1. Kapitel.

Morgens.

»Morgenstunde

Hat Gold im Munde«.

»Ein gut Gewissen

Ist das beste Ruhekissen«.


1. Kapitel: Morgens

Süß ist in der Nacht der Schlaf,

Wenn bei Tag man war recht brav.

Süß auch ist's, wenn man erwacht

Und am Fenster der Morgen lacht,

Freundlich sendend in das Zimmer

Seinen hellen Rosenschimmer.
[7]

Guten Tag, mein liebes Kind!

Flugs, erhebe dich geschwind!

Mußt nicht träge zaudern, säumen,

Drehen, wälzen, wachend träumen.

Rasch heraus aus deinem Bett!

Hurtig! Tapfer! – So ist's nett.


1. Kapitel: Morgens

Den neuen Tag willkommen heiße

Mit einem Sprüchlein gut und weise!


Reinlichkeit, das merke dir,

Ist gar eine schöne Zier.

Drum, mein liebes Kind, behende,

Wasche Kopf und Hals und Hände.

Nur nicht zaudern!


1. Kapitel: Morgens

[8] Nur nicht schaudern!

Wasser ist wohl naß und kalt,

Doch was gilt's! du magst es bald,

Fühlst dich nocheinmal so frisch,

Munter wie im Bach der Fisch.


Der Noah hatte der Söhne drei,

Die Sem, Ham, Japhet hießen.

Der Sem und Japhet jeden Tag

Sich waschen und kämmen ließen.
[9]

Jedoch der Ham

Der scheute den Kamm;

Auch war er Hasser

Vom kalten Wasser.

Wollt' Mama ihn waschen und kämmen,

Thät er sich sperren und stemmen.

Drum wer ihn sah, sprach: »Seht den Ham,

Der hat sich gewiß gewälzt im Schlamm«.

Als er nun zufällig eines Tags

In einen Spiegel guckte:

Wie ihm der Schrecken und die Scham

Durch alle Glieder zuckte!

Von Kopf bis Fuß

War er schwarz wie Ruß!

Schreiend und heulend lief er nach Haus.

Vater und Mutter erfaßt' ein Graus.

Sie riefen: »Du ungeratener Sohn!

Nun hast du's! Sieh, das kommt davon!« –

Ham rief mit fürchterlichen Grimassen:

»Ich will mich waschen und kämmen lassen«.

Die Mutter rieb mit kräftiger Hand,

Mit Schwamm und Seife, Strohwisch und Sand.

Half alles nicht;

An Leib und Gesicht

Schwarz blieb der Ham,

Und so entstand der Negerstamm. ––

Das hat mir erzählt eine gute Bekannte,

Die hat's von ihrer alten Tante. ––


1. Kapitel: Morgens

[10] Drum, Kinder, scheut nicht Wasser und Kamm,

Sonst geht's euch wie dem armen Ham!


Ein gutes Kind mit flinkem Fuß

Bringt dem Papa,

Bringt der Mama

Einen herzlichen, freundlichen Morgengruß.


Nun wohlgemut und heiter

Schlüpf in die Kleider.

Doch ohne Uebereile:

»Eile mit Weile!«

Wer sich überhastet, schießt leicht einen Bock
[11]

Schlüpft in die Hose statt in den Rock,

Knüpft falsch die Knöpfe ein,

Verwechselt das linke mit dem rechten Bein,

Verknüpft die Bänder, macht einen Riß,

Und schafft sich manches Hindernis.


Merke:


Nicht zu schläfrig, nicht zu hitzig!

Nicht zu stumpf und nicht zu spitzig!

Wähle dir als sichern Steg

Stets den goldnen Mittelweg.


Und also hübsch herausgeputzt,

Wie's Röslein in den Hecken,


1. Kapitel: Morgens

[12] Setzt ihr euch munter an den Tisch,

Laßt euch das Frühstück schmecken.

Zur Schul sodann in flottem Trab

Mit Tasche, Mappe, Ranzen.

Dort träuft herab des Wissens Tau

Auf junge Menschenpflanzen.


1. Kapitel: Morgens

Quelle:
Adelfels, Marie von: Des Kindes Anstandsbuch. Stuttgart [1894], S. 7-14.
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