5. Brief.

[30] Die Art Deines ganzen Aeußern, lieber Wilhelm, wie Du Deinen Körper hältst, trägst, bewegst, wie Du sprichst, was für eine Miene, was für Geberden Du hast, wie Du Dich kleidest, wie Du Dich in jeder Lage, bey jeder Handlung äußerlich benimmst, Diese Art kann gut, gefällig, angenehm seyn, oder nicht. Im erstern Falle ist sie Anstand, im letztern Uebelstand. Du stehest, gehest, sitzest, sprichst, ißt, spielst, tanzest, reitest, Du bist lustig, traurig, machst Geschäfte oder Besuche, bist zu Hause unter den Deinigen, oder in feyerlichen Gesellschaften, handelst als Jüngling oder als Mann oder als Greis, als Hoher und Vorgesetzter,[30] oder als Niederer und Untergebener – alles dieß und jedesmal mit oder ohne Anstand, mit viel oder wenig Anstand.

Der Grund des Gefälligen und Angenehmen des Anstandes liegt darin, weil derselbe den Gesetzen der veredelten und ausgebildeten Natur und ihren Endzwecken gemäß ist. Die Natur hat dem Menschen einen gesunden, kraftvollen, geraden Körper gegeben, ein freyes, offenes Gesicht, Glieder, die er stey und leicht gebrauchen kann und soll, Sprachorgane, um deutlich, vernehmlich zu sprechen, den Ton der Stimme zu verstärken oder zu schwächen, einen Instinct zur Reinlichkeit, um die Gesundheit und die Kräfte zu erhalten und zu vermehren, eine Miene, mit welcher er jede Empfindung der Seele, des Wohlwollens, der Freundlichkeit, des Mitleids, der Freude, der Zufriedenheit ausdrücken kann; sie verbirgt alles was widrige Empfindungen, was Ekel erweckt, was den Sinnen und der Einbildungskraft unangenehm ist; sie schreibt jedem Alter, jedem Geschlechte ein gewisses, eigenes äußeres Benehmen vor, mit einem Worte, sie gebietet für unser ganzes [31] Aeußere dasjenige, was ihm Schönheit und Anmuth ertheilet, sie gebietet eine praktische Aesthetik.

Diese Gesetze der Natur sind die Grundlage des Anstandes. Ein gerader Körper, eine leichte geschmeidige Bewegung desselben und dessen Gliedmaßen, eine offene, heitere, freundliche, wohlwollende Miene, eine deutliche, gelassene Sprache, die höchste Reinlichkeit des Körpers und der Kleidung, ein wohlpassender Anzug, eine schamhafte Verbergung alles dessen, was die Natur zu verbergen gebietet: überall das Bild der Kraft, der Gesundheit, der Heiterkeit, des Wohlwollens, der Ordnung, der Uebereinstimmung, der Vollkommenheit, das Bild der schönen, veredelten Natur. Dieß ist der Anstand.

Weil die meisten wohlerzogenen, ausgebildeten Personen diese Gesetze der Natur in ihrem ganzen Aeußern befolgen, so haben sie den wahren Anstand. Er ist unter ihnen allgemein und gleichförmig. Daher kann man auch sagen, daß der Anstand in derjenigen Beschaffenheit unsers ganzen Aeußern bestehet, welche mit dem Aeußern [32] der gebildetsten Personen übereinstimmt und unter ihnen allgemein gefällt.

Zu diesem Anstande, welchen die Natur, die Vernunft gebietet, kommt noch dasjenige, was durch Uebereinkunft bey einer gebildeten Nation und in jeder bürgerlichen Gesellschaft als anständig eingeführt worden ist, und sehr leicht in derselben bemerkt und gelernt werden kann. So gebietet der Anstand der Vernunft eine leichte, sanfte, nicht schnelle, nicht hastige und eckigte Bewegung der Gliedmaßen, der conventionelle, die Darreichung einer jeden Sache mit der rechten Hand; jener will, daß man höchst reinlich am Körper und Anzuge, dieser, daß man in gepuderten Haaren und in Schuhen, in größern Gesellschaften erscheine; jener verlangt, daß man sich eines edeln Ausdrucks bey der Conversation bediene, dieser, daß man Jedermann von den gebildetern Ständen Sie nenne etc. Du siehest leicht ein, daß die eine Art des Anstandes, so wie die andere, sorgfältig beobachtet werden muß.

Es würde Vorurtheil seyn, wenn man behaupten wollte, daß der Anstand einer Classe von [33] Menschen ausschließlich eigen sey. Es gibt Personen in allen Classen, welche entweder mit Hülfe einer besonders guten Erziehung, oder eines eigenen natürlichen seinen Gefühls und einer beständigen Aufmerksamkeit auf sich selbst, ohne äußern Unterricht und Vorbilder zur Nachahmung, sich einen hohen Grad des Anstandes erwerben. Indeß findet man ihn am meisten und im vollkommensten Grade bey denjenigen Personen der höhern Stände, bey welchen bessere und sorgfältigere Erziehung und Bildung, Nachahmung, Angewöhnung und Umgang, das Eigenthümliche der Temperamente und Charaktere, die eigenen, sonderbaren, übeln Angewohnheiten abgeschliffen und entfernt, und ihr ganzes Aeußere mit den Gesetzen der veredelten Natur in Uebereinstimmung gebracht und gleichförmig gemacht haben.

Alles, was diesem Allgemeinen, diesen schönen Formen der ausgebildeten Natur entgegen ist, alles das Eigenthümliche, was den verschiedenen Temperamenten und Charakteren, den verschiedenen Lebensarten und Beschäftigungen anhängt und was eine weniger sorgfältige Erziehung und [34] Aufmerksamkeit nicht zerstört und entfernt hat, oder aus Mangel an Vorbildern nicht hat zerstören und entfernen können, oder was eine schlechte Erziehung noch verschlimmert hat, alle jene Eigenthümlichkeiten und übeln Angewohnheiten im Aeußern, zum Bey spiel, das Fahrlässige so vieler jungen Leute, das Dreiste, Anmaßende, Unverschämte des eingebildeten Thoren, das Kalte, Höhnische des Stolzen, da Gesuchte, Gezierte des faden Gecken, das Schiefe, Schielende des Neidischen, das Verzerrte des Hitzigen, das Kopfhängen des Heuchlers, ferner, das Finstere und Linkische, das Ceremoniöse und Feyerliche, das Ungeschmeidige, Steife, Gezwungene, das Kleinliche und Emsige, das Schwerfällige, Plumpe, Tölpische und Eckichte so vieler Personen aus den verschiedenen Ständen und Lebensarten. Diese Eigenthümlichkeiten, deren viele lächerlich, alle aber misfällig sind, sind mehr oder weniger Uebelstand, so wie jenes Allgemeine, Freye, Natürliche, Leichte, Ungezwungene, Gesetzte, Bescheidne, Edle und Harmonische des gebildeten Mannes der wahre Anstand ist, welcher überall gefällt. Es gehört eine beständige Aufmerksamkeit auf sich und auf Andere, ein feines, [35] richtiges Gefühl und ein guter Geschmack dazu, um ihn sich ganz eigen zu machen.

Der Anstand schränkt sich aber nicht allein auf das Aeußere der Person ein; er verbreitet sich über alle Einrichtungen und Beschäftigungen, über die ganze Lebensweise, in welcher alle Theile ein schickliches, wohlpassendes Ganze seyn, als wohl gewählte Mittel zu einem schönen, vernünftigen Zwecke im besten Verhältnisse stehen müssen. So hat jedes Alter, jeder Stand, jede Beschäftigung, jede Lage des Lebens einen besondern Anstand, dem man getreu seyn muß, wenn man nicht misfallen will. Doch hievon in Zukunft vielleicht ein mehreres. –


[36] ** den 6. Julii 1802.


Quelle:
[Anonym]: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart. Leipzig 1804, S. 30-37.
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