutschen Volk tatsächlich als die schwerste von allen durch den Versailler Vertrag bedingten territorialen Belastungen empfunden wurde. Wenn trotzdem die Polnische Regierung diesen Vorschlag abgelehnt hat, und zwar mit einer Begründung, die für weitere Verhandlungen kaum mehr irgendeine Aussicht auf eine Lösung übrig ließ, so mußte schon damals daraus der Schluß gezogen werden, daß es auf seiten Polens überhaupt an einem echten Verständigungswillen fehlte, der auch die berechtigten Belange des Deutschen Reiches berücksichtigte. Dieser Eindruck wurde bestätigt bei den Verhandlungen, die anläßlich des Besuches des polnischen Außenministers Beck in Berlin am 5. Januar 1939 und dem Gegenbesuch des Reichsaußenministers in Warschau am 21. Januar 1939 geführt wurden. Wenn trotz dieser ablehnenden polnischen Haltung in einer weiteren Unterredung zwischen dem Polnischen Botschafter und dem Reichsminister des Auswärtigen vom 21. März 1939 der letztere den am 24. Oktober 1938 gemachten Vorschlag wiederholte, so muß daraus der Schluß gezogen werden, daß die Deutsche Regierung tatsächlich von dem Willen beseelt war, die durch den Korridor und die Abtrennung der Stadt Danzig aufgeworfenen Fragen auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Es kann also ernstlich nicht bestritten werden, daß die Deutsche Regierung versucht hat, auf dem Verhandlungswege die Fragen Danzig und Polnischer Korridor zu lösen und daß sie in dieser Richtung sehr maßvolle Vorschläge gemacht hat.

Die Antwort auf die deutschen Vorschläge vom 21. März 1939 war eine Teilmobilmachung der polnischen Streitkräfte. Es kann dahingestellt bleiben, in welchem Zusammenhang die von der Polnischen Regierung angeordnete Teilmobilmachung mit dem britischen Konsultationsvorschlag vom 21. März 1939 steht und ob die Britische Regierung anläßlich der Überreichung dieses Konsultationsvorschlages in Warschau die dann am 31. März erfolgte Garantieerklärung bereits zugesagt oder in Aussicht gestellt hat. Auf keinen Fall kann zweifelhaft sein, daß die auch vom britischen Premierminister Chamberlain in einer Erklärung im Unterhaus vom 10. Juli 1939 zugegebene Teilmobilmachung der polnischen Wehrmacht alles andere als geeignet war, günstige Voraussetzungen für weitere Verhandlungen zu schaffen. In der Tat beinhaltete das am 26. März 1939 vom Polnischen Botschafter Lipski übergebene Memorandum der Polnischen Regierung eine völlige Ablehnung des deutschen Vorschlages. Es wurde erklärt, daß eine Exterritorialität der Verkehrswege nicht in Frage kommen könne und daß auch eins Wiedervereinigung Danzigs mit dem Reich nicht in Erwägung gezogen werden könne. In der an die Übergabe des Memorandums[402] sich anschließenden Unterredung zwischen dem Reichsaußenminister und dem Polnischen Botschafter erklärte der letztere ganz offen, er habe die unangenehme Pflicht, darauf hinzuweisen, daß jegliche weitere Verfolgung der deutschen Pläne, insbesondere soweit sie eine Rückkehr Danzigs zum Reich beträfen, den Krieg mit Polen bedeuten würde.

Wenn ich ausgeführt habe, daß der Zusammenhang zwischen der polnischen Teilmobilmachung vom 23. März 1939 und der in dem polnischen Memorandum vom 26. März 1939 enthaltenen völligen Ablehnung des deutschen Vorschlages auf der einen Seite, mit der in Aussicht gestellten britischen Garantieerklärung vom 31. März 1939 auf der anderen Seite dahingestellt bleiben kann, so erscheint dies allein schon im Hinblick auf die bereits am 21. März von der Britischen Regierung in Warschau ebenso wie in Paris und Moskau vorgeschlagenen Abgabe einer »formellen Deklaration« gerechtfertigt. Durch die »formelle Deklaration« sollte der Beginn sofortiger Besprechungen über Maßnahmen gemeinsamen Widerstandes gegen irgendwelche Bedrohung der Unabhängigkeit irgendeines europäischen Staates angekündigt werden. Darüber hinaus haben die von Premierminister Chamberlain am 17. März in Birmingham gehaltene Rede und die Rede des britischen Außenministers Lord Halifax vom 20. März, die dieser im Oberhaus gehalten hat, eine Einstellung erkennen lassen, die die Polnische Regierung erst recht zur Unnachgiebigkeit veranlassen mußte. Und in der Tat sollte die bereits am 21. März 1939 von der Britischen Regierung den Regierungen in Warschau, Paris und Moskau vorgeschlagene Abgabe einer »gemeinsamen formellen Deklaration« der Anfang von langwierigen Besprechungen werden, deren Ziel es war, um Deutschland einen eisernen Ring zu legen.

Es war daher von vornherein klar, daß unter diesen Umständen zweiseitige Verhandlungen zwischen der Deutschen und der Polnischen Regierung jedenfalls während der Dauer dieser Besprechungen nur noch geringe Aussicht auf Erfolg haben konnten. Trotzdem hat die Deutsche Regierung in einem weiteren, bereits von der Anklagevertretung vorgelegten Memorandum, welches am 28. April 1939 im Polnischen Außenministerium überreicht wurde, ihren Standpunkt völlig klargelegt und noch einmal die Bereitschaft zu weiteren Verhandlungen festgestellt. Der Inhalt dieses Memorandums einschließlich der im März 1939 gemachten Vorschläge wurde von Adolf Hitler in der Reichstagsrede vom 28. April 1939 der Öffentlichkeit bekanntgegeben.

Die Polnische Regierung hat als Antwort auf das Memorandum der Deutschen Regierung vom 28. April 1939 eine Denkschrift am 5. Mai 1939 überreicht, welche ebenfalls bereits von der Anklage vorgelegt wurde. Der Inhalt dieser Denkschrift enthielt noch mehr [403] als die früheren Noten der Polnischen Regierung eine völlige Ablehnung der von Deutschland zur Lösung des Korridorproblems und der Danziger Frage gemachten Vorschläge.

Die am 21. März 1939 zwischen London, Paris, Warschau und Moskau begonnenen Verhandlungen mit dem Ziel eines ausschließlich gegen Deutschland gerichteten Bündnisses nahmen nicht den gewünschten Verlauf. Auch die am 11. August 1939 nach Moskau gesandten französischen und britischen Militärmissionen konnten die durch offenbar weitgehende politische Meinungsverschiedenheiten entstandenen Schwierigkeiten nicht aus dem Wege räumen. Es kann dahingestellt bleiben, welchen Anteil dabei die Tatsache hatte, daß Polen, das von England, Frankreich und der Sowjetunion garantiert werden sollte, sich offenbar weigerte, militärischen Beistand seitens der Sowjetunion anzunehmen. Es kann auch dahingestellt bleiben, ob es richtig ist, was der sowjetische Außenkommissar Molotow auf der außerordentlichen Tagung des Obersten Sowjets am 31. August 1939 behauptet hatte, daß nämlich England die Bedenken Polens nicht nur nicht zerstreut, sondern im Gegenteil unterstützt habe. Wichtiger erscheint vielmehr, auf die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten einzugehen.

Hier habe ich nun verweisen wollen auf einen Auszug aus dem bekannten Buch des früheren Britischen Botschafters in Berlin, Sir Nevile Henderson. Im Hinblick darauf, daß das Gericht die Verlesung dieses Zitats nicht wünscht, daß aber auf der anderen Seite im Beweisverfahren dieser Auszug zugelassen wurde, beschränke ich mich, darauf Bezug zu nehmen. Und ich setze fort auf Seite 35 mit dem zweiten Absatz:

Tatsächlich hatte sich inzwischen folgendes ereignet:

Auf dem 18. Kongreß der Kommunistischen Partei am 10. März 1939 hat der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der USSR, Stalin, eine Rede gehalten, in der er andeutete, daß die Sowjetregierung es für möglich oder für wünschenswert halte, auch mit Deutschland zu einem besseren Verhältnis zu gelangen. Von Hitler wurde diese Andeutung auch durchaus verstanden.

In ähnlicher Weise hat sich Außenkommissar Molotow in seiner Rede vor dem Obersten Sowjet am 31. Mai 1939 ausgedrückt. Die daraufhin zwischen der Deutschen und der Sowjetischen Regierung eingeleiteten Verhandlungen hatten zunächst den Abschluß eines deutsch-sowjetischen Handels- und Kreditabkommens zum Ziel. Dieses Abkommen wurde am 19. August 1939 unterzeichnet. Aber schon während dieser Wirtschaftsverhandlungen waren auch Fragen allgemein politischer Natur behandelt worden, die nach einer Meldung der sowjetrussischen Nachrichtenagen tur »Tass« vom 21. August 1939 den Wunsch beider Regierungen erkennen ließen, eine Veränderung ihrer Politik herbeizuführen, und den Krieg [404] durch Abschluß eines Nichtangriffspaktes zu bannen. Dieser Nichtangriffspakt wurde in der Nacht vom 23. auf 24. August 1939 in Moskau unterzeichnet, also, wie die Beweisaufnahme in diesem Prozeß ergeben hat, zwei Tage vor dem für die Morgenstunden des 26. August 1939 befohlenen Angriff der deutschen Armee gegen Polen. Neben diesem Nichtangriffsvertrag wurde als dessen wesentlicher Bestandteil ein »Geheimes Zusatzprotokoll« unterzeichnet. Auf Grund des Ergebnisses der Beweisaufnahme, insbesondere auf Grund der eidesstattlichen Versicherung des Botschafters und Leiters der Rechtsabteilung im Auswärtigen Amt, Dr. Friedrich Gaus, auf Grund der Zeugenaussage des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Freiherr von Weizsäcker, und auf Grund der Erklärungen der Angeklagten von Ribbentrop und Jodl kann folgender Inhalt des Geheimen Zusatzprotokolls als festgestellt erachtet werden: Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung in den zu den baltischen Staaten gehörenden Gebieten sollten Finnland, Estland und Lettland in die Interessensphäre der Sowjetunion fallen, während das Staatsgebilde Litauen zur Interessensphäre Deutschlands gehören sollte.

Für das Staatsgebiet Polen wurde eine Aufteilung der Interessensphären in der Weise vorgenommen, daß die östlich der Flüsse Narew, Weichsel und San gelegenen Gebiete in die Interessensphäre der Sowjetunion fallen, während die westlich der durch diese Flüsse abgegrenzten Demarkationslinie liegenden Gebiete zur Interessensphäre Deutschlands gehören sollten. Im übrigen wurde hinsichtlich Polens eine Vereinbarung des Inhalts getroffen, daß die beiden Mächte bei der endgültigen Regelung der dieses Land betreffenden Fragen in beiderseitigem Einvernehmen handeln würden. Hinsichtlich des Südostens Europas wurde eine Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in der Weise vorgenommen, daß von sowjetischer Seite das Interesse an Bessarabien betont, während von deutscher Seite das völlige politische Desinteressement an diesem Gebiet erklärt wurde. Nach den Bekundungen sämtlicher Zeugen, insbesondere aber auf Grund der Erklärungen des Botschafters Dr. Gaus und des Staatssekretärs von Weizsäcker steht fest, daß dieses Geheimabkommen eine völlige Neuregelung in Bezug auf Polen und das künftige Schicksal des polnischen Staates in sich schloß.

Die nach Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags und des dazugehörenden geheimen Zusatzprotokolls gemachten Anstrengungen, doch noch mit Polen zu einer Verständigung in der Frage Danzigs und des Korridors zu gelangen, sind fehlgeschlagen. Der Beistandspakt, welcher am 25. August 1939 zwischen Großbritannien und Polen geschlossen wurde, hat den Kriegsausbruch nicht verhindert, sondern nur noch einige Tage [405] verzögert. Ich habe nicht die Absicht, im einzelnen auf die diplomatischen Verhandlungen einzugehen, die nach Abschluß des deutsch-sowjetischen Vertrags vom 23. August 1939 noch geführt wurden, um doch noch zu einer Einigung zu gelangen. Eines kann aber wohl mit Sicherheit gesagt werden:

War schon die einseitige Garantieerklärung Englands vom 31. März 1939 dazu angetan, die an sich schon bestehende Unnachgiebigkeit der Polnischen Regierung gegenüber den deutschen Vorschlägen zu steigern, dann mußte ein Beistandspakt mit Großbritannien erst recht sich gegen eine Verhandlungsbereitschaft auf seiten der Polnischen Regierung auswirken. Der Mißerfolg der zwischen Deutschland und Polen geführten Verhandlungen kann um so weniger überraschen, wenn man sich die Bekundung des Zeugen Dahlerus vor diesem Tribunal vor Augen hält. Hat dieser Zeuge doch bestätigt, daß der Polnische Botschafter in Berlin, Lipski, am 31. August 1939 erklärt hat, daß er nicht daran interessiert sei, über die Vorschläge der Deutschen Regierung zu verhandeln. Er begründete diese ablehnende Haltung damit, daß im Falle eines Krieges in Deutschland eine Revolution ausbrechen und die polnische Armee auf Berlin marschieren würde.

Was immer auch die Nachrichten gewesen sein mögen, die die Englische Regierung mit zum Abschluß des Vertrags mit Polen veranlaßt haben und die vielleicht auf einen Riß in dem deutsch-italienischen Bündnis und auf Zersetzungserscheinungen im deutschen Staatsgefüge hindeuteten – ich nehme hier Bezug auf die Angaben des Zeugen Dahlerus und des Zeugen Gisevius –, die Zukunft sollte zeigen, daß derartige Überlegungen in den Tatsachen keine Begründung fanden.

Als am 1. September 1939 der Krieg zwischen Deutschland und Polen ausbrach, handelte es sich zunächst um einen lokalisierten Konflikt zwischen zwei europäischen Staaten. Als aber am 3. September 1939 Großbritannien und Frankreich an Deutschland den Krieg erklärten, weitete sich der Konflikt zu einem europäischen Krieg aus. Zu einem Krieg, der wie alle modernen Kriege zwischen Großmächten bei der gegenwärtigen mangelhaften internationalen Organisation und nach dem völligen Zusammenbruch des Systems der kollektiven Sicherheit von Anfang an die Tendenz in sich trug, sich zu einem allgemeinen Weltkrieg zu entwickeln. Dieser Krieg sollte unermeßliches Leid über die ganze Menschheit bringen, und als am 8. Mai 1945 der Krieg in Europa mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands sein Ende fand, hinterließ er ein Europa in Trümmern.

Adolf Hitler hat den Zusammenbruch Deutschlands und die bedingungslose Kapitulation nicht mehr erlebt. Vor den Schranken [406] dieses Gerichts aber stehen 22 ehemalige Führer des nationalsozialistischen Deutschlands, um sich zu verantworten gegen die Anklage, in Ausführung eines gemeinsamen Planes Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Gebräuche des Krieges und gegen die Menschlichkeit begangen zu haben.

Grundlage des gegenwärtigen Verfahrens ist das sogenannte Londoner Abkommen, das am 8. August 1945 zwischen der Regierung von Großbritannien und Nord-Irland, der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, der provisorischen Regierung der Französischen Republik und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken abgeschlossen worden war. Auf Grund dieses Abkommens wurde das gegenwärtige Tribunal gebildet, dessen Zusammensetzung, Zuständigkeit und Aufgabe in dem Statut für den Internationalen Militärgerichtshof festgelegt sind, das einen wesentlichen Bestandteil des Abkommens der genannten vier Regierungen vom 8. August 1945 bildet. Das Statut für den Internationalen Militärgerichtshof enthält jedoch nicht nur Bestimmungen über die Zusammensetzung, die Zuständigkeit und die Aufgaben des Tribunals. Es sind daneben – und das sind die wichtigsten Teile des Statuts – auch Vorschriften materiell-rechtlichen Inhalts enthalten. Das gilt vor allem von Artikel 6, welcher die Begriffsbestimmungen der Verbrechen gegen den Frieden, der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit allen ihren einzelnen Tatbestandsmerkmalen enthält. Als strafgesetzlicher Tatbestand ist vor allem auch der Absatz 3 des Artikels 6 des Statuts anzusehen, welcher im einzelnen die Merkmale der sogenannten Verschwörung aufzählt. Als materiell-rechtliche Vorschriften sind weiter die Artikel 7, 8 und 9 des Statuts anzusehen.

Die folgenden Ausführungen wurden vom Gericht nicht genehmigt. Sie decken sich im wesentlichen mit dem Inhalt der Erklärung, die die Verteidiger zu Beginn des Prozesses am 21. November abgegeben haben, und ich kann darauf Bezug nehmen.

Ich setze fort auf Seite 40 mit dem letzten Absatz.

In der Anklageschrift selbst wird dem Angeklagten Heß zum Vorwurf gemacht, die Machtergreifung der sogenannten Nazi-Verschwörer und die Festigung ihrer Kontrolle über Deutschland, ferner die militärische, wirtschaftliche und psychologische Vorbereitung auf den Krieg gefördert zu haben. Es wird ihm weiter zur Last gelegt, an der politischen Planung und Vorbereitung von Angriffskriegen und Kriegen in Verletzung internationaler Verträge, Abkommen und Zusicherungen und an der Vorbereitung und Planung außenpolitischer Pläne der sogenannten Nazi-Verschwörer teilgenommen zu haben.

[407] Endlich wird behauptet, daß er die in Anklagepunkt 3 angeführten Kriegsverbrechen und die in Anklagepunkt 4 angeführten Verbrechen gegen die Humanität genehmigt, geleitet und an ihnen teilgenommen hat.

VORSITZENDER: Dies scheint mir ein günstiger Augenblick zu sein, um eine Pause einzuschalten.


[Pause von 10 Minuten.]


DR. SEIDL: Meine Herren Richter! Anklagepunkt 1 der Anklageschrift behandelt den sogenannten gemeinsamen Plan oder Verschwörung. Danach sollen alle Angeklagten mit verschiedenen anderen Personen während eines Zeitraumes von Jahren vor dem 8. Mai 1945 als Führer, Organisatoren, Anstifter und Mittäter an der Ausarbeitung oder Ausführung eines gemeinsamen Planes teilgenommen haben, der darauf abzielte oder mit sich brachte die Begehung von Verbrechen gegen den Frieden, die Begehung von Verbrechen gegen das Kriegsrecht und gegen die Humanität. Es wird behauptet, daß die Angeklagten Angriffskriege geplant, vorbereitet, entfesselt und geführt und in Ausführung dieses gemeinsamen Planes Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hätten.

Während das Statut nur drei Straftatbestände kennt – Verbrechen gegen den Frieden, Verbrechen gegen die Kriegsgebräuche und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – enthält die Anklageschrift deren vier. In der Anklageschrift wird der gemeinsame Plan oder Verschwörung zu einem eigenen und selbständigen Anklagepunkt, ohne daß dafür das Statut eine ausreichende Begründung gibt. Es kann dahingestellt bleiben, ob im anglo-amerikanischen Recht die Verschwörung ein besonders gearteter Deliktstatbestand ist. Im Hinblick darauf, daß das Statut weder das anglo-amerikanische noch das kontinentale Recht angewendet wissen will, sondern seinerseits Strafnormen, und zwar solche sui generis aufgestellt hat, ist insoweit nur der Wortlaut und der Sinn des Statuts maßgebend. Nachdem aber in Artikel 6, Absatz 3 des Statuts ausdrücklich von dem Entwurf oder der Ausführung eines Planes zur Begehung eines Verbrechens gegen den Frieden, gegen die Kriegsgebräuche oder gegen die Menschlichkeit gesprochen wird, kann es wohl keinem Zweifel unterliegen, daß es einen selbständigen Straftatbestand, wie er in Anklagepunkt 1 der Anklageschrift unter der Überschrift »gemeinsamer Plan oder Verschwörung« behauptet wird, jedenfalls unter Zugrundelegung der Bestimmungen des Statuts, nicht geben kann.

Nachdem dem Angeklagten Heß alle vier Punkte der Anklageschrift zum Vorwurf gemacht werden, ist es zunächst notwendig. zum Anklagepunkt 1 Stellung zu nehmen:

Die Anklage stellt die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, deren Führer Adolf Hitler im Jahre 1921 geworden war, [408] und der sich auch der Angeklagte Rudolf Heß bereits im Jahre 1921 angeschlossen hatte, in den Mittelpunkt des von ihr behaupteten gemeinsamen Planes oder Verschwörung. Die Anklage behauptet anscheinend selbst nicht, daß das Parteiprogramm der NSDAP für sich allein schon verbrecherisch sei. Näher auf diese Frage einzugehen erscheint um so weniger notwendig, als in der Folgezeit und im täglichen politischen Leben das Parteiprogramm bei weitem nicht die Rolle gespielt hat, die man vielleicht vermuten könnte. Im übrigen hat die Beweisaufnahme, was die Stellung und den Aufstieg der NSDAP anbelangt, eindeutig ergeben, daß bis zum 30. Januar 1933 die Nationalsozialistische Partei eine Partei neben anderen Parteien war, daß sie mit den gleichen gesetzlichen Mitteln wie die anderen Parteien für die Durchsetzung ihrer Ziele gekämpft hat, daß sie nicht zuletzt ihren Aufstieg der Tatsache zu verdanken hat, daß mit als Folge der Reparationspolitik der Siegerstaaten von 1919 Deutschland in den Jahren 1931/1932 einen wirtschaftlichen und sozialen Niedergang von einem ungewöhnlichen Ausmaß erlebt hat und daß endlich am 30. Januar 1933 die Partei in Anwendung der Bestimmungen der Reichsverfassung als stärkste Partei mit der Regierungsbildung beauftragt und ihr Führer Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war. Während der sogenannten Kampfzeit hat die Partei wie alle übrigen Parteien auch offen für die von ihr vertretenen Grundsätze gekämpft und die Anklage konnte im Beweisverfahren kein einziges Beweismittel vorlegen, das irgendeinen Rückschluß darauf zuließ, daß unter Anwendung ungesetzlicher Mittel die Partei und ihre Führer Teilnehmer eines gemeinsamen Planes gewesen wären, der auf den Beginn eines Angriffskrieges abzielte. Tatsächlich braucht man sich auch nur die politische, wirtschaftliche und militärische Lage vor Augen zu halten, in der sich Deutschland in den Jahren nach Beendigung des ersten Weltkrieges befand, um zu erkennen, wie abwegig die Annahme eines derartigen auf den Beginn eines Krieges abzielenden Planes für die damalige Zeit ist. Die in der Anklageschrift vertretene Auffassung beinhaltet aber nicht nur eine völlige Verkennung der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Verhältnisse, denen sich Deutschland als Folge der Friedensregelung durch Versailles gegenüber sah, sondern diese Auffassung verrät auch eine völlige Verkennung des Wesens jeder Politik.

Als dann Adolf Hitler als Führer der stärksten Partei am 30. Januar 1933 vom Reichspräsidenten von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden war, konnte es sich für ihn und seine Regierung, an der auch andere Parteien beteiligt waren, nicht darum handeln, in völliger Verkennung der politischen und vor allem der wirtschaftlichen Gegebenheiten an den Entwurf eines [409] gemeinsamen Planes mit dem Ziel eines Angriffskrieges heranzugehen. Die Aufgaben, die der Deutschen Reichsregierung damals gestellt waren, ergaben sich ohne weiteres aus der Tatsache, daß fast sieben Millionen Arbeitslose in Deutschland in Arbeit gebracht werden mußten. Wie der Zeuge Dr. Lammers bekundet hat, war die Beseitigung der wirtschaftlichen und sozialen Not tatsächlich die Frage, die den größten Raum bei der ersten Kabinettssitzung eingenommen hat. Von einem gemeinsamen Plan mit dem Ziel eines Angriffskrieges war mit keinem einzigen Wort die Rede, und es ist in der Tat unmöglich, sich vorzustellen, daß unter den damaligen Umständen auch nur ein Mitglied der Regierung einen derartigen Gedanken in irgendeiner konkreten Form in Erwägung hätte ziehen können. Im übrigen steht fest, und zwar auf Grund der Aussagen des Zeugen Dr. Lammers und anderer Zeugen, daß der Gegenstand der ersten Kabinettssitzung und die dort gefaßten Beschlüsse in der Regierungserklärung vom 1. Februar 1933 enthalten sind, die in Form eines Aufrufes der Reichsregierung an das deutsche Volk verkündet worden ist.

Das erste Ziel der von der Anklage behaupteten Verschwörung war nach dem Inhalt der Anklageschrift die Aufhebung der Deutschland durch den Versailler Vertrag auferlegten Rüstungsbeschränkungen. Mindestens mit der endgültigen Weigerung der Siegermächte, nun auch ihrerseits entsprechend der im Vertrag übernommenen Verpflichtungen abzurüsten, hat das Deutsche Reich das Recht erhalten, eine Angleichung der Rüstungen durch eigene Wiederaufrüstung zu erreichen. Dies ist nicht etwa heimlich geschehen, sondern öffentlich durch Verkündung des Gesetzes über die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht vom 16. März 1935. Die Anklage hat keinerlei Beweismittel für ihre Behauptung vorlegen können, daß dieses Gesetz im Zusammenhang und in Ausführung eines gemeinsamen Planes, der auf die Entfesselung eines Angriffskrieges gerichtet war, erlassen worden ist. Der Zweck dieses Gesetzes war vielmehr ausschließlich der, 16 Jahre nach Beendigung des ersten Weltkrieges die Gleichberechtigung Deutschlands wenigstens in dieser Frage herzustellen. Im übrigen nehme ich bezüglich der Einzelheiten auch hier Bezug auf die Ausführungen des Verteidigers des Angeklagten von Neurath.

In diesem Zusammenhang ist aber kurz auf ein Dokument einzugehen, das die Anlage mit neun anderen Dokumenten, sogenannten Schlüsseldokumenten, vorgelegt hat und die in erster Linie dem Nachweis für das Bestehen des in der Anklageschrift behaupteten gemeinsamen Planes dienen sollen. Es ist dies die Niederschrift über die Besprechung in der Reichskanzlei vom 5. November 1937, US-25, 386-PS. Wie dem Gericht bekannt ist, [410] handelt es sich hier nicht um eine wörtliche Wiedergabe der Ausführungen Adolf Hitlers, sondern um einen Bericht des Oberst Hoßbach, den dieser fünf Tage später, nämlich am 10. November 1937 angefertigt hat. Ich beabsichtige nicht, näher auf den Inhalt dieses Dokuments einzugehen. Ich nehme hier Bezug auf die Bekundungen der Angeklagten Göring und Raeder im Zeugenstand und auf die Ausführungen, die bereits andere Verteidiger in dieser Frage gemacht haben. Es sei nur noch erwähnt, daß Hitler bei dieser Ansprache vor den Oberbefehlshabern und dem damaligen Außenminister einen Zeitplan in Aussicht genommen hat, der in keinerlei Übereinstimmung mit den späteren Ereignissen steht. Unter diesen Umständen erscheint sogar das Bestehen eines bestimmten und fest umrissenen Planes für die Person Adolf Hitlers als sehr unwahrscheinlich. Mit Sicherheit kann lediglich ein Schluß aus dem Inhalt dieses Dokuments gezogen werden, daß nämlich bis zum 5. November 1937 auch Hitler selbst offenbar nur an eine friedliche Lösung der durch den Versailler Vertrag aufgeworfenen territorialen Fragen gedacht hat. Es kann also mindestens bis zu diesem Tag ein gemeinsamer, auf den Beginn eines Angriffskrieges gerichteter Plan schon aus diesem Grunde nicht bestanden haben. Dieses Dokument ist aber auch noch aus einem anderen Grunde bemerkenswert: Die Niederschrift beginnt mit der Feststellung des Führers:

»... daß der Gegenstand der heutigen Besprechung von derartiger Bedeutung sei, daß dessen Erörterung in anderen Staaten wohl vor das Forum des Regierungskabinetts gehörte, er – der Führer – sähe aber gerade im Hinblick auf die Bedeutung der Materie davon ab, diese in dem großen Kreise des Reichskabinetts zum Gegenstand der Besprechung zu machen.«

Es kann zunächst dahingestellt bleiben, inwieweit andere Fragen vom Jahre 1937 an vom Reichskabinett in Kabinettssitzungen oder im sogenannten Umlaufsverfahren, im Verwaltungsverfahren oder auf dem Wege der Gesetzgebung noch behandelt wurden. Mit Sicherheit kann jedoch auf Grund des gesamten Ergebnisses der Beweisaufnahme und insbesondere auf Grund der Bekundungen des Zeugen Dr. Lammers und anderer Zeugen, aber auch aus einer großen Anzahl von Dokumenten, die die Anklagevertretung selbst vorgelegt hat, der Schluß gezogen werden, daß spätestens vom 5. November 1937 ab alle die Frage Krieg und Frieden betreffenden Probleme nicht mehr von der Regelung als Staatsorgan behandelt wurden und auch nicht von einem anderen größeren Kreis immer gleichbleibender Mitarbeiter, sondern ausschließlich von Adolf Hitler allein. Wahrscheinlich hat dieser Zustand schon im Jahre 1936 bestanden. Ich darf in diesem Zusammenhang an die Bekundungen mehrerer Angeklagter im Zeugenstand erinnern, die zum Beispiel [411] die Tatsache der Wiederbesetzung der entmilitarisierten Zone des Rheinlandes auf dem gleichen Wege wie alle anderen Staatsbürger auch durch Presse und Rundfunk erfahren haben. Sicher ist jedoch. daß nach dem 5. November 1937 und insbesondere nach der sogenannten Fritsch-Krise und der damit verbundenen Umwandlung des Reichskriegsministeriums in das Oberkommando der Wehrmacht alle großen politischen und militärischen Entscheidungen von Adolf Hitler allein getroffen wurden. Nach den Bekundungen des Zeugen Dr. Lammers haben auch niemals gemeinsame Besprechungen zwischen der Reichsregierung, der Reichsleitung der Partei und der Generalität stattgefunden. Nach der Darstellung dieses und anderer Zeugen war es vielmehr so, daß zwischen diesen drei Institutionen überhaupt kein engerer Zusammenhang bestanden hat. In der Tat ergibt sich aus keinem einzigen von der Anklage vorgelegten Dokument irgend etwas, das auf das Bestehen eines selbständigen Zusammenarbeitens zwischen der Reichsregierung, der Reichsleitung der Partei und dem Reichskriegsministerium beziehungsweise später dem Oberkommando der Wehrmacht und den Oberbefehlshabern der Wehrmachtsteile und ihrer Stabschefs schließen lassen könnte. Im Gegenteil: Wenn überhaupt aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme ein sicherer Schluß gezogen werden kann, dann ist er der, daß die Macht ausschließlich in den Händen Adolf Hitlers vereinigt war, daß die Reichsregierung, die Reichsleitung der Partei und die Wehrmacht ausschließlich ihre Befehle und Anweisungen von ihm erhielten und daß es gerade die Politik Hitlers war, eine arbeitsmäßige selbständige Zusammenfassung dieser Institutionen zu verhindern. So ist es auch zu erklären, daß in allen Fragen politischer oder militärischer Natur nur die Dienststellen befaßt wurden, die unmittelbar mit der Ausführung der gestellten Aufgabe zu tun hatten. Aus sämtlichen von der Anklage vorgelegten Dokumenten ergibt sich ferner, daß es sich in aller Regel bei Besprechungen, die unter dem Vorsitz Hitlers geführt wurden, nicht um Besprechungen handelte, wie sie vielleicht in parlamentarischen Demokratien üblich sein mögen, sondern im wesentlichen um nichts anderes als eine Befehlsausgabe. Es ist nicht notwendig, im einzelnen auf die Darstellung einzugehen, die fast sämtliche Angeklagten über ihr Verhältnis zu Adolf Hitler gegeben haben, und es ist auch nicht notwendig, zu den Bekundungen Stellung zu nehmen, die eine ganze Reihe anderer Zeugen über die Stellung Adolf Hitlers im deutschen Regierungssystem eingenommen hat. Eines kann mit Sicherheit gesagt werden. Spätestens vom 5. November 1937 ab war die Stellung Hitlers eine derart überragende und die Behandlung aller entscheidenden politischen und militärischen Fragen durch ausschließlich ihn allein so zweifelsfrei, daß allein schon aus diesem Grunde für die Annahme eines gemeinsamen Planes kein Raum mehr vorhanden sein kann.

[412] Ebensowenig wie an der Führerbesprechung in der Reichskanzlei vom 5. November 1937 – US-25 – hat der Angeklagte Rudolf Heß, obwohl er der Stellvertreter des Führers war und für den Bereich der Partei der höchste Politische Leiter, an einer einzigen von der Anklage als wesentlich für den Nachweis des Bestehens eines gemeinsamen Planes als beweiserheblich bezeichneten Besprechung oder an einer sonstigen politisch oder militärisch wichtigen Entscheidung mitgewirkt oder teilgenommen. Das gilt zum Beispiel auch für das nächste von der Anklagevertretung vorgelegte Beweisstück US-26, 388-PS. Es ist das die Chefsache Fall »Grün«, Tschechoslowakei. Ohne näher auf dieses Dokument eingehen zu wollen, kann doch ohne weiteres gesagt werden, daß es sich hier um eine reine Generalstabsarbeit handelt, die zunächst nur als eine Studie gedacht war und die dann zu einem echten Operationsplan ausgearbeitet wurde. Dieser Operationsplan wurde nicht in die Tat umgesetzt, die Akten zu dem Fall »Grün« schließen vielmehr mit der Weisung Nummer 1 des Führers und Obersten Befehlshabers der Wehrmacht, die sich auf die Besetzung der auf Grund des Münchener Abkommens vom 29. September 1938 von der Tschechoslowakei abgetrennten sudetendeutschen Gebiete bezieht. Unter diesen Umständen erübrigt es sich, näher auf das Schreiben des Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht an den Stellvertreter des Führers vom 27. September 1938 einzugehen, das sich ebenfalls in den Akten für den Fall »Grün« befindet und sich auf die Durchführung von Mobilmachungsmaßnahmen bezieht, die ohne Ausgabe des Mobilmachungsbefehls oder eines entsprechenden Stichwortes durchgeführt werden sollten.

Was ich bereits über das Dokument US-25 gesagt habe, gilt in der gleichen Weise für das Dokument US-27, L-79. Es ist dies ein weiteres sogenanntes Schlüsseldokument und hat zum Gegenstand die Unterrichtung der Oberbefehlshaber der Wehrmachtsteile und der Chefs der Generalstäbe durch den Führer am 23. Mai 1939 in der Neuen Reichskanzlei. Ohne auf den Inhalt und die Bedeutung und auf den Beweiswert auch dieses Dokuments eingehen zu wollen – der Vortrag des Führers schloß mit dem Befehl zur Errichtung eines kleinen Studienstabes beim Oberkommando der Wehrmacht –, so ergibt sich auch aus diesem Dokument mit aller Deutlichkeit, daß ein gemeinsamer Plan in der Form, wie er von der Anklage behauptet wird, nicht bestanden haben kann, vor allem nicht zwischen den jetzt vor Gericht stehenden Angeklagten. Auf dieser Besprechung beim Führer – in Wahrheit war es keine Besprechung, sondern wiederum eine Unterrichtung und Befehlsausgabe – hat kein einziger Minister oder Beamter der zivilen Verwaltung teilgenommen.

[413] Die nächsten drei von der Anklagevertretung als Schlüsseldokumente vorgelegten Urkunden beziehen sich auf einen und denselben Gegenstand, nämlich auf die Rede Adolf Hitlers vor den Oberbefehlshabern der Wehrmacht am 22. August 1939.

Es handelt sich um folgende Dokumente: US-28, L-3; US-29, 798-PS; und US-30, 1014-PS.

Ich will auch auf den Beweiswert dieser Dokumente nicht näher eingehen, obwohl es offensichtlich ist, daß es sich hier nicht um gleichwertige Dokumente handeln kann, und obwohl völlig klar ist, daß es sich hier nicht um eine auch nur einigermaßen zutreffende Wiedergabe der Ausführungen Adolf Hitlers handeln kann. Es läßt auch keines dieser Dokumente erkennen, von wem sie verfaßt wurden. Darüber hinaus weichen die Darstellungen sowohl dem Umfang als auch dem Inhalt nach erheblich voneinander ab. Die vollständigste Wiedergabe der Ausführungen Hitlers scheint das Dokument US-29 zu enthalten. Und hier ist wiederum der Schluß am bemerkenswertesten, der die damalige Lage einigermaßen beleuchtet, und der das Ereignis kennzeichnet, das Adolf Hitler Überhaupt erst in die Lage versetzte, eine solche Rede vor den Oberbefehlshabern zu halten:

»Ich war überzeugt, daß Stalin nie auf das englische Angebot eingehen würde. Rußland hat kein Interesse an der Erhaltung Polens, und dann weiß Stalin, daß es mit seinem Regime zu Ende ist, einerlei, ob seine Soldaten siegreich oder geschlagen aus einem Kriege hervorgehen. Litwinows Ablösung war ausschlaggebend. Ich habe die Umstellung Rußland gegenüber allmählich durchgeführt. Im Zusammenhang mit dem Handelsvertrag sind wir in das politische Gespräch gekommen. Vorschlag eines Nichtangriffspaktes. Dann kam ein universaler Vorschlag von Rußland. Vor vier Tagen habe ich einen besonderen Schritt getan, der dazu führte, daß Rußland gestern antwortete, es sei zum Abschluß bereit. Die persönliche Verbindung mit Stalin ist hergestellt. Von Ribbentrop wird übermorgen den Vertrag schließen. Nun ist Polen in der Lage, in der ich es haben wollte.«

Auch bei dieser Führeransprache war neben den Oberbefehlshabern kein Minister oder Parteiführer anwesend, insbesondere auch nicht der Angeklagte Rudolf Heß. Das gleiche gilt von dem Dokument 789-PS, US-23. Der Gegenstand dieses Dokuments ist eine Besprechung beim Führer am 23. November 1939. Aus diesem Dokument ergibt sich, daß auch hier wiederum nur die Oberbefehlshaber der Wehrmacht versammelt waren, die die Richtlinien des Führers für die bevorstehenden Operationen im Westen entgegennahmen. Das nächste Schlüsseldokument ist Beweisstück US-31 [414] (446-PS), nämlich die Weisung Nummer 21 für den Fall »Barbarossa«. Es handelt sich hier um eine Weisung des Führers und Obersten Befehlshabers der Wehrmacht, die ausschließlich militärischen Charakter trug und nur für den Bereich der Wehrmacht bestimmt war. Irgendeine Beteiligung ziviler Verwaltungsstellen oder der Partei und sei es auch durch eine Beteiligung ziviler Verwaltungsstellen oder der Partei und sei es auch durch die Person des höchsten Politischen Leiters, nämlich durch den Angeklagten Rudolf Heß, scheidet bei der Natur dieser Weisung von vornherein aus.

Auch aus dem Dokument US-32, 2718-PS, das eine Aktennotiz über das Ergebnis einer Besprechung zum Fall »Barbarossa« vom 2. Mai 1941 zum Gegenstand hat, ergibt sich, daß auch bei dieser Besprechung weder der Stellvertreter des Führers noch irgendein anderer Politischer Leiter beteiligt war.

Das letzte zu besprechende sogenannte Schlüsseldokument ist US-33, 1881-PS, eine Aufzeichnung des Gesandten Schmidt über die Unterredung zwischen dem Führer und dem japanischen Außenminister Matsuoka in Berlin vom 4. April 1941. Eine Beteiligung des Angeklagten Rudolf Heß oder irgendeines anderen Politischen Leiters der Partei konnte bei der Natur dieser Besprechung von vornherein nicht in Frage kommen. Etwas anderes ergibt sich jedoch aus diesem Dokument, nämlich die Tatsache, daß es nicht nur verfehlt ist, von einem gemeinsamen Plan mit dem Ziel eines Angriffskrieges innerhalb Deutschlands zu sprechen, sondern daß darüber hinaus keinerlei engere politische oder militärische Zusammenarbeit zwischen den sogenannten Achsenmächten bestand, jedenfalls soweit das Verhältnis zwischen Deutschland und Japan in Frage kommt.

Welcher Schluß kann nun aus dem Inhalt dieser sogenannten Schlüsseldokumente, die die Anklage selbst als besonders beweiserheblich für das Bestehen eines sogenannten gemeinsamen Planes bezeichnet hat, gezogen werden? Ohne zu dem materiellen Beweiswert dieser Dokumente Stellung nehmen zu wollen, steht auf Grund dieser Aufzeichnungen jedenfalls fest, daß der Angeklagte Heß bei keiner dieser Besprechungen beziehungsweise Befehlsausgaben anwesend war. Berücksichtigt man bei Würdigung dieses Umstandes die weitere Tatsache, daß der Angeklagte Rudolf Heß, der Stellvertreter des Führers und damit der oberste Politische Leiter und daß er weiterhin vom 1. September 1939 ab nach dem Angeklagten Hermann Göring zum Nachfolger Hitlers bestimmt war, so dürfte für die Annahme eines gemeinsamen Planes in der von der Anklage behaupteten Form in der Tat kein Raum mehr sein. In diesem Zusammenhang darf ich Bezug nehmen auf den Bericht des Chefs des Generalstabs der Armee der Vereinigten Staaten an den[415] Kriegsminister für die Zeit vom 1. Juli 1943 bis zum 30. Juni 1945. Ich zitiere:

»Die vorhandenen Beweise ergeben, daß Hitlers ursprüngliche Absicht dahin ging, durch Absorbierung der germanischen Völker in den angrenzenden Ländern des Deutschen Reiches und durch Verstärkung der neuen Grenzen desselben ein Großdeutsches Reich zu schaffen, das Europa beherrschen sollte. Zur Erreichung dieses Zieles verfolgte Hitler eine Politik des Opportunismus, welcher es gelang, das Rheinland, Österreich und die Tschechoslowakei ohne militärischen Widerstand zu besetzen.

Kein Beweis ist bis jetzt gefunden, daß das deutsche Oberkommando einen alles umfassenden strategischen Plan hatte (over-all strategic plan). Das Oberkommando billigte zwar grundsätzlich die Politik Hitlers, aber dessen ungestüme Strategie überrannte die deutschen militärischen Fähigkeiten und führte schließlich zur Niederlage Deutschlands. Die Geschichte des deutschen Oberkommandos von 1938 an ist von ständigen persönlichen Konflikten erfüllt, in welchen sich zunehmend Hitlers persönliche Befehle gegen militärisches Urteil durchsetzten. Der erste Zusammenstoß erfolgte im Jahre 1938 und endete mit der Entlassung von Blombergs, von Fritschs, Becks und dem Ausschalten auch noch des letzten wichtigen konservativen Einflusses auf die deutsche Außenpolitik.

Die Feldzüge in Polen, Norwegen, Frankreich und in den Niederlanden ließen ernste Meinungsverschiedenheiten zwischen Hitler und den Generalen aufkommen...

In jedem Fall setzte sich der Generalstab für die orthodoxe Form der Offensive ein, Hitler dagegen für einen unorthodoxen Angriff, dessen Ziele tief im Feindgebiet lagen. In jedem Fall setzte sich Hitlers Auffassung durch und der wirklich erstaunliche Erfolg jedes dieser aufeinanderfolgenden Feldzüge erhoben Hitlers Prestige zu einem Punkt, wo man nicht mehr wagte, seiner Ansicht zu wider sprechen. Sein militärisches Selbstvertrauen wurde grenzenlos nach dem Sieg in Frankreich, und er begann nunmehr die Gedankengänge seiner Generale selbst in der Gegenwart jüngerer Offiziere zu kritisieren und herabzusetzen. So kam es, daß vom Generalstab kein Widerstand vorgebracht wurde, als Hitler seinen schicksalhaften Entschluß faßte, in Rußland einzufallen.

Mit dem Kriegseintritt Italiens beabsichtigte Mussolini unter dem Deckmantel deutscher militärischer Erfolge seine strategischen Pläne hinsichtlich der Expansion seines Imperiums zu verwirklichen. Feldmarschall Keitel enthüllt, daß [416] die italienische Kriegserklärung im Gegensatz zu den Deutschland abgegebenen Erklärungen stand. Beide, Keitel und Jodl, stimmen darin überein, daß sie unerwünscht war. Von Anfang an war Italien nichts als eine Last für das deutsche Kriegspotential. Durch die Abhängigkeit hinsichtlich Öl und Kohle... war Italien eine beständige Quelle für Reibungen im Wirtschaftssektor. Mussolinis einseitige Aktion gegen Griechenland und sein Angriff auf Ägypten zwang die Deutschen zum Balkanfeldzug sowie zum Afrikafeldzug und hatte die Überbeanspruchung der deutschen Kräfte zur Folge, die zu einem der Hauptfaktoren der deutschen Niederlage wurde.

Es liegt fernerhin keinerlei Beweis vor für eine strategische Planung zwischen Deutschland und Japan. Der deutsche Generalstab erkannte die Bin dung Japans durch den Neutralitätspakt mit Rußland an, hoffte jedoch, daß Japan starke britische und amerikanische Land-, See- und Luftstreitkräfte im Fernen Osten binden würde.«

Die Bekundungen der Angeklagten Keitel und Jodl, die sie im Zeugenstand gemacht haben, decken sich im wesentlichen mit den Feststellungen des Amerikanischen Generalstabschefs, so daß sich weitere Ausführungen dazu erübrigen. Es kann als erwiesen angesehen werden, daß nicht einmal im engsten Mitarbeiterkreis um Adolf Hitler eine völlige Übereinstimmung über die auf dem politischen und militärischen Gebiet zu ergreifenden Maßnahmen bestanden hat, wobei zunächst das staatsrechtlich begründete Unterordnungsverhältnis zwischen den Offizieren der Wehrmacht und dem Staatsoberhaupt und Obersten Befehlshaber außer Betracht bleiben kann. Man sieht: nicht einmal für den Personenkreis kann das Bestehen eines gemeinsamen auf einen Krieg gerichteten Planes angenommen werden, für den es zunächst am wahrscheinlichsten erschien.

Als zweites gemeinsames Ziel der Verschwörung wird in der Anklageschrift die Aneignung der Gebietsteile behauptet, die Deutschland als Ergebnis des Weltkrieges 1914 bis 1918 verloren hatte; bereits die Mantelnote zum Versailler Vertrag hat die Möglichkeit einer Revision des Vertrags vorgesehen. Darüber hinaus kann aus der Forderung auf Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich und auf Angliederung der sudetendeutschen Gebiete für sich allein nicht auf das Bestehen eines Planes geschlossen werden, der gegebenenfalls auch durch Anwendung von Gewalt und auf dem Wege eines Krieges hätte verwirklicht werden sollen. In der Tat wurden diese Gebiete unter Mißachtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker daran gehindert, sich schon im Jahre 1919 an das Deutsche Reich anzuschließen. Ich kann in dieser [417] Frage Bezug nehmen auf meine eingangs gemachten Feststellungen. Tatsächlich ist der Anschluß Österreichs – das kann als Ergebnis der Beweisaufnahme wohl gesagt werden – unter Umständen zustande gekommen, die man nicht als kriegerisch bezeichnen kann und die den Schluß zuließen, daß der größere Teil der österreichischen Bevölkerung dem Anschluß zustimmte. Was die sudetendeutsche Frage anlangt, so genügt es hier, auf das Münchener Abkommen zwischen Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien hinzuweisen, durch das die Wiedervereinigung der Sudetendeutschen mit dem Reich geregelt wurde.

Und endlich wurde als drittes Ziel des gemeinsamen Planes die Aneignung weiterer Gebiete auf dem europäischen Kontinent bezeichnet, die den Verschwörern als »Lebensraum« dienen sollten. Die Anklageschrift ist in diesem Punkt sehr unklar und läßt jede Substantiierung vermissen. In der Tat ist aber die Frage des sogenannten »Lebensraumes« ein Problem, das von der nationalsozialistischen Ideologie völlig unabhängig ist und bestimmt wird von der Größe des Raumes und der Volkszahl. Mit dieser Frage mußte sich und muß sich jede deutsche Regierung auseinandersetzen. Wenn ein Argument Hitlers im deutschen Volke einen nachhaltigen Widerhall gefunden hat, dann war es die von ihm erhobene Forderung, nach einer angemessenen Beteiligung des deutschen Volkes an den materiellen Gütern der Welt. Diese Forderung erschien um so berechtigter, als das Verhältnis zwischen der Größe des Raumes und der Volkszahl bei wenig Völkern so ungünstig ist wie beim deutschen.

So treffen zum Beispiel allein im europäischen Rußland auf einen Quadratkilometer 22,1 Einwohner. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika beträgt die Bevölkerungsdichte nur 17 Menschen. Und Frankreich mit 74,6 Menschen auf den Quadratkilometer verfügt über nicht weniger als 11,5 Millionen Quadratkilometer Raum. Endlich beherrscht England mit 47 Millionen Einwohnern nicht weniger als 35 Millionen Quadratkilometer Raumes. Demgegenüber verfügte Deutschland am 1. September 1939 mit über 80 Millionen Menschen bei einer Bevölkerungsdichte von 140 noch nicht einmal über 600000 Quadratkilometer. Diese Zahlen sprechen für sich selbst. Nicht zu trennen von der Frage des Raumes ist eine angemessene Verteilung der wichtigsten Rohstoffe.

Ich brauche im einzelnen nicht zu begründen, in wie unzureichender Weise die wichtigsten Rohstoffquellen verteilt sind und daß bestimmte Rohstoffe völlig monopolisiert sind. Sicher ist, daß die Erbitterung über die ungerechte Verteilung der materiellen Güter der Welt im deutschen Volk um so größer werden mußte, als nicht nur jede vernünftige Revision abgelehnt, sondern darüber hinaus von der Gegenseite in nicht mißzuverstehender Weise die Völker in zwei Klassen eingeteilt wurden, nämlich in die »Besitzenden« und in die »Habenichtse«. In der Tat konnte diese Klassifizierung als nichts anderes denn als Hohn empfunden werden.

Im übrigen herrschte über die möglichen Lösungen, die durch die Raumnot bedingten Schwierigkeiten zu beseitigen, auch nach 1933 [418] durchaus keine einhellige Auffassung. So hat zum Beispiel gerade der Angeklagte Rudolf Heß zu denen gehört, die das Problem des Lebensraumes nach Möglichkeit durch den Erwerb von Kolonien gelost sehen wollten. So erklärte er zum Beispiel in einer großen Rede am 21. März 1936 in Stettin:

»Der natürlichste Weg, für die Menschen in Deutschland mehr Lebensmittel bereitzustellen, ist der, unsere Lebensbasis zu erweitern, das heißt, sie zu ergänzen durch Kolonien. Deshalb hat der Füh rer mit der Erklärung seiner Bereitschaft, in den Völkerbund zurückzukehren, die Erwartung verknüpft, daß die Frage der Kolonien einer Prüfung unterzogen wird. Der Führer weiß, daß ein Volk ohne genügend Raum, ohne genügende Ernährungsgrundlage, daß ein hungerndes Volk aus seinem Selbsterhaltungstrieb heraus auf die Dauer ein Herd der Unruhe sein muß, demgegenüber auch der genialste Staatsmann machtlos ist. Denn der Hunger ist ein Naturtrieb, der weder durch Ermahnung noch durch Befehl zu bändigen ist. Der Wunsch nach Kolonien für uns ist daher nur der Wunsch nach einer Beruhigung Europas auf lange Sicht, und darum ist die Frage der Zuteilung von Kolonien für Deutschland ein Teil im Rahmen des großen Befriedungsvorschlages des Führers.« (Dokument Heß 14.)

Die Welt weiß, daß auch die Erfüllung dieser Forderung ebenso wie die Erfüllung aller anderen Revisionsansprüche verweigert worden ist.

In der Tat kann der Zusammenhang zwischen der ungerechten und jeder wirtschaftlichen Vernunft widersprechenden Verteilung der materiellen Güter der Welt und den politischen Spannungen, die den Frieden der Welt immer wieder erschüttern, einfach nicht übersehen werden.

Auf diesen Sachverhalt hat auch mit aller Deutlichkeit der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der USSR, Generalissimus Stalin, in seiner großen Rede vom 11. Februar 1946 anläßlich der Wahlen zum Obersten Sowjet hingewiesen, in der er unter anderem ausführte: »Es wäre falsch, zu denken, daß der zweite Weltkrieg zufällig oder als Folge von Fehlern dieser oder jener Staatsmänner entstanden ist, obwohl diese Fehler ohne Zweifel gemacht worden sind. In Wirklichkeit entstand der Krieg als ein unvermeidliches Ergebnis der Internationalen wirtschaftlichen und politischen Kräfte auf der Grundlage des modernen monopolistischen Kapitalismus... Vielleicht könnte man den Kriegskatastrophen entrinnen, wenn es eine Möglichkeit gäbe, die Rohstoffe zwischen den Ländern ihrem wirtschaftlichen Gewicht entsprechend durch Annahme vereinbarter und friedlicher Beschlüsse neu zu verteilen...« Und an einer anderen Stelle seiner Rede erklärte Stalin: »So steht es mit der Frage über den Ursprung und den Charakter des zweiten Weltkrieges. Jetzt erkennen wohl alle an, daß der Krieg keine Zufälligkeit im Leben der Völker war und es auch nicht sein konnte, daß er sich in der Tat in einen Krieg der Völker um ihre Existenz verwandelt hat und daß er deshalb kein schnell ablaufender Blitzkrieg sein konnte...« Diesen Ausführungen ist nichts hinzuzufügen. Sie sprechen für sich selbst.

Meine Herren Richter! Ich komme nun zu der rechtlichen Würdigung des als tatsächlich festgestellt zu erachtenden Sachverhalts: Wie ich bereits ausgeführt habe, ist Artikel 6, Absatz 3 des Statuts [419] nicht die Normierung eines eigenen und selbständigen Verbrechenstatbestandes, sondern die Erweiterung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Anführer, Anstifter und Teilnehmer, die am Entwurf oder an der Ausführung eines gemeinsamen Planes zur Begehung eines der in Absatz 2 genannten Verbrechens teilgenommen haben. Diese Personen sollen nach der genannten Bestimmung nicht nur für die Handlungen verantwortlich sein, die sie selbst begangen haben, sondern sie sollen auch für alle Handlungen strafrechtlich einstehen müssen, die von irgendeiner Person in Ausführung eines solchen Planes begangen worden sind.

In Artikel 6, Absatz 2 a des Statuts ist der Tatbestand des Verbrechens gegen den Frieden wie folgt bestimmt:

»Planen, Vorbereitung, Einleitung oder Durchführung eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung internationaler Verträge, Abkommen oder Zusicherungen oder Beteiligung an einem gemeinsamen Plan oder an einer Verschwörung zur Ausführung einer der vorgenannten Handlungen.«

Während nun in Artikel 6, Absatz 3 des Statuts ausdrücklich bestimmt wird, daß die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Teilnehmers am Entwurf eines gemeinsamen Planes sich beschränkt auf Handlungen, die »von irgendeiner Person in Ausführung eines solchen Planes begangen worden sind«, ist nach Artikel 6, Absatz 2 a des Statuts das Verbrechen gegen den Frieden bereits vollendet mit dem Abschluß von Abkommen oder der Abgabe von Zusicherungen oder Beteiligung an einem gemeinsamen Plan oder an einer Verschwörung zur Ausführung eines Planes, der sich auf die Vorbereitung oder Einleitung oder Durchführung des Angriffskrieges richtet. Im Gegensatz zu Artikel 6, Absatz 3 ist hier nicht notwendig, daß eine Ausführungshandlung überhaupt begangen wird.

Ich beabsichtige nun nicht, näher auf die Frage einzugehen, ob am Tage des Kriegsausbruchs, also am 1. September 1939, unter dem damals geltenden Völkerrecht der Krieg als solcher und insbesondere der Beginn eines Angriffskrieges ein Verbrechen war. Zu dieser Frage wurde bereits in der Eröffnungsrede der Verteidigung Stellung genommen. Diese Untersuchung der rechtlichen Seite dieser Frage hat ergeben, daß weder der Völkerbundspakt noch der Briand-Kellogg-Pakt irgend etwas enthalten hat, was den Schluß zulassen würde, daß der Beginn eines Krieges ein kriminelles und daher strafbares Unrecht war. Das geltende Völkerrecht kannte weder eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Staates als juristische Person und noch weniger eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der Organe des Staates, also des Staatsoberhauptes, der Regierungsmitglieder, der militärischen Oberbefehlshaber, der Wirtschaftsführer und so weiter.

[420] Es kann auch dahingestellt bleiben, worauf dieser unbefriedigende Zustand des Völkerrechts zurückzuführen war. Mit Recht wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Gedanke der Souveränität und die Weigerung vor allem der Großmächte, auf einen Teil dieser Souveränitätsrechte im Interesse einer besseren überstaatlichen Organisation zu verzichten, mit ein Grund für den unbefriedigenden Stand des Völkerrechts gerade in dieser Frage gewesen sind. In Zusammenhang damit steht eine weitere Tatsache, die mir nicht weniger bedeutsam zu sein scheint, daß es nämlich bis jetzt nicht gelungen ist, eine wirkungsvolle Organisation und ein Verfahren zu schaffen, die eine wirkliche Befriedigung der berechtigten Ansprüche der Völker auf eine angemessene Beteiligung an den materiellen Gütern der Welt gewährleisten und auch sonst für einen gerechten Ausgleich der widerstreitenden Interessen Sorge tragen würde.

Es kann sonach schon auf Grund dieser Feststellungen und Untersuchungen kaum mehr einem Zweifel unterliegen, daß es ein Verbrechen gegen den Frieden, wie es in Artikel 6, Absatz 2 a des Statuts seinen tatbestandsmäßigen Ausdruck gefunden hat, nicht gibt.

Dieser Abschnitt des Artikels 6 des Statuts findet im geltenden Völkerrecht keine ausreichende Grundlage.

Die nun folgenden entscheidenden Ausführungen lasse ich weg, da sie sich mit den Auswirkungen des deutsch-sowjetischen Geheimvertrags vom 23. August 1939 auf die Gerichtsbarkeit des Tribunals befassen.

Das Gericht wird von Amts wegen zu prüfen haben, inwieweit im Hinblick auf diesen Geheimvertrag die Gerichtsbarkeit noch als gegeben angesehen werden kann. Ich setze fort auf Seite 63.

Herr Präsident! Ich bin nun insofern in einer schwierigen Lage, als durch die Weglassung der Ausführungen von Seite 59 bis 62 insofern ein unzutreffendes Bild entstehen könnte, als meine tatsächlichen Ausführungen in Bezug auf den Inhalt des deutsch-sowjetischen Geheimvertrags aus dem Jahre 1939 mißverstanden werden könnten infolge ihrer rechtlichen Folgerungen. Ich bitte daher das Gericht zu entscheiden.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof hat diese Angelegenheit genau geprüft und will nichts mehr über diesen Punkt hören.

DR. SEIDL: Darüber hinaus ist aber zu Artikel 6, Absatz 3 des Statuts folgendes zu sagen:

Der Tatbestand der Verschwörung, wie er in Artikel 6, Absatz 3 seinen Ausdruck gefunden hat, ist eine typische Einrichtung des anglo-amerikanischen Rechtes. Das kontinentaleuropäische Recht kennt einen derartigen Verbrechenstatbestand nicht. Es kann aber auch keinem Zweifel unterliegen, daß das internationale Strafrecht, [421] soweit es ein solches in engerem und in eigentlichem Sinne überhaupt gibt und man darunter nicht den Inbegriff der Normen versteht, die bei der Anwendung eigenen oder fremden Rechts zu beachten sind, den Begriff der Verschwörung als strafrechtlichen Tatbestand ebenfalls nicht kennt.

Es ist aber nicht nur die Frage des geltenden Völkerrechts und die Übereinstimmung des Statuts mit diesem einer Prüfung zu unterziehen. Es handelt sich vielmehr daneben auch um die Beantwortung folgender Frage:

In den Eröffnungsansprachen der vier Hauptanklagevertreter und auch in der dem Prozeß vorausgegangenen Diskussion über die Rechtsgrundlagen des Verfahrens sind zwei sich völlig widersprechende Argumente vertreten worden. Während die einen erklärten, daß das Statut ein vollkommener Ausdruck des geltenden Völkerrechts sei und mit der gemeinsamen Rechtsüberzeugung aller Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft in Übereinstimmung stehe, wurde von den anderen behauptet, daß es mit eine der Hauptaufgaben des zu errichtenden Internationalen Militärtribunals sei, das Völkerrecht fortzuentwickeln. Diese letztere Auffassung tritt zum Beispiel ziemlich klar hervor in dem Bericht des amerikanischen Hauptanklagevertreters an den Präsidenten der Vereinigten Staaten vom 7. Juni 1945. Hier wird unter anderem wörtlich ausgeführt:

»In der Anordnung dieses Gerichtsverfahrens müssen wir uns auch der Bestrebungen bewußt sein, mit denen unser Volk die Beschwerden des Krieges auf sich nahm. Nachdem wir in den Krieg eingetreten waren und unsere Männer und unseren Reichtum zur Ausrottung dieses Übels einsetzten, war es das allgemeine Gefühl des Volkes, daß aus diesem Krieg unverkennbare Regeln und eine gebrauchsfähige Maschine hervorgehen sollten, denen zufolge jeder, der sich mit dem Gedanken eines neuen Raubkrieges trug, wissen mußte, daß er dafür persönlich zur Verantwortung gezogen und persönlich bestraft würde.«

Oder an einer anderen Stelle wird in diesem Bericht wörtlich erklärt:

»Nach dem Völkerrecht des 19. und frühen 20. Jahrhunderts galt Kriegführung im allgemeinen nicht als ungesetzlich oder als Verbrechen im Rechtssinn. Zusammenfassend ging die herrschende Lehre dahin, daß beide Parteien in jedem Krieg als in gleicher Rechtslage befindlich angesehen wurden und demzufolge gleiches Recht besaßen.«

Die rechtlichen Ausführungen in diesem Bericht schließen dann auch in der Tat mit folgender Forderung:

»Ein Angriff auf die Grundlagen der internationalen Beziehungen muß als nichts geringeres als ein Verbrechen gegen [422] die internationale Gemeinschaft angesehen werden, die mit Recht die Unverletzbarkeit ihrer grundsätzlichen Verträge schützen muß, indem sie den Angreifer bestraft. Daher schlagen wir vor, die Forderung zu erheben, daß ein Angriffskrieg ein Verbrechen ist und daß das moderne Völkerrecht die Rechtfertigung aufgegeben hat, wonach derjenige, der Kriege anzettelt oder führt, im Einklang mit den Gesetzen handle.«

Und in der Tat: Es wäre nicht notwendig, die Forderung zu erheben nach einem neuen Strafgesetz, wenn das in Betracht kommende Verhalten bereits vom geltenden Recht mit Strafe bedroht wäre.

Es ist offensichtlich, daß die Erfüllung einer derartigen Forderung durch ein Gericht – ganz gleich, welches auch immer die Rechtsgrundlagen für sein Verfahren sein mögen – sich in Widerspruch setzen würde zu einem Grundsatz, der sich aus dem Strafrecht fast sämtlicher zivilisierter Staaten herleitet und der seinen Ausdruck findet in der Regel »nulla poena sine lege«, daß also eine Handlung nur dann mit einer Strafe belegt werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde. Dieser Sachverhalt erscheint um so bemerkenswerter, als es sich bei der Regel »nulla poena sine lege« um einen Grundsatz handelt, der in den Verfassungen fast aller zivilisierter Staaten verankert ist. So findet er sich zum Beispiel in Artikel 39 der englischen Magna Charta des Königs Johann von 1215, in der nordamerikanischen Verfassung von 1776 und in den Erklärungen der französischen Revolution von 1789 und 1791.

Dieser Grundsatz »nulla poena sine lege« steht aber nicht nur der Annahme eines Verbrechens gegen den Frieden entgegen, wie es durch den Gerichtshof in Fortentwicklung des geltenden Völkerrechts als strafbarer Tatbestand nach der Ansicht eines Teiles der Ankläger statuiert werden soll, er steht vielmehr insbesondere auch der Ansicht beziehungsweise Absicht entgegen, in Fortentwicklung des bisher geltenden Völkerrechts nun auch noch einen selbständigen Straftatbestand der Verschwörung durch Richterspruch zu schaffen. Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob diese Verschwörung gerichtet ist auf die Begehung eines Verbrechens gegen den Frieden oder auf die Begehung eines Verbrechens gegen die Kriegsbräuche. Auch die Annahme eines gemeinsamen Planes oder einer Verabredung zur Begehung von Kriegsverbrechen als selbständigen Straftatbestand ist nicht vereinbar mit dem Grundsatz »nulla poena sine lege«. Anwendbar sind vielmehr auch hier nur – wie vom französischen Hauptanklagevertreter bereits richtig dargetan worden ist – die nach dem Heimatrecht des Täters oder nach dem Rechte des Tatortes geltenden Teilnahmebestimmungen. Diese[423] Teilnahmebestimmungen beschränken sich unter den gegebenen Umständen auf die Erweiterung der Strafandrohung für die Fälle der Mittäterschaft, Anstiftung und Beihilfe.

Von der Teilnahme an dem allgemeinen Plan oder Verschwörung, wie er in Anklagepunkt 1 dargestellt ist, abgesehen, wird dem Angeklagten Rudolf Heß im Rahmen seiner persönlichen Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von der Anklage im wesentlichen nur der Inhalt eines Dokuments zur Last gelegt, und zwar die Urkunde GB-268, R-96.

Es handelt sich hier um einen Brief des Reichsministers der Justiz an den Reichsminister und Chef der Reichskanzlei vom 17. April 1941, der sich mit der Einführung von Strafgesetzen gegen Polen und Juden in den angegliederten Ostgebieten befaßt. Der Angeklagte Rudolf Heß spielt darin nur insoweit eine Rolle, als in dem Brief unter anderem erwähnt wird, der Stellvertreter des Führers habe die Einführung der Körperstrafe zur Erörterung gestellt. Wenn man berücksichtigt, daß der Stab des Stellvertreters des Führers allein 500 Beamte und Angestellte umfaßte und daß für Fragen der Gesetzgebung eine eigene Abteilung vorhanden war, die unmittelbar mit den einzelnen Ministerien verhandelte, so erscheint es schon sehr zweifelhaft, ob der Angeklagte Rudolf Heß mit dieser Frage überhaupt persönlich befaßt wurde. In diesem Zusammenhang nehme ich Bezug auf die eidesstattliche Versicherung der Zeugin Hildegard Fath, Beweisstück Rudolf Heß Nummer 16. Im Hinblick darauf jedoch, daß die vom Stellvertreter des Führers zur Erörterung gestellte Maßnahme nicht eingeführt wurde, dürfte es auf die Kenntnis des Angeklagten nicht ankommen. Ohne daß auf den subjektiven Tatbestand näher eingegangen zu werden braucht, kann gesagt werden, daß bei Anwendung der Grundsätze, wie sie sich aus dem Strafrecht aller zivilisierten Völker herleiten läßt, es sich hier nicht einmal um einen Versuch handelt. Die Stellungnahme des Führers beziehungsweise des Stellvertreters des Führers richtigerweise, wie sie in dem Brief des Reichsjustizministers ihren Niederschlag gefunden hat, ist strafrechtlich unerheblich. Es kann dabei völlig außer Betracht bleiben, ob ein Strafgesetz verletzt wäre, wenn die zur Erörterung gestellte Maßnahme tatsächlich in einem Reichsgesetz ihren gesetzgeberischen Niederschlag gefunden hätte.

Ein anderes von der Anklagevertretung vorgelegtes Dokument ist US-696, 062-PS.

Es handelt sich dabei um die Anordnung des Stellvertreters des Führers vom 13. März 1940, die sich mit der Belehrung der Zivilbevölkerung über sachgemäßes Verhalten bei Landungen feindlicher Flugzeuge oder Fallschirmabspringer auf deutschem Reichsgebiet befaßt.

[424] Es ist das das gleiche Dokument, für das ich bereits einen Antrag auf Berichtigung der Übersetzung gestellt habe, nachdem – jedenfalls nach meiner Überzeugung – die Übersetzung vom Deutschen ins Englische unrichtig sein dürfte.

Dieses Dokument ist zwar weder in dem von der Britischen Anklagevertretung vorgelegten Trial-Brief enthalten, noch von Herrn Oberst Griffith-Jones am 7. Februar 1946 erwähnt worden, als er die persönliche Verantwortlichkeit des Angeklagten Rudolf Heß behandelte. Im Hinblick darauf jedoch, daß diese Anordnung offiziell als Beweisstück vorgelegt wurde, ist es notwendig, wenigstens kurz darauf einzugehen.

Anlaß zu dieser Anordnung vom 13. März 1940 war die Tatsache, daß die Französische Regierung der französischen Zivilbevölkerung amtlich und durch Rundfunk Anweisungen gegeben hat, wie sie sich bei Landungen deutscher Flugzeuge zu verhalten habe.

Auf Grund dieser Weisungen der Französischen Regierung hat sich der Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe veranlaßt gesehen, auch seinerseits die deutsche Zivilbevölkerung über den Parteidienst weg entsprechend zu unterrichten. Er hat daher eine Anweisung über das Verhalten bei Landungen feindlicher Flugzeuge oder Fallschirmabspringer herausgegeben, die als Anlage zu der genannten Anordnung des Stellvertreters des Führers vom 13. März 1940 Verwendung fand.

Diese Anweisung enthält jedoch nichts, was mit den Gesetzen und Gebräuchen der Kriegführung in Widerspruch steht, wie sie zum Beispiel auch in der Haager Landkriegsordnung ihren Ausdruck gefunden haben. Das gilt insbesondere auch von der Ziffer 4, in der Anweisung gegeben wird, feindliche Fallschirmabspringer entweder festzunehmen oder unschädlich zu machen. Sowohl nach dem Wortlaut als auch insbesondere nach dem Sinn dieser Ziffer 4 kann es nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß damit nur gesagt werden sollte, daß die feindlichen Fallschirmabspringer bekämpft und niedergekämpft werden sollten, wenn sie sich nicht freiwillig ergaben und ihrerseits sich der Festnahme durch Anwendung von Gewalt, insbesondere durch Gebrauch der Schußwaffen zu entziehen versuchten. Dies ergibt sich allein schon aus dem Wort »oder«. In erster Linie sollte ihre Gefangennahme versucht werden. Dies allein schon im Interesse des Nachrichtendienstes. Und erst wenn das infolge Widerstands sich als unmöglich erwies sollten sie unschädlich gemacht, also niedergekämpft werden.

Jede andere Auslegung dieser Anweisung würde nicht nur dem Wortlaut und dem Sinn widersprechen, sondern darüber hinaus auch im Widerspruch stehen zu der Tatsache, daß bis zum Frankreichfeldzug der Krieg nach den Regeln geführt wurde, wie sie unter anderem auch in der Haager Landkriegsordnung niedergelegt [425] sind, und daß jedenfalls zu dieser Zeit – nämlich im März 1940 – der Krieg sich hoch nicht zu dem gegenseitigen Vernichtungskampf entwickelt hatte, wie er nach Beginn des deutsch-russischen Krieges werden sollte. Daß eine andere Auslegung völlig ausgeschlossen ist, ergibt sich auch aus dem sogenannten Kommandobefehl des Führers vom 18. Oktober 1942, der von der Anklage unter der Nummer US-501, 498-PS, vorgelegt wurde. Die Überlegungen zu diesem Befehl – bei dem übrigens völlig andere Voraussetzungen vorgelegen haben – und der Erlaß dieses Kommandobefehls durch Hitler selbst trotz des Widerspruches des OKW und des Chefs des Wehrmachtführungsstabes wären völlig überflüssig gewesen, wenn der Oberbefehlshaber der Luftwaffe bereits im März 1940 Weisungen erlassen hätte, die dem gleichen Zweck dienten. Zudem ist in Ziffer 4 des Führerbefehls vom 18. Oktober 1942 ausdrücklich bestimmt, daß gefangengenommene Angehörige von Kommandos dem SD übergeben werden sollten.

Da der deutsche Text dieser Anweisung zur Anordnung vom 13. März 1940 völlig eindeutig ist und keinerlei Zweifel aufkommen läßt, habe ich davon abgesehen, zusätzliche Beweismittel zu dieser Frage heranzuziehen. Für den Fall jedoch, daß das Gericht diese Auffassung nicht teilen sollte, wird es zur völligen Aufklärung des Sachverhalts nicht zu umgehen sein, daß das Gericht von sich aus die Anweisungen heranzieht, die die Französische Regierung zu Beginn des Jahres 1940 der französischen Zivilbevölkerung für den Fall der Landung deutscher Flugzeuge oder deutscher Fallschirmabspringer gegeben hat. Auf das Dokument GB-267, 3245-PS, das dem Angeklagten Heß ebenfalls zur Last gelegt wird, braucht nicht näher eingegangen zu werden, da der Inhalt dieses Dokuments unter Anwendung der obigen Grundsätze auf keinen Fall als ein Verbrechen gegen die Kriegsgebräuche oder gegen die Humanität angesehen werden kann.

Rudolf Heß ist außer als Einzelperson auch noch als Mitglied der SA, der SS, des Korps der Politischen Leiter und der Reichsregierung angeklagt. Was die Mitgliedschaft bei der SA und der SS anlangt, so erübrigen sich dazu nähere Ausführungen. Aus den von der Anklage vorgelegten Dokumenten ergibt sich, daß in diesen beiden Organisationen der Angeklagte Rudolf Heß nur den Ehrenrang eines Obergruppenführers innehatte. Eine Befehls- oder Disziplinargewalt war damit nicht verbunden.

Als Stellvertreter des Führers jedoch war der Angeklagte Rudolf Heß Inhaber des höchsten Amtes, das es im Korps der Politischen Leiter gab. Es kann nicht meine Aufgabe sein, im einzelnen zu der Anklage Stellung zu nehmen, die gegen das Korps der Politischen Leiter im Rahmen und in Anwendung des Artikels 9 des Statuts erhoben wird und die ihren Ausdruck in ihrem Antrag [426] findet, das Korps der Politischen Leiter als verbrecherische Organisation zu erklären. Mit Rücksicht darauf jedoch, daß der Angeklagte Rudolf Heß zwar nicht der einzige hier auf der Anklagebank sitzende Politische Leiter, immerhin aber doch der höchste Politische Leiter überhaupt war, erscheinen einige grundsätzliche Bemerkungen doch veranlaßt zu sein.

Nach Artikel 9 des Statuts kann der Gerichtshof in dem Prozeß gegen ein Mitglied einer angeklagten Organisation erklären, daß die Organisation, welcher der Angeklagte angehörte oder angehört hat, eine verbrecherische Organisation war. Voraussetzung dafür ist nach dem Statut, daß diese Erklärung des Gerichtshofs in Verbindung steht mit einer Handlung, derentwegen der Angeklagte verurteilt wird. Unter Handlung im Sinne des Artikels 9 des Statuts kann nur ein persönlich zurechenbares und vorwerfbares Tun oder Unterlassen verstanden werden, nicht dagegen die sich gegebenenfalls aus Artikel 6, Absatz 3 ergebende erweiterte Haftung für die Handlung eines anderen. Da nun aber weder in der Anklageschrift noch im Trial-Brief, der die persönliche Verantwortlichkeit des Angeklagten Rudolf Heß behandelt, diesem irgendeine Handlung zum Vorwurf gemacht wird, die den Tatbestand eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllt, wäre auch in diesem Falle eine Verurteilung des Angeklagten Heß – nämlich als Mitglied des Korps der Politischen Leiter – gleichbedeutend mit der Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für das Tun oder Unterlassen eines anderen. Obwohl der Angeklagte Rudolf Heß der höchste Politische Leiter war und obwohl ihm persönlich kein Verhalten zur Last gelegt wird, das den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt, soll er als Mitglied der von ihm geleiteten, angeblich verbrecherischen Organisation verurteilt werden; man wird nicht bestreiten können, daß das ein nicht alltäglicher juristischer Fall ist.

Es erscheint aber noch etwas anderes wesentlicher. Die Verteidigung war gezwungen, das Kernstück des Statuts, nämlich den Artikel 6, als nicht mit den allgemein gültigen Grundsätzen des Völkerrechts in Übereinstimmung stehend anzugreifen. Artikel 9 des Statuts steht nicht weniger in Widerspruch zu der gemeinsamen Rechtsüberzeugung aller Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft. Es gibt weder einen Rechtssatz des Völkerrechts noch einen Rechtssatz irgendeines nationalen Rechts, der die Mitgliedschaft in einer Organisation für verbrecherisch erklärt, ohne daß im einzelnen Fall untersucht wird, ob der Betreffende durch sein Handeln oder Unterlassen sich persönlich schuldig gemacht hat. Entgegen den allgemeinen Prinzipien des Strafrechts, wie sie sich aus dem Strafrecht aller zivilisierten Nationen ableiten, sieht das Statut in Artikel 9 eine strafrechtliche Verantwortlichkeit und eine [427] Kollektivhaftung aller Mitglieder gewisser Organisationen und Institutionen vor, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob das einzelne Mitglied ein Verschulden trifft.

Das Statut verläßt damit einen Grundsatz, der ein integrierender Bestandteil jeder modernen Strafrechtspflege ist. Der Satz »Ohne Schuld keine Strafe« – und die Erklärung, eine bestimmte Organisation sei verbrecherisch, ist für die davon betroffenen Mitglieder eine Strafe – ist ein wesentlicher Bestandteil des Strafrechtsbewußtseins unserer Zeit, sofern man unter Schuld den Inbegriff derjenigen Voraussetzungen der Strafe versteht, welche die persönliche Verwerfbarkeit der rechtswidrigen Handlung gegenüber dem Handelnden begründet. Wird allein schon die Mitgliedschaft zu einer bestimmten Organisation zum Gegenstand eines kriminellen Unwerturteils gemacht, dann erscheint die zum Vorwurf gemachte Handlung nicht mehr als rechtlich mißbilligter Ausdruck der Persönlichkeit des Handelnden. Das muß insbesondere in Bezug auf Organisationen gelten, die Hunderttausende, ja Millionen von Mitgliedern hatten.

Daher hat es eine Strafe ohne Schuld bis jetzt nur bei primitiven Rechten gegeben. Zutreffend sagt daher der große deutsche Strafrechtslehrer von Liszt, der zugleich ein konstruktiver Denker auf dem Gebiet des Völkerrechts war:

»Wie es der religiösen Aufgabe nicht widerstrebt, daß die Sünden der Väter heimgesucht werden an Kind und Kindeskindern, wie in den Trauerspielen der Alten das blindwaltende Schicksal und in der Literatur unserer Tage das Gesetz der Vererbung die Stelle der Verschuldung vertritt, so kennt auch das älteste Recht aller Völker eine Strafe ohne Schuld.«

Nur bei primitiven Rechten hat es eine strafrechtliche Haftung ohne Schuld gegeben. Und in der Tat: In der Rechtsgeschichte aller Völker wurde die sogenannte strafrechtliche Erfolgshaftung sehr bald abgelöst von dem Grundsatz der Haftung nur bei Verschulden und damit jener Zustand erreicht, der allein mit der Würde des Menschen vereinbar ist. Die im Artikel 9 des Statuts getroffene Regelung bedeutet nicht nur einen bedauerlichen Beitrag zur Beschleunigung des anscheinend unaufhaltsamen Prozesses der Vermassung der Menschen, sondern sie ist darüber hinaus ein Rückfall in die ersten Anfänge strafrechtlichen Denkens. Im Hinblick auf diese Tatsachen kann nicht anerkannt werden, daß diese Bestimmung des Statuts in Übereinstimmung steht mit dem geltenden Recht, wie es sich herleitet aus der gemeinsamen Rechtsüberzeugung aller Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft und aus den allgemeinen Prinzipien des Strafrechts aller zivilisierten Nationen.

[428] Endlich ist Rudolf Heß angeklagt als Mitglied der Reichsregierung. Was seine Zugehörigkeit zu dem Geheimen Kabinettsrat anlangt, so ist dazu folgendes zu sagen: Die Beweisaufnahme hat ergeben, daß dieser Geheime Kabinettsrat nur geschaffen wurde, um das Ausscheiden des früheren Reichsaußenministers von Neurath vor der Öffentlichkeit nicht als Bruch zwischen dem letzteren und Adolf Hitler erscheinen zu lassen. Tatsächlich hat niemals eine Tagung dieses Geheimen Kabinettsrats stattgefunden. Der Rat ist nicht einmal zu einer konstituierenden Sitzung zusammengetreten.

In Bezug auf das Reichskabinett steht auf Grund des Ergebnisses der Beweisaufnahme fest, daß spätestens seit dem Jahre 1937 keine Kabinettssitzungen mehr stattgefunden haben. Die von der Reichsregierung zu erfüllenden Aufgaben, insbesondere die gesetzgeberischen Funktionen, wurden im sogenannten Umlaufverfahren erledigt. Die Beweisaufnahme hat aber ferner ergeben, daß spätestens vom Jahre 1937 an die großen politischen und militärischen Entscheidungen von Adolf Hitler ausschließlich und allein getroffen wurden, ohne daß die Mitglieder der Reichsregierung vorher in Kenntnis gesetzt wurden. Irgendeine maßgebende Entscheidung in politisch oder militärisch wichtigen Fragen hat die Reichsregierung als Institution seit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler – wahrscheinlich schon sehr viel früher als 1937 – nicht mehr getroffen. Es wäre völlig abwegig anzunehmen, daß die Mitglieder der Reichsregierung im nationalsozialistischen Staat auch nur annähernd die gleiche Stellung gehabt hatten, wie in einem nach parlamentarischen Grundsätzen regierten Staat sie selbstverständlich ist. Ebensowenig, wie es unter den auf der Anklagebank sitzenden Männern einen gemeinsamen Plan der Verschwörung gegeben hat, hat es etwas Derartiges innerhalb der Reichsregierung gegeben. Es war zum Teil sogar so, daß innerhalb der Reichsregierung auseinanderstrebende Kräfte sich bemerkbar machten, die für sich allein schon die Verabredung eines gemeinsamen Planes, wie er in der Anklageschrift seinen Ausdruck gefunden hat, unmöglich gemacht hätten. Es genügt hier, auf die Bekundungen des Zeugen Lammers hinzuweisen und auf die Tatsache, daß Adolf Hitler, dem diese Tatsachen auch nicht verborgen bleiben konnten, schließlich sogar ein Verbot des Inhalts erlassen hat, daß die einzelnen Reichsminister von sich aus nicht mehr zu Besprechungen zusammenkommen dürften.

In diesem Zusammenhang kann etwas anderes nicht unerwähnt bleiben. Wenn die Beweisaufnahme in diesem Prozeß etwas mit Sicherheit ergeben hat, dann ist es der Nachweis für die ungeheuere Machtstellung und die unvorstellbare Autorität, die Adolf Hitler innerhalb des deutschen Regierungssystems gehabt hat. Wenn Generaloberst Jodl im Zeugenstand erklärt hat, daß es niemand [429] gegeben hat, der auf die Dauer mit Erfolg Hitler hätte widersprechen können, und daß es einen solchen auch nicht geben konnte, dann dürfte er mit wenigen Worten das Richtige getroffen haben. Es mag das vielleicht bedauerlich sein, vermag aber an der Tatsache als solcher nichts zu ändern. Wenn man sich nun noch vor Augen hält, daß diese überragende Stellung Hitlers im Laufe der Jahre immer größer wurde, so dürfte das allein schon geeignet sein, die Annahme eines gemeinsamen Planes, wie er in der Anklageschrift behauptet wird, auszuschließen. Wie überhaupt folgendes gesagt werden muß: Die vor diesem Gericht angeklagten früheren Parteiführer, Generale und Regierungsmitglieder erhalten in diesem Verfahren durch den Tod Hitlers eine Bedeutung, wie sie ihnen offensichtlich in der Vergangenheit tatsächlich nicht zugekommen ist. Während das gesamte politische Leben der vergangenen zwölf Jahre in Deutschland überschattet war von dem überragenden Einfluß der Person Hitlers, wirkt sich in diesem Verfahren das Fehlen dieses Mannes auf der Anklagebank in einer Weise aus, daß ein völlig verzerrtes Bild der politischen Wirklichkeit der vergangenen zwölf Jahre ohne jeden Zweifel entstehen muß.

Meine Herren Richter!

Ich komme nunmehr zu dem Ereignis, das die politische Laufbahn des Angeklagten Rudolf Heß beenden sollte, zu seinem Flug nach England am 10. Mai 1941. Dieses Unternehmen ist in diesem Verfahren aus mehreren Gründen von beweiserheblicher Bedeutung. Wie sich aus der Beweisaufnahme ergibt, hat der Angeklagte Rudolf Heß den Entschluß zu diesem Flug bereits im Juni 1940, und zwar unmittelbar nach der Kapitulation Frankreichs gefaßt. Die Durchführung des Planes verzögerte sich aus einer Reihe von Gründen, insbesondere mußten vorher bestimmte technische Voraussetzungen erfüllt sein. Darüber hinausspielten aber auch Überlegungen politischer Natur eine Rolle, und zwar insbesondere in der Richtung, daß ein derartiges Unternehmen, wenn überhaupt, nur dann mit und von Erfolg begleitet sein konnte, wenn auch die politischen Verhältnisse und insbesondere die militärische Lage für die Einleitung von Friedensverhandlungen günstig erschienen. Denn die Wiederherstellung des Friedens war unzweifelhaft das Ziel, das Heß bei seinem Flug nach England verfolgte.

Als der Angeklagte Heß am Tag nach seiner Landung dem Herzog von Hamilton vorgeführt wurde, erklärte er diesem: »Ich komme in einer Mission der Menschlichkeit.« Bei den Unterredungen, die dann der Angeklagte am 13., 14. und 15. Mai mit Herrn Kirkpatrick vom Auswärtigen Amt hatte, setzte er diesem im einzelnen die Beweggründe auseinander, die ihn zu diesem außergewöhnlichen Schritt veranlaßt hatten. Er gab ihm zugleich Kenntnis von den Bedingungen, unter denen Hitler bereit wäre, [430] Frieden zu schließen. Am 9. Juni 1941 fand sodann eine Besprechung zwischen Rudolf Heß und Lord Simon statt, der im Auftrag der Britischen Regierung erschienen war. Ich habe die Niederschrift über diese Besprechung dem Tribunal als Beweisstück übergeben und nehme darauf Bezug. Aus diesem Dokument ergibt sich, daß der Beweggrund für diesen außergewöhnlichen Flug die Absicht war, weiteres Blutvergießen zu vermeiden und günstige Bedingungen für die Einleitung von Friedensverhandlungen zu schaffen. Im Verlaufe dieser Unterredung übergab der Angeklagte Heß Lord Simon ein Schriftstück, auf dem die vier Bedingungen verzeichnet waren, unter denen damals Adolf Hitler bereit gewesen wäre, Frieden mit England zu schließen. Die Bedingungen waren;

»1. Um künftige Kriege zwischen der Achse und England zu verhindern, soll eine Abgrenzung der Interessensphären stattfinden. Die Interessensphäre der Achsenmächte soll Europa, die Englands sein Weltreich sein.

2. Rückgabe der deutschen Kolonien.

3. Entschädigung deutscher Staatsangehöriger, die vor oder während des Krieges im Britischen Weltreich Wohnsitz hatten und durch Maßnahmen einer Regierung im Weltreich oder durch irgendwelche Geschehen, wie Plünderung, Tumult usw. Schaden an Leben oder Eigentum erlitten hatten. Entschädigung auf gleicher Grundlage durch Deutschland an britische Staatsangehörige.

4. Waffenstillstand und Friedensschluß mit Italien zu gleicher Zeit.«

Rudolf Heß erklärte sowohl Herrn Kirkpatrick als auch Lord Simon gegenüber, daß dies die Bedingungen gewesen seien, unter denen Hitler schon unmittelbar nach Beendigung des Frankreichfeldzuges bereit gewesen wäre, mit England Frieden zu schließen und daß sich diese Einstellung Hitlers auch seit Beendigung des Frankreichfeldzuges nicht mehr geändert habe. Es liegen keinerlei Anhaltspunkte vor, welche die Darstellung des Angeklagten als nicht glaubhaft erscheinen lassen könnten; im Gegenteil. Sie steht durchaus im Einklang mit vielen Erklärungen, die Hitler selbst in Bezug auf das Verhältnis zwischen Deutschland und England abgegeben hat. Darüber hinaus haben die Angeklagten Göring und von Ribbentrop im Zeugenstand ebenfalls bestätigt, daß die von Heß an Lord Simon bekanntgegebenen Bedingungen mit der Ansicht Hitlers völlig übereinstimmten.

Wenn in den von Heß bekanntgegebenen Bedingungen Europa als Interessensphäre der Achsenmächte vorgesehen war, so kann daraus keineswegs der Schluß gezogen werden, daß dies gleichbedeutend gewesen sei mit einer Beherrschung Europas durch die Achsenmächte. Aus den von Heß gegebenen Erklärungen – sie [431] sind in der Niederschrift über die Unterredung zwischen ihm und Lord Simon enthalten – ergibt sich vielmehr mit aller Deutlichkeit, daß damit lediglich eine Einflußnahme Englands auf Kontinentaleuropa ausgeschaltet werden sollte.

Welche rechtlichen Folgerungen ergeben sich aus diesen Tatsachen? In der Anklageschrift wird dem Angeklagten Heß zur Last gelegt, zusammen mit den übrigen Angeklagten an einer psychologischen Vorbereitung des deutschen Volkes auf den Krieg mitgewirkt zu haben. Soweit die von der Anklage behauptete psychologische Kriegsvorbereitung Teil des gemeinsamen Planes ist, genügt es, auf meine in diesem Zusammenhang gemachten Ausführungen zu verweisen. Wenn von der Anklage aber auch behauptet werden will, daß der Angeklagte Heß darüber hinaus auch persönlich diese psychologische Kriegsvorbereitung betrieben hat, dann ergibt sich – von seinen vielen Friedensreden abgesehen – mindestens aus diesem Flug nach England und den damit verfolgten Absichten das Gegenteil. Ohne näher auf die allgemeinen Umstände und auf das persönliche Verhältnis zwischen Hitler und dem Angeklagten Heß eingehen zu wollen, kann doch das eine mit Sicherheit gesagt werden: Der Angeklagte Heß hat mit seinem Flug nach England eine Tat vollbracht, die im Hinblick auf seine Stellung in der Partei und im Staat und insbesondere aber im Hinblick auf die Tatsache, daß er nach Göring als Nachfolger Hitlers bestimmt war, nur als Opfer bezeichnet werden kann, als ein Opfer, das Heß brachte im Interesse der Wiederherstellung des Friedens und im Interesse nicht nur des deutschen Volkes, sondern darüber hinaus Europas und der ganzen Welt. Dieses Opfer war um so größer, als Heß zu den wenigen gehörte, die zu Hitler ein enges persönliches Vertrauensverhältnis hatten. Wenn der Angeklagte Heß sich trotzdem dazu entschloß, seine Stellung in der Partei und im Staat und alles das, was ihn mit Hitler persönlich verband, im Interesse der Wiederherstellung des Friedens auf das Spiel zu setzen, dann muß daraus der Schluß gezogen werden, daß auch der Angeklagte Heß im Krieg eine furchtbare Geißel der Menschheit erblickt hat, und es allein schon aus diesem Grund als unwahrscheinlich erscheinen muß, daß er die Absicht hatte, das deutsche Volk auf den Krieg vorzubereiten.

Meine Herren Richter! Die folgenden Ausführungen befassen sich mit der Frage, welche rechtlichen Folgerungen aus dem Flug des Angeklagten Heß nach England in Bezug auf seine Beteiligung an dem von der Anklage behaupteten gemeinsamen Plan oder Verschwörung zu ziehen sind, insbesondere inwieweit im Hinblick auf dieses Verhalten des Angeklagten eine strafrechtliche Verantwortlichkeit, auch nach dem Flug nach England, noch angenommen werden kann. Der Angeklagte Heß selbst hat nicht den Wunsch, aus diesem Flug und den mit ihm verbundenen Absichten irgendwelche [432] für ihn im Rahmen dieses Verfahrens günstige Schlußfolgerungen gezogen zu sehen. Er hat mich daher auch ersucht, einen Teil der nun folgenden Ausführungen zu unterlassen. Trotzdem glaube ich es für meine Pflicht als Verteidiger halten zu müssen, alle aus dem Flug des Angeklagten Heß und den damit verbundenen Absichten sich ergebenden rechtlichen Folgerungen zu ziehen und auf die Tatsachen und Gesichtspunkte hinzuweisen, die auch insoweit zugunsten des Angeklagten sprechen.

Wie ich bereits ausgeführt habe, muß auf Grund des Ergebnisses der Beweisaufnahme angenommen werden, daß der von der Anklage behauptete Plan nicht bestanden hat. Für den Fall jedoch, daß das Tribunal in dieser Frage das Ergebnis der Beweisaufnahme anders würdigen, und in Anwendung des Artikels 6, Absatz 3 des Statuts das Bestehen eines derartigen auf den Beginn eines Angriffskrieges gerichteten Planes annehmen sollte, ist es notwendig, die Frage zu prüfen, welche rechtlichen Folgen der Flug des Angeklagten Rudolf Heß nach England und die damit verbundenen Absichten auf seine von der Anklage behauptete Teilnahme an dem gemeinsamen Plan hatten. Hierzu ist folgendes zu sagen: Artikel 6, Absatz 3 des Statuts erweitert die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten für alle Handlungen, die von irgendeiner Person in Ausführung des von der Anklage behaupteten gemeinsamen Planes begangen worden sind. Das Statut selbst enthält keine Bestimmungen darüber, ob und unter welchen Umständen ein Ausscheiden beziehungsweise ein Rücktritt von dem gemeinsamen Plan möglich ist. Daraus kann jedoch nicht der Schluß gezogen werden, daß ein derartiges Ausscheiden grundsätzlich ausgeschlossen sein soll. Diese Annahme verbietet sich schon deshalb, weil das Statut ganz offenbar keine erschöpfende Regelung aller materiellen und verfahrensrechtlichen Fragen geben will. Wenn schon im anglo-amerikanischen Recht der Rücktritt grundsätzlich zugelassen ist, dann muß das unter den Regeln des Statuts erst recht möglich sein. Denn das Statut stellt einen Inbegriff von Normen dar, in dem auch ganz unverkennbar Institutionen des kontinentaleuropäischen Rechts mitberücksichtigt sind. Das kontinentaleuropäische Recht aber geht ganz eindeutig von der Vorstellung aus, daß die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters nur soweit reicht, als sein Tun oder Unterlassen von seinem Willen umfaßt wird.

Der Rücktritt vom Versuch als Strafaufhebungsgrund ist daher eine Institution, die sich in fast allen europäischen Rechtsordnungen findet. Es ist daher schon nach anglo-amerikanischem Recht ein Ausscheiden aus der Verschwörung möglich, und es muß daher dann keinem Zweifel unterliegen, daß auch nach dem Statut diese Möglichkeit grundsätzlich bestehen muß. Dies muß aber um so mehr angenommen werden, als grundsätzlich in den Fällen, in denen das[433] Statut keine bindende Regel aufstellt, das deutsche Recht anzuwenden ist. Soweit der Angeklagte Rudolf Heß in Frage kommt, dürfte dies um so weniger zweifelhaft sein, als die dem Angeklagten Rudolf Heß zur Last gelegten Handlungen innerhalb des deutschen Reichsgebiets begangen wurden. In diesem Fall ist nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen, wie sie sich aus dem Recht aller zivilisierten Nationen ableiten und wie sie insbesondere auch in dem sogenannten internationalen Strafrecht aller Völker ihren Ausdruck finden, die sogenannte Lex loci, also das Recht des Begehungsortes maßgebend.

Überträgt man diese Grundsätze auf das Verhalten des Angeklagten Rudolf Heß und auf seinen Flug nach England vom 10. Mai 1941, so ergibt sich daraus zunächst, daß – die Beweisaufnahme hat jedenfalls nichts Gegenteiliges ergeben – alles folgende Geschehen nicht von seinem Willen umfaßt gewesen sein kann. Er hatte auf den Ablauf der Ereignisse innerhalb des allgemeinen Kriegsgeschehens spätestens mit seinem Flug nach England keinen Einfluß mehr. Es widerspricht allen Grundsätzen des Strafrechts, wie sie sich aus den Rechtsordnungen aller zivilisierten Völker herleiten, jemand für Handlungen und für einen Erfolg strafrechtlich verantwortlich zu machen, auf die er keinen Einfluß hatte und auch nicht nehmen konnte und die er nicht in seinem Willen aufgenommen hat.

In diesem Zusammenhang ist noch auf die Behauptung der Anklagevertretung einzugehen, daß der Angeklagte Heß seinen Flug nach England nicht in der Absicht unternommen habe, damit günstige Bedingungen für Friedensverhandlungen zu schaffen. Seine Absicht sei es vielmehr gewesen – so argumentierte die Anklage-, damit Deutschland den Rücken für den gegen die Sowjetunion geplanten Feldzug freizumachen. Die von der Anklagevertretung vorgelegten Dokumente vermögen diese Annahme nicht zu begründen. Dem steht zunächst die Tatsache entgegen, daß der Angeklagte Heß den Entschluß zu dem Flug bereits im Juni 1940 gefaßt hatte, also zu einer Zeit, zu der niemand in Deutschland an einen Feldzug gegen die Sowjetunion gedacht hat. Aus dem Brief, den der Angeklagte Heß hinterlassen hat und der Adolf Hitler zu einer Zeit ausgehändigt wurde, als Heß bereits in England gelandet war, ergibt sich aber vielmehr mit aller Deutlichkeit, daß Heß von dem bevorstehenden Feldzug gegen die Sowjetunion keine Kenntnis hatte. Der Angeklagte Heß hat in diesem Brief – das steht auf Grund der Bekundungen der Zeugin Fath fest, die den Brief selbst gelesen hat – mit keinem Wort davon gesprochen, daß er mit seinem Flug beabsichtigte, Deutschland den Rücken für den bevorstehenden Feldzug gegen die Sowjets freizumachen. In diesem Brief hat Heß die Sowjetunion mit keinem Wort erwähnt. Es muß mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit vielmehr angenommen [434] werden, daß Heß auf diese Frage eingegangen wäre, wenn er von dem geplanten Angriff Kenntnis gehabt und wenn er vor allem mit seinem Flug die Absicht verbunden hätte, die nunmehr die Anklage behauptet.

In diesem Zusammenhang möchte ich das Gericht noch kurz auf das Beweisstück US-875, 3952-PS, verweisen, aus dem sich ebenfalls mit voller Klarheit ergibt, daß Heß keine Kenntnis von dem bevorstehenden Feldzug gegen die Sowjets gehabt haben kann.

Aber selbst wenn Heß eine sichere Kenntnis von dem geplanten Feldzug gegen die Sowjetunion besessen hätte, so würde das der Annahme eines Strafaufhebungsgrundes für die folgende Zeit nicht entgegenstehen. Wie die Beweisaufnahme ergeben hat, hat Hitler den Angriff auf die Sowjetunion nicht zuletzt in der Erwägung befohlen, dadurch einem bevorstehenden Angriff der Sowjets zuvorzukommen. Ich nehme auch hier Bezug auf den Bericht des amerikanischen Generalstabschefs Marshall, den ich bereits verlesen habe.

Es kann im Rahmen der zu prüfenden Frage dahingestellt bleiben, ob ein derartiger Angriff von seiten der Sowjetunion tatsächlich geplant war und bevorstand. Die Angaben des Angeklagten Jodl im Zeugenstand müssen das mindestens als eher wahrscheinlich, wenn nicht als sicher erscheinen lassen. Entscheidend ist hier lediglich, daß Hitler auf Grund der ihm vorliegenden Meldungen subjektiv dieser Auffassung war. Wäre es nun dem Angeklagten Rudolf Heß gelungen, in England die Voraussetzungen für Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen zu schaffen, so wäre damit die politische und militärische Lage in Europa so grundlegend geändert worden, daß unter diesen veränderten Umständen ein Angriff der Sowjetunion auf Deutschland als sehr unwahrscheinlich und die von Hitler gehegten Befürchtungen als unhaltbar gelten mußten. Der von dem Angeklagten Heß mit seinem Flug nach England unternommene Versuch würde seinen Charakter als Strafaufhebungsgrund für alles nach dem 10. Mai 1941 und in Ausführung des von der Anklage behaupteten gemeinsamen Planes Geschehene sogar dann noch behalten, wenn man die Auffassung vertreten würde, daß nicht die Befürchtungen eines bevorstehenden sowjetischen Angriffs Hitler zu seinem Entschluß veranlaßt haben, sondern die wirtschaftliche Zwangslage, in der sich damals Deutschland infolge des Scheiterns der Invasion gegen England befand. Denn bei einer Beendigung eines Krieges mit England hätte auch diese wirtschaftliche Zwangslage Deutschlands ihr Ende gefunden, mindestens aber ihre Schärfe verloren.

Zusammenfassend kann gesagt werden: Der Angeklagte Heß hat mit seinem Flug nach England und den damit verbundenen Absichten zur Wiederherstellung des Friedens unter Einsatz seiner ganzen Person einen Versuch unternommen, der erkennbar dem [435] Willen entsprang, unter allen Umständen weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Bei Anwendung der Rechtsgrundsätze, wie sie sich aus dem Strafrecht aller zivilisierter Völker herleiten, und insbesondere bei Anwendung des deutschen Strafrechts, das im Zweifel in dieser Frage zugrunde zu legen ist, muß daraus der Schluß gezogen werden, daß die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten Heß sich auf jeden Fall auf Handlungen beschränkt, die vor dem Flug nach England begangen wurden.

Meine Herren Richter! Der vergangene Krieg hat in einem kaum vorstellbaren Ausmaße Unglück über die ganze Menschheit gebracht; er hat aus Europa einen aus tausend Wunden blutenden Erdteil gemacht und Deutschland als ein Trümmerfeld hinterlassen. Es erscheint sicher, daß beim gegenwärtigen Stand der modernen Technik die Menschheit die Katastrophe eines neuen Weltkrieges nicht überleben würde. Er würde nach menschlicher Voraussicht die Zivilisation, die schon in diesem Krieg unsagbar gelitten hat, vollends vernichten. Es erscheint daher nur zu verständlich, wenn unter diesen Umständen im Namen der um ihre Existenz ringenden Menschheit der Versuch gemacht werden soll, auch von der rechtlichen Seite aus nichts unversucht zu lassen, um die Wiederholung einer derartigen Katastrophe zu verhindern.

Es kann jedoch nicht zweifelhaft sein, daß das Recht, so groß auch sonst seine Kraft im gesellschaftlichen Leben sein mag, in der Bekämpfung des Krieges nur eine untergeordnete Rolle spielen kann. Dies gilt ohne jede Einschränkung, solange die Gemeinschaft der Völker sich zusammensetzt aus souveränen Staaten, die keine von einer höheren Instanz abgeleitete Rechtsordnung anerkennen, und solange es kein Verfahren und keine Organisation gibt, die kraft eigener Machtbefugnisse rechtsgestaltend die berechtigten Ansprüche der Völker abgrenzen und miteinander in Einklang bringen könnte. Solange diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, vermag das Recht auf dem Gebiete der internationalen Beziehungen nicht die ordnende Kraft zu sein, die es im innerstaatlichen Leben infolge der hinter ihm stehenden Staatsgewalt ohne weiteres ist. So verlockend auch der Versuch sein mag, auf den Trümmern, die uns der vergangene Weltkrieg hinterlassen hat, wenigstens ein verbessertes und kraftvolleres Völkerrecht zu schaffen, dieser Versuch muß von vornherein zum Scheitern verurteilt sein, wenn er nicht zugleich Teil einer umfassenden Neuordnung sämtlicher internationaler Beziehungen ist und das internationale Recht nicht zugleich wesentlicher Bestandteil einer Ordnung ist, die die unverzichtbaren Rechte aller Völker gewährleistet und insbesondere die Erfüllung der berechtigten Ansprüche aller Völker auf eine entsprechende Beteiligung an den materiellen Gütern der Welt sicherstellt. Das Statut für das Internationale [436] Militärtribunal ist unzweifelhaft nicht ein Teil einer solchen allgemeinen neuen Ordnung. Es wurde von den Siegerstaaten mit begrenzter Zeitdauer, nämlich als Grundlage für ein Strafverfahren gegen die Staatsmänner, militärischen Befehlshaber und Wirtschaftsführer der im Krieg unterlegenen Achsenmächte erlassen. Der Inhalt des Londoner Abkommens läßt das Statut für das Internationale Militärtribunal, das einen wesentlichen Bestandteil dieses Abkommens bildet, allein schon im Hinblick auf die im Artikel 7 vorgesehene zeitliche Beschränkung auf ein Jahr als eine Gesetzgebung erscheinen. Tatsächlich kann es kaum mehr zweifelhaft sein, daß wesentliche Teile des Statuts nicht im Einklang mit der gemeinsamen Überzeugung aller Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft stehen, daß sie also nicht wirklich geltendes Völkerrecht darstellen. Unter diesen Umständen könnte eine Verurteilung wegen eines Verbrechens gegen den Frieden und wegen Teilnahme an einem gemeinsamen Plan zum Beginn eines Angriffskrieges entgegen dem geltenden Völkerrecht nur erfolgen, wenn das Tribunal unter Verletzung des Grundsatzes »nulla poena sine lege« sich zu einer richterlichen Fortentwicklung des Völkerrechts entschließen würde. So groß diese Versuchung auch sein mag, die sich daraus ergebenden Folgen könnten unabsehbar sein. Es würde nicht nur ein Grundsatz verletzt werden, der sich aus den Prinzipien des Strafrechts aller zivilisierten Völker ableitet und der insbesondere ein integrierender Bestandteil des internationalen Rechts ist, daß nämlich eine Handlung nur dann mit einer Strafe belegt werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde. Vor allem aber im Hinblick darauf, daß in dem gegenwärtigen Verfahren Tatsachen bewiesen wurden, die die Gerichtsbarkeit in Punkt 1 und 2 der Anklage und die Zuständigkeit des Tribunals insoweit ausschließen, müßte die Verletzung des Grundsatzes »nulla poena sine lege« in Verbindung mit diesen besonderen Umständen die Idee des Rechts überhaupt in Frage stellen.

Eine Verletzung so fundamentaler Grundsätze jeder Rechtsordnung, und zwar auch jeder internationalen, wie sie in dem Satz »nulla poena sine lege« und vor allem in dem weiteren Satz enthalten sind, daß niemand in eigener Sache Richter sein kann, würde nicht nur jede Fortentwicklung des Völkerrechts hemmen, sondern darüber hinaus unfehlbar zu vermehrter Rechtsunsicherheit führen.

Soll der Weg für eine wirkliche Fortentwicklung des internationalen Rechts nicht verschüttet werden, dann kann als Rechtsgrundlage für das Urteil dieses Gerichts nur das wirkliche, zur Zeit der Tat geltende Völkerrecht angesehen werden.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird sich jetzt vertagen.


[Das Gericht vertagt sich bis

26. Juli 1946, 10.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 19, S. 389-438.
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