Vormittagssitzung.

[602] OBERST POKROWSKY: Herr Vorsitzender! Ich gestatte mir mitzuteilen, daß gemäß der Anordnung des Gerichtshofs in der Morgensitzung des 12. August dieses Jahres bezüglich des Zeugen Schreiber dieser Zeuge nach Nürnberg gebracht wurde und sich jetzt hier befindet. Er kann jederzeit, sei es heute oder in den nächsten Tagen, verhört werden.

VORSITZENDER: Oberst Pokrowsky! Könnte man ihn jetzt sofort vernehmen?


OBERST POKROWSKY: Er kann sofort vernommen werden, Herr Vorsitzender.


VORSITZENDER: Ich glaube, das wäre das beste, ehe wir mit den Plädoyers für die Organisationen fortfahren.


OBERST POKROWSKY: Sehr wohl, Herr Vorsitzender! General Alexandrow wird ihn gleich verhören.


DR. LATERNSER: Herr Präsident! Ich widerspreche der Vernehmung des Zeugen, und zwar aus folgenden Gründen: Es ist für das Verfahren der Organisationen durch das Gericht zunächst bestimmt worden, daß alle Zeugen zuvor vor der Kommission vernommen werden müssen. Was für die Verteidigung gilt, muß nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen auch für die Anklagebehörde gelten. Aus diesen Gründen ist die Vernehmung dieses Zeugen unzulässig.


VORSITZENDER: Ich habe den Beschluß des Gerichtshofs vom 12. August 1946 vor mir, welcher folgendermaßen lautet:

Bezüglich des Einspruchs Dr. Laternsers gegen die Aussage des Generalmajors Walter Schreiber ist der Gerichtshof nicht willens, zu einem so späten Zeitpunkt weitere Beweisführung zuzulassen oder Fragen, die vor dem Gerichtshof bereits vollständig erörtert wurden, wieder aufzunehmen. Andererseits aber mit Rücksicht auf die Wichtigkeit der Aussagen des Generalmajors Schreiber und ihrer Erheblichkeit, nicht nur für das Verfahren gegen die einzelnen Angeklagten, sondern auch für das Verfahren gegen das OKW, wird der Gerichtshof genehmigen, daß Generalmajor Schreiber als Zeuge vernommen wird, wenn er vor Ende des Verfahrens vorgeführt wird; andernfalls kann von seiner Aussage kein Gebrauch gemacht werden.

Herrn Dr. Laternsers gegenwärtiger Einwand wird deshalb zurückgewiesen.

[602] [Der Zeuge betritt den Zeugenstand.]


VORSITZENDER: Geben Sie bitte Ihren vollen Namen an.

ZEUGE WALTER SCHREIBER: Walter Schreiber.


VORSITZENDER: Sprechen Sie mir diesen Eid nach: »Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde.«


[Der Zeuge spricht die Eidesformel nach.]


VORSITZENDER: Sie können sich setzen.

GENERALMAJOR ALEXANDROW: Herr Zeuge! Schildern Sie dem Gerichtshof kurz Ihren Lebenslauf, Ihre amtliche, wissenschaftliche und pädagogische Tätigkeit.


SCHREIBER: Ich bin 53 Jahre alt, geboren in Berlin, Professor der Medizin. Mein ärztliches Studium habe ich an den Universitäten Berlin, Tübingen und Greifswald absolviert, in Greifswald 1920 die ärztliche Staatsprüfung bestanden, die Approbation erhalten und zum Doktor der Medizin promoviert.

1940 wurde ich Dozent für Hygiene und Bakteriologie an der Universität Berlin.

1942 wurde ich Professor an der Militärärztlichen Akademie.

Aktiver Militärarzt bin ich seit 1921. Ich war in verschiedenen Stellungen als Garnisonsarzt, Divisionsarzt seit 1929, jedoch nur in wissenschaftlicher Tätigkeit als Hygieniker und Bakteriologe. Meine wissenschaftliche und pädagogische Arbeit habe ich an den Universitäten Berlin und Freiburg im Breisgau geleistet. In der Zeit nach 1929 war ich zuerst in Freiburg, nachher Hygieniker beim Wehrkreiskommando in Berlin und schließlich nacheinander während des zweiten Weltkrieges Hygieniker und Bakteriologe im Hauptquartier des Oberkommandos des Heeres, danach Abteilungschef im Oberkommando des Heeres für Wissenschaft und Gesundheitsführung bei der Heeres-Sanitäts-Inspektion und zuletzt Leiter der wissenschaftlichen Abteilung, Lehrgruppe C, der Militärärztlichen Akademie. In dieser Eigenschaft unterstanden mir die wissenschaftlichen Institute der Akademie in Berlin.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Was war Ihr letzter militärischer Rang, und welche Stellung nahmen Sie in der deutschen Armee ein?


SCHREIBER: Ich war zuletzt Generalarzt, also Generalmajor des ärztlichen Dienstes. Meine letzte Stellung war leitender Arzt für den militärischen und zivilen Sektor von Berlin, jedoch nur in den Tagen vom 20. bis zum 30. April

1945.

GENERALMAJOR ALEXANDROW: Wann und unter welchen Umständen gerieten Sie in russische Kriegsgefangenschaft?


[603] SCHREIBER: Am 30. April war ich in einem großen Lazarett im Bunker am Reichstagsgebäude in Berlin. Da der größte Teil der Stadt Berlin bereits in den Händen der russischen Truppen war, gab es für mich keine eigentliche Leitungsarbeit mehr. Infolgedessen habe ich selbst ein großes Kriegslazarett dort aufgemacht und mehrere hundert Verwundete versorgt.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Man wird Ihnen jetzt Ihr Affidavit vom 10. April 1946 vorlegen, das Sie an die Sowjetregierung gerichtet haben. Erinnern Sie sich dieser Erklärung?


SCHREIBER: Ja, das ist der Bericht, den ich...


VORSITZENDER: Einen Augenblick!

General Alexandrow! Der Gerichtshof würde es vorziehen, wenn Sie den Beweis mündlich und nicht durch das Dokument erheben würden. Wenn Sie deshalb dem Zeugen über dessen Inhalt Fragen stellen...


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Herr Vorsitzender! Ich werde das tun.

VORSITZENDER: Gut, Herr General! Der Gerichtshof würde es vorziehen, wenn Sie die Beweisaussagen vom Zeugen mündlich erhalten und das Dokument nicht verwenden.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Ich werde das tun, Herr Vorsitzender, aber ich wollte den Zeugen nach einigen Umständen fragen, die mit dem Dokument in Zusammenhang stehen. Das Wesentliche wird der Zeuge mündlich aussagen.


VORSITZENDER: Gut.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: [zum Zeugen gewandt] Bestätigen Sie die von Ihnen in dem Bericht aufgestellten Tatsachen?


SCHREIBER: Ja, die bestätige ich.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Was hat Sie veranlaßt, diesen Bericht an die Sowjetregierung zu richten?


SCHREIBER: Im zweiten Weltkrieg sind auf deutscher Seite Dinge geschehen, welche auch gegen die alten ewigen Gesetze der ärztlichen Ethik auf das schwerste verstoßen haben. Im Interesse des deutschen Volkes, der ärztlichen Wissenschaft Deutschlands und der Erziehung des Nachwuchses, des ärztlichen Nachwuchses in der Zukunft, halte ich eine gründliche Bereinigung für notwendig. Die Dinge, um die es sich handelt, sind die Vorbereitung des bakteriologischen Krieges mit Erregung der Pest und die Versuche an Menschen.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Warum haben Sie diesen Bericht erst am 10. April 1946 verfaßt und nicht schon vorher?


[604] SCHREIBER: Ich habe zunächst einmal sehen und abwarten müssen, ob nicht vor diesem Forum aus sich selbst heraus die Frage des bakteriologischen Krieges zur Erörterung kommt. Als das nicht geschah, habe ich mich dann im April zu der Erklärung entschlossen.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Demnach konnten Sie in der Gefangenschaft den Prozeß in Nürnberg verfolgen?


SCHREIBER: Ja, und zwar im Gefangenenlager in Zeitungen, die aus Deutschland kamen und dort im Klubzimmer ausgelegt und zugänglich gemacht wurden. Außerdem gab es die in der Sowjetunion gedruckten Nachrichten für Kriegsgefangene, in denen über den Prozeß regelmäßig berichtet wurde.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Herr Zeuge! Teilen Sie uns bitte mit, was Ihnen über die Vorbereitung eines bakteriologischen Krieges durch das deutsche Oberkommando bekannt ist.


SCHREIBER: Im Juli 1943 wurde ich vom Oberkommando der Wehrmacht zu einer geheimen Besprechung einberufen, an der ich als Vertreter der Heeres-Sanitäts-Inspektion teilnahm. Diese Besprechung fand in den Räumen des Allgemeinen Wehrmachtsamtes in Berlin in der Bendlerstraße statt und wurde von dem Chef des Stabes des Allgemeinen Wehrmachtsamtes, einem Oberst, geleitet. Des Namens dieses Obersten erinnere ich mich nicht. Der Oberst erklärte eingangs, daß... durch die Kriegslage bedingt, zur Frage der Anwendung von Bakterien als Waffe im Kriege die obersten Kommandobehörden nunmehr einen anderen Standpunkt einnehmen müßten, als den von der Heeres-Sanitäts-Inspektion bis dahin vertretenen Standpunkt. Infolgedessen habe der Führer Adolf Hitler den Reichsmarschall Hermann Göring mit der Leitung der Durchführung aller Vorbereitungen des bakteriologischen Krieges beauftragt und ihm die dazu notwendigen Vollmachten erteilt. Es wurde bei dieser Besprechung dann eine Arbeitsgemeinschaft »Bakteriologischer Krieg« gegründet. Die Mitglieder dieser Arbeitsgemeinschaft waren im wesentlichen dieselben Herren, die auch an der Besprechung teilnahmen, das heißt, der Ministerialdirektor Professor Schuhmann von der Abteilung Wissenschaft des Heereswaffenamtes; der Ministerialrat Stantin vom Hee reswaffenamt, Abteilung Waffen und Prüfwesen; der Generalveterinär Professor Richter als Vertreter der Heeres-Veterinär-Inspektion; dazu noch ein jüngerer Veterinäroffizier der Heeres-Veterinär-Inspektion; von der Heeres-Sanitäts-Inspektion der Professor Oberstabsarzt Klieve, dieser jedoch nur als Beobachter. Außerdem gehörte zur Arbeitsgemeinschaft ein Stabsoffizier der Luftwaffe als Vertreter des Oberkommandos der Luftwaffe; ein Stabsoffizier des Waffenamtes als Vertreter des Waffenamtes; und auch noch ein namhafter Zoologe, Botaniker. Die Namen all dieser Herren sind mir aber nicht bekannt. Es wurde bei der Geheimbesprechung gesagt, daß ein Institut [605] geschaffen werden soll, in dem Bakterien, Kulturen gezüchtet – in Großem gezüchtet –, in dem aber auch wissenschaftliche Versuche und Experimente zur Prüfung der Einsatzmöglichkeiten durchgeführt werden sollten. Außerdem sollten auch Schädlinge, die gegen Nutztiere und Nutzpflanzen angewendet werden sollen, in dem Institut geprüft und eventuell, wenn sich das als zweckmäßig ergibt, für den Einsatz bereitgestellt werden. Das ist im wesentlichen der Inhalt der Besprechung im Juli 1943 gewesen.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Was geschah dann? Was wissen Sie darüber?


SCHREIBER: Einige Tage später erfuhr ich dann vom Chef des Stabes der Heeres-Sanitäts-Inspektion, Generalarzt Schmidt-Bruecken, der mein direkter Vorgesetzter war, daß Reichsmarschall Göring den stellvertretenden Reichsärzteführer Blome seinerseits nun zum Leiter der Durchführung sämtlicher Arbeiten ernannt und ihm den Auftrag gegeben hätte, das Institut in Posen oder bei Posen schleunigst zu errichten. In diesem Institut in Posen waren dann der Ministerialdirektor Schuhmann tätig, der Ministerialrat Stantin und eine ganze Reihe anderer Ärzte, Wissenschaftler, die ich aber nicht kenne. Ich selbst habe über diese Geheimbesprechung dem Chef des Stabes am gleichen Tage, und dem Heeres-Sanitäts-Inspekteur, Generaloberstabsarzt Professor Handloser einige Tage später – er war an diesem Tage nicht in Berlin – Vortrag gehalten.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Was wissen Sie über die Versuche, die im Zusammenhang mit dem Problem eines Bakterienkrieges gemacht wurden?


SCHREIBER: Es sind Versuche in dem Institut in Posen vorgenommen worden. Einzelheiten darüber weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß vom Flugzeug aus Abspritzversuche mit Bakterien-Emulsion, sogenannte Modellversuche, gemacht wurden, und daß auch sonst an Pflanzenschädlingen experimentiert wurde. Käfer... aber darüber kann ich im einzelnen keine Angaben machen, da ich das selbst nicht miterlebt habe und die Einzelheiten nicht weiß.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Sie haben ausgesagt, daß die erste Geheimkonferenz, die dieser Frage gewidmet war, ein Oberst aus dem Allgemeinen Stab des OKW abhielt. In wessen Namen führte er sie durch?


SCHREIBER: Er führte sie durch im Namen des Generalfeldmarschalls Keitel und des Chefs des Allgemeinen Wehrmachtsamtes, General Reinecke.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Wer hat Sie beauftragt, an dieser Konferenz teilzunehmen?


SCHREIBER: Mich hat der Chef des Stabes, Generalarzt Schmidt-Bruecken, beauftragt.


[606] GENERALMAJOR ALEXANDROW: War das OKH darüber in Kenntnis gesetzt, und wußte es von der Vorbereitung eines bakteriologischen Krieges?


SCHREIBER: Ich nehme an, ja. Denn der General-Oberstabsarzt Handloser, der Sanitätschef, der von mir über den Verlauf und den Ausgang der Besprechung informiert worden war, war ja in seiner Eigenschaft als Heeresarzt, das heißt als oberster Sanitätsoffizier des Heeres, dem Chef des Generalstabes des Feldheeres unmittelbar unterstellt, mußte ihm also nun wieder darüber Vortrag halten.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Was wissen Sie über die Teilnahme des Angeklagten Jodl an der Ausführung dieser Maßnahmen?


SCHREIBER: Über eine Mitarbeit des Generaloberst Jodl ist mir nichts bekannt.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Präzisieren Sie bitte: Womit begründete das OKW die Vorbereitung eines bakteriologischen Krieges?


SCHREIBER: Das ging in gewissem Sinne aus den Worten des Leiters der Geheimbesprechung hervor. Die Niederlage bei Stalingrad, die ja im Gegensatz zu den verlustreichen Kämpfen vor Moskau damals im Winter 1941/1942 einen ganz schweren Schlag für Deutschland bedeutete, muß zu einer neuen Beurteilung der Lage gezwungen und damit zu neuen Entschlüssen geführt haben. Man wird überlegt haben, ob man nicht andere Waffen einsetzen könnte, mit denen man den Ausgang des Krieges doch noch zum Guten wenden konnte.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Wie erklären Sie, daß das deutsche Oberkommando diese Pläne, einen bakteriologischen Krieg zu führen, nicht ausführte?

SCHREIBER: Das Oberkommando führte die Pläne aus folgendem Grunde wohl nicht aus:

Im März 1945 besuchte mich in meinem Geschäftszimmer in der Militärärztlichen Akademie Professor Blome. Er kam aus Posen, war sehr aufgeregt und bat mich, ich möchte doch ihn und seine Leute in den Laboratorien der Sachsenburg unterbringen, damit sie dort ihre Arbeit fortsetzen könnten, denn er sei durch den Vormarsch der Roten Armee aus seinem Institut in Posen herausgedrängt, er habe das Institut fluchtartig verlassen müssen, er habe es nicht einmal mehr sprengen können. Er sei in großer Sorge, daß die Einrichtungen für Menschenversuche, die sich in diesem Institut befanden und als solche kenntlich waren, nun außerordentlich leicht von den Russen erkannt werden würden. Er habe noch versucht, das Institut durch eine Stuka-Bombe vernichten zu lassen. Das sei aber auch nicht mehr möglich gewesen; und nun bat er mich, ich [607] möchte dafür Sorge tragen, daß er mit seinen Pestkulturen, die er gerettet hatte, in der Sachsenburg weiterarbeiten könnte. Ich habe dem Herrn Blome darauf gesagt, daß mir die Sachsenburg seit langem nicht mehr unterstände, daß ich ihm deshalb eine solche Genehmigung nicht geben könnte und habe ihn an den Chef des Wehrmachtssanitätsdienstes, Generaloberstabsarzt Handloser, verwiesen.

Generaloberstabsarzt Handloser hat mich dann am nächsten Tage angerufen und mir gesagt, daß Blome bei ihm sei und einen Befehl des Befehlshabers des Ersatzheeres, Heinrich Himmler, bei sich hätte und daß er auf Grund dieses Befehls leider gezwungen sei, dem Blome eben die Arbeitsplätze in der Sachsenburg zur Verfügung zu stellen. Ich habe davon Kenntnis genommen, ich hatte selbst damit nichts zu tun.

Damit war also Blome aus dem Posener Institut herausgeworfen. Man muß sich die Arbeit eines solchen Instituts und eines solchen Vorhabens doch recht schwierig vorstellen. Es müssen, wenn man die Pest im großen kultivieren will, erst geeignete Laboratorien mit geeigneten Vorsichtsmaßnahmen geschaffen werden. Das Personal muß erst angelernt und eingearbeitet werden, denn der Deutsche, auch der Fachbakteriologe, hat ja mit Pestkulturen keine Erfahrung. Darüber vergeht viel Zeit, und so war also die Angelegenheit Posen nach der Bestimmung, daß das Institut geschaffen werden sollte, doch erst geraume Zeit später zum Anlaufen gekommen. Nun war es wieder vorbei, erhielt einen schweren Schlag. Es sollte nun in der Sachsenburg losgehen. Blome sagte mir bei seinem Besuch auch, daß er ein Ausweichinstitut in Thüringen hätte, daß dieses Ausweichinstitut aber noch nicht fertig sei, daß es erst in einigen Tagen, vielleicht auch Wochen fertig werden würde und daß er bis dahin unterkommen müßte. Dazu kam nun noch, daß, wenn Pest verwendet werden sollte, bei einer so starken großen Nähe der militärischen Operationen vor den Grenzen Deutschlands, wo ja doch schon sogar Truppen der Roten Armee auf deutschem Gebiet standen, selbstverständlich an einen besonderen Schutz der Truppen, aber auch der Zivilbevölkerung gedacht werden mußte. Es mußten also Impfstoffe hergestellt werden. Darüber war wieder Zeit vergangen. Infolge all dieser Verzögerungen ist dann schließlich die Angelegenheit überhaupt nicht mehr zum Tragen gekommen.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Herr Zeuge! Teilen Sie uns bitte mit, was Sie über die ungesetzlichen Versuche, die die deutschen Ärzte mit Menschen durchführten, wissen. Ich bitte Sie, die Aussage hierüber so kurz wie möglich zu geben, da dies im Laufe des Prozesses bereits genügend erörtert worden ist.


SCHREIBER: Es sind mir dienstlich einige. Dinge zur Kenntnis gekommen. Im Jahre 1943 – ich glaube, es, war im Oktober – [608] hatten wir an der Militärärztlichen Akademie eine wissenschaftliche Tagung von qualifizierten Medizinern, sogenannten beratenden Ärzten, und vor der Fachsparte Bakteriologie, der etwa 30 Herren angehörten, hielt ein Obersturmbannführer Dr. Ding einen Vortrag über die Prüfung von Fleckfieber-Impfstoffen. Aus dem Vortrag ging her vor, daß dieser Dr. Ding im Konzentrationslager Buchenwald Häftlinge mit Impfstoffen gegen Fleckfieber schutzgeimpft hatte, daß er dann diese Geimpften nach einiger Zeit – ich weiß nicht mehr, wie lange es war – mit Fleckfieber infizierten Läusen behaftete, sie also künstlich mit Fleckfieber infizierte, und daß er nun an den Erkrankten und dem Ausbleiben der Erkrankung seiner Versuchspersonen Schlußfolgerungen zog aus dem Schutz, den die Impfung den betreffenden Menschen gewährt oder nicht gewährt hatte. Da Impfstoffe verschiedener Qualität geprüft wurden, sind natürlich auch Todesfälle zu beklagen gewesen. Das war...


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Welchen wissenschaftlichen Wert hatten die Versuche dieses Dr. Ding?


SCHREIBER: Sie stellten meines Erachtens überhaupt keinen wissenschaftlichen Wert dar, denn wir hatten ja nun im Laufe des Krieges auf diesen Gebieten empirisch schon sehr viel gewonnen, große Erfahrung gesammelt, wir kannten unsere Impfstoffe ganz genau, und es bedurfte einer solchen Prüfung nicht mehr; und eine ganze Reihe von Impfstoffen, die Ding geprüft hatte, wurden überhaupt nicht mehr angewandt und abgelehnt.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Fahren Sie bitte mit Ihren Ausführungen fort.


SCHREIBER: Eine zweite Angelegenheit, die mir dienstlich zur Kenntnis kam, ist folgende:

Der Leiter der Krankenanstalten in Hohenlychen, der SS-Gruppenführer Professor Gebhardt, ein an sich gottbegnadeter Chirurg, hatte russischen Kriegsgefangenen Schädel operiert, dann die Operierten in bestimmten Abständen getötet, um die pathologischen Veränderungen, das Fortschreiten der Knochenveränderungen auf Grund der Trepanation, Operationsfolgen und so weiter studieren zu können. Und drittens habe ich hier in Nürnberg teilgenommen an einer wissenschaftlichen Tagung, die vom Oberkommando der Luftwaffe durchgeführt wurde.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Wann war das?


SCHREIBER: Die Tagung war im Jahre 1943; ich kann nicht mehr genau sagen, wann sie gewesen ist, ich glaube im Herbst 1943; es kann aber auch im Sommer gewesen sein, und auf dieser Tagung, die hier im Hotel am Bahnhof stattfand, trugen zwei Ärzte, der Dr. Kramer und der Professor Holzlehner, Direktor des Psychologischen Instituts der Universität Kiel, über Versuche vor, die sie [609] im Auftrage des Oberkommandos der Luftwaffe in Dachau an Insassen des Konzentrationslagers durchgeführt hatten. Die Versuche hatten den Zweck, die Unterlagen zu schaffen für die Herstellung eines neuen Schutzanzuges für Flieger im Kanal. Im La Manche waren zahlreiche deutsche Flieger abgeschossen worden, in Seenot geraten und in dem kalten Wasser in kurzer Zeit zu Tode gekommen, noch bevor das Seenotflugzeug zur Stelle sein konnte. Man wollte jetzt also einen Anzug schaffen, der in irgendeiner Form isolierend wirkte, einen Wärmeschutz für den Körper darstellte. Zu diesem Zwecke hat man die Versuchspersonen in Wasser verschiedener niedrigerer Temperaturen – in Eiswasser, in Null-Grad-Wasser, in weit-über-fünf-Grad-Wasser, ich weiß nicht mehr genau wie die Temperaturen alle waren – gebracht und nun durch Messungen festgestellt, wie der Abfall der Körpertemperatur, in welcher Kurve der Abfall der Körpertemperatur vor sich geht und wo der Minustod, wo also die Grenze des Lebens... bei welcher Temperatur die Grenze des Lebens erreicht wird. Und die Versuchspersonen hatten nun auch verschiedene Anzüge an, solche gewöhnlicher Art, wie sie damals üblich waren und auch andere. Ich entsinne mich eines besonderen Anzuges, der einen Schaum entwickelte. Zwischen Anzug und Haut entstand eine Schaumschicht, also eine ruhende Luftschicht, die ja bekanntlich gleich isolierend wirkt, und man konnte mit diesem Schaumanzug nun den Minustod um eine beträchtliche Zeit hinausschieben. Selbstverständlich sind bei diesen Versuchen, die unter Narkose vorgenommen wurden, eine ganze Reihe von Versuchspersonen zugrunde gegangen.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Sagen Sie bitte, in welchem Zusammenhang stand der Angeklagte Göring mit der Durchführung dieser Versuche in Dachau?


SCHREIBER: Der Stabsarzt Kramer sagte eingangs seines Vortrages, daß der Reichsmarschall Göring diese Versuche angeordnet und daß der Reichsführer-SS Heinrich Himmler liebenswürdigerweise die Versuchspersonen dazu zur Verfügung gestellt hätte.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Lassen Sie persönlich die Möglichkeit zu, daß derartige Versuche ohne Wissen des Angeklagten Göring durchgeführt werden konnten?


SCHREIBER: Das kann ich mir nicht vorstellen.


GENERALMAJOR ALEXANDROW: Herr Vorsitzender! Ich habe keine Fragen mehr an den Zeugen.


DR. LATERNSER: Herr Zeuge! Sie sind in einem russischen Gefangenenlager?


SCHREIBER: Jawohl.


DR. LATERNSER: Wo?


SCHREIBER: Bei Moskau.


[610] DR. LATERNSER: Haben Sie irgendein Amt in diesem Gefangenenlager?


SCHREIBER: Nein, ich habe kein Amt in dem Gefangenenlager.


DR. LATERNSER: Wie ist es zu Ihrer Niederschrift am 10. April gekommen? Haben Sie selbst die Initiative dazu ergriffen oder sind Sie dazu aufgefordert worden?


SCHREIBER: Ich habe selbst die Initiative dazu ergriffen, und zwar bin ich schon seinerzeit, als ich hier in Nürnberg den Vortrag von Dr. Kramer und Professor Holzlehner hörte, auf das tiefste erschüttert gewesen über die Verirrung, der ein Teil der deutschen Ärzte offenbar zum Opfer gefallen ist. Infolgedessen... ich habe auch damals schon zu dem Sanitätschef Generaloberstabsarzt Handloser, der meine Meinung im übrigen teilte, darüber gesprochen, und als nun jetzt immer mehr nach den Zeitungen von derartigen Dingen bekannt wurde, habe ich es für meine Pflicht gehalten, und wie ich schon sagte, im Interesse der Zukunft unseres Ärztestandes und unseres Nachwuchses ein für allemal mit diesen Dingen aufzuräumen.

DR. LATERNSER: Was ist Ihnen von derartigen Dingen bekanntgeworden?


SCHREIBER: Was ich vorhin gesagt habe.


DR. LATERNSER: Nein, ich meine damit die Orientierung im Gefangenenlager.


SCHREIBER: Ja, aus den Zeitungen, die wir da kriegten.


DR. LATERNSER: Ja, was haben Sie da entnommen?


SCHREIBER: Ich habe da entnommen, daß Ärzte...


DR. LATERNSER: Einen Augenblick, Herr Zeuge, haben Sie einen Zettel vor sich liegen?


SCHREIBER: Ja.


DR. LATERNSER: Was steht auf diesem Zettel?


SCHREIBER: »Sie können schneller reden.«


DR. LATERNSER: Eine Frage: Ist Ihre Aussage, die Sie heute auf Befragen des Herrn russischen Anklägers gemacht haben, vorbereitet worden?


SCHREIBER: Ich bin vernommen worden gelegentlich, als ich meine Vernehmung machte. Dort steht ja das, was ich sagte, in der Erklärung drin.


DR. LATERNSER: Ich frage Sie, Herr Zeuge, ob Sie vor der heutigen Vernehmung durch den russischen Ankläger orientiert worden sind, worüber Sie vernommen werden, und ist Ihre Aussage festgelegt worden?


[611] SCHREIBER: Nein, meine Aussage ist nicht festgelegt worden; daß ich natürlich über die Frage »bakteriologischer Krieg und Menschenversuche« vernommen werde, das habe ich gewußt.


DR. LATERNSER: Nun zur Niederschrift. Sie haben die Niederschrift vor sich liegen?


SCHREIBER: Jawohl, hier liegt sie.


DR. LATERNSER: Da befindet sich am Ende der Niederschrift ein Vermerk. Würden Sie sich bitte mal die Niederschrift ansehen?


SCHREIBER: Ja.


DR. LATERNSER: Ist dieser Vermerk in Ihrer Gegenwart auf dieses Schriftstück gesetzt worden?


SCHREIBER: Nein, dieses Schriftstück habe ich hier vorhin bekommen, hier im Saal erhalten.


DR. LATERNSER: Ich meine etwas anderes; ist Ihre Unterschrift auf dem Original beglaubigt worden, oder haben Sie das Original zur Absendung gebracht, so daß der Vermerk vor der Absendung nicht darauf gesetzt worden ist, der sich jetzt am Schluß dieses Berichts befindet.


SCHREIBER: Ja, also ich habe meine Niederschrift abgegeben; ein Vermerk wurde in meiner Gegenwart nicht darauf geschrieben.


DR. LATERNSER: Ist Ihnen für diesen Bericht irgendein Vorteil versprochen worden?


SCHREIBER: Nein, mir ist kein Vorteil versprochen worden. Ich lasse mir auch keine Vorteile versprechen.


DR. LATERNSER: Ja, das weiß ich ja nicht, deswegen frage ich ja. Bestand zu irgendeiner Zeit bei dem deutschen Heeres-Sanitätswesen die Befürchtung, daß von der Sowjetunion krankheitserregende Bakterien als Kampfmittel verwendet werden könnten?


SCHREIBER: Bei der Heeres-Sanitäts-Inspektion nicht, aber beim Generalstab. Es wurde vom Generalstab im Jahre 1942 eine Anfrage an die Heeres-Sanitäts-Inspektion gerichtet, ob mit der Anwendung krankheitserregender Bakterien als Waffen von seiten des Gegners im Osten zu rechnen wäre. Ich selbst habe die Antwort, das Gutachten, geschrieben, und zwar auf Grund von Abwehrnachrichten. Von den Meldungen der Armeeärzte der Ostfront und von der Seuchenlage unserer Truppe konnten wir die Befürchtung verneinen. Wir haben damals diese Befürchtung verneint. Das Gutachten wurde im Jahre 1942 – ein umfangreiches Gutachten – von mir angefertigt und von Generaloberstabsarzt Handloser unterschrieben. Ein anderes derartiges Gutachten wurde schon einmal 1939 gefordert, das auch im gleichen Sinn etwa bearbeitet war, damals unterschrieben von Generaloberstabsarzt Waldmann.


[612] DR. LATERNSER: Im Jahre 1943 soll – wie Sie sagen – nach der Niederlage von Stalingrad ein Befehl zur Vorbereitung dieses bakteriologischen Krieges gegen Rußland erlassen sein. Wissen Sie, wer diesen Befehl erteilt hat, diesen Krieg vorzubereiten?


SCHREIBER: Ja, also ich...


DR. LATERNSER: Ich frage Sie: Wissen Sie, wer diesen Befehl erteilt hat? Eine klare Frage – und ich bitte Sie, die Frage ebenso klar zu beantworten.


SCHREIBER: Wer ihn erteilt hat, wurde bei der Besprechung nicht gesagt.


DR. LATERNSER: Also Sie wissen es nicht?


SCHREIBER: Wer ihn erteilt hat, nein.


DR. LATERNSER: Sie kennen deswegen auch nicht... oder kennen Sie den genauen Inhalt des Befehls?

SCHREIBER: Nein, ich habe keinen schriftlichen Befehl bekommen, sondern der Chef des Stabes des Allgemeinen Wehrmachtsamtes hat gesagt, daß der Reichsmarschall vom Führer mit der Vollmacht und so weiter zur Durchführung aller Vorbereitungen ausgestattet sei.


DR. LATERNSER: Also ist das, was Sie darüber gesagt haben, Hörensagen? Sie selbst wissen es nicht?


SCHREIBER: Das ist mir dienstlich bei der Besprechung gesagt worden, selbstverständlich kein Hörensagen, sondern dienstlich. Bei einer dienstlichen Besprechung wurde uns, die wir dort versammelt waren, das eingangs mitgeteilt.


DR. LATERNSER: Als Ihnen das mitgeteilt worden ist in dieser Besprechung, in welcher Eigenschaft waren Sie da?


SCHREIBER: Wie ich schon sagte, als Vertreter der Heeres-Sanitäts-Inspektion.


DR. LATERNSER: Als nun dieser Vorschlag bekanntgegeben worden ist, was haben Sie selbst getan?


SCHREIBER: Ich habe darauf hingewiesen, daß Bakterien eine unzuverlässige und gefährliche Waffe sind. Weiter habe ich nichts getan.


DR. LATERNSER: Da waren Sie doch Fachmann...

SCHREIBER: Ja.


DR. LATERNSER:... denn Sie waren ja seit 1942 Professor geworden?


SCHREIBER: Ja.


DR. LATERNSER: Und Sie haben mehr nicht gesagt?


SCHREIBER: Nein – nein, mehr nicht.


[613] DR. LATERNSER: Warum haben Sie nicht mehr gesagt?


SCHREIBER: Weil wir ganz klar vor eine vollendete Tatsache gestellt wurden.


DR. LATERNSER: Vollendete Tatsache? Sie sagen doch, es sollte erst besprochen werden?


SCHREIBER: Nein, es wurde uns mitgeteilt, nicht besprochen. Es wurde uns mitgeteilt: Das ist entschieden – diese Entscheidung ist gefallen.


DR. LATERNSER: Aber eine vollendete Tatsache ist es doch erst dann, wenn diese Bakterien tatsächlich angewendet werden. Es sollten ja erst die Vorbereitungen dazu begonnen werden; dann hätte doch ein starker Widerspruch eines Professors in dieser hohen Stellung vielleicht – Sie hätten es vielleicht darauf ankommen lassen müssen – etwas ausgemacht und eine Änderung dieser Meinung hervorgerufen?


SCHREIBER: Nach unseren Erfahrungen war gegen eine derartige Entscheidung nichts zu machen, und ich habe sachlich darauf hingewiesen: Gefährliche und unzuverlässige Waffe.


DR. LATERNSER: Sie hätten ja auch aufstehen können und rausgehen oder irgendeinen ganz starken Protest loslassen können in dieser Angelegenheit.


SCHREIBER: Das wäre besser gewesen, wenn ich es getan hätte.


DR. LATERNSER: Gut, das genügt mir zu diesem Punkt. Die Arbeitsgemeinschaft soll einmal im Monat in den Räumen des Allgemeinen Wehrmachtsamtes in Berlin getagt haben. Wissen Sie, wie viele Sitzungen stattgefunden haben?


SCHREIBER: Nein, das kann ich nicht sagen.


DR. LATERNSER: Wissen Sie, wann die letzte Sitzung war?


SCHREIBER: Kann ich auch nicht sagen.


DR. LATERNSER: Haben überhaupt Sitzungen stattgefunden?


SCHREIBER: Ja, es haben Sitzungen stattgefunden.


DR. LATERNSER: Wissen Sie, ob Niederschriften über diese Sitzungen vorhanden sind?


SCHREIBER: Ja, ich nehme mit Sicherheit an. Professor Klieve hat mich von Zeit zu Zeit unterrichtet.


DR. LATERNSER: Gehörten Sie selbst dieser Arbeitsgemeinschaft an?


SCHREIBER: Nein.


DR. LATERNSER: Wann und auf welche Weise hat Professor Blome Vollmacht von Göring erhalten, sich mit der unmittelbaren [614] praktischen Durchführung aller ärztlich-fachlichen Aufgaben der Vorbereitung zu befassen?


SCHREIBER: Unmittelbar nach dieser Besprechung, vielleicht schon am selben Tage oder vorher; denn es wurde damals schon von Blome gesprochen bei der Besprechung, allerdings wurde da gesagt, er sei in Aussicht genommen, während Herr Schmidt-Bruecken mir zwei Tage später sagte: »Blome ist es geworden.«


DR. LATERNSER: Und woher wissen Sie das?


SCHREIBER: Von meinem direkten Vorgesetzten, dem Generalarzt Schmidt-Bruecken.


DR. LATERNSER: Zu welcher Zeit fanden diese Ab sprühversuche von Flugzeugen statt?


SCHREIBER: Das kann ich nicht sagen.


DR. LATERNSER: Was wissen Sie überhaupt über diese Absprühversuche?


SCHREIBER: Folgendes: Es wurden aus Flugzeugen Bakterien-Emulsionen mit nicht pathogenen Bakterien, die man leicht wieder auffinden – leicht kulturell nachweisen kann – über ein Versuchsfeld abgelassen, welches dicht bei dem Institut bei Posen war.


DR. LATERNSER: Haben Sie selbst solche Absprühversuche gesehen?


SCHREIBER: Nein.


DR. LATERNSER: Woher wissen Sie, daß diese Absprühversuche stattgefunden haben?


SCHREIBER: Klieve sprach mit mir über die Absprühversuche und sagte mir, daß man zuerst einen Farbstoff genommen hätte, der etwa spezifisch die gleiche Dichte hat wie eine Bakterien-Emulsion, den Farbstoff im Gelände ausgegossen und dann erst mit Modellen versucht hätte.


DR. LATERNSER: Hat Klieve diese Absprühversuche selbst gesehen?


SCHREIBER: Ich glaube, ja.

DR. LATERNSER: Sie können es also sicher nicht sagen?


SCHREIBER: Ich möchte es als sicher nicht auf meinen Eid nehmen, aber es ist sehr, sehr wahrscheinlich.


DR. LATERNSER: Sie sagten, daß bei dieser Besprechung im Juli 1943 der Oberst im Auftrag von Feldmarschall Keitel und General Reinecke...


SCHREIBER: Ja.


DR. LATERNSER:... tätig gewesen sei. Woher wissen Sie das?


[615] SCHREIBER: Erstens war es das Geschäftszimmer von General Reinecke, in dem die Besprechung stattfand, und der Oberst, der sie leitete, war sein Chef des Stabes, und wir waren befohlen zum Allgemeinen Wehrmachtsamt zur Besprechung um so und so viel Uhr, und der Oberst erwähnte auch den Namen von Generalfeldmarschall Keitel.


DR. LATERNSER: Aber ob es tatsächlich von ihm befohlen worden ist, können Sie ja doch wohl nicht sagen?


SCHREIBER: Nein, ich habe ja den Befehl nicht gelesen.


DR. LATERNSER: Also, Sie wissen es nicht?

SCHREIBER: Nein, also ich weiß nur, was der Oberst uns dienstlich gesagt hat.


DR. LATERNSER: Sie sagten auch, daß Sie annehmen, daß das Oberkommando des Heeres benachrichtigt worden sei, und zwar durch Professor Handloser.


SCHREIBER: Ja.


DR. LATERNSER: Welche Tatsachen können Sie für diese Annahme angeben?


SCHREIBER: Ich persönlich habe dem Generaloberstabsarzt Handloser Vortrag gehalten, und Handloser hat zu mir dann auch seine Meinung über die Sache gesagt. Es war für uns Ärzte das Ganze ja eine ungeheuer gefährliche Angelegenheit; denn wenn das tatsächlich dazu kam und nun eine Pestepidemie auftrat, dann war es ja selbstverständlich, daß diese Epidemie an den Fronten nicht Halt machte, sondern rücksichtslos nun auf unsere Seite ging. Infolgedessen mußten wir eine sehr große Verantwortung tragen.


DR. LATERNSER: Wir sind etwas abgekommen, wir kommen auf diesen Punkt nochmals zurück. Ich wollte von Ihnen wissen, ob Sie Tatsachen dafür angeben können, daß das Oberkommando des Heeres benachrichtigt worden ist?


SCHREIBER: Nein, kann ich nicht angeben.

DR. LATERNSER: Es ist also eine Vermutung?


SCHREIBER: Ja, aber es ist sehr naheliegend...


DR. LATERNSER: Ob das naheliegend ist oder nicht – ich will wissen, ob Sie Tatsachenwissen.


SCHREIBER: Nein, die Tatsache... das kann ich nicht sagen.


DR. LATERNSER: Wissen Sie, wem Professor Handloser unterstand?


SCHREIBER: Er hatte ein dreifaches Unterstellungsverhältnis. Er war in Personalunion Chef des Wehrmachts-Sanitätswesens und unterstand in dieser Eigenschaft Generalfeldmarschall Keitel, OKW; [616] er war Heeres-Sanitäts-Inspekteur und unterstand in dieser Eigenschaft dem Befehlshaber des Ersatzheeres, Generaloberst Fromm, später Reichsführer-SS Himmler beziehungsweise Jüttner, und er war drittens Heeresarzt, das heißt oberster Sanitätsoffizier des Feldheeres und unterstand in dieser Eigenschaft dem Chef des Generalstabs des Feldheeres.


DR. LATERNSER: Sie wurden auch über die Gründe befragt, weshalb dieser bakteriologische Krieg dann später nicht ausgeführt worden ist. Welche Gründe sind Ihnen dafür positiv bekannt?


SCHREIBER: Die Zerstörung, der Verlust des Instituts in Posen, den der Leiter des Instituts, der Professor Blome, bei seinem Besuch mir mitteilte, wobei er seine ganze Not zum Ausdruck brachte.


DR. LATERNSER: Wissen Sie selbst, ob eine militärische Kommandobehörde den positiven Befehl gegeben hat, daß dieser bakteriologische Krieg nicht nur vorzubereiten, sondern auch durchzuführen war?


SCHREIBER: Nein, den Befehl habe ich nicht gesehen.


DR. LATERNSER: Es sind also zunächst reine Vorbereitungshandlungen gewesen?


SCHREIBER: Vorbereitung des bakteriologischen Krieges habe ich gesagt.


DR. LATERNSER: Mit welchem General, und zwar hochgestelltem General, haben Sie selbst über diesen bakteriologischen Krieg gesprochen?


SCHREIBER: Mit keinem General.


DR. LATERNSER: Wissen Sie also aus eigener Kenntnis, ob irgendein hochgestellter General über diese Absichten orientiert war?

Ich frage Sie, ob Sie es wissen.


SCHREIBER: Also ich bin nicht dabeigewesen, daß ein General darüber orientiert wurde.

DR. LATERNSER: Also Sie wissen es nicht?


SCHREIBER: Nein.


DR. LATERNSER: Wissen Sie, wie weit damals gewöhnlich an der Front feindliche und eigene Truppen voneinander entfernt waren?


SCHREIBER: Ja, das war wohl außerordentlich verschieden.


DR. LATERNSER: Was war das Normale?


SCHREIBER: Ich bin kein Frontsoldat und möchte mich auf ein solches Gebiet hier, von dem ich nichts verstehe, nicht begeben.


DR. LATERNSER: Wir wollen mal annehmen, die feindlichen Truppen sind normalerweise 600 bis 1000 Meter von der eigenen [617] Truppe entfernt. Würden Sie als Arzt dann die Anwendung von Pestbakterien für ungefährlich für die eigene Truppe halten?


SCHREIBER: Ich würde die Anwendung von Pestbakterien völlig unabhängig von der Entfernung der Fronten stets für gefährlich halten.


DR. LATERNSER: Wir wollen mal annehmen, daß ein derartig teuflischer Gedanke, Pestbakterien tatsächlich anzuwenden, bestanden hat. Wäre damit nicht eine ungeheuere Gefahr für die eigene Truppe selbst damit verbunden?


SCHREIBER: Ja, nicht nur für die Truppe, sondern für das ganze deutsche Volk, denn die Flüchtlinge, das ging doch alles in der Richtung von Ost nach West... mit rasender Geschwindigkeit wäre ja die Pest nun nach Deutschland hineingetragen worden.


VORSITZENDER: Dr. Laternser! Es hat keinen Zweck, dieselbe Frage immer wieder zu stellen. Der Zeuge hat das schon gesagt.


DR. LATERNSER: [zum Zeugen gewandt] Würde das nicht vielleicht einer der Gründe gewesen sein, weshalb dieser Krieg nicht zur Anwendung gekommen ist?


SCHREIBER: Nach den Äußerungen, die Herr Blome, der Leiter des Instituts und Beauftragter des Reichsmarschalls, mir gegenüber tat, nicht; denn er war ja doch mit aller Energie dahinter, nun seine Kulturen wo anders zu kultivieren.


DR. LATERNSER: Herr Präsident! Darf ich vielleicht um die Pause bitten, um dann nachher noch einige Fragen an den Zeugen zu richten?


VORSITZENDER: Nein, Dr. Laternser! Der Gerichtshof ist der Meinung, daß Sie jetzt abschließen sollten.

DR. LATERNSER: [zum Zeugen gewandt] Sie sagen auf Seite 7 Ihrer schriftlichen Erklärung, daß in Norwegen 400 jugoslawische Kriegsgefangene, weil eine Epidemie unter ihnen ausgebrochen war, kurzerhand erschossen worden seien. Sie sagten, daß es sich dabei um ein Arbeitslager der Waffen-SS gehandelt habe...


VORSITZENDER: Fahren Sie fort.


DR. LATERNSER: Ihnen ist dieser Vorfall gemeldet worden?


SCHREIBER: Jawohl.


DR. LATERNSER: Haben Sie diesen Vorfall Ihrem Vorgesetzten gemeldet?


SCHREIBER: Jawohl.


DR. LATERNSER: Was wurde veranlaßt?


SCHREIBER: Es wurde sofort ein Schreiben an den Reichsarzt-SS und Polizei gerichtet, Professor Grawitz, und die Angelegenheit [618] also auf diesem dienstlichen Wege der Stelle gemeldet, die die Aufsichtsbehörde für dieses Lager war.


DR. LATERNSER: Wissen Sie, ob gerichtlich eingeschritten worden ist?


SCHREIBER: Die Vorgänge und Verfahren der SS-Gerichte kenne ich nicht; das weiß ich nicht.


DR. LATERNSER: Sie schreiben dann weiter auf Seite 7:

»Besonders grausam behandelte das Oberkommando der Wehrmacht die russischen Kriegsgefangenen.«


SCHREIBER: Ja.

DR. LATERNSER: Sie schreiben dann weiter, daß die russischen Kriegsgefangenen unzureichend ernährt worden waren.


SCHREIBER: Ja.


DR. LATERNSER: Ich frage Sie nun: Wann wurden diese Feststellungen der unzureichenden Ernährung getroffen? Unmittelbar nach der Gefangennahme in den Auffanglagern hinter der Front oder in Lagern in Deutschland?


SCHREIBER: Ich spreche nicht von den Vorgängen unmittelbar nach den Kampfhandlungen in den Auffanglagern, denn da hat auch bei bestem Willen der Staat, der die Gefangenen gemacht hat, es nicht immer in der Hand, für sie so zu sorgen, wie es notwendig wäre. Ich spreche von einer späteren Periode, als die Gefangenen sich schon wochenlang in dem Gewahrsam der Deutschen befanden, und ich spreche hier von Lagern, die sich im Baltikum befanden. Die waren nicht nach Deutschland gekommen, sondern waren noch da. Die russischen Gefangenen sind ja erst später nach Deutschland gekommen, und die Verhältnisse in diesen Lagern waren außerordentlich trübe.


DR. LATERNSER: Waren diese Mißstände auf bösen Willen zurückzuführen?


SCHREIBER: Ich nehme an, daß diese Mißstände zurückzuführen sind auf grundsätzliche Weltanschauungsfragen, wie sie die Lehre...


VORSITZENDER: Dr. Laternser! Der Gerichtshof hat nacht zugelassen, daß die Aussage vorgelegt wird, und Sie verhören ihn jetzt über ein Thema, das vollständig verschieden ist von den Themen, über die der Zeuge Aussagen gemacht hat.


DR. LATERNSER: Diese Aussagen befinden sich in der schriftlichen Erklärung des Zeugen.


VORSITZENDER: Jawohl! Sie müssen aber doch gehört haben, daß wir die Vorlage der schriftlichen Erklärung als Beweisstück nicht zugelassen haben. Wir verlangten, daß der Zeuge mündlich [619] befragt werden soll. Dies ist geschehen, und die schriftliche Aussage liegt noch nicht als Beweismaterial vor.


DR. LATERNSER: [zum Zeugen gewandt] Ich habe dann noch eine Frage, Herr Zeuge! Haben Sie all Ihre Bedenken gegen diesen bakteriologischen Krieg einmal schriftlich niedergelegt?


SCHREIBER: Ja, in dem Gutachten, von dem ich vorhin sprach.


DR. LATERNSER: Wann war dieses Gutachten abgegeben worden durch Sie?


SCHREIBER: 1942, aber – darf ich jetzt...


DR. LATERNSER: Es genügt mir. Nun hat aber diese Besprechung im Juli 1943 stattgefunden. Haben Sie danach Ihre abweichende Meinung zu diesem Punkt schriftlich niedergelegt?


SCHREIBER: Nein, da habe ich nichts schriftlich niedergelegt.


DR. LATERNSER: Hat Ihr Vorgesetzter nach Meldung durch Sie seine Bedenken schriftlich niedergelegt?


SCHREIBER: Das ist mir nicht bekannt, denn der Generaloberstabsarzt Handloser war ja im Hauptquartier und ich in Berlin. Er kam alle Wochen, alle 14 Tage zu uns, dann trugen wir ihm vor, und dann fuhr er ins Hauptquartier zurück.


DR. LATERNSER: Ich habe keine weiteren Fragen.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird sich jetzt vertagen.


[Pause von 10 Minuten.]


VORSITZENDER: Bevor wir fortfahren, will ich drei Anträge behandeln.

Erstens den Antrag von Dr. Kaufmann vom 20. August 1946 – er scheint ursprünglich vom 15. August datiert zu sein. Diesem Antrag wird stattgegeben; ein Affidavit des Zeugen Panzinger darf vorgelegt werden, vorausgesetzt, daß es vor dem Ende des Prozesses eingereicht wird.

Der Antrag Dr. Pelckmanns, ursprünglich datiert vom 22. August 1946, wird abgelehnt.

Die zwei Anträge von Dr. Dix vom 20. und 21. August werden beide abgelehnt.

Wünscht die Verteidigung noch ein weiteres Kreuzverhör vorzunehmen?

Wünscht die Sowjetische Anklagebehörde den Zeugen nochmals zu verhören?


OBERST POKROWSKY: Die Befragung durch die Sowjetische Anklagebehörde ist beendet, Herr Vorsitzender! Wir haben keine Fragen mehr zu stellen.


[620] VORSITZENDER: Der Zeuge kann sich dann zurückziehen.


[Der Zeuge verläßt den Zeugenstand.]


Nun, Herr Dr. Pelckmann!

RA. PELCKMANN: Zunächst möchte ich das Hohe Gericht auf zwei Punkte mir erlauben hinzuweisen. Ich habe mit Brief vom 23. August angezeigt, daß mein Plädoyer nicht übersetzt werden kann, und zweitens möchte ich nur in Erinnerung zurückrufen, daß die Antworten auf meine...

VORSITZENDER: Herr Dr. Pelckmann! 60 Seiten sind bereits übersetzt worden, soviel ich höre.


RA. PELCKMANN: Ja. Die französische Übersetzung liegt noch gar nicht vor. Ferner erlaube ich mir, das Gericht noch darauf hinzuweisen, daß die Antworten auf den Fragebogen, den ich an den Zeugen Rauschning gesandt habe, offenbar auch noch nicht beim Gericht eingegangen sind.

Euer Lordschaft, meine Herren Richter!

Als am 27. Februar 1933 der Deutsche Reichstag in Flammen aufging, sollte nach dem Willen der Nazis aus diesen Flammen das tausendjährige Dritte Reich geboren werden. Als wenig mehr als zwölf Jahre später ganz Deutschland in ein Meer von Flammen gehüllt war, da sank dieses Reich in Schutt und Trümmer dahin. Diesen beiden welthistorischen Ereignissen, folgten Prozesse. Ihr Sinn war und ist, die Verantwortlichen für diese beiden Verbrechen der Menschheitsgeschichte festzustellen.

Das deutsche Reichsgericht hat diese Aufgabe nicht gelöst. Zwar hat es mit anerkennenswertem Mut – wie Herr Jackson sagte – die angeklagten Kommunisten freigesprochen, aber die wahren Schuldigen, die das unglückliche Werkzeug van der Lubbe gedungen und mit ihm zusammen die Tat ausgeführt haben, hat das Reichsgericht nicht ermittelt und erst recht nicht verurteilt. So ist die Wahrheit, unter dem Druck der öffentlichen Meinung geknebelt, von der Nazi-Regierung verschwiegen worden. Dem formellen Recht war Genüge getan, der Täter verurteilt, aber die Wahrheit, diese göttliche Macht und höchste menschliche Erkenntnis blieb verborgen. Sie allein hätte das deutsche Volk damals sehend machen können, hätte es zurückhalten können vor dem Marsch in den Abgrund.

Heute nun steht dieses Hohe Gericht – das Gericht der Welt – vor der Aufgabe zu urteilen: Wer war schuld an dem Weltenbrand, an der Zerstörung fremder Länder und schließlich an dem infernalischen Untergang unseres deutschen Vaterlandes? Und wieder droht auch diesem Gericht die Gefahr, daß es nur ein formelles Urteil findet, das Schuldige feststellt, daß ihm die tiefste und letzte Wahrheit verborgen bleibt unter dem Druck einer Suggestion, [621] die die nach den Gesetzen der Psychologie und der Psychoanalyse natürliche Folge des jahrelangen Kampfes zwischen Hitler-Regime und den freien Völkern der Welt ist.

Wird dieses Gericht hier nun in der Lage sein, mit seinem Urteil Deutschland und die ganze Welt vor einem Abgrund zu bewahren, der tiefer und schauriger ist als alles zuvor Erlebte?

Dieses Verfahren ist ein Strafprozeß, zwar der größte nach der Zahl der Angeklagten, der Betroffenen und vor allem der bedeutendste, den die Rechtsgeschichte bisher bot – doch in all seinen Merkmalen doch ein typischer Strafprozeß. So richtet er sich also auch nach dem das Statut beherrschenden und in öffentlicher Verhandlung von der Anklagebehörde bestätigten Prinzip anglo-amerikanischen Rechtes, daß die Anklage nur das zusammen vorzutragen habe, was die Beschuldigten belastet – nie jedoch, was sie entlasten könnte. In diesem Bestreben wird die Anklage wirksam unterstützt durch die Massensuggestion, der alle Zeugen der größten »causes célèbres« der Weltgeschichte unterliegen, aus den Gründen, die internationale Forscher, nicht zuletzt Le Bon, eingehend dargelegt haben. Ich bekenne offen und freudig, daß ich mir bei der Führung meiner Verteidigung das entsprechende Prinzip der Schwarz-Weiß-Malerei nicht zu eigen gemacht habe. Auch ich unterlag der Gefahr der Massensuggestion durch die Hunderttausende von Stimmen, die mich aus den Internierungslagern erreichten, sich hineinsteigernd in das Gefühl der Verteidigung um jeden Preis – unter sich den Boden der Tatsachen, wie sie wirklich waren, verlierend. Allein schon diese Wirkung zeigt die gefährliche Reaktion, die eine solche Massenanklage auslöst und ihre politischen Auswirkungen.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß bei solcher Schwarz-Weiß-Malerei das Hohe Gericht über die Wahrheit getäuscht worden wäre. Daran mitzuwirken habe ich nicht als meine Aufgabe betrachtet, obwohl das Prinzip dieses Statuts mir dazu das Recht gegeben hätte. In einem solchen Prozeß, in dem es um die Grundlagen der Menschlichkeit, um das Schicksal des deutschen Volkes und der Welt in aller Zukunft geht, kann es nicht der Geschicklichkeit in der Darstellung der konträren Auffassungen von Anklage und Verteidigung überlassen bleiben, ob das Gericht meint, die Wahrheit liege in der Mitte. Es konnte nicht die Aufgabe der Verteidigung sein, taktische Erfolge zu erzielen durch Herausstellen des einen und Unterdrückung eines anderen Komplexes, – nein, unbestechlich muß Klarheit geschaffen werden, eine Clarté, wie sie der Wahrheitsfanatiker Henry Barbusse forderte. So habe ich meine Zeugen ausgewählt. Ich erinnere Sie besonders an Reinecke und Morgen, deren Aussagen ich noch würdigen werde.

Ich habe mich bemüht, dem Gericht das Eindringen in die historische Wahrheit zu ermöglichen.

[622] Dabei schwebte mir das einfache und deshalb schöne deutsche Wort des Mittelalters vor: »Geschehenes hat keinen Umkehr.«

Mit ihm soll nicht nur die Tragik allen Geschehens durch die Unmöglichkeit der Wiederkehr gekennzeichnet werden, – noch ein anderer tiefer Sinn ist in diesem Wort:

Geschehenes verträgt und duldet keine Umkehr, das heißt, keine Tat kann richtig begriffen und beurteilt werden, wenn man sie »ex post« betrachtet. Nein, man muß sie so sehen, wie sie sich zur Zeit der Ausführung vom Beginn bis zum Ende darstellte.

Alle Umstände zur Zeit der Tat und die Person des Täters, auch seine psychologische Situation zur Zeit der Tat müssen geprüft werden. Die Richter müssen sich auch in die Persönlichkeit des Täters hineinleben, um seine Schuld ermessen zu können.

Das gilt auch für diesen Prozeß. Es richten Nationen über eine andere Nation, es richtet die Völkerfamilie über ein Volk, das schweres Leid über die Welt gebracht hat, über einen Staat, der Verbrechen gegen die Menschheit begangen hat. Riesige Gemeinschaften, große Teile des deutschen Volkes werden angeklagt in den Organisationen, und deshalb müssen sich die Richter über diese Millionen von Menschen auch hineinversetzen in das Leben, das Wissen, Hoffen und Glauben dieser Massen zu einem Zeitpunkt, als die Ideen und Taten des Nationalsozialismus wirkten und seine verbrecherischen Entartungen begannen. Die Richter der vier größten und für die Entscheidung dieses Weltkrieges wichtigsten Nationen der ganzen Welt müssen also versuchen festzustellen – wie bei einer normalen Geschworenensache –: »Wie kam es zu der Tat? In welcher Situation befand sich damals der Angeklagte? Welche Überlegungen, welche Gefühle trieben ihn zu der Tat? Hatte er überhaupt die Absicht, etwas Gesetzwidriges zu tun? Wurde er vielleicht selber getäuscht? Konnte er überhaupt das Rechtswidrige seines Tuns erkennen, und falls er es allmählich erkannte – war er da überhaupt in der Lage, sein Handeln entsprechend dieser Einsicht zu bestimmen?« Es ist ungeheuer schwer schon für den Richter eines normalen Strafverfahrens, hier sich von der Betrachtung ex post zu lösen und die Tatumstände, das Tatmilieu und die Täterpersönlichkeit richtig zu würdigen. Welch ungeheure Anforderung an den Gerechtigkeitssinn des Richters würde gestellt werden, wenn er nun gar über einen Menschen urteilen müßte, der sich gegen ein Mitglied gerade seiner, des Richters Familie, vergangen hätte. Jede der vier hier zu Gericht sitzenden Nationen hat gewaltige Schäden durch die Verbrechen des Nazi-Regimes erlitten, für welche nun die Organisationen mit ihren Millionen Mitgliedern verantwortlich gemacht werden.

Aber ich gebe mich der Hoffnung hin – wie Herr Jackson in seiner Anklagerede ausgeführt hat –, daß Ihnen, meine Herren [623] Richter, das titanische Werk gelingt, frei zu sein von Gefühlen der Rache und Sie das Recht und nur das Recht finden wollen. Können Sie aber als Nichtdeutsche, die nicht das geschichtlich einmalige Phänomen einer Massenpsychose und einer Tyrannei kontinentalen Ausmaßes selbst miterlebt haben, überhaupt begreifen und sich erklären, wie Derartiges möglich war? Können Sie sich vorstellen, daß Verbrechen von der Masse der Mitglieder nicht begangen, von ihnen bewußt nicht gefordert wurden, ja ihnen nicht einmal bekannt waren?

Wie das Statut mit Recht sagt, und wie das Gericht es auch bisher gehandhabt hat, ist es nicht Aufgabe dieses Forums festzustellen, welche inneren Gründe – ob berechtigt oder unberechtigt – zum Kriege geführt haben. Entscheidend ist nur die Frage: War es ein Angriffskrieg? Trotzdem ist schon bei den Einzelangeklagten der Beweis zugelassen worden, wie die geschichtliche Entwicklung innerlich seit dem Weltkrieg zu dem neuen Völkermord führte. Mit weit größerer Berechtigung muß der historische Hintergrund, die politische Gesamtsituation in und um Deutschland betrachtet werden, wenn man die Schuld, das Verbrechen etwa der Organisationen feststellen will – gerade in ihren Anfängen. Die Masse hat keine klaren Gedanken oder Gefühle, sie wird bewegt von dumpfen Empfindungen, Emanationen eines Phänomens, das die Forscher als »Massenseele« bezeichnen. Sie wird gebildet von dem, was ihre Führer ihr darstellen und versprechen.

Einer der Herren Anklagevertreter hat in seiner Schlußansprache gegen die Einzelangeklagten vorgetragen, daß die Schuld der Einzelangeklagten so groß und die Auswirkung ihrer Taten so verhängnisvoll werden konnte gerade durch die geschickte Benutzung der Massen, durch die Verführung der Volksseele, durch den schillernden Zauber der Schlagworte und das Versprechen einer paradiesischen Entwicklung. Liegt nicht in diesem Worte die beste Anerkennung der Tatsache, daß die Masse der Mitglieder das Gute, das Nichtverbrecherische wollte?

Die Grundsätze der SS stimmten in ihren ersten Anfängen – schon vor 1933 – mit dem Programm der NSDAP überein. Nicht erst vor diesem Tribunal ist die Frage erörtert worden, ob dieses Programm und die Art und Weise seiner Verwirklichung verbrecherisch sei. Diese Frage hat die Öffentlichkeit, die Behörden der deutschen Republik und die besten Köpfe und Herzen unseres Volkes viele Jahre vor 1933 bewegt. Waren es verbrecherische Motive, wenn die Massen einem Politiker folgten, der ihnen, nicht leichte Raubzüge innerhalb und außerhalb unseres Vaterlandes versprach, sondern Arbeit und Brot, wenn er sie gegenüber dem Durcheinander eines durch 41 Parteien verhöhnten Parlamentarismus, gegenüber einer sich durch Schwäche und halbe Maßnahmen selbstmordenden Demokratie zur nationalen Sammlung aufrief?

[624] Es ist die tiefe Tragik des deutschen Volkes, daß es das Bewußtsein, bei der Verteilung der Güter der Welt zu spät gekommen zu sein, nicht dahin sublimierte, seine geachtete Stellung in der Welt des Geistes und der angewandten Wissenschaften zu sichern und zu verbessern. Der Deutsche ist ein Romantiker – gerade in der Politik. Diese Romantik kreist um nebelhafte Anschauungen von Schicksal und Verhängnis und um den Traum einstiger Macht im »Heiligen Römischen Reich deutscher Nation« vor tausend Jahren. Dieser Schicksalsglaube ist in einer absolut falschen Darstellung der deutschen Geschichte seit 100 Jahren so gefördert worden, daß es nur eines geschickten Zauberers bedurfte, um unter Unterdrückung der wahren Hintergründe wiederum Millionen deutscher Jugend in Tod und Verderben zu schicken.

Aber so weit war dieser große Verführer Hitler noch nicht.

Die Friedensbeteuerungen gegenüber den Gegnern im Innern waren zunächst wichtiger als die gegenüber dem Ausland, das damals noch gar keine Rolle spielte. Das innerpolitische Leben hatte sich durch die Schuld aller großen Parteien und ihrer Parteiarmeen und durch die Schwäche der republikanischen Regierung immer stärker in einen akuten Kriegszustand auf der Straße gewandelt. Trotz alledem wurden die geheimen Parlamentswahlen selbst ohne Terror und Fälschung durchgeführt. Der Bürger konnte in ihnen ein ständiges Zunehmen der extremen Parteien rechts und links beobachten. In seinen Augen konnte es kein Verbrechen sein, wenn er der extremen rechten Partei, der NSDAP beitrat, auch nicht ihren Schutzstaffeln, die im Gegensatz zu der die Straße eher beherrschenden SA den Schutz der Redner in den Guerillakriegen der damaligen politischen Gegner zu übernehmen hatten.

Jeder Deutsche, der die damalige Zeit erlebt hat, weiß, welche Spannung durch die Frage ausgelöst war, ob die NSDAP und ihre Gliederungen hochverräterische Unternehmungen planten, also den gewaltsamen Umsturz der republikanischen Regierung. In den frühesten Anfängen der Partei im Jahre 1923 hatte Hitler einen Putsch unternommen, der mißglückte. Nun propagierte er seit Jahren »Legalität«. Als im September 1930 drei junge Offiziere des Einhunderttausend-Mann-Heeres vor dem höchsten deutschen Gericht unter der Anklage des Hochverrates standen, weil sie nationalsozialistische Zellen in der Armee gründen wollten, schwor Hitler als Zeuge, daß seine Revolution eine geistige sei und er die Macht auf legalem Wege erstrebe. Mit riesigen Schlagzeilen ging diese Meldung durch alle Zeitungen und in die Köpfe der Gegner und Anhänger Hitlers. Zu den wenigen, die diesen Schwur für einen Meineid hielten, gehörte der damalige Oberregierungsrat im [625] Preußischen Innenministerium, das jetzige Mitglied der Amerikanischen Anklage, Professor Dr. Kempner. Er erstattete um dieselbe Zeit dem Ministerium einen eingehenden Bericht, der mit der Feststellung schließt, die NSDAP sei des Hochverrats schuldig. Aber auch dieser Wahrheitsforscher muß in seiner Darstellung über die damalige Lage, die er in Band XIII, Nummer 2, vom Juni 1945 (Seite 120) der »Research Studies of the State College of Washington« schildert, er muß zugeben, daß sogar Ministerialbeamte der Deutschen Republik damals – 1930 – nicht geglaubt haben, daß Hitler ein Lügner sei. So wirkte schon damals die geschickte Propaganda Hitlers auf selbst so kritische gegnerische Kreise. Ist es zu verwundern, wenn die Masse der SS ihm glaubte? Es waren damals übrigens nur wenige Tausend. Ja, es ging noch weiter. Auf eine Anzeige Dr. Kempners im Jahre 1930 erging nach eingehenden Untersuchungen des höchsten deutschen Staatsanwaltes, des Oberreichsanwalts beim Reichsgericht, im August 1932 der Bescheid, daß kein Grund vorhanden sei, die NSDAP zu verfolgen oder aufzulösen. (Vergleiche Kempners Schrift, Seite 133.)

Welche Wirkung mußten solche Äußerungen höchster republikanischer Stellen auf die Masse haben? Die Wirkungen drückten sich in den ständig wachsenden Wahlziffern der Nazis aus.

Das Frappanteste aber ist nun – und das ist so entscheidend für die innere Haltung von Tausenden, die gerade nach dem 30. Januar 1933 zur SS kamen –, daß Hitler tatsächlich seinen Eid nicht gebrochen hat. So recht auch Dr. Kempner mit seinen Prophezeiungen für die weitere Entwicklung in großen Zügen behalten sollte – das hat man erst später erkannt –, so sehr hat er sich doch selbst zunächst mit seinen Vorhersagen getäuscht. Die Nazi-Partei ist tatsächlich legal geblieben, hat sich nicht durch einen Staatsstreich der Regierungsgewalt bemächtigt, sondern Hitler ist von Hindenburg nach den Spielregeln des Parlamentarismus mit der Kabinettsbildung beauftragt worden.

Was werden damals die Ministerialbeamten gesagt haben, die dem pessimistischen Dr. Kempner nicht glauben wollten? Werden sie nicht triumphiert haben, daß sie Recht behalten hatten? War ihr Gewissen nicht beruhigt? Dieser Hitler war ja gar nicht so schlimm, wie man sagt. Nun in die Regierung gekommen, würde er sich auch mäßigen – wie das jede Opposition tat, wenn sie die Regierungsgewalt hatte. Und war nicht auch damals die große Masse der Hitler-Wähler stolz darauf, daß sie die Macht friedlich errungen hatte nach einem Wahlkampf, dessen Propagandamaschine fast amerikanische Dimensionen angenommen hatte?

Schon für diesen Zeitpunkt drängt sich uns eine Frage auf: Konnte die Masse der Hitler-Anhänger, die Masse der SS-Männer [626] damals erkennen, daß der wohl klarste Programmpunkt der Partei, der Antisemitismus, etwas Verbrecherisches enthielt?

Der Antisemitismus ist nichts Neues; er ist auch, wenn man die sogenannten geistigen Grundlagen studiert, nichts typisch Deutsches. Er beruht nach meiner Überzeugung auf dem Minderwertigkeitskomplex des Massenmenschen, auf seinem Mißtrauen gegenüber der Überlegenheit des Juden auf gewissen Intelligenzgebieten. Nicht neu ist auch die Ablehnung des Antisemitismus durch alle zivilisierten Völker und Menschen, die in den Worten des Papstes gipfelt:

»Wer einen Unterschied zwischen Juden und anderen Menschen macht, glaubt nicht an Gott und befindet sich in Widerstreit zu den göttlichen Geboten.«

Aber das Rätsel, an dem wir bei der Frage nach dem Verbrechen nicht vorübergehen können, ist, daß es überhaupt ein Judenproblem gibt, das seinen Ursprung nicht in der Verschiedenartigkeit der Religionen, sondern der Rasse hat. Ja, das Rätsel ist, daß es überhaupt noch Rassenprobleme gibt, die bis heute in unserer modernen und so klein gewordenen Welt zu dauernden Konflikten führen. Ist es nicht rätselhaft, daß gerade der polnische Kardinal Hlond, der durch alle Schrecken des Nazi-Regimes gegangen ist, erst vor wenigen Wochen den polnischen Antisemitismus unter Hinweis auf die führende Rolle der Juden in der polnischen Regierung in gewissem Maße zu rechtfertigen versuchte? Ist es nicht rätselhaft, daß noch heute, nach den grausigen Erfahrungen des Hitler-Regimes, die Araber sich gegen die Juden in ihrem angestammten Heimatland Palästina und besonders gegen ihre Zuwanderung wenden und es zu gegenseitigen Gewalttaten kommt? So ist es in Europa. Aber Rassenprobleme – nicht nur antisemitische – gibt es heute auch noch in der ganzen übrigen Welt.

Sie alle schreien nach einer gerechten Lösung, und sie kann nur in der Gleichberechtigung aller Rassen liegen. Einige fortschrittliche Völker haben den Antisemitismus unter Strafe gestellt. Aber ist es verbrecherisch, wenn die Gesellschaft, der Staat, unter dem Einfluß jener Wahnideen damals Lösungen versuchte, die die Vermischung der Rassen und eine Einflußnahme auf das öffentliche Leben verbieten? Auch hier muß vieles aus der Zeit erklärt werden. Das schlechte Beispiel einiger jüdischer Einwanderer aus Osteuropa mit ihren berüchtigt gewordenen Betrügern europäischen Ausmaßes, wie Barmat und Kutisker, stand gegenüber dem des großen deutschen Juden und unvergeßlichen Staatsmannes Walter Rathenau, der schon lange seine Rassegenossen zur Besinnung rief. Diese Situation bot die Grundlage für eine kollektive Stimmung, für eine mit Hilfe der äußersten wirtschaftlichen Not ausgenutzten Massenhypnose gegen Juden, wie sie immer wieder im Laufe großer politischer [627] und sozialer Umwälzungen auftritt und wie sie gerade jetzt durch diesen vorliegenden Prozeß wiederum im Begriff ist, neues Kollektivunrecht gegenüber bestimmten Menschenkategorien zu schaffen. Die Forderung der gesetzlichen Durchführung dieses antisemitischen Prinzips für sich kann nicht verbrecherisch gewesen sein, denn es schien ja so, als ob sie eine Anwendung dieses Prinzips ohne Haß und persönliche Rache von Staats wegen verbürgte. Es war zum Teil die Übertragung und anachronistische Verschärfung des amerikanischen gesetzlichen Prinzips der...

VORSITZENDER: Herr Dr. Pelckmann! Ich möchte nicht unterbrechen, aber Sie dürfen nicht außer acht lassen, daß Sie nur einen halben Tag für Ihre Rede zugebilligt erhalten haben. Ich bemerke, daß Ihr Plädoyer 100 Seiten lang sein soll, und ich unterbreche Sie schon jetzt, um Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie sich jetzt mit allgemeinen Dingen beschäftigen, auf welche unsere Aufmerksamkeit während dieses ganzen Verfahrens gelenkt worden ist. Es liegt wohl in Ihrem Interesse, lieber diesen Teil Ihrer Rede zu kürzen als andere Teile, Ich unterbreche Sie nur aus diesem Grunde.

RA. PELCKMANN: Euer Lordschaft! Ich habe Abkürzungen schon vorgenommen; dadurch wird sich die Rede verkürzen.

Die Forderung der gesetzlichen Durchführung dieses antisemitischen Prinzips an und für sich kann nicht verbrecherisch gewesen sein oder nicht verbrecherisch erschienen sein, denn es schien ja so, als ob sie eine Anwendung dieses Prinzips ohne Haß und persönliche Rache von Staats wegen verbürgte. Daß Hitlers ureigenste Vorstellung dabei in Wahrheit Haß war – sein vertrautester Interpret Rauschning verrät es in seinem Buch »Hitler speaks«, Seite 91 –, blieb der Masse verborgen. Verborgen blieb dieser Haß, der dem Minderwertigkeitsgefühl desjenigen entsprang, der die Überlegenheit bohrenden Verstandes über dunkle Impulse erkennt. Denn gerade dem SS-Mann wurde der Antisemitismus nur als Kehrseite der in den Vordergrund gestellten Rasseneugenik dargestellt. Unter geschickter Benutzung der einem Nichteuropäer nur schwer verständlichen Rassensentiments historischen Ursprungs, die sich an Begriffe wie »Ordensprinzip«, »Männerbünde«, »Sippengemeinschaft« knüpfen – ich verweise auf die Dokumente Nummer SS-1 bis 3 mit all ihrer versponnenen Romantik in modernem Gewande – beabsichtigte Hitler, in der SS für die Hochzüchtung des eigenen Volkes einen Stand von Männern heranzuziehen, der durch Haltung und Selbstzucht eine »Elite« darstellen sollte. Diese Tendenz, so fern sie auch dem modernen Europäer oder Kosmopoliten liegt, ist wohl nicht als verbrecherisch anzusehen – ich verweise auf gelegentliche Fragen des Gerichts – und schloß von selbst eine antisemitische Tendenz von der Prägung des »Stürmer« [628] oder selbst der weniger vulgären SA aus. Es ist auch symptomatisch, daß die Anklage aus der Zeit vor 1933 keinen einzigen Fall einer Brutalität, begangen durch SS gegenüber Juden, behauptet und belegt hat. Die sogenannten »Leithefte«, die Monatsschrift der SS, und die Aussage des Zeugen Schwalm über die Schulung der SS vor der Kommission machen diese zurückhaltende Stellung in der Judenfrage klar. Sie wird späterhin bestätigt durch die Nichtbeteiligung der SS am Judenpogrom 1938, die ich im anderen Zusammenhang beschreiben werde. Ich werde auch noch darlegen, wie die im Laufe des Krieges begangenen Greuel an Juden und Massentötungen aus dieser ursprünglichen Tendenz der SS herausfallen und auf Grund direkter Geheimbefehle Hitlers und Himmlers durch verbrecherische Einzelpersonen oder Gruppen möglich und vor der Masse der SS geheimgehalten wurden.

Aus der Fülle der Punkte des Parteiprogramms, die die SS natürlich akzeptierte, möchte ich nur noch die der Beseitigung des Versailler Vertrags und des Anspruchs auf Lebensraum herausgreifen, die ja entscheidend sein könnten für die spätere angebliche Vorbereitung des Angriffskrieges. Mit keinem Wort sagt die Anklage, wie in einem so frühen Zeitpunkt die Masse der Mitglieder der SS annehmen konnte, diese Ansprüche sollten verbrecherisch, das heißt durch einen Angriffskrieg erreicht werden.

Ich hatte gezeigt, wie Hitler gerade durch seine legale Machtergreifung das Vertrauen nicht nur seiner SS-Männer ihm gegenüber stärkte, sondern auch das Vertrauen von solchen neuen Männern erwarb, die gerade auf einen verbrecherischen Weg sich mit ihm nie begeben hätten. Lesen Sie bitte, meine Herren Richter, die Aussage des Staatssekretärs Grauert vor der Kommission, um zu sehen, wie ein Mann mit besten Absichten in die Verwaltung Hitlers und in die SS eintrat, und wie er erst aus der Verwaltung 1936 ausschied, als er als erfahrener Verwaltungsjurist bemerkte, daß die Aufhebung des uralten Grundsatzes der Trennung der Gewalten des Staatswesens...

VORSITZENDER: Wollen Sie bitte den Namen buchstabieren?


RA. PELCKMANN: G-r-a-u-e-r-t.


VORSITZENDER: Gut.


RA. PELCKMANN: Was er als Fachmann erkannte – erst 1936 – blieb aber der Masse verborgen. Lesen Sie bitte hierfür auch die Zusammenfassung der rund 136000 Affidavits, aus denen sich erklärt, warum der Mitgliederbestand der Allgemeinen SS von 50000 am 30. Januar 1933 in wenigen Monaten auf zirka 300000 anschwoll.

Das ganz große Spiel Hitlers um die Macht und mit ihm der Riesenbetrug am deutschen Volk beginnt erst – so paradox es klingt – nach der sogenannten Machtergreifung. Nach einem Monat [629] des Triumphes über die Kanzlerschaft, über diese parlamentarische Revolution, in deren Verlauf zweifellos Ausschreitungen vom Recht vorgekommen sind, die nicht der Masse als bewußte Planung zur Last gelegt werden können, wird der Vorwand geschaffen zur endgültigen Ausschaltung aller Gegner: Der Brand des deutschen Reichstags. Die Anklagebehörde behauptet nicht, daß das deutsche Volk, die Organisationsmitglieder, die SS-Männer gewußt oder auch nur geahnt hätten, daß dieser Brand in den Reihen der Nazis beschlossen und von Braunhemden unter Benutzung des Werkzeugs van der Lubbe ausgeführt worden sei. Diese Behauptung wäre auch absurd.

Um die Mentalität der SS-Männer zu verstehen, die nun nach dem Januar 1933 die Cadres der SS füllten und dann vier Fünftel ihres Bestandes ausmachten, muß man sich die Reichstagsrede Hitlers vom 17. März 1933 in Erinnerung rufen. Ein großer Teil der Opposition war durch das Verbot der Kommunistischen Partei und die Verhaftung zahlreicher ihrer Mitglieder unter Billigung der empörten Bevölkerung wegen ihrer angeblichen hochverräterischen Beteiligung an der Brandstiftung bei der Wahl des neuen Reichstages nach dem Brande ausgeschaltet.

Gegenüber dem von Hitler unter Beachtung aller parlamentarischen Formen geforderten Ermächtigungsgesetz machten die sozialdemokratischen Reichstagsmitglieder geltend, dieses Gesetz untergrabe die Rechtssicherheit.

Angesichts der wahren oben geschilderten Hintergründe ist es schon ein tolles Gaunerstück, wenn Hitler darauf folgendes erwiderte:

»Ich muß schon wirklich sagen, wenn wir nicht das Gefühl für das Recht hätten, dann wären wir nicht hier, und Sie wären auch nicht da... Meine Herren, dazu hätten wir es nicht nötig gehabt, erst zu dieser Wahl zu schreiten, noch diesen Reichstag einzuberufen.« (Reichstagsprotokoll 1933, Seite 65 und 66.)

Aber wer, meine Herren Richter, aus der Masse des Volkes, von den alten und neuen Mitgliedern der Allgemeinen SS wußte damals, daß Hitler faustdick log? Diese Männer wurden verführt durch den Mantel des Rechts, den sich Hitler umhing. Nicht nur mit dieser Rede! Denken Sie bitte, wie das Reichsgericht – alte erfahrene, ehedem republikanische Richter – mit minutiöser Genauigkeit in monatelanger Verhandlung bis ins Jahr 1934 hinein die Schuldfrage beim Reichstagsbrand untersuchte, zwar die Kommunisten Torgler, Dimitroff und andere freisprach, aber den Kommunisten van der Lubbe verurteilte und die Mittäterschaft unbekannt gebliebener kommunistischer Kreise in aller Öffentlichkeit feststellte. Mußte nicht die Masse der SS-Mitglieder, wie weiteste Kreise des deutschen Volkes, glauben, daß Hitler Volk und Staat tatsächlich [630] vor einer gewaltsamen Revolution bewahrt hatte, für die damals die Kommunisten verantwortlich gemacht wurden? Wer hatte schon wie ich damals die große Chance, als Verteidiger zu erfahren, daß die seit Monaten, ja Jahren vorbereitete Anklage gegen Thälmann zurückgezogen werden mußte, weil eben einfach das Beweismaterial nicht ausreichte? Die wenigen, die damals oder alsbald später die Wahrheit erfuhren und ahnten und die unter der ständig wachsenden Gefahr, verhaftet zu werden, in Diskussionen mit Freunden und Bekannten Zweifel an der Richtigkeit der offiziellen und populären These äußerten, diese wenigen wissen, daß gegenüber diesem von der Propaganda unablässig unterstützten Schein des Rechts ihnen von der Masse kein Glauben geschenkt wurde.

Es schien der Masse einleuchtend, daß angesichts dieser Bedrohung des Staates die sogenannten »Staatsfeinde« zeitlich unschädlich gemacht wurden. So gesehen erschienen selbst die Konzentrationslager berechtigt. Darauf komme ich noch später zu sprechen. Alles das waren harte, in manchen Fällen auch verbrecherische Maßnahmen, die teilweise auch SS-Angehörigen zur Last fallen, die aber insgesamt die Masse der SS nicht belasten.

Wir dürfen das eine nicht verkennen: Zu der für eine Revolution typischen Gewaltanwendung durch ihre Anhänger ist es erst nach der Erlangung der Macht durch Hitler gekommen. Das Raffinierte dabei ist, daß diese Ausschreitungen, wie zum Beispiel Festnahmen und Körperverletzungen durch Mitglieder von Nazi-Formationen, zum geringsten Teil durch SS-Mitglieder, in dem durch Täuschung der Masse hervorgerufenen Bewußtsein geschahen, es geschehe zur Sicherung und Verteidigung der legal errungenen Macht vor Angriffen oder Bedrohungen.

Diese durch Täuschung der Massen über die wahren Vorgänge erzeugte Revolutionsstimmung nach Erlangung der Macht – geschichtlich wohl etwas Einmaliges – trägt die typischen Züge aller revolutionären Ausschreitungen: Unter dem Schutze tatsächlich oder angeblich idealer Beweggründe, wie Vaterlandsliebe, Menschheitsideale, wurden Verbrechen ausgeübt. Denken Sie, meine Herren Richter – da wir zu den vielen Revolutionen der Neuzeit noch nicht den nötigen Abstand haben – an die Französische Revolution: Welche Verbrechen wurden verübt unter der Devise »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit«. Mir scheint es nach den Erfahrungen moderner Psychologie überhaupt ausgeschlossen, daß Massenbewegungen durch moralisch minderwertige Wunschvorstellungen ausgelöst oder angespornt werden können. Die Masse läßt sich bewußt nicht zu Verbrechen bestimmen. Auch Gustave Le Bon neigt dieser Ansicht zu. Im Schatten hoher Ideale der Massen vollziehen sich häufig Verbrechen, dann aber immer veranlaßt oder ausgeführt von wenigen, die die Massen über die wahren Gründe und [631] Vorgänge täuschen. Dieser Gedanke scheint mir der Angelpunkt für die später noch zu behandelnde Frage der Konzentrationslager und der Greueltaten in ihnen und die Verantwortlichkeit der Masse der SS-Mitglieder für sie.

Zu solchen die Masse begeisternden Idealen gehört auch der Begriff »Treue«. Man muß die deutsche Mentalität kennen, um ganz ermessen zu können, welch ungeheuere Möglichkeiten schamloser Mißbräuche an Hunderttausenden dieser Begriff dem psychopathologischen Volksverführer Hitler bot. Wir wissen, was dem Durchschnittsdeutschen auf Grund seiner Erziehung, beeinflußt durch romantische, rücksehende Geschichtsbetrachtung das Wort »Treue« bedeutet, das schon Tacitus an den Vorfahren der Deutschen rühmt. Hitler nutzt diese Schwäche der Deutschen aus und kettet dadurch Hunderttausende, ja Millionen an sich und sein Schicksal.

Wir wissen; Das, was im Privaten möglich und gehörig ist, das ist im Staate grundsätzlich schon Verderben, ich meine: die unbedingte Bindung an einen Menschen.

Der Heidelberger Philosoph Karl Jaspers sagt in seiner Schrift »Die Schuldfrage« dazu folgendes:

»Die Treue der Gefolgschaft ist ein unpolitisches Verhältnis in engen Kreisen und in primitiven Verhältnissen. Im freien Staat gilt Kontrolle und Wechsel aller Menschen.«

Der deutsche Sozialist Bebel drückte es einmal aus:

»Mißtrauen ist die Tugend der Demokratie.«

Für die freien Völker der Welt sind diese Ansichten selbstverständlich, für ein Volk aber, das die modernen Staaten nach rückerinnernden, geschichtlichen Wunschträumen ausrichten wollte, sind sie neue Offenbarungen.

Mit Recht sieht Jaspers eine doppelte Schuld:

»Erstens sich überhaupt politisch einem Führer bedingungslos zu ergeben, und zweitens die Achtung des Führers, dem man sich unterwirft. Schon die Atmosphäre der Unterwerfung ist gleichsam eine kollektive Schuld.«

Jaspers meint damit ausdrücklich eine moralische, politische Schuld, keine kriminelle Schuld.

Im Einzelfall kann aber für den einzelnen Täter aus dieser Treue eine kriminelle Schuld erwachsen. Das wird offenbar, wenn wir die geheime Posener Rede Himmlers vor SS-Obergruppenführern der Heimat und des rückwärtigen Heeresgebietes erst spät in der Kriegszeit, Oktober 1943, hören (1919-PS, Dokument SS-98). Er sagt nach verschiedenen Ausführungen über den Gehorsam und die Möglichkeit, die Ausführung von Befehlen zu verweigern, ganz klar: Wer aber untreu wird – und sei es nur in Gedanken –, der werde [632] ausgestoßen aus der SS und er – Himmler – werde dafür sorgen, daß er aus dem Leben verschwindet.

Das, meine Herren Richter, ist ein wichtiger Hinweis für die Frage der Zumutbarkeit im Einzelfall und dafür, wieweit Zwang und Befehl – während des Krieges – die Schuld und damit auch die Verbrecherischkeit bestimmter Einzelpersonen oder Untergruppen ausschließt, zusätzlich zu der Frage der Kriegsdienstverweigerung und ihrer Folgen nach dem Wehrgesetz.

Von welch überirdischer, ja wohl teuflischer Gewalt dieses Band der Treue war, dafür gibt Himmler mit seiner eigenen Person das beste Beispiel in seinem Verhältnis zu Hitler in den letzten Tagen des Krieges. Der Schwede Graf Bernadotte schildert in seinem Buch »Der Vorhang fällt« aus eigenem Erleben, wie Himmler den Entschluß, das deutsche Volk vor seinem Untergang durch Einstellung der Kampftätigkeit zu retten, trotz klarster Erkenntnis der Konsequenzen nicht fassen kann, weil er – wie Bernadotte gesteht – selbst in dieser aussichtslosen Situation Hitler die Treue nicht brechen dürfe. Wir wissen aber auch, wie zu allen Zeiten und bei allen Völkern die Treue die Soldaten in schwerstem Kampfe aushalten ließ bis zum letzten Blutstropfen, so wie es die Männer der Waffen-SS taten, die sich dadurch in diesem Kriege die Achtung ihrer Gegner erwarben. Und wir ersehen aus diesen zwei Beispielen, wie in diesem hypnotischen Wort »Treue« verbrecherischer Wahnsinn und höchste Tugend des Soldaten gleichermaßen beschlossen liegen.

Soweit zur Frage, was der SS-Mann von den Programmpunkten der Partei wußte, wenn er sie überhaupt genügend kannte – das ist nach den Affidavits der 136000 SS-Männer durchaus zweifelhaft – und wie er die Ideale gerade seiner Organisation sah. Aber sannen nicht die Nazi-Führer von Anfang an auf Krieg, wie Herr Jackson behauptet? – und ich antworte: Nach unserer heutigen Kenntnis zugegeben, ja! – Aber was konnte der SS-Mann davon wissen?

Warum die Umstellung eines Heeres von Berufssoldaten auf ein Volksheer Planung eines Angriffskrieges bedeuten soll, wird von der Anklage nicht gesagt. Die Schweiz, das Musterbeispiel eines Landes mit einem Volksheer, hat schon lange überhaupt keine Kriege mehr geführt. Die Befürwortung der körperlichen Ertüchtigung und der sportlichen Betätigung der Jugend sollte einen getarnten Plan zur militärischen Ausbildung darstellen? Den Beweis dafür ist Justice Jackson meines Erachtens schuldig geblieben. Die Ausbildung der Allgemeinen SS war unmilitärisch; Geländesport, der bei der SA betrieben wurde, fehlte völlig, und – ein typisches Beispiel – die Reiterstürme der SS, schon zahlenmäßig kleiner als die der SA, verhalfen den Mitgliedern nicht einmal zum Reiterschein, [633] wie bei der SA. (Vergleiche die Aussage von Weikowsky-Biedau vor der Kommission.)

Daß Hitler den Krieg wollte, das wissen wir heute, besonders aus den intimen Gesprächen mit Rauschning und bei der Betrachtung des Gesamtgeschehens – aber wohlgemerkt: ex post, meine Herren Richter!

Es wäre ein verlorenes Unterfangen gewesen, dem deutschen Volk in der Lage, in der es sich nach dem ersten Weltkrieg befand, einen neuen Krieg als »weniger anstößig oder arg« oder gar als »edle und notwendige Beschäftigung« hinstellen zu wollen, um die Ausdrücke von Justice Jackson zu gebrauchen. Hitler, dem man alles, aber nicht Unkenntnis der Massenpsychologie vorwerfen kann, hat dementsprechend auch immer wieder – vor und nach 1933 – betont, daß er Frieden, Frieden und nichts als Frieden wolle. Er hat darauf hingewiesen, daß er die Schrecken des Krieges am eigenen Leibe gespürt habe, daß der Krieg immer eine Gegenauslese zu Lasten der wertvollsten Menschen eines jeden Volkes sei. Nur damit hat er immer größere Teile des deutschen Volkes für sich und seine Idee gewonnen. Mit Kriegspropaganda, und wäre sie noch so vorsichtig geführt worden, hätte er das niemals erreicht.

Die Wiederaufrüstung wurde dem deutschen Volke nur als Bestätigung des Friedenswillens und als Defensivmaßnahme gegen die Nichtabrüstung der anderen und etwaige Versuche, den friedlichen Aufbau Deutschlands zu stören, hingestellt. Dafür sprach der Bau des Westwalls, dafür sprachen selbst Äußerungen ausländischer Militärfachleute. Die hochgestellten Hauptangeklagten und viele Zeugen, selbst der gewiß unverdächtige Zeuge Gisevius, haben bestätigt, daß nicht einmal in Führungskreisen etwas über eine Planung von Angriffskriegen gesprochen wurde. Für die SS gilt dasselbe in verstärktem Maße. Die gesamte Schulung in den Organisationen gipfelte immer wieder darin, daß die Durchführung des Parteiprogramms rechtmäßig und auf friedlichem Wege erfolgen sollte, daß der Friede auf jeden Fall notwendig sei und erhalten werden müsse. In allen SS-Organisationen wurde nicht nur keine psychologische Kriegsvorbereitung betrieben, sondern im Gegenteil der Friedenswille des Reiches betont.

Ich bitte das Hohe Gericht, in diesem Zusammenhang die Dokumente SS-70, 71, 73, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82 aus den Jahren 1933 bis 1935 zu lesen, darunter besonders einen Artikel aus dem »Schwarzen Korps« von 1937 »Die SS liebt den Krieg nicht« und noch andere Dokumente, die ich nicht zitiere.

Der Mangel der psychologischen Kriegsvorbereitung im deutschen Volke und auch in der SS ist dem aus- und inländischen Beobachter wohl noch nie so klar geworden, wie durch die Reaktion der Menschenmassen bei dem Pakt in München 1938. Der Jubel der [634] Massen einschließlich der absperrenden SS galt nicht Adolf Hitler, der das Sudetenland erpreßt hatte, sondern dem Hitler und fast mehr noch allen ausländischen Staatsmännern, die den Frieden gerettet hatten.

Denn das deutsche Volk und die Soldaten wollten keinen Krieg und – das muß, um der historischen Wahrheit willen, an dieser historischen Stelle gesagt werden – als es 1939 doch zum Kriege kam, nahmen sie dieses Schicksal nicht mit jubelnder Begeisterung wie 1914, sondern in ernstem Schweigen auf, in ihrer Masse in dem Irrglauben, dieser Krieg sei von der Führung nicht gewollt, also kein Angriffskrieg.

Es hieße aber die Würde aufgeben und das Gesicht verlieren, wenn ich leugnen wollte, daß der junge Deutsche – gerade auch in der SS – sein Idealbild in den männlichen Tugenden sah, in den gleichen Tugenden des Sich-Behauptens und des Sich-nichts-gefallen-lassen-wollens, wie sie auch andere Völker haben; er aber, der SS-Mann, vielleicht noch etwas betonter und nicht immer gut und klug betont. Aber keiner der alten Soldaten, der Studenten und Bauern, die zur SS gestoßen waren, stellte sich unter Krieg auch nur entfernt das vor, was Hitler darunter meinte. Wenn Hitler gewagt hätte, diesen Männern von Überfällen auf fremde Völker zu sprechen, mit denen er noch eben feierliche Freundschaftsverträge geschlossen hatte, oder von Einsatzkommandos im feindlichen Land, so hätte er außer einer Hand voll Desperados keine Gefolgsmänner gefunden. Der Krieg, vor dem – wie ich zugeben muß – der großgewachsene, blonde und vielleicht geistig nicht immer sehr geweckte typische SS-Mann nicht zurückgeschreckt wäre, war der Krieg, wie er in seiner Vorstellung seit Jahrhunderten von seinen Vorfahren geführt worden war, der letzten Endes immer auf die Anrufung des Schicksals hinauslief, auf das große Würfelspiel der Götter. Gewiß – auch dieses atavistische Gefühl; muß man dem Deutschen und besonders unserer Jugend abgewöhnen – und in dieser Hinsicht bin ich für meine Landsleute jetzt optimistischer als für manches andere Volk, aber dieser Krieg, der doch vorläufig nicht ausrottbar erscheint- der Kellogg-Pakt und das moderne Völkerrecht verwerfenden Krieg als Mittel der Verteidigung und Selbstbehauptung ja nicht – dieser Krieg ist etwas grundlegend anderes, als der Hochverrat am Frieden der Welt, der Überfall und Raub mit Ausrottungstendenz, den Hitler erfand.

Neben diesen allgemeinen Zielen und Tendenzen der Allgemeinen SS, welche die Anklagebehörde aus diesen Anfängen ihrer Tätigkeit ihr zur Last legt und mit denen sie den Charakter dieser Organisation als verbrecherisch kennzeichnen will, ist es vor allem ein Ereignis, das den verbrecherischen Charakter schlagartig [635] angeblich enthüllt: Die Tötungen, die am 30. Juni 1934 vorgenommen worden sind.

Drei Seiten, Euer Lordschaft, welche die Beweisaufnahme zu diesen Ereignissen würdigen, muß ich aus Zeitmangel überschlagen.

Die Beweisaufnahme hat zu den Vorgängen, die sich am 30. Juni 1934 und den folgenden Tagen in Deutschland abgespielt haben, folgendes ergeben (Zeugen Hinderfeld, Grauert, Jöhnk, Reinecke, Eberstein, Affidavit SS-70 Kamp Franz, Affidavit SS-3 Schmalfeld und Affidavits SS-119 bis 122 Zusammenfassung der Massenerklärungen):

Die Allgemeine SS wurde im Laufe des Vormittags des 30. Juni fast überall im deutschen Reichsgebiet alarmiert. Dort, wo sich Kasernen der Polizei oder Reichswehr befanden, wurde sie in diesen, andernfalls in öffentlichen Gebäuden, wie Schulen und so weiter zusammengezogen und so am 30. Juni, zum Teil auch noch am 1. Juli zusammengehalten. In den meisten Fällen blieb sie völlig untätig, nur an einigen Orten wurde sie von der Polizei zur Mithilfe bei der Beschlagnahme von Waffen in SA-Dienststellen herangezogen. In Berlin wurde diese Aufgabe durch die Polizeiabteilung z. V. Wecke allein durchgeführt, während hier der Großteil der Allgemeinen SS, die in der Leibstandartenkaserne in Lichterfelde zusammengezogen war, im Laufe des 30. Juni zu Absperrmaßnahmen am Tempelhofer Flugplatz eingesetzt wurde. Zu diesem Zweck erhielt die Allgemeine SS, die sonst unbewaffnet blieb, Waffen von der Polizei beziehungsweise Reichswehr zur Verfügung gestellt. Nach Ankunft Hitlers mit dem Flugzeug aus München marschierten die Einheiten der Allgemeinen SS in die Kasernen zurück und mußten dort die Waffen unverzüglich wieder abliefern (Affidavit SS-3 Schmalfeld).

Verhaftungen und Exekutionen wurden nirgends durch Einheiten der Allgemeinen SS durchgeführt (Zeuge Eberstein). Vielmehr verhaftete in München, einem der Brennpunkte des sogenannten Röhm-Putsches, Hitler selbst die beteiligten SA-Führer. Ebenso nahm er selbst in Wiessee am Tegernsee die Verhaftung Röhms und dessen engerer Umgebung vor. Röhm und die übrigen SA-Führer wurden anschließend in das Strafgefängnis Stadelheim verbracht und noch im Laufe des Tages von einem Exekutionskommando, das sich aus Angehörigen der Leibstandarte zusammensetzte, erschossen (Zeuge Jöhnk).

Die Festnahmen in Berlin, dem zweiten Brennpunkt der Revolte, erfolgten nach Weisungen von Göring durch die Geheime Staatspolizei. Zur Aburteilung der Verhafteten wurde ein Standgericht gebildet, in dem auch die Reichswehr durch den Wehrkreisbefehlshaber beziehungsweise den Stadtkommandanten vertreten war. Vor der Hinrichtung durch ein Exekutionskommando der Leibstandarte wurde jeweils das Urteil des Standgerichts verlesen. Die Erschießungen fanden auf dem Gelände der Leibstandartenkaserne in Lichterfelde statt. Der Hinrichtungsplatz war von der Finkensteinallee aus den dort befindlichen Mietshäusern einzusehen. Nicht alle SA-Angehörigen, die vor das Standgericht gestellt worden waren, wurden hingerichtet. Dagegen wurden einige SS-Angehörige, die sich Mißhandlungen von Häftlingen hatten zuschulden kommen lassen, standrechtlich erschossen (Zeuge Jöhnk, Affidavit Schmalfeld SS-3).

Den Angehörigen der Allgemeinen SS wurden die Gründe für ihre Alarmierung erst nachträglich bekanntgegeben. Ebenso verhielt es sich mit den Angehörigen der Leibstandarte. Es liefen zwar in den Tagen vor dem 30. Juni die verschiedensten Gerüchte herum, die sich vielfach mit der Haltung der SA beschäftigten. Unterrichtet wurde die Masse der SS jedoch erst durch die Verlautbarungen von Presse und Rundfunk am 30. Juni selbst. Sie erhielt damit die gleiche amtliche Darstellung wie das deutsche Volk und die ganze Welt (Zeuge Hinderfeld).

Zweifel an der Richtigkeit dieser Darstellung konnten der Allgemeinen SS weder damals noch in den folgenden Jahren kommen. Selbst höchste SS-Führer wurden, wie die eidlichen Aussagen des SS-Obergruppenführers von Eberstein und des SS-Brigadeführers Grauert beweisen, von Himmler beziehungsweise Göring selbst dahingehend unterrichtet, daß Röhm mit der SA einen Putschversuch unternommen hatte. Die geschilderte Art des Einsatzes der Allgemeinen SS am 30. Juni schließt weiter die Möglichkeit aus, daß die SS an den Gewalttaten, die außerhalb des standgerichtlichen Rahmens begangen wurden, beteiligt war.

[636] Was die Meinungsbildung der Masse der SS-Angehörigen anbelangt, so waren für sie neben dem Wissen über die völlige Bedeutungslosigkeit ihres eigenen Einsatzes das Danktelegramm des Reichspräsidenten von Hindenburg (Dokument SS-74) und die Erklärung Hitlers vor dem Reichstag am 13. Juli 1934 von maßgeblicher Bedeutung. In ihr wurde vom Kanzler des Deutschen Reiches eine Rechtfertigung für die Erklärung des Staatsnotstandes gegeben und der Kreis der hingerichteten Verschwörer zahlenmäßig umrissen. Besonders hervorzuheben ist der Hinweis Hitlers, daß die Gewalttaten außerhalb der zur Niederschlagung der Revolte erforderlichen Maßnahmen von den ordentlichen Gerichten abgeurteilt werden würden. Irgendwelche Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der durchgeführten Exekutionen konnten daher bei den Angehörigen der Allgemeinen SS und den Männern der Leibstandarte ebensowenig erwachsen wie Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Ankündigung, illegale Gewalttaten würden gerichtlich verfolgt.

Die Details, die Hitler von diesem angeblichen Hoch- und Landesverrat gab, insbesondere auch die Schilderungen der Verbindung der Verschwörer mit dem Ausland und der Attentatsplan gegen ihn selbst, sind geradezu verblüffend (Dokument SS-106). Sie waren auch nicht so abwegig, denn es ist eine geschichtlich bis in die neueste Zeit bekannte Tatsache, daß neue Regierungen vor ihrer Konsolidierung ganz besonders durch Opponenten und Konterrevolutionäre, sogar aus der Reihe ihrer alten Freunde, in ihrem Bestande lebensgefährlich bedroht werden und sich dagegen durch brutales Zugreifen sichern müssen. Daß in den folgenden Jahren von der SS möglichst wenig über die Vorgänge des 30. Juni geredet wurde, wie Himmler in Posen erklärte, kann als Anzeichen eines schlechten Gewissens nicht gewertet werden. Es war eine Frage des Taktes, nicht unnötig von Geschehnissen im eigenen Hause, das heißt zwischen den Parteigliederungen selbst, zu sprechen, durch die sich der eine Teil diffamiert fühlte, damit nicht immer wieder eine alte Wunde von neuem aufgerissen wurde.

Was schließlich die damals erfolgte Verselbständigung der SS und ihre Trennung von der SA anbelangt, so war hierin lediglich eine Anerkennung für die loyale Haltung der SS und ihre kompromißlose Ablehnung der Pläne Röhms, gleichzeitig aber auch eine gewollte Schwäche der Machtstellung des Stabschefs der SA zu sehen.

Den Vorgängen am 30. Juni 1934 kommt nach meinen Darlegungen keinesfalls die Bedeutung zu, die ihnen die Anklage zu geben versucht. Auf keinen Fall waren sie für die Angehörigen der SS der erkennbare Anfang einer verbrecherischen Entwicklung.

In diesem Zeitpunkt der Betrachtung der Ideenwelt und der Tätigkeit des SS-Mannes ist es wohl angebracht zu überlegen, welche sonstigen Momente zu seiner Meinungsbildung beigetragen haben.

Dabei müssen wir ohne Schönfärberei davon ausgehen, daß der SS-Mann ja nicht wie ein Opponent oder einer der damals so belächelten Intellektuellen unseres Schlages mit besonders kritischem Verstande alles prüfte, was über seinen Führer, über seinen Staat gesagt wurde. Sondern er wollte ja glauben an etwas, und dieser Glaube – das will ich nachweisen – wurde durch die Umwelt nicht erschüttert. Die Umwelt tat leider nichts, um ihn zu erschüttern.

Euer Lordschaft! Ich wäre an einem Abschnitt; wäre es recht, wenn die Pause jetzt eintreten würde?


[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 21, S. 602-638.
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