12. Brief.

[77] Ich erwarte nicht ohne Grund von Dir, liebster Neffe, daß Du Dir die möglichste Mühe geben wirst, die Mittel zur Höflichkeit und zum Anstande die ich Dir in meinen Briefen angezeigt habe, mit strenger Aufmerksamkeit und Beurtheilung zu gebrauchen. Jetzt will ich Dir aber noch eins bekannt machen, dessen Anwendung Dir gar keine Mühe macht. Es heißt: Sey und bleibe immer natürlich.

Wenn Du Dich im Cirkel einer Menge gebildeter, artiger Personen befindest, so wirst Du bey einer flüchtigen Beobachtung bemerken, daß, ob sie [77] sehr seines Betragen sich auszeichnen, eine jede doch etwas Eigenes, manche vielleicht etwas auffallend Eigenes hat; jede hat ihre eigene Art, zu seyn und zu handeln, in der Miene, in der Bewegung des Körpers, in der Sprache, dem Tone und der Art sich auszudrücken, kurz, im ganzen äußern Benehmen. So hat die Natur tausend verschiedene Schönheiten, große und niedliche mit allen ihren verschiedenen Nüancen hervorgebracht, die alle gefallen. Diese Mannichfaltigkeit gibt der Gesellschaft einen hohen Reiz, zu welchem Du, durch Deine Dir eigene gute Art, Dich zu benehmen, durch Deinen Anstand, der, ob er gleich mit dem allgemeinen Anstande gleichförmig ist, doch sein Eigenes hat, das Deinige beyträgst.

Wenn Du nun siehest, daß diese oder jene Person durch das ihr natürliche Eigene gefällt, und Du wolltest, um auf eben diese Art zu gefallen, dasselbe nachahmen und annehmen, so würde Dir dieß auf jeden Fall mißlingen, Du würdest in das Unnatürliche, in das falsche Sonderbare, in Affectation fallen, die ohne alle Ausnahme misfällt und lächerlich ist. Wollte der Gelassene, Phlegmatische den Lebhaften nachahmen, so würde [78] er wild und unbesonnen; wollte der Kalte den Gefühlvollen, Gutherzigen spielen, so würde er lästig; wollte die nicht sein fühlende Dame die Empfindsame machen, so würde sie fade; wollte der Geist- und Witzlose scherzen und geistreich sprechen, so würde er abgeschmackt und beleidigend. Du wirst finden, daß diese Nachahmungssucht, diese Affectation, immer die Schwachköpfe haben, die nicht viel sind, und doch recht viel seyn wollen. So lange sie ohne Anmaßung in ihrer eingeschränkten Sphäre bleiben, so läßt man sie als blos repräsentirende stumme Rollen passiren, und sie haben als solche ihren Werth. Sobald sie aber heraustreten und sich wichtig machen wollen, so werden sie lächerlich und verächtlich. Jede Affectation verräth sich den Augenblick, und hat zur nothwendigen Folge, daß der Affectirende unter seinen wahren Werth fällt.

Sey daher natürlich, bleibe Dir immer gleich, bleibe das, was Du, nach einer Dir gegebenen sorgfältigen Ausbildung, nach Deiner Individualität bist, mische Deiner Art zu seyn und zu handeln, Deinem Charakter, nie etwas [79] Fremdartiges bey. Und ist auch in diesem Deinen Natürlichen etwas Ausgezeichnetes, zum Beyspiel, in Deiner Dir ganz eigenen, ungewöhnlichen Lebhaftigkeit, in Deiner Offenheit, so wird es weder auffallen, noch misfallen, so lange Du es nicht selbst auszeichnen willst. Sobald Du aber dieß thun, einen besondern Werth darauf legen, es geltend machen willst, sobald Du also durch Deine Lebhaftigkeit Dich hervorthun und glänzen willst, dann bleibt dieselbe nicht mehr natürlich, sie wird etwas Angenommenes, und dieser kleinliche Stolz, diese Eitelkeit wird Ekel erwecken, Du wirst misfallen, Dich verächtlich, oder doch jedesmal lächerlich machen; Du wirst ein Verdienst in etwas suchen, was gar kein Verdienst ist. Ich kenne einen Mann, der mit einer schönen, sonoren Stimme sehr gut spricht. Seit einiger Zeit sucht er sich durch diesen Vorzug besonders auszuzeichnen. Nun affectirt er, spricht ohne Unterlaß, hört sich selbst gerne und wird lächerlich. Eine junge Dame gefiel ungemein durch das eigene Naive in ihrer Gedenkungsart, ihrem Ausdrucke und ganzem Benehmen. Das Lob der Schmeichler [80] verdarb sie. Jetzt ist dieses gefällige Naive weg und falscher Witz und Ziererey an dessen Stelle getreten.

Nichts gefällt mehr, nichts nimmt mehr ein, als die gute, natürliche, sich selbst gelassene Art, die unser ganzes Benehmen beherrscht, die uns darstellt, wie wir sind, die nichts verbirgt, aber auch nichts Fremdes erborgt –


[81] ** den 17. Aug. 1802.


Quelle:
[Anonym]: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart. Leipzig 1804, S. 77-82.
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