Nachmittagssitzung.

[65] DR. LATERNSER: Am grellsten freilich wird die ganze Absurdität dieses »Gruppen-Experimentes« beleuchtet durch die Einreihung Himmlers in diesen Kreis der Wehrmachtsoffiziere. Es ist weltbekannt, daß Himmler der Todfeind des Heeres war und daß zwischen den Führern der Wehrmacht und denen der Waffen-SS außerhalb des rein soldatischen Kampfes an der Front keinerlei Beziehungen bestanden. Gerade die Einbeziehung Himmlers und einzelner Führer der Waffen-SS ist ein überzeugender Beweis gegen das Bestehen dieses tatsächlich unmöglichen Gebildes.

Auch das zeitliche Moment läßt die Annahme einer »Organisation« nicht zu. Die militärischen Führer waren nicht gleichzeitig in ihren Dienststellen, sondern erreichten diese oft in so weit auseinander liegenden Zeitabschnitten, daß immer nur ein Bruchteil von ihnen gleichzeitig die Mitgliedschaft gehabt haben könnte. Das ergibt sich am deutlichsten auf den dem Gerichtshof vorliegenden Schaubildern. Darnach waren 1938 nur 7 Generale, am 1. September 1939 nur 22 Generale, am 22. Juni 1941 nur 31 Generale und im November 1944 nur 52 Generale – das heißt also bei weitem nicht einmal die Hälfte der angeklagten Offiziere – in den Stellungen, die die Anklage betrifft.

Es gab keinen einheitlichen Willen der Gesamtheit dieser 129 Offiziere. Jeder von ihnen war zwar einem einzigen, ihm übergeordneten Willen unterworfen, aber nur in militärischem Sinne, nicht im Hinblick auf einen bestehenden, organisatorischen Zusammenschluß. Wie hätten diese Offiziere irgendwann einmal eigene Organe zum Ausdruck ihres Willens bestellen sollen? Der ständige Wechsel in den in Betracht kommenden Dienststellen schloß schon jede derartige Möglichkeit aus. Nur neun Generale und Admirale hatten während der ganzen Dauer des Krieges Dienststellungen inne, auf Grund deren sie zur sogenannten »Gruppe« gerechnet werden können. Am 4. Februar 1938 befanden sich nur sechs Generale in solchen Dienststellungen. 21 Generale waren höchstens 2 bis 21/2 Jahre lang in Dienststellungen, die unter die sogenannte »Gruppe« fallen und 61 Offiziere sind zur »Gruppe« gerechnet, die noch nicht einmal ein Jahr derartige Dienststellungen innegehabt haben.

Wie es an eigenen Organen fehlte, so fehlte es auch an einer Verfassung oder einem Statut, das den Beitritt oder das Ausscheiden der Mitglieder, die Zuständigkeit und Tätigkeit der Organe, ihre Wahl oder Ernennung regelte. Es gab überhaupt keine einzige Bestimmung in schriftlicher oder mündlicher Form, die sich auf eine wie immer geartete Gemeinschaft bezog. Die Anklage konnte deshalb auch kein Schriftstück vorlegen, das das Bestehen einer »Gruppe« oder »Organisation« beweist. Die von der Anklage dem [65] Gerichtshof unterbreiteten eidesstattlichen Versicherungen, die auf Grund der Angaben der Generale von Brauchitsch, Halder und Blaskowitz das Vorhandensein einer »Gruppe« beweisen sollen, haben sich durch die erfolgten Richtigstellungen für diesen Beweis als völlig ungeeignet erwiesen. Die Vernehmungen des Generalfeldmarschalls von Brauchitsch vor Gericht und des Generaloberst Halder vor der Kommission haben ergeben, daß die wörtlich übereinstimmenden Affidavits beider Generale der von dem Vernehmungsoffizier schriftlich formulierte, ihnen zur Unterschrift vorgelegte Niederschlag mehrerer vorausgegangener mündlicher Besprechungen war und daß diese schriftlichen Erklärungen ohne die Erläuterungen, die die Zeugen vor der Unterschriftsleistung zusätzlich dazu gegeben haben, in allen hier entscheidenden Punkten nicht verständlich waren. Infolgedessen ist die von der Anklage diesen Erklärungen unterlegte Deutung falsch. Die jetzt erfolgten Klarstellungen, die keine Widerlegung erfahren haben, haben damit die Anklage ihrer Hauptstütze und jeden Beweises für eine »Gruppen«-Bildung beraubt.

Gleiches gilt für die dem Gerichtshof im Beweisverfahren vorgelegte eidesstattliche Aussage des Generaloberst Blaskowitz, die ebenfalls eine Erläuterung und vollkommene Klarstellung durch das Affidavit Nummer 55 erfahren hat. Damit haben sich auch in diesem Falle die Schlüsse der Anklage als falsch herausgestellt.

Auch eine Verbandshandlung, die als Ausdruck eines kollektiven Willens der Organisation angesehen werden könnte, ist in keinem Falle nachgewiesen worden. Die Führung eines solchen Nachweises ist auch unmöglich, da dieser Offizierskreis weder in rechtlichem noch in natürlichem Sinne eine Handlungsfähigkeit gehabt hat und somit auch keine Verbandshandlung getätigt haben kann.

Diese Offiziere haben auch keine Zusammenkünfte abgehalten, aus denen sich das Bestehen irgendeiner Art von Organisation schließen ließe. Die Anklage glaubt ganz zu Unrecht, die militärischen Besprechungen bei Hitler und einzelne Zusammenkünfte von Frontbefehlshabern als Beweis heranziehen zu können.

Wenn verschiedentlich Besprechungen des Oberbefehlshabers des Heeres mit den Oberbefehlshabern der Heeresgruppen oder Armeen stattgefunden haben, so war der Anlaß immer ein rein militärischer und die Besprechung diente nur der Erörterung militärischer Fragen. Schon der Einsatz der Oberbefehlshaber auf den verschiedenen, weit auseinander liegenden Kriegsschauplätzen und ihre dauernde, starke militärische Inanspruchnahme schloß von vornherein aus, daß sie aus anderen als rein militärischen Gründen hätten zusammenkommen können. Aus den gleichen Gründen bestand nicht einmal zwischen den obersten militärischen Befehlshabern ein enger Kontakt, zumal der vielfach hier erörterte Führerbefehl Nummer 1 die[66] Kenntnis jedes Befehlshabers, welche Stellung er immer hatte, auf sein ureigenstes Gebiet beschränkte. Da die drei Wehrmachtsteile, abgesehen von dem operativen Zusammenarbeiten in Einzelfällen, völlig selbständig nebeneinander standen, kamen auch aus diesem Grunde gemeinsame Besprechungen der Befehlshaber aus den verschiedenen Wehrmachtsteilen nur höchst selten in Frage.

Wenn die Anklage sich zum Gegenbeweis auf ein Affidavit des Generaloberst Blaskowitz bezogen hat, so ist durch dessen ergänzendes Affidavit Nummer 55 erwiesen, daß er auch in diesem Punkte mißverstanden worden ist.

Häufige Beratungen der hohen Generalität im Sinne der Anklage haben niemals stattgefunden. Die Anklage hat Vorgänge, die sich aus der rein militärischen Durchführung ergaben, falsch ausgelegt.

Die bekannten Besprechungen bei Hitler können zum Beweis für das Vorhandensein eines organisationsähnlichen Gebildes noch weniger herangezogen werden, da sie – wie in diesem Verfahren wiederholt erörtert worden ist – nur der Entgegennahme einer Ansprache Hitlers und einem sich daran anschließenden Befehlsempfang dienten, also vom Standpunkt der Befehlshaber aus rein militärischen Charakter trugen.

Ich fasse zusammen:

  • 1. Die betroffenen 129 Offiziere stellen eine rein tatsächliche Personenvielheit dar, die weder rechtlich noch tatsächlich handlungsfähig ist und daher auch nicht Objekt einer gesonderten rechtlichen oder gar strafrechtlichen Beurteilung sein kann.

  • 2. Die Bezeichnung »Generalstab und OKW« ist irreführend, und falsch.

  • 3. Der betroffene Offizierskreis war weder eine »Gruppe« noch eine »Organisation« noch ein organisationsähnliches Gebilde.

  • 4. Der bei jeder Organisation feststehende Mitgliederkreis muß hier erst langatmig erläutert werden.

  • 5. Keiner der Offiziere hat jemals den Beitritt zu einer Organisation erklärt, noch auch nur das Bewußtsein gehabt, einer solchen beigetreten zu sein oder ihr angehört zu haben. Die sogenannten »Mitglieder« kannten sich zum größten Teil nicht einmal persönlich, ihre Einstellung zu dem herrschenden System war sehr verschiedenartig.

  • 6. Niemals hat es ein handelndes »Verbandsorgan«, niemals eine »Verfassung« oder ein, »Statut« gegeben, es ist auch niemals ein »Verbandswille« zutage getreten oder eine »Verbandshandlung« erkennbar geworden.

  • 7. Die betroffenen Offiziere, die nach Namen und Zahl genau feststehen, können deshalb nur als Einzelpersonen und nur für solche Verbrechen, die sie persönlich begangen haben sollten, zur [67] Rechenschaft gezogen werden. Sie waren niemals kollektiv zusammengefaßt, sie können auch jetzt nicht, nur um eine Bestrafung zu erleichtern, kollektiv zusammengefaßt werden.

Schon im Altertum – nach der Schlacht bei Aigospotamoi – sollten einmal Feldherren durch Kollektivurteil wegen einer Art Humanitätsverbrechen verurteilt werden. Sie hatten ihre Gefallenen nicht bestattet.

Da stand in der Beratung des Gerichtes Sokrates auf, wehrte sich in leidenschaftlicher Rede dagegen, und verlangte von dem Gericht die Wahrung des Grundgesetzes, das unbedingte Voraussetzung jedes gerechten Richterspruches sei, nämlich: daß jeder Feldherr als Einzelperson anzuklagen und nach dem Maß seiner persönlichen Schuld zu verurteilen sei. Damals drang Sokrates mit seiner Warnung durch. Das Gericht hielt trotz der gegenteiligen Volksmeinung an dem Grundsatz fest und lehnte die Kollektivverurteilung ab.

Sollte die Neuzeit etwas, was über 2000 Jahre als fundamentaler Rechtsgrundsatz galt, so leicht über Bord werfen?

Ich glaube: Eine Kollektivanklage und -verurteilung ist nicht möglich, das Gericht wird schon aus den bisher dargelegten Gründen den Antrag, die sogenannte »Gruppe« »Generalstab und OKW« als verbrecherische Organisation zu erklären, ablehnen müssen.

Verfolgt man aber die Thesen der Anklage weiter – ohne daß man sie sich zu eigen macht – so müßte die »Verbrecherischkeit« der Gesamtheit der 129 Offiziere einer Prüfung unterzogen werden. Das heißt, es müßte festgestellt werden, ob diese Gesamtheit Verbrechen im Sinne des Artikels 6 des Statuts begangen hat. Diese Frage verneine ich.

Der Vorwurf der Anklage gegenüber den militärischen Führern, sich zu irgendeiner Zeit mit der Nazi-Partei zusammengetan zu haben zu einem gemeinsamen Plan, der Angriffskriege, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Humanität zum Ziele hatte, setzt gedanklich voraus, daß ein solcher Gesamtplan bestand, daß er als gemeinsam bekannt war und endlich, daß die militärischen Führer als Gesamtheit diesen Plan sich zu eigen gemacht haben.

Die Anklage hat diese Vorwürfe gegen den beschuldigten Personenkreis als Gesamtheit erhoben. Wie ich aber glaube bereits bewiesen zu haben, existierte eine »Organisation« oder »Gruppe« als handelnde Einheit dieser Personen nicht. Die Anklage umgeht diese zwangsläufig sich ergebende Schwierigkeit dadurch, daß sie behauptet, 1. Charakter und Handlungen der fünf militärischen Hauptangeklagten seien für die gesamten 129 Offiziere bezeichnend; 2. im übrigen sei an dem verbrecherischen Charakter der Gesamtheit kein Zweifel.

[68] Wenn der amerikanische Hauptankläger in seiner Anklagerede ausgeführt hat, daß die menschlichen Handlungen, die den Gegenstand dieses Prozesses bildeten, seit Kains Zeiten als Verbrechen angesehen werden, so setze ich ihm den Satz entgegen: Seit Kains Zeiten ist aber auch schon die Forderung erhoben worden, daß bei der Sühne von Verbrechen nicht die Gerechten mit den Gottlosen umgebracht werden sollen. Das Erfordernis individueller Sühne von begangenen Verbrechen gehört zum ältesten Erbe europäischer Sittlichkeit.

Ich meine, es könnte für die vier großen siegreichen Nationen nicht schwer sein, praktisch in 107 Einzelverfahren über die individuelle Schuld oder Unschuld dieser 107 lebenden Männer genauso zu entscheiden, wie es in dem Verfahren gegen die fünf militärischen Hauptangeklagten geschieht. Wo liegt die innere Berechtigung und die rechtliche Notwendigkeit zu einem Kollektivverfahren gegen diese Männer? Allzu leicht wird das schuldlose Individuum durch ein vorgefaßtes Kollektivurteil vernichtet.

Die Ansicht der Anklage, die Gedanken und Handlungen der fünf Hauptangeklagten seien »mit voller Sicherheit« auch für die anderen Mitglieder der sogenannten »Gruppe«, und damit zugleich für den verbrecherischen Charakter der ganzen »Gruppe« typisch, widerspricht den tatsächlichen Verhältnissen. Die Zugehörigkeit zur »Gruppe« beruht nur auf bestimmten Dienststellungen. Typisch für die »Gruppe« kann daher nur der Inhaber einer typischen Dienststellung sein. Da 95 Prozent der betroffenen Offiziere Oberbefehlshaber von Armeen oder Heeresgruppen waren, konnten allenfalls die Inhaber dieser Dienststellungen als typisch für die »Gruppe« angesehen werden, keinesfalls aber die fünf Hauptangeklagten, von denen nicht ein einziger jemals eine derartige Stelle bekleidet hat. Umgekehrt sind die fünf Hauptangeklagten insofern ausgesprochen untypisch, als ihre Dienststellungen bei keinem anderen Mitglied der »Gruppe« wiederkehren. In dieser gibt es keinen zweiten Chef OKW oder Chef Wehrmachtführungsstab, keinen zweiten Oberbefehlshaber der Kriegsmarine und erst recht keinen zweiten Reichsmarschall. Da die Hauptangeklagten in dem militärischen Gebäude sozusagen ein ganzes Stockwerk höher stehen als die typischen militärischen Führer, ist ihre Lage in den entscheidenden Punkten anders. Wenn der eine oder andere Hauptangeklagte vielleicht theoretisch die Möglichkeit hatte, auf die militärischen Entschlüsse der obersten Führung einzuwirken, so bestand für das typische Gruppenmitglied auch diese theoretische Möglichkeit nicht. Wenn die Hauptangeklagten mindestens auf ihrem Sektor Kenntnis der Zusammenhänge und Hintergründe von erteilten Befehlen hatten oder erlangen konnten, so konnten das die typischen Gruppenmitglieder nicht. Wenn bei den Hauptangeklagten als den obersten Stellen schließlich eine Berührung mit der [69] Politik unvermeidlich war, so fehlte auch diese bei den Frontbefehlshabern völlig. Dieser kurze Hinweis zeigt besonders plastisch die ganze Willkür der Anklage, wenn sie heterogene Elemente zusammenpreßt und Vorwürfe, die sie mit Recht oder Unrecht gegen die Hauptangeklagten im einzelnen erheben zu können glaubt, ohne weiteres auf die Gesamtheit dieser heterogenen Elemente ausdehnt.

Ich kann der Anklage auf diesem Wege nicht folgen, und werde deshalb in meinen Erörterungen nicht die untypischen Hauptangeklagten betrachten, sondern nur diejenigen Mitglieder, die als typisch für den überwiegenden Teil der »Gruppe« angesehen werden könnten. Nur wie diese sich zu den angeblichen Nazi-Plänen verhalten haben, nur was sie von den Plänen gewußt und inwieweit sie daran mitgewirkt haben, könnte im Sinne der Anklage überhaupt zu einer Belastung der »Gruppe« führen.

Da Hitler tot ist, läßt die Anklage seine Person im Hintergrund und sucht andere Verantwortliche. Niemand kann aber leugnen, daß Hitler allein die Macht des Reiches in Händen hatte und damit auch die alleinige und gesamte Verantwortung. Das Wesen jeder Diktatur besteht letzten Endes darin, daß der Wille eines Mannes allmächtig ist, daß sein Wille in allem entscheidet In keiner Diktatur ist dieser Grundsatz zu solcher Ausschließlichkeit entwickelt worden, wie in der Hitlers. Wenn alle Militärs und alle Politiker das immer wieder betonen, so kann man wohl nicht jedem von ihnen Mangel an Bekennermut unterstellen, sondern es muß Tatsache gewesen sein. Der Diktator übte die ihm gegebene Macht mit einer an das Dämonische grenzenden Willenskraft. Neben ihm gab es keinen Willen, keinen Plan, keine Verschwörung. Für die Soldaten war es von besonderer Bedeutung, daß Hitler noch durch den Reichspräsidenten von Hindenburg zur Macht berufen war und dann durch Reichsgesetz und Volksabstimmung unumschränktes Staatsoberhaupt wurde. Die gesetzmäßige, die formelle Korrektheit bei der Übertragung der Gesetzgebungsgewalt und der Befehlsbefugnis bewirkte, daß die Soldaten sich auch der Persönlichkeit Hitlers unterworfen haben. Es kam hinzu, daß er es verstand, einen gegen den anderen auszuspielen, aber er hatte bei seinen entscheidenden Entschlüssen weder Ratgeber noch duldete er selbständige Pläne.

Hitlers Gestalt ist wahrhaft der des Luzifer zu vergleichen. Wie dieser in rasendem Tempo mit ungeheurem Schwung seine Lichtbahn aufwärtszieht, die höchste Höhe erreicht und dann in das tiefste Dunkel hinabstürzt, so war es auch mit Hitler. Wer hat je gehört, daß ein Luzifer bei seinem rasenden. Aufstieg Helfer, Ratgeber und Antreiber brauchte? Reißt er nicht vielmehr durch die Wucht seiner Erscheinung alle anderen mit sich auf die Höhe und dann ebenso mit hinab in die Tiefe? Ist es denkbar, daß ein Mensch dieser Art einen Plan von langer Hand vorbereitet, sich mit einem [70] Verschwörerkreis umgibt und sich bei diesem für seinen Aufstieg Rat und Hilfe sucht?

Dieses Bild möge nicht als Versuch gedeutet werden, der Verantwortung auszuweichen. Jeder deutsche General ist Manns genug, für seine Taten einzustehen. Aber wenn Recht gefunden werden soll, so müssen die tatsächlichen Verhältnisse so, wie sie wirklich waren, erkannt und der Rechtsfindung zu Grunde gelegt werden. Den besten Beweis gegen die Beteiligung der Generale an seinen Planungen ergibt aber das Wort Hitlers selbst: »Ich verlange nicht, daß meine Generale meine Befehle verstehen, sondern daß sie sie befolgen!«

Wie am Ende des ersten Weltkrieges dem Generalstab, so wird es diesmal den militärischen Führern schlechthin – wiederum zusammengefaßt unter dem irreführenden Sammelbegriff »Generalstab« – zum Verhängnis, daß auf dem deutschen Offizier das Vorurteil lastet, er sei nicht von soldatischer, sondern von »militärischer« Geisteshaltung besessen. Schrifttum und Presse der Welt behaupten vielstimmig, der deutsche Offizier betreibe sein Soldatenhandwerk nicht nur als Pflicht, sondern für ihn sei – als Mittelpunkt all seines Sinnens und Trachtens – der Krieg höchster Wert alles persönlichen und nationalen Lebens. Der amerikanische Hauptankläger formuliert diesen Standpunkt dahin, daß »der Krieg eine edle und notwendige Beschäftigung für die Deutschen sei«.

Aus solcher Glorifikation des Krieges soll seit Generationen das Denken des deutschen Offizierskorps ausschließlich auf Angriff, Eroberung, Unterjochung und Vergewaltigung anderer Völker eingestellt sein. Wenn es manchmal auch Mühe macht, Vorurteile zu widerlegen – dieses Schlagwort als unsinnig und unbegründet zu erweisen, bereitet geringe Schwierigkeiten.

Haltung und Geist, die dem Generalstab die charakteristische Form gaben, wurden bekanntlich durch Friedrich den Großen, Scharnhorst, Moltke, Schlieffen und Seeckt geprägt. Wenn man das Leben und Werk dieser Männer auf Zeugnisse militaristischen Geistes durchsucht, so ist das Ergebnis eindeutig negativ. Kaum jemals hat ein Monarch so begeisterte Fürsprecher gefunden, wie Friedrich der Große in dem Engländer Thomas Carlyle und dem Amerikaner George Bancroft, der in der »Geschichte der Vereinigten Staaten« erklärt, Friedrich der Große habe nicht weniger für die Freiheit der Welt gewirkt, als Washington und Pitt. Helmut von Moltke, der die Gestalt des deutschen Generalstäblers geformt hat, wie niemand vor und nach ihm, nennt den Krieg ausdrücklich »das letzte Mittel, das Bestehen, die Unabhängigkeit und die Ehre eines Staates zu behaupten.« Er erklärt weiter: »Hoffentlich wird dieses letzte Mittel bei fortschreitender Kultur immer seltener zur Anwendung kommen. Wer möchte in Abrede stellen, daß jeder[71] Krieg, auch der siegreiche, ein Unglück für das eigene Volk ist, denn kein Landerwerb, keine Milliarden können Menschenleben ersetzen und die Trauer der Familien aufwiegen.«

Von Moltkes berühmtestem Nachfolger, Graf Schlieffen, stammt der so oft mißdeutete Wahlspruch: »Mehr sein als scheinen«, der von jedem Generalstäbler Bescheidenheit, stille Arbeit und restlosen Verzicht auf jedes persönliche Hervortreten in der Öffentlichkeit verlangt.

Ist es möglich, den fundamentalen Unterschied, der zwischen einer solchen Einstellung und der nationalsozialistischen besteht, in wenig Worten schärfer zum Ausdruck zu bringen?

Als der deutsche Generalstab 1914 in seine große Feuerprobe eintrat, stand in dem jüngeren Moltke ein Mann der Resignation an seiner Spitze, der als Antroposoph militaristischen Gedankengängen noch ferner stand als alle seine Vorgänger. Was schließlich Generaloberst von Seeckt, den Schöpfer der Reichswehr anlangt, so sind seine Leitsätze in der 1929 erschienenen programmatischen Abhandlung zu dem Thema »Staatsmann und Feldherr« derart, daß dieser Aufsatz sofort ohne wesentliche Änderung in jedes Handbuch für den britischen, amerikanischen oder französischen Offizier übernommen werden könnte.

Zum Schluß dieser Übersicht will ich noch ein Zitat aus den Denkwürdigkeiten des Feldmarschalls von Mackensen vortragen, eines Mannes also, der bekanntlich zusammen mit Hindenburg als Hauptvertreter des Offizierskorps Wilhelm II. angesprochen werden muß. An dem Tage, an dem er die Befehle für die große Durchbruchsschlacht bei Gorlice unterzeichnete – es war der 28. April 1915- brachte er folgendes zu Papier:

»Heute beschäftigen sich meine Erwartungen mit einer männermordenden Schlacht... Einen großen Erfolg erwartet man von mir, einen entscheidenden, und große Erfolge sind im Kriege meist auch nur mit großen Verlusten zu erreichen. Wie viele Todesurteile enthält mein Befehl zum Angriff? Dieser Gedanke ist es, der mich vor jedem Befehl bedrückt. Aber ich handle nur auf Befehl im Zuge unabänderlicher Notwendigkeit. Wie mancher von den kräftigen, frischen Jünglingen, die gestern und heute an mir nach der Front hin vorbeimarschierten, wird in wenigen Tagen auf dem Schlachtfeld liegen, zur letzten Ruhe gebettet... Manches von den leuchtenden Augenpaaren, in das ich schauen konnte, wird bald gebrochen sein.... Das ist die Kehrseite der Führerstelle!«

Das also sind die Tatsachen! Wie wenig sind die führenden Männer der deutschen Generalität nach dem Bilde geformt gewesen, das eine mißgünstige, tendenziöse und schlecht unterrichtete Propaganda in der Welt von ihnen entworfen hat. Das hier einmal klar herauszustellen, halte ich für meine Pflicht in diesem einmaligen, [72] geschichtlichen Prozeßverfahren. Ist das deutsche Offizierskorps, vor allem die Generalität, seit 1933 anders geworden? Ist sie unter Hitler, ihren Lehrmeistern untreu werdend, in ein »militaristisches« Fahrwasser abgeglitten? Waren der Geist eines Moltke, eines Schlieffen, eines Seeckt in ihnen erloschen? Hat die Generalität sich einem verbrecherischen Nazi-Plan zugewandt und sich an ihm aktiv beteiligt? Ich glaube, daß die Tatsachen hier eine Sprache von genügender Deutlichkeit sprechen.

Der »gemeinsame Plan«, die »Verschwörung«, mit dem Ziel der Machterweiterung, die schließlich zum Angriffskrieg führen sollte, hatte zunächst, wie die Anklage immer wieder herausstellt, in erster Linie die Unterjochung des eigenen Volkes, die Austilgung aller widerstrebenden Elemente im eigenen Volk zum Ziel. Dabei sollten angeblich die Grundlagen und Erfahrungen für die geplante Unterjochung und Ausrottung anderer Völker gewonnen werden.

Ein so allumfassender Plan hätte aber unter allen Umständen eine innere Übereinstimmung der militärischen Führer mit diesen angeblichen Zielen und Grundsätzen zur Voraussetzung gehabt.

Wie waren die Tatsachen? Das Verhältnis des Offizierskorps zur Partei war alles andere als gut. Bei der Betrauung der Partei mit der Führung auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens und der Einrichtung der totalitären Kontrolle auf wirtschaftlichem Gebiet hatte das Offizierskorps nichts zu sagen. An keiner politischen Entscheidung wurde das Offizierskorps beteiligt. Ausschreitungen höherer Parteifunktionäre, terroristische Methoden der Partei, das Vorgehen gegen die Juden, die Art der politischen Jugenderziehung und die Haltung der Partei unter Führung Himmlers und Bormanns gegen die Kirchen wurden scharf abgelehnt. Die Versuche der SA, sich an die Stelle der Wehrmacht zu setzen, und die der SS, eine zweite bewaffnete Macht neben der Wehrmacht zu bilden, stießen auf stärksten Widerstand.

So also sieht die typische Einstellung der militärischen Führer tatsächlich aus! Wo also war die ideologische Grundlage, die allein eine gemeinsame Planung möglich gemacht hätte? Die Persönlichkeit Hitlers schloß jeden Plan oder jede Verschwörung unter, neben und mit ihm aus. Für die militärischen Führer bestand schon verfassungsmäßige ebenso wie tatsächlich, kein Raum für die Vertretung politischer Ziele oder politischer Pläne. Darüber hinaus wurde aus den Reihen der unter die Anklage fallenden Offiziere gegen die seit 1935 eingeschlagene Politik, die sich später als »Vabanque-Politik« erwies, Warnung erhoben. Der Generalstabschef unternahm es unter Einsatz seiner Stellung und Person, dem verhängnisvollen Treiben eines zum äußersten entschlossenen Staatsoberhauptes Einhalt zu gebieten. Aus denselben Kreisen wurde schließlich mitten im Krieg ein Staatsstreich versucht. Wer kann da noch ernsthaft [73] behaupten, daß die ganze Geisteshaltung dieser Männer, ihr ganzes Sinnen und Trachten immer nur auf Krieg und nichts als Krieg und auf Unterstützung einer den Angriffskrieg bezweckenden Politik gegangen sei? Ich glaube, diese Frage stellen, heißt zugleich, sie verneinen. Wenn der amerikanische Generalstabschef Marshall, dessen Nachrichtenquellen doch unzweifelhaft sehr gut waren, selbst in seinem Bericht an den Präsidenten seiner Überzeugung dahin Ausdruck verleiht, daß zwischen Generalstab und Partei kein gemeinsamer Plan bestanden habe, sondern daß viel öfters scharfe Gegensätze zwischen den beiden aufgetreten seien, dann ist das gewiß ein gewichtiges und beweiskräftiges Zeugnis, dem ich nichts mehr hinzuzufügen brauche.

Ich nehme nun Stellung zu dem Vorwurf der Anklage, daß die militärischen Führer als Gesamtheit das Verbrechen der Planung und Ausführung eines Angriffskrieges bewußt, absichtlich und hinterlistig begangen hätten.

Die schwerwiegenden rechtlichen Bedenken gegen die Charakterisierung des Angriffskrieges als eines Verbrechens auf Grund des Kellogg-Paktes sind von der Verteidigung so oft erörtert worden, daß ich mich darauf beziehen kann. Besonders verweise ich auf die Ausführungen des Professors Jahrreiss. Ich lenke in diesem Zusammenhang die Aufmerksamkeit des Hohen Gerichts nur auf die Tatsache, daß es sich bei der Gesamtheit der von mir vertretenen Personen nicht um Politiker, nicht um Staatsmänner, nicht um Völkerrechtsjuristen, sondern allein um Soldaten handelt.

Will man von den Soldaten eines Landes verlangen, was in 20 Jahren vorher die Diplomaten und Juristen des Völkerbundes nicht zustande gebracht haben? Der Soldat urteilt vorwiegend nach seiner Umwelt. In mindestens drei Fällen des letzten Jahrzehnts sah der Soldat, daß das angebliche Verbrechen des Angriffskrieges nicht verfolgt wurde. Weder nach dem Krieg Italiens gegen Griechenland, noch nach dem Abessinienkrieg, noch nach dem Krieg der Sowjetunion gegen Finnland sind die Soldaten dieser Staaten vor Gericht gestellt worden.

Es bleibt immer Tatsache, daß von Soldaten nur Kriege, keine Angriffskriege, geplant werden. Die Bewertung eines Krieges hat mit strategischer Defensive oder Offensive, wie die Anklage selbst zugibt, nichts zu tun. Auch nach der Anklage ist es erlaubt, militärische Pläne vorzubereiten, auch Offensivpläne, solche durchzuführen und endlich, am Kriege teilzunehmen. Die Bewertung eines Krieges als Angriffskrieg ist ein rein politisches Urteil. Das Planen von Angriffskriegen durch Soldaten ist also nur möglich, wo sich Soldaten in den politischen Bereich begeben. Entscheidend ist also, daß der an einer Planung teilnehmende Offizier wußte, [74] daß es sich um den politischen Plan zu einem bestimmten Angriffskrieg handele, daß dieser Angriffskrieg ein Unrecht sei, und daß er durch seine Mitwirkung selbst Unrecht begehe.

Wie stellt sich nun für die militärischen Führer die Geschichte der letzten Jahre vor dem zweiten Weltkrieg dar? Nicht, wie heute nach Krieg und Niederlage dieses Geschehen in seinem Ablauf klar erkennbar ist, sondern wie es sich damals dem typischen deutschen militärischen Führer abgezeichnet hat, das ist entscheidend für die Schlüsse, die hinsichtlich Schuld oder Unschuld daraus zu ziehen sind.

Immer, wenn die Welt durch die Erschütterungen schwerer Kriege gegangen ist, taucht die Sehnsucht nach ewigem Frieden auf. Diese Sehnsucht empfinden am stärksten die, die im Krieg die größten Opfer gebracht haben. Das waren im ersten Weltkrieg die deutschen Offiziersfamilien, aus denen die Mehrzahl der angeklagten Führer stammt. Wer das Sterben der eigenen jungen Generation miterlebt hat, legt keinen Wert darauf, in einem neuen Krieg die eigenen Söhne zu opfern. Und gerade diese Männer sollten geistig einem Angriffskrieg zugeneigt gewesen sein?

Nicht das Kriegführen, sondern die Erziehung der Jugend zu anständiger Gesinnung, sauberer Haltung, Ehrlichkeit und Kameradschaft sah der Offizier als seine eigentliche Aufgabe an.

Die Aufhebung des Versailler Vertrags war kein Sonderziel der deutschen Generalität, sondern das selbstverständliche Ziel der deutschen Politik schlechthin. Der gewiß unverdächtige Reichskanzler Brüning stellte am 15. Februar 1932 fest: »Die Forderung nach Gleichberechtigung und der gleichen Sicherheit wird vom ganzen deutschen Volke geteilt. Jede deutsche Regierung wird diese Forderung vertreten müssen.«

Ich werde nunmehr die folgenden Seiten bis Seite 39 überschlagen, sie behandeln die Stärkeverteilung und Fragen der Aufrüstung.

Das Bestreben nach Wiedererlangung der verlorenen deutschen Gebiete war keine Sache der Generalität, sondern Gemeingut aller Deutschen und gewiß nicht unmoralisch. Ich erinnere nur an das gleiche Bestreben Frankreichs bezüglich Elsaß-Lothringens nach 1870/1871. Als Hitler vor dem Reichstag endgültig auf Elsaß-Lothringen verzichtete, empfand auch die Generalität diese Erklärung als politische Notwendigkeit und war mit dieser Dokumentierung des Willens, keinen Krieg zu beginnen, durchaus einverstanden. Das Bestreben nach Änderung der Grenzen im Osten war Allgemeingut des deutschen Volkes. Die Abtrennung Danzigs und die Schaffung des Korridors wurden von ganz Deutschland als unerträglich empfunden, übrigens auch von alliierten Staatsmännern nach 1918 scharf kritisiert.

Der Anschluß Österreichs war ein zunächst von Österreich ausgehender Gedanke, dessen Berechtigung im Wege der Freiwilligkeit nicht zu bestreiten ist.

Daß diese Ziele nicht mit Gewalt und Krieg erreicht werden könnten, war dem nüchternen Soldaten klarer als jedem anderen.

Wenn aber dem russischen Soldaten die Eroberung von Teilen Finnlands, Polens und Bessarabiens nicht als Verbrechen angerechnet wird, wie könnte man dann dem deutschen Offizier daraus einen Vorwurf machen, daß er sich die [75] Verbesserung der internationalen Stellung Deutschlands auf friedlichem Wege zum Ziel setzte? Wie könnte man aus dieser Einstellung den Schluß rechtfertigen, daß er die Erreichung dieses Zieles nur im Wege des Angriffskrieges erstrebt hätte?

Ich fasse zusammen: Die von der Anklage betroffenen militärischen Führer als Gesamtheit wollten nicht den Versailler Vertrag beseitigen, um Krieg zu führen, sondern um Deutschland die Gleichberechtigung und Sicherheit zu geben. Sie wollten nicht die halbe Welt erobern, sondern eine moralisch, militärisch und wirtschaftlich untragbare Grenze korrigieren, sie wollten nicht um jeden Preis Angriffskriege oder Krieg überhaupt führen, sondern sie betrachteten den Krieg so, wie alle Soldaten der Welt es tun, nämlich als eine unabänderliche letzte Entscheidung, wenn alle anderen Mittel erschöpft sind.

Der Plan zu einem späteren Angriffskrieg soll sich nach der Anklage bereits dokumentieren in der Aufrüstung und in der Rheinlandbesetzung.

Die Anklage zieht hier wieder das Schlagwort des deutschen »Militarismus« heran, der eigenständig und älter als die Partei sei und auch bereits vor der Machtergreifung im Sinne der späteren Pläne Hitlers gearbeitet habe.

Wie war die tatsächliche militärische Lage etwa um 1935?

Deutschland hatte eine Heeresstärke von höchstens 250000 Mann einschließlich der Reservisten, keine modernen Waffen, keine Geschütze über 10,5 cm Kaliber, keine Luftwaffe, gänzlich veraltete Befestigungen. Die Marine bestand nur aus 15000 Köpfen, sie durfte kein Schiff von mehr als 10000 Tonnen haben, sie hatte keine U-Boote.

Der über die militärischen Bestimmungen des Versailler Vertrags hinausgehende sogenannte »Grenzschutz« war nach Organisation, Bewaffnung und Munitionsausstattung so unbedeutend, daß er nur zur Abwehr für begrenzte Zeit verwendbar und seinem militärischen Wert nach einer fast unausgebildeten Miliz gleichzusetzen war. Die in der Propaganda so oft hervorgehobene »Schwarze Reichswehr« war bereits 1923 aufgelöst worden.

Diesem so schwach gerüsteten Reich standen gegenüber: Frankreich mit 600000 Mann Friedensstärke, 1,5 Millionen Mann im Kriegsfall, die Tschechoslowakei mit 600000 Mann im Kriegsfall, Polen mit 1 Million Mann im Kriegsfall.

Alle diese Staaten hatten modernste Bewaffnung, Luftstreitkräfte und Panzerformationen.

Kann wirklich ein Mensch diese bescheidenen – gemessen an modernen Kriegserfordernissen geradezu lächerlichen – deutschen Rüstungsmaßnahmen im Verhältnis zu denen der Umwelt als Vorbereitung und Grundlage für die späteren Angriffskriege ansehen?

Auch das ganze Denken der damaligen militärischen Kreise war ausschließlich auf Verteidigung gerichtet. In der Truppenausbildung ging das Ziel auf Heranbildung von Unterführern, die ausreichen sollten, um im Konfliktsfalle das Heer zu verdreifachen. Das hätte bestenfalls gerade noch zur Abwehr eines der möglichen Gegner ausgereicht. In der Gefechtsausbildung nahm die Kampfform des hinhaltenden Widerstandes den Hauptraum ein, auch die Führerausbildung sah nur die Abwehr oder das zeitweilige Aufhalten eines feindlichen Angriffs – meist erst im Inneren Deutschlands – vor. Für eine erstmalig zum 1. April 1930 vorgesehene Kriegsgliederung mit einer ungefähren Verdreifachung des Heeres für den Kriegsfall reichten die Waffenbestände zur Bewaffnung bei weitem nicht aus. Bis 1935 fand irgendeine Aufmarschbearbeitung nicht statt.

Man wende nicht ein, daß schon diese bescheidenen Maßnahmen durchaus überflüssig gewesen seien – auch als Verteidigungsmaßnahmen, da ja niemand Deutschland bedroht habe.

Frankreich hatte sich nur unter starkem anglo-amerikanischen Druck zum Verzicht auf das linke Rheinufer bewegen lassen. Die Tschechoslowakei erhob Ansprüche auf das Glatzer Bergland und die Lausitz. In Polen wurde ganz offen die Annektion Oberschlesiens gefordert.

Wo ist von einem deutschen »Militarismus« als Vorläufer und Vorbereiter für Hitlers Angriffspläne auch nur eine Spur zu finden? Die damaligen Offiziere haben nur im Geiste des Friedens und der Humanität gearbeitet, um im Falle eines Feindangriffes eine Verteidigung zu ermöglichen.

[76] An den in den Jahren 1935 bis 1937 folgenden politischen Ereignissen, der tatsächlichen Aufhebung des Versailler Vertrags, dem Austritt aus dem Völkerbund und der Erklärung der Wehrhoheit hatten die militärischen Führer keinerlei Anteil. Die Erklärung Hitlers, die territorialen Grenzen des Versailler Vertrags würden respektiert und die Locarno-Vereinbarung innegehalten, wurde von den militärischen Führern genauso geglaubt wie vom ganzen deutschen Volk und der übrigen Welt. Die Punkte, die die Anklage übergeht, weil sie nicht in das Bild der von ihr konstruierten Verschwörung passen: der Verzicht auf Elsaß-Lothringen, das Abkommen mit Polen und der Flottenvertrag mit England bedeuteten für den Soldaten das endliche Aufhören des »Cauchemar des Coalitions«. Nur die zunehmende Entfremdung von Rußland wurde mit Sorgen betrachtet.

Die Wiederbesetzung des Rheinlandes war für den Soldaten eine moralische Selbstverständlichkeit, die sich aus der Stellung Deutschlands als eines gleichberechtigten und souveränen Staates ergab. Trotzdem warnte der Oberbefehlshaber des Heeres so nachdrücklich, daß die Zahl der auf das linke Rheinufer vorgeschobenen Garnisonen auf nur 3 Bataillone beschränkt wurde.

Ich fahre auf Seite 39 oben fort:

Die von der Anklage betroffenen militärischen Führer als Gesamtheit waren ohne jeden Einfluß auf den Gang der Ereignisse, ja sie selbst wurden davon überrascht. Wenn in all diesen Jahren die Handlungen Hitlers von dem Ausland hingenommen und mindestens de facto anerkannt wurden, so mag das, wie Herr Justice Jackson meint, seinen Grund darin haben, daß dort »schwache Regierungen« am Ruder waren. Tatsache war und blieb aber die internationale Anerkennung. Wenn das Ausland schon in alledem keinen »Anfang der Ausführung« von Angriffskriegen erkannte, wie sollten die deutschen militärischen Führer als Ganzes die Erkenntnis von solchen Planungen Hitlers gewonnen haben?

Für den militärischen Fachmann wird der letzte Zweifel von der Absicht der militärischen Führer durch die Einsichtnahme in die militärischen Planungen jener Zeit behoben, die reinste Verteidigungsanordnungen enthielten. Bezeichnend ist die Schlußansprache des Generaloberst Beck vor einem Kreis höherer Offiziere nach Abschluß einer operativen Aufgabe mit dem Thema »Kampf mit der Tschechoslowakei«. Wenn er in dieser mit außerordentlichem Ernst als Ergebnis der Studie hervorhob, daß Deutschland zwar das tschechische Heer innerhalb einiger Wochen niederwerfen könne, dann aber nicht in der Lage sei, den inzwischen über den Rhein nach Süd- und Mitteldeutschland eingedrungenen französischen Kräften irgendeine nennenswerte Gegenwehr entgegenzusetzen, so daß der Anfangserfolg gegen die Tschechoslowakei sich in seiner weiteren Auswirkung in eine unabsehbare Katastrophe für Deutschland verwandeln müsse, so kann das wohl nicht als Zeichen der Kriegslüsternheit der Generale, als Zeichen der Zustimmung zu etwaigen Angriffsplänen Hitlers, gedeutet werden.

Auch in der Folgezeit betonten die militärischen Führer immer wieder mit Ernst, daß die deutsche Politik – welche Ziele sie auch verfolgen möge – nie eine Lage herbeiführen dürfe, die einen Zweifrontenkrieg zur Folge habe. Damit war jeder Gedanke, einen [77] Angriffskrieg zu führen, angesichts der Fülle von Beistandspakten, Garantieverpflichtungen und Bündnissen zwischen allen Nachbarn Deutschlands grundsätzlich ausgeschlossen.

Die Geschichte hat den Generalen Recht gegeben. Hitler hat auf ihre Warnungen nicht gehört, sondern ausgerufen: »Was sind das für Generale, die ich als Staatsoberhaupt womöglich zum Kriege treiben muß. Wäre es richtig, so dürfte ich mich doch vor dem Drängen der Generale nach Krieg nicht retten können!« Nur wer die Wahrheit nicht sehen will, kann an diesen Tatsachen vorbeigehen. Wenn jemals eine Einmütigkeit der militärischen Führer bestanden hat, so gewiß nicht im Planen von Angriffskriegen, sondern – aus ganz nüchterner Erkenntnis der Gefahren und Folgen jedes Krieges für Deutschland und die Welt – in der Ablehnung solcher Pläne des Staatsoberhauptes.

Hitler, der Mann, der es am besten wissen mußte, hielt diese Männer als »Teilnehmer« an seinen Plänen nicht für geeignet und setzte sie ab. Er sah auch keinen anderen Offizier aus dem sogenannten »Verschwörerkreis« als geeignet zum obersten Befehlshaber und zum künftigen Teilnehmer an etwaigen Planungen an, sondern übernahm nun persönlich den Oberbefehl über die Wehrmacht und wurde damit ihr unmittelbarer Vorgesetzter.

Seine Willensäußerungen und Weisungen der Wehrmacht gegenüber erhielten nunmehr den Charakter des militärischen Befehls. Gegenvorstellungen waren zwar noch möglich, – aber wenn der Befehlende auf seiner Auffassung beharrte, gab es nur die Pflicht der Untergebenen, zu gehorchen. Das dürfte in allen Armeen der Welt Grundsatz sein.

An dieser Stelle muß ich ein Dokument besprechen, das der Anklage in besonderem Maße als Beweis der Pläne der »verbrecherischen Organisation« dient, das sogenannte »Hoßbach-Protokoll« über die Besprechung am 5. November 1937. Was ist tatsächlich geschehen?

Nicht eine »einflußreiche Gruppe der Nazi-Verschwörer traf zur Überprüfung der Lage mit Hitler zusammen«, sondern Hitler ließ als Staatsoberhaupt einige militärische Führer und den Außenminister kommen. Er entwickelte seine Gedanken: Zunächst erklärte er, die Fragen Österreich und Tschechoslowakei sollten 1943 bis 1945 gelöst werden; dann bezeichnete er Polen als möglichen Angreifer. Keine Rede war von der Lösung der Korridorfrage oder von Eroberungen im Osten und dergleichen.

Was die Zuverlässigkeit des Protokolls angeht, so ergibt sich aus dem von mir vorgelegten Affidavit Nummer 210 des Generals Hoßbach klar, daß Hoßbach den Wortlaut der Rede nicht mitgeschrieben, sondern ihren Inhalt einige Tage später aus dem Gedächtnis heraus schriftlich niedergelegt hat. Wer wüßte nicht, [78] wie leicht bei solchen nachträglichen Niederschriften durch die Verwendung eigener Worte oder durch Gedächtnislücken Fehler vorkommen, die den tatsächlichen Vorgang entstellen!

Fest steht jedenfalls folgendes:

  • 1. Der Reichskriegsminister und der Oberbefehlshaber des Heeres haben nicht nur nicht irgendeinem kriegerischen Plan zugestimmt, sondern ernst und eindringlich auf die von England und Frankreich drohende Gefahr unter Betonung der Schwäche Deutschlands hingewiesen.

  • 2. Was immer der Sinn der Ansprache Hitlers gewesen sein mag, so haben alle militärischen Führer von den geäußerten Gedanken Hitlers überhaupt nichts erfahren. Generaloberst von Fritsch hat bei seiner Entlassung noch nicht einmal seinen Nachfolger davon unterrichtet.

  • 3. Selbst wenn ein einzelner Offizier von dem Inhalt dieser Besprechung erfahren hätte, dann könnte man auch daraus noch keine Schlüsse gegen die Gesamtheit der militärischen Führer ziehen. Wenn Hitler in sechs bis acht Jahren einen Krieg in Aussicht stellte, so lag noch kein Grund zur Beunruhigung vor. In einem so langen Zeitraum waren noch zahlreiche politische Lösungen möglich. Auch waren die wahren Gedanken Hitlers aus dieser Ansprache genau so wenig zu erkennen wie aus seinen sonstigen Ansprachen.

  • 4. Aus der Ansprache mußten die wenigen anwesenden Offiziere zum mindesten den positiven Schluß ziehen, daß Hitler selbst für die Jahre bis 1943 nur an eine unbedingt friedliche Entwicklung denke.

Wo also ist der Beweis für eine Beteiligung der Generale an den Planungen Hitlers? Aus dem Verhalten der Generalität bei dem Anschluß Österreichs und in der tschechischen Frage will die Anklage wiederum Rückschlüsse auf die Einstellung der Generale zu dem Gesamtplan ziehen. Die besonders betonte Bedeutung der Mitwirkung einiger Offiziere bei der Besprechung im Februar 1938 auf dem Obersalzberg zwischen Hitler und den österreichischen Staatsmännern beleuchtet nichts besser als der spätere Ausspruch Hitlers: »Ich habe meine am brutalsten aussehenden Generale als Statisten hingestellt, um Schuschnigg den Ernst der Lage zu dokumentieren.«

Der tatsächliche Einmarch und die Besetzung Österreichs waren eine politische Maßnahme, deren Hintergründe die Gesamtheit der Generale nicht kannte. Der Offizier sah nur, daß bei dem Einmarsch seine Truppen überall mit Blumen überschüttet und von Hunderttausenden begeistert begrüßt wurden und daß kein Schuß fiel.

[79] Der von der Anklage herangezogene Aufmarsch plan »Grün« gegen die Tschechoslowakei war nicht etwa die Folge der Besprechung vom 5. November 1937, sondern eine reine Vorsichtsmaßnahme für den Fall eines Krieges mit Frankreich, und lag bereits am 1. Oktober 1937, also vor der Besprechung, im Generalstab vor.

Obwohl es auch in diesem Falle zu einem Abkommen kam, in dem der Einmarsch der deutschen Truppen vereinbart wurde, warnte der Generalstabschef Generaloberst Beck mit Billigung des Oberbefehlshabers des Heeres in einer Denkschrift vor einer Politik, die zum kriegerischen Konflikt führen könne. Er betonte darin, daß jeder von Deutschland ausgelöste Krieg in Europa letzten Endes zu einem Weltkrieg mit tragischem Ende für Deutschland führen müsse. Generaloberst Beck wurde abgesetzt.

Als am 10. August 1938 Hitler sich unmittelbar an die Generalstabschefs der Armeen wandte, offenbar in der Hoffnung, auf diesem Weg über die jüngere Generation den Widerstand der älteren Oberbefehlshaber zu überwinden, wurden ihm auch in diesem Kreis solche Bedenken entgegengebracht, daß er noch mißtrauischer gegen die Generale wurde. Wo also war die Begeisterung der Generale für Hitlers Pläne, wo ihre Beteiligung daran?

Die ständig wechselnden Äußerungen Hitlers in der Sudetenangelegenheit ließ bei den militärischen Führern erst recht nicht die Erkenntnis aufkommen, daß er ernstlich einen Krieg planen könne.

Am 5. November 1937 erklärte er, er werde die tschechische Frage 1943 bis 1945 lösen.

Am 20. Mai 1938 gab er in einer militärischen Weisung bekannt: »Es ist nicht meine Absicht, die Tschechoslowakei ohne Provokation in naher Zukunft durch militärische Aktion zu zerschmettern.«

Am 30. Mai 1938 gab er an die Wehrmacht die Weisung: »Es ist mein unabänderlicher Entschluß, die Tschechoslowakei durch militärische Aktion in naher Zukunft zu zerschmettern.«

Am 18. Juni 1938 hieß es in einer neuen Weisung: »Das unmittelbare Ziel ist die Lösung der tschechischen Frage durch meine freie Entscheidung.«

Am 24. August 1938 legte er als Vorbedingung eines deutschen Angriffs einen »Zwischenfall« in der Tschechoslowakei fest.

Am 16. September 1938 begannen die militärischen Vorbereitungen an der Grenze. Aber gleichzeitig begannen auch die politischen Verhandlungen.

Am 1. Oktober 1938 erfolgte auf Grund der politischen Vereinbarung die friedliche Besetzung des abgetretenen Gebietes.

[80] Die Einnahme des Protektorats über die Tschechoslowakei erfolgte als rein politische Maßnahme, die militärischen Führer erhielten nur den Befehl zum friedlichen Einmarsch.

Als nun im Dezember 1938 in einem schriftlichen Befehl an das OKH angeordnet wurde, daß das Heer sich bis 1945 nur den Aufgaben seines organisatorischen Aufbaus und seiner Ausbildung zu widmen habe und daß jede Art von Vorbereitungen für einen Kriegsfall einschließlich der Vorbereitungen für eine Grenzsicherung unterbleiben sollte, gewannen die militärischen Führer die feste Überzeugung, daß eine friedliche Entwicklung gesichert wäre. Welches dieser Ereignisse ließe den Schluß zu, daß die militärischen Führer sich an einem Gesamtplan mit der Zielrichtung auf einen Angriffskrieg beteiligt hätten? In allen Fällen taten die militärischen Führer nichts anderes, als daß sie nach vollzogener politischer Entscheidung ihre rein militärischen Befehle ausführten.

Die politische Entwicklung, die zum Kriege mit Polen führte, ist in diesem Verfahren zur Genüge behandelt. Ich habe hier nur noch darzustellen, wie sie sich in den Augen der militärischen Führer ausnahm. Wie war jetzt das Verhältnis der Generale Hitler gegenüber? Er war der Oberste Befehlshaber der Wehrmacht, also ihr unmittelbarer militärischer Vorgesetzter. Ihre politischen Bedenken waren überall ad absurdum geführt worden: bei der Rheinlandbesetzung, bei dem Anschluß Österreichs, in der Sudetenfrage, bei der Errichtung des Protektorats.

Es ist leicht, aus der heutigen Kenntnis der Dinge diese Tatsachen einfach wegzuleugnen, aber damals war der Glaube an Hitlers politisches Geschick bei der Mehrzahl der Bürger und Soldaten greifbare Wirklichkeit. Und alle Erfolge hat er nur auf dem Wege der Politik, in keinem Falle durch Krieg erreicht. Um zu erkennen, daß er es zu einem Krieg, zu einem Angriffskrieg mit Polen kommen lassen würde, hätten die militärischen Führer Hellseher sein müssen. Wie sollten sie seine Ziele erkennen? Dem Auswärtigen Amt war ihre Unterrichtung über die politische Lage verboten. Weder als einzelne noch als Gesamtheit konnten sie an politischen Entscheidungen mitwirken. Die Vorschläge des Reichsaußenministers im Oktober 1938 gegenüber dem Polnischen Botschafter, die Besprechungen Hitlers selbst mit dem Polnischen Außenminister in Warschau, konnten von dem Standpunkt des Soldaten nur als Versuche einer politischen Lösung des polnischen Problems gewertet werden, aber nie als Hinweis auf einen beabsichtigten Angriffskrieg.

Der erste militärische Befehl im April 1939 bedeutete nicht mehr als die Vorbereitung für eine »Eventualität«. Wenn man als militärischer Führer nüchtern dachte, so ließe die Zusicherung englischer und französischer Hilfe für Polen jeden Gedanken an einen Angriffskrieg gegen Polen absurd erscheinen.

[81] Die Besprechung vom 23. Mai 1939 war eine einseitige Ansprache des Obersten Befehlshabers an die von ihm befohlenen militärischen Führer. Wenn Hitler dabei wörtlich erklärte: »Ich müßte ein Idiot sein, wenn ich wegen der lausigen Korridorfrage in einen Weltkrieg hineinschlittern würde wie die unfähigen Männer des Jahres 1914« und wenn Hitler dabei auf die Bemerkung des Feldmarschalls Milch, daß die Produktion an schweren Bomben für den Fall eines Krieges völlig unzulänglich sei und umgehend vermehrt werden müsse, antwortete, solche Maßnahmen hätten noch Zeit, so mußten die militärischen Führer daraus schließen, daß Hitler die militärischen Vorbereitungen nur zur Unterstützung der eingeleiteten politischen Maßnahmen getroffen habe, daß er es aber auf keinen Fall auf einen bewaffneten Konflikt mit Polen ankommen lassen würde.

Auch die Besprechung vom 22. August 1939 war keine Beratung mit Ratgebern, sondern die Ansprache des Obersten Befehlshabers an die von ihm befohlenen militärischen Führer. Wenn Hitler dabei die Worte gebrauchte: »Wir haben keine andere Wahl, wir müssen handeln,« so sagte er damit nicht, wie er sich dieses »Handeln« dachte. Jedenfalls hatten die militärischen Führer noch keineswegs den Eindruck, daß ein Krieg gegen Polen beschlossene Sache sei, im Gegenteil, die sichtliche Erleichterung mit der Hitler den soeben mit der Sowjetunion abgeschlossenen Handelsvertrag bekanntgab, ließ bei den Teilnehmern den festen Glauben zurück, er werde auch in der polnischen Frage eine diplomatische Lösung finden.

Hitler war bis dahin ein Meister im Ergreifen der richtigen Gelegenheit. Niemand hat wohl das Mittel des Bluffs virtuoser gehandhabt als er. Bluff und militärischer Druck sind aber erlaubte Mittel der Politik. Daraus den Schluß zu ziehen, daß, wer das eine tut oder unterstützt, damit auch den Angriffskrieg billigt ist völlig verfehlt. Wenn Hitler wirklich den Plan zu einem Angriff auf Polen längere Zeit vorher gefaßt haben sollte, so haben die militärischen Führer diesen Plan als solchen nicht einmal erkennen können. Sie wurden letzten Endes selbst »geblufft«.

Als dann die Würfel gefallen waren, was sollten sie tun? Sollten sie etwa erklären: »Wir machen nicht mit«, oder sich weigern anzutreten?

Sie hatten ihre Pflicht zu tun. Sie waren in genau der gleichen Lage, in der die russischen Heerführer waren, als diese auf Stalins Befehl einige Tage später ebenfalls in Polen einrückten.

Nachdem der Krieg einmal begonnen hatte, galt für die militärischen Führer das Wort Napoleons: »Merken Sie sich, meine Herren daß im Kriege der Gehorsam höher steht als die Tapferkeit.«

[82] Die Anklage macht die militärischen Führer aber ferner nicht nur für den Beginn des Krieges, sondern auch für seine Ausweitung und seine Führung überhaupt verantwortlich.

Die Gründe politischer oder militärischer Art, die zur Ausweitung und Gestaltung der Kriegsgeschehnisse geführt haben, sind in diesem Verfahren so oft und so vielseitig erörtert, daß ich es mir an dieser Stelle – zumal bei der beschränkten Zeit, die mir zur Verfügung steht – versagen muß, sie noch einmal in einem großen Überblick zu erörtern.

Für die militärischen Führer stellten sich die politischen Hintergründe des zweiten Weltkrieges als deutliche Folgen der im Vertrag von Versailles geschaffenen Verhältnisse dar. Dadurch erschien ihnen das deutsche Vorgehen gegen Polen letzten Endes moralisch gerechtfertigt.

Den Krieg im Westen haben die deutschen Generale am allerwenigsten gewünscht. Wenn England und Frankreich den Krieg erklärten, so war das sicher keine Tatsache, die die deutschen militärischen Führer vertreten hätten. Was im weiteren Kriegsverlauf sich an Ausweitungen ergab, kann nicht mehr als die Folge freier Entschlüsse oder eines vorbedachten Planes angesehen werden. Der Zwang des Kampfes um Sieg oder Niederlage, wenn erst einmal ein Krieg ausgebrochen ist, schreibt schon den Staaten ihren Weg vor. Der Soldat ist dann nichts anderes als das Schwert, das zuschlagen muß und der Schild, der die Hiebe auffängt, um den Tod des eigenen Volkes zu verhindern. Die Beweisaufnahme im Falle Raeder hat einwandfrei klargestellt, welche Erwägungen den engen Kreis der Offiziere beherrschten, die die Besetzung Dänemarks und Norwegens vorbereiteten. Wir wissen, daß hier das Deutsche Reich einer alliierten Unternehmung knapp zuvorkam. Wenn schon der Oberbefehlshaber der Marine zu der Überzeugung kam, daß es sich um eine zwingende Notwendigkeit zur Abwendung schwerster Gefahren für Deutschland handelte, wie könnte dann den zur sogenannten Gruppe gehörenden Befehlshabern die Einsicht gekommen sein, daß so schwerwiegende Gefahren nicht zu befürchten seien! Hätten die alliierten Generalstabs- und Truppenführer etwa das Recht oder die Möglichkeit gehabt, die Einschiffung ihrer Truppen, die zu dem gleichen Zwecke – vor der deutschen Aktion – erfolgte, zu verweigern? Im übrigen waren es wenige militärische Führer, die von der Aktion Kenntnis hatten. Alle übrigen von der Anklage betroffenen Offiziere erfuhren von der Unternehmung erst durch den Rundfunk. Wie also können sie der Teilnahme an der Planung gegen diese Länder bezichtigt werden?

Auch die Gründe und Voraussetzungen des Westfeldzuges sind abschließend erörtert. Die Haltung der Generale ist hier ganz besonders bezeichnend gegen die Annahme der Anklage. Schon das [83] OKH wandte sich scharf gegen den Entschluß Hitlers zu einem Angriff im Westen, insbesondere wegen der beabsichtigten Neutralitätsverletzung. Die Zusammenstöße mit Hitler waren so schwer, daß Hitler in seiner Ansprache an die Oberbefehlshaber vom 23. November 1939 ungewöhnlich scharfe Angriffe gegen die Generale richtete, ihnen Unkenntnis in außenpolitischen Fragen vorwarf und von einer »überfälligen Oberschicht« sprach, die schon 1914 versagt habe. Noch am Abend dieses Tages erklärte der Oberbefehlshaber des Heeres seinen Rücktritt, der jedoch nicht angenommen wurde.

Wenn also das OKH Hitlers Plänen scharf widersprach, schwere Auseinandersetzungen zwischen Hitler und den Generalen erfolgten, und schließlich der Oberbefehlshaber des Heeres seinen Rücktritt forderte, welches andere Vorgehen könnte man sonst noch von den Generalen verlangen? Hätten sie sich etwa zu einer Meuterei vor dem Feinde entschließen sollen? Selbst eine solche wäre bei der starken Stellung des damals siegreichen Hitler im deutschen Volke völlig wirkungslos geblieben. Darüber hinaus hat das OKH immer in der Hoffnung, es könne sich doch noch eine Friedensmöglichkeit finden, den Angriffsbeginn bis in das Frühjahr 1940 hinein verzögert. Selbst wenn, juristisch gesehen, in dem Vormarsch durch Belgien und Holland eine objektive Neutralitätsverletzung gesehen werden sollte, so mußten doch die militärischen Führer diese Maßnahme als durch die Kriegserfordernisse geboten und nach den ihnen bekanntgewordenen Nachrichten über den drohenden Neutralitätsbruch von alliierter Seite aus auch als berechtigt ansehen. Dies um so mehr, als sie die politischen Verhältnisse nicht überblickten, und auf den Entschluß zum Einmarsch keinerlei Einfluß gehabt hatten.

Die Gründe für das Vorgehen gegen Jugoslawien und Griechenland sind in der Beweisaufnahme Göring, Keitel und Jodl ausreichend geklärt worden. Der Krieg gegen Griechenland war eine zwangsläufige Folge des eigenmächtigen Vorgehens Italiens, der Krieg gegen Jugoslawien eine Folge des plötzlichen Staatsstreichs in Belgrad. Was die militärischen Führer anlangt, so hatten sie einen Krieg auf dem Balkan nicht einmal in den Kreis ihrer Erwägungen gezogen, geschweige denn, daß sie dafür irgendeine Art von Verantwortung trugen.

Mit der Möglichkeit einer Wendung gegen die Sowjetunion rechneten die militärischen Führer im Anfang des Krieges keineswegs. Es wurden auch von ihnen keinerlei Vorbereitungen für einen solchen Fall getroffen. Noch nicht einmal Karten waren dafür im OKH vorhanden. Als Hitler später sie zu solchen Plänen veranlaßte, begründete er das mit der Notwendigkeit, einem drohenden Eingreifen Rußlands in den Krieg zuvorzukommen. Das russische Vorgehen gegen Finnland, das Baltikum und Bessarabien schien die [84] Richtigkeit dieser Auffassung zu bestätigen. Glaubhafte Nachrichten von starken russischen Truppenmassierungen waren für sie weitere Anzeichen drohender Gefahr. Wie sich aus der Aussage des Generalfeldmarschalls von Rundstedt und des Generals Winter ergibt, stieß der deutsche Angriff in starke russische Aufmarschvorbereitungen hinein, die erst recht bei den militärischen Führern die Überzeugung bekräftigten, daß Hitler mit seiner Erklärung, es handle sich um einen echten Präventivkrieg, recht gehabt habe.

Die Bodenorganisation der sowjetischen Luftwaffe war so weit zur Grenze vorgezogen, daß allein schon daraus mit Sicherheit auf eine russische Angriffsabsicht geschlossen werden mußte. 10000 Sowjet-Panzer, 150 Sowjet-Divisionen und eine Vermehrung der Flugplätze, in Ostpolen allein von 20 bis 100, wurden damals festgestellt. Wenn die militärischen Führer unter solchen Umständen den Entschluß Hitlers zum Präventivkrieg als militärisch gerechtfertigt ansahen, so war auch ihre Teilnahme an diesem Krieg in Ausübung ihrer soldatischen Pflicht niemals ein Verbrechen. Die von der Anklage als Planung eines Angriffskrieges angesehene militärische Planung mit dem Kennwort »Barbarossa« war bis zuletzt als reiner Eventualfall gedacht, als eine vorsorgliche Maßnahme für den Fall, daß die Sowjetunion ihre Haltung ändern würde. Selbst nach dem Februar 1941 hatten – außer den führenden Persönlichkeiten des OKW, OKH und dem Oberbefehlshaber der Luftwaffe – nur 18 von 129 angeklagten militärischen Führern überhaupt von dieser Planung, und zwar auch nur als Planung für den Eventualfall, erfahren. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Feldmarschall von Brauchitsch, hatte auch für diesen Eventualfall Hitler gewarnt, indem er auf schwerwiegende militärische Bedenken hinwies. Die Masse der hier betroffenen Offiziere hat aber erst unmittelbar vor Beginn des Krieges, als die Würfel schon gefallen waren, dadurch Kenntnis erhalten, daß sie ihre Befehle empfing.

Wie hätten sich die 18 Offiziere, die von der Planung erfuhren, mit Erfolg Hitlers Absichten entgegenstellen können? Die von Hitler angegebenen Gründe rechtfertigten den Krieg. Ein Abwarten, bis die sowjetische Bedrohung zum wirklichen Angriff würde, mußte nach militärischer Voraussicht zur Vernichtung des Reiches führen. Für die anderen militärischen Führer war überhaupt keine Möglichkeit gegeben, Hitlers Entschluß abzulehnen.

Der Beginn des Krieges gegen die USA ist gleichfalls schon erörtert worden. Er wurde erklärt, ohne daß die obersten militärischen Führer vorher überhaupt dazu gehört wurden. Wenn selbst das OKH erst die vollendete Tatsache erfuhr, wie sollen dann die übrigen militärischen Führer von der Absicht Hitlers, diesen Krieg zu beginnen, etwas gewußt haben? Für die Kriegsmarine, die allein für die Kriegführung in Frage kam, solange nicht die Land- und Luftstreitkräfte der USA in Europa oder Afrika eingriffen, [85] steht fest, daß die Feindseligkeiten praktisch schon lange vor der Kriegserklärung durch Roosevelts Schießbefehl eröffnet worden waren, obwohl die deutschen Streitkräfte die völkerrechtlich nicht gerechtfertigte 300-Seemeilen-Grenze streng respektierten. Die Beweisaufnahmen Raeder und Dönitz haben eindeutig ergeben, daß alle Befehle des Oberkommandos der Kriegsmarine darauf abzielten, einen Konflikt mit den Vereinigten Staaten unter allen Umständen zu vermeiden.

Ich komme zum Abschluß dieses Kapitels:

Welche Schuld tragen die von der Anklage betroffenen 129 Offiziere als Gesamtheit an dieser Ausweitung des Krieges?

Ich glaube, keine andere als die, die jeder Soldat trägt, wenn er im Kriege dort für sein Vaterland kämpft, wo man ihn hinstellt.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird eine 10 Minuten lange Pause einlegen.

[Pause von 10 Minuten.]


DR. LATERNSER: Ich komme nun zu dem Kapitel: »Verbrechen gegen Kriegsrecht und Humanität.«

Die Beschuldigung, daß die betroffenen militärischen Führer erstens an der Planung und zweitens an der Durchführung eines verbrecherischen totalen Krieges, insbesondere auch an Verbrechen gegen die feindlichen Armeen und gegen Kriegsgefangene, sowie gegen die Bevölkerung in den besetzten Gebieten beteiligt gewesen seien, trifft die deutsche Generalität besonders stark. Für die Generale geht es nicht um die Verkleinerung etwaiger eigener Schuld sondern um die Feststellung geschichtlicher Wahrheit.

Will man das furchtbare Geschehen des letzten Weltkrieges gerecht beurteilen, so muß man sich vergegenwärtigen, daß das Tun und Lassen der einzelnen wie der Völker nicht allein das Produkt freien Willens oder guter oder schlechter Gesinnung ist, es erwächst vielmehr aus den geistigen Grundlagen der Zeit, deren Einnüssen sich niemand zu entziehen vermag.

Schon von Beginn des 19. Jahrhunderts an haben sich die Völker mit den Problemen der Macht in jeglicher Gestalt auseinandersetzen müssen. Die verschiedenen Lehren, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allgemein festzustellende materialistische Einstellung, und schließlich auch die in allen Kontinenten bemerkbare Übersteigerung des Nationalgefühls sind Erscheinungen, die – gleichgültig, ob sie gut oder schlecht waren – auf die Einstellung und das Handeln der Völker nicht ohne Einfluß geblieben sind. Wenn auch diese Ideen nicht zu den Resultaten zu führen brauchten, vor denen wir heute stehen, so sind sie doch letzten Endes der geistige Ausgangspunkt für das Zustandekommen des zweiten Weltkrieges mit seinen Folgen.

[86] Ein anderer Gesichtspunkt, der bei einer gerechten Würdigung des gesamten Geschehens, insbesondere der ungeheuren Menschenopfer, nicht übersehen werden darf, ist die Abwertung des Menschen. Sie beruht einmal auf der seit dem 19. Jahrhundert bei fast allen Kulturnationen festzustellenden »Vermassung«. Je stärker die Völker sich vermehrten, desto mehr sank bedauerlicherweise der Wert des einzelnen Menschen. Vor allem hat aber auch die fortschreitende Entwicklung der Technik zu dieser Abwertung erheblich beigetragen. Wenn die moderne Technik den Menschen die Mittel in die Hand gibt, mit einem Schlag Zehntausende von Menschenleben zu vernichten, wenn die Luftangriffe einer einzigen Nacht 200000 Menschenopfer verursachen – wie in Dresden – wenn ein oder zwei Atombomben genügen, 100000 Menschen ums Leben zu bringen, dann muß die Bewertung des Menschen sinken. Diese Erscheinung zeigte sich schon im ersten Weltkrieg, wie in der russischen Revolution und im spanischen Bürgerkrieg. Die deutschen militärischen Führer sträubten sich gegen diese Entwicklung, als Kinder ihrer Zeit aber konnten sie sich ebensowenig wie die Soldaten der anderen Länder dem Geist ihrer Epoche entziehen. Der zweite Weltkrieg war aber nicht nur ein rein militärischer Krieg, sondern daneben, in seinen Auswirkungen sogar vorwiegend, ein Krieg der Weltanschauungen. Wann immer auch Weltanschauungen aufeinanderprallten, wurde der Kampf zu einem Vernichtungskampf, zum totalen Kampf. Von jeher forderten weltanschauliche Kämpfe Ströme von Blut und brachten unvorstellbare Greuel mit sich. Man erinnere sich der Religionskriege und denke an die Opfer und Grausamkeiten der großen Revolutionen. So wurde auch der zweite Weltkrieg als weltanschauliche Auseinandersetzung von beiden Seiten mit einer Schärfe und Ausdauer geführt, die schließlich zur vollen Ausschöpfung der menschlichen Kräfte und materiellen Mittel der eigenen Völker, das heißt zum »totalen Krieg« im wahrsten Sinne des Wortes, führte.

Wenn darüber hinaus der Begriff »totaler Krieg« von den Politikern beider Seiten im Sinne der totalen Ausrottung der gegnerischen Weltanschauung erweitert wurde, so zeigt dies, was eine weltanschauliche Auseinandersetzung bedeutet.

Wie standen die Generale diesen Problemen gegenüber? Der von der Anklage erfaßte Kreis von Generalen bestand ausschließlich aus Männern, die den Soldatenberuf als Lebensaufgabe gewählt hatten. Sie waren reife Männer mit Lebenserfahrung, die nicht erst unter dem nationalsozialistischen Regime den Soldatenrock angezogen hatten. Gerade der gereifte Mensch aber hat ein stärkeres Gefühl für Überlieferungen, Recht und Gesetz als der junge. So zeigt sich auch hier schon bald nach Kriegsbeginn, daß die militärischen Führer mit den revolutionären Ideen Hitlers über die Methoden der Kriegführung keineswegs übereinstimmten und es ablehnten, sie sich zu [87] eigen zu machen. Die Generale waren fest entschlossen, den Kampf in alter Tradition unter genauester Beachtung der Kriegsregeln zu führen. Der von Hitler im November 1939 den Generalen gemachte Vorwurf über ihre »rückständigen Auffassungen ritterlicher Kriegführung« spricht eine deutliche Sprache. Daß sich diese Einstellung bei ihnen auch in späterer Zeit nicht geändert hat, geht daraus hervor, daß im weiteren Verlauf des Krieges ein großer Teil der hier unter Anklage stehenden Generale wegen dieser Haltung, trotz ihrer militärischen Erfolge, abgelöst wurde.

Vor dem Hohen Gericht sind drei Generalfeldmarschälle als Zeugen aufgetreten. Hat man von diesen Männern den Eindruck gewonnen, daß sie etwa Verbrecher gegen die Regeln des Kriegsrechts und der Humanität waren? Diese Offiziere wußten aus dem ersten Weltkrieg, daß Verstöße gegen das Kriegsrecht sich immer gegen die eigenen Soldaten kehren. Sie haben bis zuletzt den Kampf gegen die bewaffneten Streitkräfte der Gegner nach den Regeln des Kriegsrechts geführt.

Die gleiche Einstellung hatten die Generale auch gegenüber der Zivilbevölkerung und bei der Verwaltung der besetzten Feindgebiete.

Der militärische Führer, der für den Kampf an der Front die Verantwortung trägt, hat nur ein Interesse, nämlich, daß in seinem Rücken Ruhe herrscht. Schon aus diesem Grunde wird er alles tun, um jegliche Beunruhigung der Bevölkerung zu vermeiden. Er weiß zu genau, daß alle unnötigen Zwangsmaßnahmen nur zu feindlichen Reaktionen, diese zu verschärften Repressalien, und diese wiederum zum Aufstand führen müssen.

Wenn man schon der soldatischen Ehrauffassung und der christlichen Einstellung der militärischen Führer keinen Glauben schenken will, so möge man wenigstens glauben, daß die Vernunft sie veranlaßt hat, die Bevölkerung der besetzten Gebiete entsprechend dem Völkerrecht zu behandeln, ihr Privateigentum zu schonen, und sie im Rahmen des Möglichen in ihrer friedlichen Arbeit zu unterstützen.

Daß andererseits offener Widerstand im Rücken einer Armee nicht geduldet werden kann und in derartigen Fällen auch von den militärischen Führern entsprechende Gegenmaßnahmen getroffen wurden, ist selbstverständlich. Die schweren Strafandrohungen der alliierten Militärregierungen gegen jede Auflehnung und jeden Waffenbesitz in Deutschland, jetzt nach Beendigung des Kampfes, beweisen das auch.

Als Auswirkung des Doppelgesichtes des zweiten Weltkrieges – des militärischen einerseits und des weltanschaulichen andererseits – ist die Kriegführung von den obersten Stellen unmittelbar unter der Person Hitlers bis herab zu den untersten Ausführungsorganen [88] ganz scharf abgegrenzt gewesen. Nur die rein militärische Kriegführung war Sache der Wehrmacht, während alles, was mit dem danebenlaufenden weltanschaulich-politischen Kampf im Zusammenhang stand, politischen Stellen und deren Ausführungsorganen übertragen war. So wurden entgegen früheren Gepflogenheiten die von der Wehrmacht eroberten Teile des Feindeslandes grundsätzlich sofort nach der Besetzung der Territorialgewalt der Oberbefehlshaber entzogen und Vertretern der politischen Führung unterstellt.

Deshalb muß alles, was an etwaigen Verbrechen in Gebieten begangen wurde, die nicht der Territorialgewalt des angeklagten Personenkreises unterstanden, in diesem Verfahren über die Frage der Verantwortlichkeit der sogenannten »Gruppe«, ausscheiden.

Das Protektorat und das Generalgouvernement, Norwegen, Belgien und Nordfrankreich, das restliche besetzte Frankreich, Luxemburg und Elsaß-Lothringen, Kroatien, Jugoslawien und Griechenland, Slowakei, Ungarn und Italien unterstanden nicht der Territorialgewalt der militärischen Führer.

In der Sowjetunion wurden auf Befehl Hitlers die Operationsgebiete von vornherein so eng wie möglich abgegrenzt. Sie haben daher nur das im unmittelbaren Bereich der militärischen Operationen liegende Gebiet umfaßt, bis die Territorialhoheit schließlich auf die unmittelbare Kampfzone, das heißt auf den Raum etwa zehn Kilometer hinter der vorderen Linie beschränkt wurde. Außerhalb dieses Gebietes lag die Verwaltungshoheit bei politischen Stellen.

Vorwürfe gegen die in den einzelnen Ländern und Gebieten eingesetzten »Militärbefehlshaber« oder »Wehrmachtsbefehlshaber« sind hier unbeachtlich, weil diese Offiziere nicht in die Anklage einbezogen sind.

Diese Regelung der Verwaltung zeigt, daß Hitler aus Mißtrauen gegen die militärischen Führer wegen ihrer Einstellung zu den Fragen der Kriegführung und Humanität die Durchführung des weltanschaulich-politischen Kampfes ganz konsequent den politischen Stellen und deren Ausführungsorganen übertragen hatte.

Die Oberbefehlshaber hatten also räumlich gesehen nur die Territorialhoheit, soweit und solange irgendwelche Gebiete im Feindesland zum Operationsbereich gehörten, mithin auch nur insoweit die Verantwortung.

Selbst innerhalb der Operationsgebiete waren aber alle nicht unbedingt mit dem Kampfgeschehen zusammenhängenden Aufgaben dem Einfluß der Wehrmacht entzogen und der verantwortlichen Führung vollkommen selbständiger politischer Stellen übertragen. So zum Beispiel alle politisch-polizeilichen Maßnahmen, die wirtschaftliche Ausnutzung der besetzten Gebiete, die kulturellen Maßnahmen und der Arbeitseinsatz der Bevölkerung. Es verblieben also den Oberbefehlshabern als Aufgaben außer dem rein militärischen[89] Kampf an der Front nur die militärische Sicherung und die Einrichtung der örtlichen Verwaltung innerhalb der Operationsgebiete.

Im übrigen waren sie im Operationsgebiet durch die Aufgabe der Kampfführung, der Versorgung ihrer Truppen und durch die militärischen Sicherungsaufgaben ganz außerordentlich stark in Anspruch genommen, so daß sie sich um andere Aufgaben selbst nicht kümmern konnten. Ihr Platz war im Kampfbereich der unterstellten Verbände. Ihr Sorgen und Planen mußte in erster Linie dem unaufhörlichen Kampf und ihren Truppen gelten. Diese Tatsachen sind die einfache Erklärung dafür, daß viele Dinge und Maßnahmen anderer, nicht zur Wehrmacht gehörender Dienststellen, selbst in den Operationsgebieten geheimgehalten werden konnten und nicht zur Kenntnis der militärischen Befehlshaber gelangten.

Die Verbände der Waffen-SS unterstanden den Kommandobehörden der Wehrmacht als Kampftruppe ausschließlich für den Kampfeinsatz selbst und hinsichtlich der Versorgung. Sowohl organisatorisch als auch personell, disziplinär und gerichtlich hatte allein der Reichsführer-SS Himmler Befehlsbefugnis.

Alle sonstigen Organisationen Hitlers, zum Beispiel Einsatzgruppen, Polizei, SD, Organisation Todt und so weiter erhielten ihre Weisungen und Befehle ausschließlich von ihren eigenen vorgesetzten Stellen und nicht vom Oberbefehlshaber des Operationsabschnitts.

Durch diese Befehlsregelung und Teilung der Verantwortlichkeit waren die Oberbefehlshaber praktisch auf die Führung der ihnen unterstellten Truppen im Operationsgebiet beschränkt.

Nach dieser Klarstellung des Verantwortungsbereiches der militärischen Oberbefehlshaber wende ich mich nunmehr der Behandlung einiger Sondergebiete zu und muß hierbei einleitend zu den von der Anklage verwendeten Dokumenten darauf hinweisen, daß aus dem Zusammenhang herausgerissene Auszüge von deutschen Befehlenden wirklichen Sinn des Befehls oft nicht erkennen lassen und zu falschen Schlußfolgerungen führen. Bei anderen Dokumenten, insbesondere der Russischen Anklage, handelt es sich zum Teil um Feststellungen irgendwelcher Kommissionen. Niemand kann nachprüfen, ob die in diesen Dokumenten enthaltenen Zahlen, zum Beispiel über Ermordete, zutreffen, zumal alle näheren Angaben über den Zeitpunkt der Begehung dieser Verbrechen und über die sonstigen tatsächlichen Grundlagen fehlen. Nicht die tatsächliche Zahl an Toten beweist schon, daß es sich um Tote handelt, die durch Deutsche ermordet worden sind.

So schmilzt das scheinbar so erdrückende Beweismaterial der Anklage bei näherer Betrachtung zusammen, zumal wenn man auch noch berücksichtigt, daß dieses Material von zahlreichen Kommissionen in allen Ländern, von Hunderten von Zeugen in [90] monatelanger Arbeit zusammengetragen ist und Geschehnisse umfaßt, die sich nicht in einem engen Befehlsbereich, sondern in riesigen Räumen und über einen langen Zeitraum hinzugetragen haben.

Trotz der großen Schwierigkeiten, die sich der Verteidigung bei der Beschaffung des Verteidigungsmaterials entgegengestellt haben, habe ich dem Gericht bei meinem Beweisvortrag ein außerordentlich umfangreiches Entlastungsmaterial vorgelegt und dazu Ausführungen gemacht, soweit mir Gelegenheit gegeben wurde.

Die auch jetzt begrenzte Zeit macht es mir unmöglich, das beigebrachte Gegenbeweismaterial hier auch nur annähernd erschöpfend auszuwerten.

Ich greife nur einige Einzelfälle heraus, denen ich besondere Bedeutung beimesse:

Eine große Rolle spielt der Kommissarbefehl, durch den die sofortige Erschießung der politischen Kommissare angeordnet worden war. Als Hitler diesen allein von ihm geplanten Befehl im März 1941 zunächst mündlich bekanntgab, stieß er sofort bei sämtlichen anwesenden Generalen, aus ihrer soldatischen und menschlichen Einstellung heraus, auf stärkste innere Ablehnung. Nachdem alle Versuche der Generale des OKW und des OKH, die Herausgabe dieses Befehls Hitlers zu verhindern, keinen Erfolg gehabt hatten und der Kommissarbefehl einige Zeit später in schriftlicher Form erlassen worden war, gaben die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen und Armeen diesen Befehl entweder überhaupt nicht an ihre Truppen weiter, oder sie ordneten von sich aus die Umgehung dieses Befehls an. Sie taten es in voller Erkenntnis der Gefahr, wegen offenen Ungehorsams gegen einen Befehl des Obersten Befehlshabers im Krieg schwer bestraft zu werden. Der vom Oberbefehlshaber des Heeres im Anschluß an den Kommissarbefehl erlassene Befehl über die Wahrung der Disziplin hatte den beabsichtigten Erfolg. Er gab den Oberbefehlshabern der Front die Handhabe, ihrer Auffassung entsprechend zu handeln. So erreichten die militärischen Führer, daß der Kommissarbefehl im Bereich der Heeresgruppen und Armeen generell nicht zur Durchführung gelangte. Endlich wurde auf das energische Vorgehen des Generalstabschefs Zeitzler der Kommissarbefehl wieder aufgehoben.


VORSITZENDER: Besteht irgendein schriftlicher Beweis für die Aufhebung dieses Befehls?


DR. LATERNSER: Jawohl, Herr Präsident. Dieser Beweis ergibt sich aus den von mir überreichten Affidavits, und der letzte von mir eben verlesene Absatz wird bewiesen durch die Urkunde 301 b.


VORSITZENDER: Sie meinen, daß ein schriftlicher Befehl des Chefs des Generalstabs Zeitzler bestanden habe, der diesen Befehl aufgehoben hätte?


[91] DR. LATERNSER: Ich glaube, ich bin mißverstanden worden. Nach dem letzten Absatz, den ich eben verlesen habe, Herr Präsident, hat der Generalstabschef Zeitzler durch seine Gegenvorstellung bei Hitler erreicht, daß der Befehl aufgehoben worden ist. Das wird bewiesen durch die Urkunde 301 b, die ich dem Hohen Gericht unterbreitet habe; die Urkunde liegt auch in Übersetzung vor.

Was wollte man von den militärischen Führern mehr verlangen?

Der Befehl stammte nicht von ihnen, sie haben ihn nicht weitergegeben, nicht ausgeführt, und sie haben seine Aufhebung betrieben und erreicht. Hierin lag das Gemeinschaftliche und ihre Einmütigkeit, und gerade diese Behandlung des Kommissarbefehls ist ein Leumundszeugnis beweiskräftigster Art für die einwandfreie Einstellung der Generale.

Auch der Befehl über die Einschränkung der Militärgerichtsbarkeit im Osten stieß schon bei der mündlichen Bekanntgabe durch Hitler auf den Widerstand der anwesenden Oberbefehlshaber. Auf ihre ablehnende Haltung ist es zurückzuführen, daß Hitler seinen ursprünglichen Plan aufgab, die Militärgerichtsbarkeit im Osten vollkommen auszuschalten, und sich auf ihre Einengung beschränkte.

Gerade auch in diesem Zusammenhang gewinnt der vom Oberbefehlshaber des Heeres herausgegebene Zusatzbefehl über die Aufrechterhaltung der Manneszucht größte Bedeutung. Die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen und Armeen handelten in ihrer Gesamtheit nach den Bestimmungen dieses Zusatzbefehles und schritten bei allen Verstößen von Wehr machtsangehörigen gegenüber der Zivilbevölkerung unnachsichtig ein. Sie ließen in schweren Fällen Todesurteile fällen und vollstrecken. Selbst einfache Kraftfahrzeugunfälle, bei denen russische Einwohner verletzt wurden, wurden von den Militärgerichten verfolgt und die Schuldigen zur Verantwortung gezogen. Das beweist unter anderem die Aussage des Generalfeldmarschalls von Leeb.

Auch in diesem Fall haben also gerade wieder die von der Anklage betroffenen Offiziere dafür Sorge getragen, daß ein Befehl Hitlers, der ihrer inneren Einstellung widersprach, nicht zur vollen Durchführung gelangte.

Die Einstellung der militärischen Führer zu dem Kommandobefehl Hitlers war von vornherein derart ablehnend, daß Hitler diesen Befehl nicht nur persönlich verfassen mußte, sondern er sah sich darüber hinaus auch gezwungen, ungewöhnlich harte Strafen für seine Nichtbefolgung anzudrohen.

Dennoch vernichtete der Oberbefehlshaber in Afrika, Generalfeldmarschall Rommel, aus innerer Ablehnung diesen Befehl sofort nach Empfang. Der Oberbefehlshaber West, Generalfeldmarschall von Rundstedt, sorgte dafür, daß er nicht durchgeführt, sondern[92] umgangen wurde. Der Oberbefehlshaber Südwest, Generalfeldmarschall Kesselring, gab Zusatzanordnungen heraus, durch die sichergestellt wurde, daß die Kommandotrupps auch weiterhin als Kriegsgefangene behandelt wurden.

Für den östlichen Kriegsschauplatz hatte der Befehl ohnehin keine Bedeutung.

Diese Beispiele zeigen deutlich, daß auch hier wieder die militärischen Führer Mittel und Wege gefunden haben, die Durchführung des ihrer soldatischen Auffassung widersprechenden Kommandobefehls zu verhindern.

Die von der Anklage erwähnten Einzelfälle müssen im Rahmen dieser Erörterungen außer Betracht bleiben, da es sich hierbei um Einzeltaten handelt, die in besonderen Verfahren ihre Untersuchung bereits gefunden haben oder noch finden müssen. Sie ergeben aber keineswegs die typische Einstellung der militärischen Führer, auf die es in diesem Prozeß allein ankommen dürfte.

Hier scheinen mir folgende Fragen noch von Wichtigkeit zu sein:

Konnten die militärischen Führer nicht darauf vertrauen, daß die in diesem Befehl enthaltenen tatsächlichen Feststellungen der Wahrheit entsprachen? Mußten sie nicht annehmen, daß der Befehl vor seiner Ausgabe völkerrechtlich geprüft war? Ist dieser Befehl völkerrechtlich überhaupt unhaltbar? Ist er noch eine zulässige Repressalie?

Das wird das Gericht zu entscheiden haben, falls es diesem Befehl Hitlers für die Beurteilung des von mir vertretenen Personenkreises Bedeutung beimessen sollte.

Bei der Frage der Kriegsgefangenenbehandlung ist nur zu untersuchen, ob von den Oberbefehlshabern in Ausführung eines gemeinsamen Planes irgendwelche Mißhandlungen Kriegsgefangener in Operationsgebieten befohlen oder schuldhaft geduldet worden sind.

Wenn in der ersten Zeit des Rußlandfeldzuges die russischen Kriegsgefangenen nicht entsprechend den Bestimmungen der Genfer Konvention untergebracht und verpflegt werden konnten, so ist dies ausschließlich darauf zurückzuführen, daß bei den Hunderttausenden von Gefangenen gewisse Schwierigkeiten unvermeidbar waren. Wenn sich nach Kriegsschluß auch bei den Alliierten ähnliche Schwierigkeiten bei dem plötzlichen Massenanfall deutscher Kriegsgefangener ergaben, so werden sie deshalb den Vorwurf von Humanitätsverbrechen gewiß nicht hinnehmen.

Im übrigen sind die von der Anklage vorgetragenen Einzelfälle durch das über alle Kriegsschauplätze beigebrachte Gegenbeweismaterial entkräftet und widerlegt worden. Die militärischen Führer haben auf allen Kriegsschauplätzen etwaigen Ausschreitungen gegen[93] Kriegsgefangene durch Befehle vorgebeugt und bei Verstößen die Schuldigen zur Verantwortung gezogen.

Irgendwelche Mißhandlungen oder gar Tötungen von Kriegsgefangenen sind von ihnen weder befohlen noch wissentlich geduldet worden.

Der Partisanenkampf als eine neuartige illegale Form der Kriegsführung wurde von Splittern feindlicher Armeen oder Aufständischen entfacht, die von ihren Regierungen unterstützt wurden. Ihr Kampf wurde nicht nach Kriegsbrauch offen mit der Waffe, sondern versteckt mit allen Mitteln der Tarnung geführt. Die russischen Anweisungen für die Partisanenkriegsführung sind hierfür ein deutlicher Beweis. Die Partisanen konnten infolgedessen die Schutzbestimmung der Artikel 1 und 2 der Haager Landkriegsordnung für sich nicht in Anspruch nehmen. Durchgreifende deutsche Gegenmaßnahmen in der Form von Repressalien waren somit »durch die Erfordernisse des Krieges erheischt«. So wurden deutscherseits 1942 und in einer Neuausgabe von 1944 entsprechende Vorschriften für die Partisanenbekämpfung herausgegeben. Auch die sonst hierzu erlassenen Befehle, in denen von »schärfstem Durchgreifen« oder der »Vernichtung des Gegners«, das heißt der Vernichtung seiner Kampfkraft, gesprochen wird, waren die Folge der heimtückischen Kampfesweise der Partisanen: sie meinten nur militärisch erlaubtes scharfes Durchgreifen, nicht aber Grausamkeiten und Willkür. Daß Ausschreitungen auch der deutschen Truppen in Einzelfällen vorkamen, war eine unvermeidliche Reaktion auf bestialische Ermordung deutscher Soldaten.

Wenn die Anklage aber darüber hinaus behauptet, daß die militärischen Führer den Partisanenkampf dazu benutzt hätten, die Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete auszurotten, so entbehrt diese Behauptung jeder Grundlage.

Das Affidavit Nummer 15 des Generals Röttiger, auf das sich die Anklage stützt und das sie selbst aufgesetzt hat. Ist durch das Kreuzverhör ganz eindeutig aufgeklärt worden. Der Zeuge hat niemals völkerrechtswidrige Befehle für den Bandenkampf erhalten, er bestätigt obendrein die Einhaltung der militärischen Regeln auch für diese Kampfesart.

Der Kampf gegen die Partisanen mußte wegen ihrer illegalen Kampfesweise zwar scharf, durfte aber nur mit erlaubten Mitteln geführt werden. Es handelte sich somit um notwendige deutsche Abwehrmaßnahmen, die sich in keiner Weise gegen die Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete als solche richteten, geschweige denn deren Ausrottung zum Ziele hatten.

Wohl die schwerste Beschuldigung liegt in der Behauptung der Anklage, daß die Oberbefehlshaber von den Aufgaben und der Tätigkeit der angeblich ihnen unterstellten Einsatzgruppen in vollem Umfange Kenntnis gehabt, daß sie die Durchführung nicht nur geduldet, sondern sogar aktiv unterstützt hätten.

Die Anklage stützt sich hierbei auf die Aussagen der hohen SS-Führer Ohlendorf, Schellenberg und Rhode, sowie auf die Urkunde L-180.

Sind das nicht höchst fragwürdige Beweismittel? Können diese wirklich dem Gericht die Überzeugung vermitteln, daß die Generale der deutschen Wehrmacht ihre Hand zu den scheußlichsten Massenvernichtungen geboten haben? Ich verneine diese Frage aus vollster Überzeugung. Die Aussage des Zeugen Ohlendorf, unter dessen Befehl Tausende von Juden ermordet wurden, ist durch die des Generals Woehler in allen wesentlichen Punkten widerlegt. Schellenberg, der eine der maßgeblichen Stellungen in der berüchtigtsten Behörde Deutschlands – dem RSHA – innegehabt hat, ein Freund von Himmler, kann keine positiven Tatsachen angeben, aber er [94] stellt Vermutungen auf. Er glaubt vermuten zu können, daß General Wagner von Heydrich im Juni 1941 über geplante Massenvernichtungen aufgeklärt worden sei. Wann kommt diesem Zeugen diese belastende Vermutung? Ende des Jahres 1945, als er in Haft genommen ist und für sich Vorteile sucht. Er kann, durch mich im Kreuzverhör danach befragt, keine Tatsachen aus dem Jahre 1941 für diese Vermutung angeben, aber er stellt sie dennoch auf, und zwar erstmals im Jahre 1945. Und General Wagner, ein besonders qualifizierter Offizier, der im Verlaufe des 20. Juli 1944 sein Leben im Kampf gegen den Nationalsozialismus eingebüßt hat, soll seinem direkten Vorgesetzten, dem Generalfeldmarschall von Brauchitsch, dem er lange Jahre besonders nahe stand und zu dem er als Generalquartiermeister jederzeit Zutritt hatte, nichts von dieser abscheulichen Aufklärung gemeldet haben? Unmöglich diese Annahme – das hat auch Generalfeldmarschall von Brauchitsch auf dem Zeugenstand bestätigt.

Schellenberg glaubt weiter, die Vermutung aufstellen zu können, daß die Ic-Offiziere auf einer Tagung im Juni 1941 über die Aufgaben der Einsatzgruppen, was Massenvernichtungen anlangt, unterrichtet worden seien. Er beläßt es nicht bei dieser Vermutung, nein, er fügt noch die weitere Vermutung hinzu, daß diese Ic-Offiziere die Oberbefehlshaber davon in Kenntnis gesetzt haben. Also zwei von Schellenberg aneinander gereihte Vermutungen sollen den Beweis dafür erbringen, daß die Oberbefehlshaber Kenntnis von diesen geplanten Massenvernichtungen gehabt haben.

Wie stellt sich nun Schellenberg im Kreuzverhör zu diesen von ihm aufgestellten Vermutungen?

Ich lege ihm eine beschworene Aussage eines Teilnehmers dieser Ic-Besprechungen vor, in der General Kleikamp ausdrücklich bekundet, daß von geplanten Massenvernichtungen nicht die Rede gewesen sei, wodurch Schellenbergs Lügengebäude zusammenbrechen muß.

Seine Antwort lautet, daß er über den Wert beider Eidesleistungen nicht zu entscheiden habe. Er setzt damit seine gegenteilige, reine Vermutung, die sich auf keinerlei Tatsachen gründet auf gleiche Stufe mit der positiven Bekundung eines Besprechungsteilnehmers, daß eine Unterrichtung über geplante Massenvernichtungen nicht erfolgt ist.

Soviel zur Aussage Schellenbergs. Ich bitte das Gericht, von dem Protokoll über das Kreuzverhör dieses Zeugen vor der Kommission in vollem Umfange Kenntnis zu nehmen.

Der Zeuge Rhode, gleichfalls ein hoher SS-Führer, will auch belasten. Er behauptet, daß die Einsatzgruppen den Oberbefehlshabern voll unterstellt gewesen seien, schränkt dies aber mit dem [95] Zusatz ein: »Soweit mir bekannt ist.« Damit ist dieses Zeugnis für die Anklage wertlos.

Nun zur Urkunde L-180, nach der der Oberbefehlshaber der Panzergruppe 4, Generaloberst Höppner, besonders eng mit den Einsatzgruppen gearbeitet habe.

Besteht in der Verwertung eines solchen Berichts nicht eine große Gefahr für die Wahrheitsfindung, zumal nur die Ansicht des Berichterstatters in ihm enthalten sein kann? Es ist in ihm auch keine Angabe enthalten, worin die Zusammenarbeit bestanden und worauf sie sich bezogen hat. Die Einsatzgruppen und -kommandos hatten aber, wie bewiesen, auch Überwachungs- und Überprüfungsaufgaben und nur diese waren den Oberbefehlshabern bekannt. Wenn überhaupt eine Zusammenarbeit stattgefunden haben sollte, dann kann sich diese niemals auf Massenexekutionen von Juden bezogen haben.

Generaloberst Höppner, der gleichfalls als Opfer des 20. Juli 1944 sein Leben lassen mußte, wäre der letzte gewesen, der zum Massenmord seine Hand geboten hätte. Kann man denn wirklich glauben, daß ein General, der ein System sicherlich insbesondere wegen dessen Methoden unter Einsatz seines Lebens beseitigen will, sich vorher an dessen Massenmorden beteiligt?

Ich bedauere außerordentlich, daß ich die Generale Wagner und Höppner nicht mehr auf den Zeugenstand rufen kann, sie beide hatten sich nicht mit diesem System verschworen, sondern gegen es, und beide opferten ihr Leben dafür. Es ist merkwürdig, daß hier die Anklage, die so leicht ironisch wird, wenn die Angeklagten sich zu ihrer Entlastung auf tote Zeugen beziehen, die Kenntnis der militärischen Führer über geplante Massenvernichtungen und die Beteiligung daran in diesem Falle selbst mit Toten dokumentieren will, die sich leider hiergegen nicht mehr selbst wehren können. Diesem keineswegs schlüssigen Beweisvorbringen der Anklage gegenüber habe ich mit zahlreichen Affidavits bewiesen, daß

  • 1. die Einsatzgruppen den militärischen Führern nicht unterstanden haben, was auch besonders deutlich aus dem Anklagedokument 447-PS hervorgeht,

  • 2. dies General Wagner dem Generalrichter Mantel gegenüber zum Ausdruck gebracht hat und

  • 3. eine Unterrichtung der militärischen Führer über geplante Massenvernichtungen nicht stattgefunden hat.

Das Hohe Gericht hat nun darüber zu entscheiden, ob es den SS-Führern Schellenberg, Ohlendorf und Rhode, die in ihrem Haß zum letztenmal versuchen, die militärischen Führer in das eigene Verderben mit hineinzuziehen, mehr glauben will als den Offizieren, von denen das Gericht sich selbst ein Bild machen konnte.

[96] Was die übrigen Anklagepunkte, wie »Mißhandlung der Zivilbevölkerung«, »Zerstörungen und Plünderungen«, anlangt, so verweise ich auf meinen Beweisvortrag zu diesen Punkten, aus dem sich mit Deutlichkeit ergeben hat, daß die militärischen Führer in allen ihnen bekanntgewordenen gesetzwidrigen Fällen mit den schärfsten Mitteln eingeschritten sind.

Für die Beteiligung der militärischen Führer an Arbeiterdeportationen hat die Anklage kein stichhaltiges Beweismaterial vorgebracht. Die Frage der Geiselerschießungen muß im Rahmen dieses Verfahrens außer Betracht bleiben, weil die territorialen Militärbefehlshaber für die besetzten Gebiete, soweit sie überhaupt Geiselerschießungen angeordnet haben sollten, nicht unter den von mir vertretenen Personenkreis fallen.

Wenn ich hiermit wegen der knapp bemessenen Zeit meine Ausführungen zu den Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Humanität abschließe, so hat sich eines mit aller Deutlichkeit gezeigt:

Die militärischen Führer haben nicht in Ausführung irgendwelcher Pläne, die die Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Humanität zum Ziele hatten, gehandelt. Sie haben vielmehr im Zeichen anständigen Soldatentums den Krieg in ritterlicher Form geführt und alle Befehle Hitlers, die ihrer eigenen Einstellung widersprachen, in der praktischen Durchführung zu verhindern gewußt.

Es mag vielleicht auffällig erscheinen, daß ich mich in all diesen Ausführungen nur mit den Frontbefehlshabern des Heeres und der Kriegführung zu Lande befaßt habe, nicht aber mit den Generalen der Luftwaffe und den Admiralen der Marine, die doch auch zu der sogenannten »Gruppe« gehören sollen. Ich kann nur verteidigen, was angegriffen wird. Alle Behauptungen der Anklage über die Begehung von Kriegs- und Humanitätsverbrechen betreffen die Oberbefehlshaber der Marine oder Luftwaffe überhaupt nicht. Der einzige Vorwurf gegen die Kriegsmarine, nämlich der über die Befehle für den U-Boot-Krieg, richtet sich allein gegen die beiden Großadmirale, die dafür auch die volle Verantwortung übernommen haben, während die Marine-Oberbefehlshaber im Felde damit nicht das geringste zu tun hatten. Gegen die Luftwaffenbefehlshaber sind überhaupt keine Vorwürfe erhoben. Wenn 17 Admirale und 15 Generale der Luftwaffe nur wegen ihrer Stellung in die sogenannte »Gruppe« hineingerechnet worden sind, während sie nicht einmal von der Anklage mit den gegen die »Gruppe« erhobenen Vorwürfen belastet werden, so ist das der Schlagendste Beweis gegen die These von dem Bestehen dieser »Gruppe« und erübrigt jede besondere Verteidigung für die Admirale und Generale der Luftwaffe.

Der letzte Vorwurf der Anklage, die militärischen Führer seien mitschuldig, weil sie in der Praxis die verbrecherischen Pläne und [97] Taten Hitlers geduldet hätten, anstatt sich dagegen aufzulehnen, führt wieder auf das eigentliche Kernproblem dieses ganzen Verfahrens gegen die Soldaten zurück: auf das Problem der Gehorsamspflicht. Es ist wiederholt erörtert worden, daß der Führerbefehl nicht nur ein militärischer Befehl war, sondern darüber hinaus auch gesetzgebende Wirkung hatte.

Mußten also die militärischen Führer nicht einfach dem Gesetz gehorchen? Wenn eine Gehorsamspflicht nicht besteht gegenüber dem Befehl, der ein bürgerliches Verbrechen bezweckt, so liegt der Grund darin, daß der Befehl eine Tat fordert, die sich gegen die Staatsgewalt richtet. Kann aber überhaupt ein Verbrechen dann vorliegen, wenn der Befehl ein Handeln fordert, das nicht gegen die Staatsgewalt geht, sondern gerade von dieser gefordert wird? Und wenn man selbst diese Frage bejaht: welcher Staatsbürger in der Welt kann dann die Verbrechensnatur seines Handelns erkennen?

Zu einer Schuldfeststellung genügt es nicht, wenn die Anklage ausführt, was die Angeklagten nicht hätten tun dürfen, sondern sie müßte zugleich auch darlegen, was sie hätten tun dürfen, sollen oder müssen, denn jedes gesetzliche Verbot muß zugleich in sich auch ein Gebot enthalten. Wenn ich einmal unterstelle, daß trotz des Bestehens der Souveränität der einzelnen Staaten auf Grund von Völkerrecht und Moralgebot eine Rechtspflicht zum Handeln für die Generale auch gegen das Gesetz des eigenen Staates bestand, so könnte eine solche Rechtspflicht doch nur dann bejaht werden, wenn das Handeln Aussicht auf Erfolg bot, denn schließlich, sich hängen zu lassen, nur um sich seinen Pflichten zu entziehen, sein Land zu verraten, ohne Aussicht die Dinge zu ändern, dürfte mit keiner Moral zu fordern sein. Niemand ist letzten Endes verpflichtet, Märtyrer zu werden.

Welche Möglichkeiten passiven oder aktiven Handelns gegen Befehle und Gesetze gab es überhaupt für die angeklagten Generale? Wie waren die Erfolgsaussichten? Die einfache Ablehnung rechtswidriger Pläne oder Befehle, etwa durch Widerspruch, Warnung, Vortrag von Bedenken oder dergleichen war zwar möglich, blieb aber in der Praxis ohne jeden Erfolg. Zum Teil scheiterte diese Möglichkeit einfach schon daran, daß die Generale von vielen zu beanstandenden Dingen keine Kenntnis erhielten. Im politischweltanschaulichen Kampf wurden die Methoden vor den Generalen so sorgfältig geheimgehalten, daß sie von den Massenexekutionen nicht einmal etwas erfuhren, geschweige denn, daß sie sie hätten verhindern können. Im militärischen Sektor der Kriegsführung wurden die engsten Mitarbeiter Hitlers vielleicht zu dem »Wie« der militärischen Ausführung eines Entschlusses, nie zu dem Entschluß selbst gehört. Die hier angeklagten militärischen Führer erfuhren [98] meist erst etwas davon, wenn sie als Soldaten die fertigen Entschlüsse militärisch durchzuführen hatten. Soweit möglich, erhoben sie Gegenvorstellungen. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Freiherr von Fritsch, warnte vor der Rheinlandbesetzung, vor einer Politik, die zu einem Zweifrontenkrieg führen könnte, vor der Aufrüstung und – wurde abgesetzt. Der Generalstabschef Beck erhob politische Warnungen und – wurde entlassen. Generaloberst Adam sprach sich ebenfalls gegen die eingeschlagene Politik aus und – wurde entlassen. Das OKH nahm gegen die Westoffensive und die Neutralitätsverletzungen Stellung und – wurde ausgeschaltet. Der Oberbefehlshaber des Heeres wurde wegen gelegentlicher Übergriffe in Polen vorstellig, die Folge war – die Ausschaltung der militärischen Dienststellen von der Verwaltung der besetzten Gebiete. Warnungen, Bedenken, sachliche Gegenvorstellungen führten nie zum Erfolg, sondern meist nur dazu, daß Hitler erst recht bei seinen Ansichten beharrte und darauf bestand, daß sie in die Tat umgesetzt wurden. Blieben die Schritte der höchsten Befehlshaber so schon ohne Erfolg, was hätten die sonst von der Anklage betroffenen niedrigen Befehlshaber auf diesem Gebiet erreichen können?

Ein demokratischer Politiker wird sagen, sie hätten zurücktreten können. Das kann ein parlamentarischer Minister in einem demokratischen Land. Ein deutscher Offizier konnte das nicht. Ihn band der, Fahneneid, der für den alten Offizier, mehr noch als für jeden anderen, höchste Verpflichtung bedeutete. Der deutsche General konnte nur um die Genehmigung seines Rücktritts bitten. Ob diese Bitte Erfolg hatte, lag nicht in seiner Hand. Hitler verbot überdies im Kriege jedes derartige Gesuch, und stellte einen Rücktritt fast der Fahnenflucht gleich. Ein kollektives Rücktrittsgesuch, praktisch schon undurchführbar, wäre Meuterei gewesen und hätte nur willfährige Elemente an die Führung gebracht, nie aber Hitler so beeindruckt, daß er seine Politik, seine Befehle oder seine Methoden geändert hätte. Die tatsächlichen Versuche des Rücktritts einiger Feldmarschälle, insbesondere auch des Oberbefehlshabers des Heeres im November 1939, führten zu einer glatten Ablehnung. Die spätere Entlassung erfolgte durch Hitler auf Grund eigenen Entschlusses. Der Rücktritt der Frontbefehlshaber wäre trotzdem selbstverständliche Pflicht gewesen und hätte mit allen Mitteln durchgesetzt werden müssen, wenn diese Führer einmal vor Aufgaben gestellt worden wären, in denen nach ihrer Auffassung die Ehre des deutschen Volkes auf dem Spiele gestanden hätte. Aber gerade mit diesen Aufgaben, zu denen ich die Massenausrottungen rechne und die Greueltaten in den Konzentrationslagern, wurden die Generale nicht befaßt, gerade diese Dinge wurden vor ihnen sorgfältig geheimgehalten.

Wäre nun offener Ungehorsam leichter möglich oder erfolgversprechender gewesen?

[99] Der amerikanische Hauptankläger sagt dazu in seinem Bericht an den Präsidenten der USA:

»Wenn ein auf Grund seiner Dienstpflicht eingezogener Soldat in ein Hinrichtungskommando ein gereiht wird, so kann er für die Rechtsgültigkeit des Urteils, das er vollstreckt, nicht verantwortlich gemacht werden. Aber dort, wo ein Mann infolge seines Ranges oder der Dehnbarkeit der ihm erteilten Befehle nach eigenem Ermessen handeln kann, wird der Fall wahrscheinlich anders liegen.«

Diesen Standpunkt teilen die Generale nicht. Im Gegenteil, der Ungehorsam des einfachen Soldaten wird in seiner Wirkung leicht durch die Strafe aufgehoben, der Ungehorsam eines hohen militärischen Führers aber erschüttert das Gefüge der Wehrmacht, ja des Staates selbst, dem er angehört.

Wenn etwas in der Welt unteilbar ist, dann ist es der militärische Gehorsam.

Niemand hat Sinn und Charakter der soldatischen Gehorsamspflicht treffender geschildert als der englische Feldmarschall Lord Montgomery. Er führt in seiner am 26. Juli 1946 in Portsmouth gehaltenen Ansprache aus:

»Als Dienerin der Nation steht die Armee über der Politik und das muß so bleiben. Ihre Ergebenheit gilt dem Staat, und es steht dem Soldaten nicht zu, seine Ergebenheit wegen seiner politischen Ansicht zu ändern. Es muß klargestellt werden, daß eine Armee nicht eine Ansammlung von Individuen ist, sondern eine kämpfende Waffe, geformt durch Disziplin und kontrolliert durch den Führer. Das Wesen der Demokratie ist Freiheit, das Wesen der Armee Disziplin. Es hat nichts zu sagen, wie intelligent der Soldat ist. Die Armee würde die Nation im Stich lassen, wenn sie nicht gewohnt wäre, Befehlen augenblicklich zu gehorchen. Das schwierige Problem, strikten Gehorsam gegenüber den Befehlen zu erreichen, kann in einem demokratischen Zeitalter durch Einschärfung von drei Prinzipien erreicht werden:

1. Die Nation ist etwas, was der Mühe wert ist.

2. Die Armee ist die notwendige Waffe der Nation.

3. Pflicht der Soldaten ist es, ohne zu fragen allen Befehlen zu gehorchen, die die Armee, das heißt die Nation ihm gibt.«

Und die deutschen Generale – sie hätten nach Ansicht der Anklage nicht nur fragen sollen, als sie dem Obersten Befehlshaber und der Nation gehorchten, sondern sie hätten sich offen auflehnen sollen?

Wer diese Frage gerecht entscheiden will, müßte selbst einmal Armeeführer im Kriege, und zwar an der Front und unter besonders [100] schweren Bedingungen gewesen sein, denn es ist ein großer Unterschied, ob jemand als Befehlshaber an einer schwer ringenden Front die Verantwortung für Leben und Sterben von Hunderttausenden von Soldaten trägt, oder ob es sich um einen Offizier handelt, der keine Frontverantwortung oder nur die an einem ruhigen Frontabschnitt trägt. Wenn die militärischen Führer gleichwohl unentwegt für ihre soldatischen Auffassungen gekämpft und im Rahmen des Möglichen nach ihnen gehandelt haben, so hat auch das keinen anderen Erfolg gehabt, als daß sie selbst gegen Kriegsende völlig ausgeschaltet waren. Ein kurzer Blick auf das Schicksal der militärischen Führer beweist das:

Von 17 Feldmarschällen, die im Heer Dienst taten, wurden zehn im Laufe des Krieges ihrer Stellungen enthoben, drei büßten ihr Leben ein im Zusammenhang mit den Vorgängen des 20. Juli 1944, zwei fanden im Felde den Tod, einer wurde gefangengenommen. Nur ein einziger blieb bis zum Kriegsende ungemaßregelt im Dienst.

Von 36 Generalobersten wurden 26 aus ihren Posten entfernt, darunter drei, die im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 hingerichtet wurden, zwei, die in Unehren verabschiedet wurden, sieben fielen im Felde und nur drei blieben ungemaßregelt bis zum Kriegsende im Dienst.

Die Gemaßregelten waren hochqualifizierte und an der Front bewährte Führer.

Ich fasse zusammen:

  • 1. Der militärische Ungehorsam ist und bleibt eine Pflichtverletzung; im Kriege ein todeswürdiges Verbrechen.

  • 2. Eine Pflicht zum Ungehorsam besteht für keinen Soldaten der Welt, solange es noch Staaten mit eigener Souveränität gibt.

  • 3. In der Diktatur Hitlers hätte der offene Ungehorsam nur zur Vernichtung des Untergebenen, nie aber zur Aufhebung des gegebenen Befehls geführt.

  • 4. Kein Stand hat seinen überkommenen, im Gegensatz zu den Methoden Hitlers stehenden Anschauungen, solche Opfer in seinen höchsten Spitzen gebracht, wie der Kreis der hier angeklagten Offiziere.

Bei der Unmöglichkeit und Wirkungslosigkeit jedes passiven Mittels wäre nur der Weg der Gewalt, des Umsturzes und Staatsstreiches geblieben. Wer immer einen solchen Weg erwog, mußte sich darüber klar sein, daß er nur über die Beseitigung Hitlers und der führenden Männer der Partei gehen konnte, und zwar so, daß diese Männer aus dem Leben ausgetilgt wurden. Also stand am Anfang jedes Staatsstreiches der unerbittliche Zwang der Beseitigung Hitlers und der führenden Männer der Partei. Für den Soldaten bedeutet das Mord und Eidbruch. Selbst wenn man verlangt, daß die Generale aus Gründen einer höheren Weltmoral ihre [101] persönliche und soldatische Ehre hätten zum Opfer bringen müssen, woher hätten sie die Legitimation nehmen können, eine solche Tat gegen den Willen des Volkes zu tun, und wann wäre diese Tat mit Aussicht auf Erfolg und zum Wohle des Volkes ausführbar gewesen? Nach der Eingliederung des Protektorats stand Hitler auf der Höhe seiner Erfolge und galt einem großen Teil des deutschen Volkes als der größte Deutsche. Wenn Churchill am 4. Oktober 1938 von ihm sagte: »Unsere Führung muß wenigstens ein Stück vom Geist jenes deutschen Gefreiten haben, der, als alles um ihn in Trümmer gefallen war, als Deutschland in alle Zukunft in Chaos versunken schien, nicht zögerte, gegen die gewaltige Schlachtreihe der siegreichen Nationen zu ziehen,« ist das nicht Beweis genug dafür, daß ein Sturm des deutschen Volkes die Generale hinweggefegt hätte, die sich an Hitler vergriffen hätten? Hätten die Generale Hitler beseitigen sollen zu einer Zeit, als eine friedliche Lösung mit Polen durchaus noch möglich war, als das deutsche Volk nicht voraussehen konnte, daß der Krieg tatsächlich kommen und welche Folgen er haben würde – so wie es heute vor aller Augen offen daliegt?

Dann kam der Krieg und mit ihm eine entscheidende weitere Bindung der militärischen Führer. Jeder Aufruhr im Krieg hätte die Katastrophe für das Reich bedeutet. Solange die Siege dauerten, hätte sowieso jede Chance für ein Gelingen des Umsturzes gefehlt. Als aber nach Stalingrad klar wurde, daß der Kampf nunmehr um die nackte Existenz des deutschen Volkes geführt werden müsse, hatten die militärischen Führer erst recht kein moralisches Recht, Front und Heimat durch einen Staatsstreich zum Zusammenbruch zu bringen. Damals glaubten noch große Teile des deutschen Volkes an Hitler. Wären die militärischen Führer nicht für alles verantwortlich gemacht worden, was heute als Folge der Kapitulation von dem deutschen Volk so schwer empfunden wird? Kann man in einem Krieg um Leben und Sterben des Volkes Staatsstreich, Eidbruch und Mord wirklich als Rechtspflicht des Soldaten ansehen? Wie sagte Feldmarschall von Rundstedt im Zeugenstand: »Geändert hätte sich für das deutsche Volk nichts, aber mein Name wäre als der des größten Verräters in die Geschichte eingegangen.«

Wie sehr jeder derartige Versuch zum Scheitern verdammt war, beweist das Mißlingen des Attentats vom 20. Juli 1944. Selbst die jahrelange Vorbereitung dieses Attentats, die Beteiligung von Männern aus allen Kreisen, haben nicht zu einem Gelingen geführt. Wie also hätten die 129 angeklagten Offiziere einen Staatsstreich mit Erfolg durchsetzen können?

Gewiß, wenn sie die geschlossene Vereinigung gewesen wäre, die die Anklage so gern in ihnen sehen möchte, dann hätte vielleicht auch ein gemeinsam geplanter gewaltsamer Umsturz in Erwägung gezogen werden können. Aber da sie eben keine geschlossene Organisation darstellten, da sie nicht Politiker, sondern [102] »nur« Soldaten waren, konnten sie von sich aus nichts tun, um eine Änderung der Verhältnisse herbeizuführen, sie konnten nur trotz ihrer Erkenntnis der militärischen Lage bis zum letzten gehorchen.

Die deutschen militärischen Führer standen zwischen dem Recht als Mensch und der Pflicht als Soldat.

Als bürgerliche Menschen hätten sie für sich das Recht in Anspruch nehmen können, den Dienst einem Führer und einem System zu versagen, das sich, je länger der Krieg dauerte, desto mehr als schädlich erwies. Sie hätten sich damit der persönlichen Verantwortung entziehen können, sie hätten, wie der Ankläger sagt, »ihre Haut gerettet«. Vielleicht stünden sie jetzt nicht vor diesem Gericht. Mit dieser Entscheidung hätten sie zugleich aber ihre Soldaten, die ihnen vertrauten und für die sie sich verantwortlich fühlten, im Stich gelassen. Darum blieb ihnen als Soldaten nur die Pflicht zum Kämpfen. Diese »Pflicht« hätte in einem höheren Sinne auch sein können, das System zu stürzen.

Im Kriege hätte das aber praktisch nichts anderes bedeutet, als die Niederlage herbeizuführen. Das konnte kein Soldat auf sich nehmen. Man fordert nicht Jahre hindurch von seinen Soldaten das Leben, um dann selbst die Waffen hinzuwerfen und als Verräter seines Volkes in die Geschichte einzugehen.

So blieb den deutschen militärischen Führern nur die Pflicht, bis zum letzten gegen den Feind zu kämpfen. Vor die tragische Entscheidung zwischen persönlichem Recht und soldatischer Pflicht gestellt, entschieden sie sich für die Pflicht und handelten damit im Sinne der Moral des Soldaten.

Welches Mittel blieb ihnen dann noch, um verbrecherische Dinge von sich und ihren Soldaten fern zu halten?

Es gab nur die eine Möglichkeit: die verbrecherischen Befehle zu umgehen, ihnen auszuweichen und sie durch Zusatzbefehle so umzugestalten, daß das Ergebnis dem Rechtsempfinden und dem Anstandsgefühl des Soldaten entsprach. Das haben sie bis zur Grenze des Möglichen getan, um den militärischen Krieg, dessen Führung allein ihnen oblag, nach den Geboten des Völkerrechts und der Humanität zu führen. Wenn daneben der politisch-weltanschauliche Krieg mit Methoden geführt worden ist, die heute die Verachtung der Welt über das deutsche Volk gebracht haben, dann haben die deutschen Generale in ihrer Gesamtheit an diesem Teil des Krieges keinen Anteil gehabt.

Ich bin am Ende meiner Ausführungen.

Ich glaube bewiesen zu haben,

1. daß die 129 militärischen Führer, die die Anklage treffen will, keinesfalls eine »Organisation« oder »Gruppe«, und noch weniger eine Willenseinheit zur Durchführung verbrecherischer Handlungen gewesen sind. Diese Männer sind keine Verbrechergilde.

[103] 2. daß die von der Anklage vorgenommene Zusammenfassung dieser Offiziere unter dem erfundenen Sammelbegriff »Generalstab und OKW« in Wahrheit eine rein willkürliche Zusammenstellung von einander verschiedener Dienststelleninhaber aus ganz verschiedenen Zeiten und noch dazu grundverschiedenen Wehrmachtsteilen ist. Ohne jede innere Berechtigung und ohne jede rechtliche Notwendigkeit gewählt, kann sie nur den Zweck haben, die von vielen Staaten zum Vorbild genommene Einrichtung des Generalstabes zu diffamieren. Welches Schlagwort für die Weltpresse: »Der deutsche Generalstab eine Verbrecherorganisation.«

Ich glaube ferner bewiesen zu haben, daß die militärischen Führer im Staate Hitlers nicht einmal die Möglichkeit gehabt haben, an einem politischen Plan, einer politischen Verschwörung mit dem Ziele des Angriffskrieges mitzuwirken, geschweige denn, daß sie sich daran aktiv beteiligt haben. Sie haben stets gewarnt, immer wieder gewarnt, und sind von der politischen Führung selbst überrannt worden.

Ich glaube schließlich bewiesen zu haben, daß nach erfolgtem Kriegsausbruch die militärischen Führer gegen die das Kriegsrecht und Humanität mißachtenden Methoden Hitlers passiven Widerstand geleistet haben. Sie haben dadurch praktisch Verbrechen gegen Kriegsrecht und Humanität im Rahmen des Möglichen verhindert und das Christentum als Soldaten hochgehalten.

Wenn einzelne unter den Betroffenen gefehlt haben, so werden sie sich zu verantworten wissen. Die Gesamtheit trägt keine Schuld an den begangenen Verbrechen, im Gegenteil, dieser Kreis war noch einer der Horte anständigen, humanen und christlichen Denkens und Handelns, hier wurden noch die Ideale wahrer Humanität und Christlichkeit gepflegt. Nur wer die ungeheuer schwierige Situation, in die jeder einzelne dieser Männer gestellt war, aus nächster Nähe erlebt hat, kann ihrer Haltung gerecht werden. Sie mußten ihren Gewissenskampf auf sich allein gestellt durchfechten, und konnten in Bedrängnis und Gewissensnot keinen Rückhalt suchen bei den Abgeordneten eines Parlaments, den Schriftleitern einer freien Presse oder bei irgendwelchen anderen einflußreichen Männern des öffentlichen Lebens – wie etwa die militärischen Führer auf der Gegenseite.

Diese Männer gerade sind mit Spott und Haß verfolgt worden, Sie wurden offen und mehr noch insgeheim als »reaktionäre Generale«, als »verstaubte Ritter mit mittelalterlicher Ehrauffassung« hingestellt. Nicht der »große Hitler«, sondern sie waren, nach der Parteipropaganda, für jeden militärischen Fehlschlag verantwortlich, sie waren die Verräter und Saboteure, die an allem Unheil die Schuld trugen. Ohne sie hätte Hitler seinen Krieg gewonnen.

[104] Der abgrundtiefe Haß der Massenmörder aus dem Kreis um Himmler verfolgt sie bis in diesen Saal und sucht sie durch Lügen und Entstellungen in das eigene Verderben mit hineinzuziehen. Und der Ankläger sieht nicht, wie sehr er durch die These, Hitler sei durch Anstifter und Ratgeber getrieben und immer wieder getrieben worden, die Generale seien letzten Endes an allem schuld, dazu beiträgt, daß der Nimbus um Hitler wieder erstehen könnte, daß Hitler eines Tages dastünde, nicht als politischer Verbrecher und millionenfacher Mörder, sondern als der tragische Held, der durch die grauen Gestalten um ihn herum in den Abgrund gestürzt worden sei. Wünscht der Ankläger wirklich so das Urteil der Geschichte herauszufordern?

Die Geschichte hat ihre eigene Art zu urteilen. Die hier geforderte summarische Art der Aburteilung ist weltgeschichtlich so gut wie einzig dastehend. Es gibt eigentlich nur eine Parallele und sie ist Warnung und Lehre zugleich. Am 16. Februar 1568 verdammte ein Beschluß des Heiligen Amtes alle Einwohner der Niederlande mit Ausnahme einiger weniger namentlich genannten Personen, als Ketzer zum Tode. Der Herzog von Alba, seinem königlichen Herrn in blindem, fanatischem Gehorsam ergeben, wurde zum Vollstrecker dieses Massenverdikts bestellt. Das Urteil der Geschichte über diese erste große Betätigung des Gedankens der Kollektivschuld ist bekannt.

Die Geschichte wird ihr eigenes Urteil auch über die hier betroffenen militärischen Führer schreiben, und die deutschen Generale glauben, vor diesem Urteil bestehen zu können. Heute aber handelt es sich um das Urteil dieses Internationalen Militärgerichtshofs. Möge der Gerichtshof nicht außer acht lassen, daß die Erkenntnis, die er heute über das gesamte Geschehen – den äußeren Ablauf und die Hintergründe dazu – hat, diese Männer nicht gehabt haben, als sie die Entscheidungen trafen, für die sie heute verantwortlich gemacht werden sollen.

Diese Männer bangen nicht um ihr Leben, sondern um die Gerechtigkeit. Möge ihnen hier in Nürnberg ein Urteil werden, das, wie ich eingangs schon erwähnte, unberührt von den Leidenschaften des Alltags, weitab von blinder Rachsucht und kleinlichem Vergeltungstrieb, rein und unverfälscht aus dem Blickpunkt der Ewigkeit und im Hinblick auf eine bessere Zukunft der Völker nichts anderes ist als gerecht!

VORSITZENDER: Der Gerichtshof vertagt sich.


[Das Gericht vertagt sich bis

28. August 1946, 10.00 Uhr.]


1 An der zitierten Stelle wurde versehentlich von den Ämtern III und IV gesprochen; gemeint sind aber die Ämter III und VI.


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 22.
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