8. Kapitel.

Von der Kleidung.

[44] Sieh zu, daß du das schönste Kleid,

Den schönsten Schmuck erlangest,

Daß du an Reiz und Lieblichkeit

Vor allen andern prangest.


»Ich soll an Putz und Eitelkeit

Vertändeln meine Jugend?« –

Den schönsten Schmuck: Bescheidenheit.

Das schönste Kleid: Die Tugend.


Versteht ihr diese Verschen, liebe Kinder? Die Sache war so. Der Dichter Immergrün verkehrte viel in der Familie Wacker. Eines Sonntags bat ihn die kleine Arabella, er möchte ihr doch etwas ins Album schreiben. Der Dichter ließ sich Tinte und Feder geben, schrieb die ersten vier Zeilen hinein und verabschiedete sich. Am folgenden Sonntag kam er wieder. Da[44] brachte ihm Arabella das Album, schlug das Blatt auf und sagte: »Aber, Herr Immergrün, wie mögen Sie mir so schlechte Lehren geben? Mama sagt oft: Ein braver, fleißiger, gescheiter, tüchtiger Mensch in schlichten Kleidern ist viel mehr wert als ein Putzaffe oder eine Zierpuppe. Auch hat sie mich das Verslein gelehrt:


Wie häßlich krächzt der schöne Pfau,

Und hat so prächtiges Gefieder.

Die Nachtigall im Röcklein grau

Entzückt die Welt durch ihre Lieder.«


Da zog der Dichter lächelnd eine Düte voll köstlicher Bonbons aus der Tasche, gab sie Arabella und sagte: »So hab' ich's erwartet, liebes Kind; ich wollte dich auf die Probe stellen und habe daher nur die Hälfte geschrieben. Du hast die Probe glänzend bestanden. Geh, hol' mir Tinte und Feder«. Hierauf schrieb er zu den ersten vier Zeilen die andern vier. Arabella zeigte ihren Freundinnen, was ihr der Dichter ins Album geschrieben, und alle schrieben sich das Verschen ab.


Schmutzsinken möchtet ihr nicht heißen,

Drum sollt ihr euch stets der Sauberkeit befleißen.

Auch sollt ihr nicht mutwillig die Kleider zerreißen,

Stiefel und Schuhe sind auch nicht von Eisen;

Drum sollt ihr Kleider und Schuhwerk schonen,

Sie sind, ihr wißt's, nicht billig wie Bohnen.
[45]

Die Eltern finden das Geld

Nicht auf der Gasse, noch auf dem Feld,

Wie einen Kieselstein,

Auch regnet es nicht zum Fenster herein,

Quelle:
Adelfels, Marie von: Des Kindes Anstandsbuch. Stuttgart [1894], S. 44-46.
Lizenz:
Kategorien: