30. Brief.

[196] Lieber Wilhelm!


Du hast nun eine Anzahl Briefe in Händen, die ich Dir über die Höflichkeit und den Anstand oder über die seine Lebensart geschrieben habe. Ich freue mich sehr, daß Du sie, wie Du mir sagst, sorgfältig aufbewahrst, fleißt, liesest und oft über den Inhalt derselben nachdenkest. Nur bitte ich Dich nochmals, nicht zu glauben, daß diese Briefe ein Handbuch oder ein Katechismus seyn sollten, welchen Du überall, bey jeder Gelegenheit, in jedem einzelnen Falle zu Rathe ziehen könntest. Du würdest Dich dann sehr irren, oft ohne Rath und Trost bleiben, zumal wenn Du die Regeln auf eine mechanische Art auswendig lernen wolltest, ohne über ihre Anwendung jedesmal gehörig nachzudenken. Ich habe Dir schon gesagt, daß es sehr oft Fälle gibt, wo blos ein geübter Verstand, ein schneller Blick, ein seines Gefühl entscheiden muß, was die seine Lebensart erfordert und was sie in einem einzelnen Falle mehr oder weniger [196] erfordert. So unmöglich es daher seyn würde, alle diese Fälle aufzuzählen und über jeden derselben besondere Regeln festzusetzen, so ist dieß auch gar nicht meine Absicht gewesen. Aber Dich mit der Beschaffenheit der wahren Höflichkeit, ihrem hohen moralischen Werthe und ihrer unumgänglichen Nothwendigkeit, ihrem Unterschiede von der falschen, verächtlichen, ihrer wahren Quelle und besonders den Mitteln, dazu zu gelangen, und sodann mit ihren Grundsätzen und vornehmsten Regeln, so wie mit dem, was man Anstand nennt, gehörig bekannt zu machen und Dich so auf den Weg der guten, seinen Lebensart hinzuführen: dieß war meine Absicht. Ich darf nicht zweifeln, daß diese Absicht erreicht werden wird. Sie wird es gewiß, wenn Du nur immer aufmerksam bist, wenn Du Wohlwollen und Achtung gegen Andere zu herrschenden Gesinnungen werden, und nie jene niedrigen Gesinnungen des Hochmuths, der Eitelkeit, der Feindseligkeit, der Verachtung, des Neides, der Schadenfreude, der Verleumdung und übeln Nachrede, in Deinem Herzen Platz nehmen läßt.

Sey und bleibe unter allen Umständen Deines Lebens gut, wie Du jetzt bist, und werde ein rechtschaffener Mann, der nie anders, als recht denkt und recht handelt: dieß ist der höchste Werth und Vorzug des Menschen. Erwirb Dir zu Deinem Berufe die möglichsten Geschicklichkeiten, damit Du in denselben das brauchbarste und nützlichste Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft werdest. Dieß ist [197] die wahre, schönste Ehre des Menschen. Begleit dann alle Deine guten, nützlichen und edeln Handlungen, Dein ganzes Betragen gegen Andere mit einer wohlgefälligen, anständigen und einnehmenden Art, so wirst Du gewiß geschätzt und geliebt werden; Du wir mit der Welt, mit den Menschen, mit Dir selbst zufrieden, Du wirst dann in Deiner Laufbahn glücklich seyn.

O möge Dir, mein theuerster, geliebtester Neffe, diese Zufriedenheit, diese Glückseligkeit auf Dein ganzes Leben zu Theil werden! Wie glücklich wird mich auf die vielleicht wenigen Jahre, die ich noch zu leben habe, das Bewußtseyn machen, daß ich zu dieser Deiner Glückseligkeit beytrug! Wie glücklich werden Deine vortreflichen Aeltern seyn, die Dich aus der Ferne zu mir sandten und meiner Sorge anvertrauten! Gib uns dieses Glück; es hangt ganz von Dir ab. Mit dieser herzlichsten Bitte und der innigsten Liebe bin ich


Dein


ergebenster, getreuester Onkel


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Quelle:
[Anonym]: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart. Leipzig 1804, S. 196-198.
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