12.


[190] Das Jahr 1818 brachte eine wichtige Veränderung in mein Privatleben. Meine erste Ehe war keine glückliche gewesen. Verhältnisse, die zur Veröffentlichung nicht geeignet sind, lockerten gar bald das all' zu früh und all' zu schnell geschlossene Band. Der große Vermittler Tod hat nunmehr alle Falten geglättet, alle Unebenheiten ausgeglichen, und nachdem ich diese Saite einmal berührt habe, so will ich die Todte dadurch ehren, daß ich hier einige Selbstbetrachtungen über mein eigenes Wesen beifüge.

Es wohnt in mir ein unzweifelhafter patriarchalischer Zug, ein mächtiger Hang zu still zufriedenem Familienleben.[190]

Aber die Traumwelt, der ich mich rückhaltslos hingegeben hatte, entfremdete mich zum großen Theile den Beziehungen des wirklichen Lebens. Hier bin ich von einer Portion Indolenz nicht freizusprechen. Angelegenheiten, die sich auf alltägliche Verhältnisse, Ereignisse und Bedürfnisse bezogen, langweilten, ermüdeten mich und ich sah es nur zu gerne, wenn mir langwierige oder verdrießliche Geschäfte ganz erspart und abgenommen wurden, für welche mir auch Geschick und Urtheil fehlten.

Als ich mich verehelichte, zog ich mich vollends in meine Künstlerträume zurück und überließ der Hausfrau die unumschränkte Finanz- und Hausverwaltung.

Jede Frau ist zum Herrscheu geboren und es ist eine ganz erklärliche Erscheinung, daß sie ihre Naturanlage ausbildet und verwendet, wenn sie erkennt, daß der Gatte sich ihr völlig überläßt. Da ich überdies von jeher eine große Achtung für das Frauengeschlecht empfunden hatte, so war die Nachgiebigkeit und Schonung gegen weibliche Schwächen eine nothwendige Consequenz. Ich bin ein Mann, der von jeder Frau beherrscht werden mußte und selbst Eigensinn, Rücksichtslosigkeit und Bosheit habe ich bis zu einem gewissen Grade ertragen können, um in Frieden zu leben und jenen häuslichen Scenen zu entgehen, wodurch verwöhnte Frauen mitunter auch das Nervensystem des stärksten Mannes erschüttern.

Dagegen aber war auch die Grenzlinie, bis zu welcher meine Duldsamkeit reichte, eine sehr feine. Ueber diese hinaus setzte ich weiblicher Anmaßung starre Unzugänglichkeit entgegen und es ging mir ähnlich wie dem Mohren von Venedig, der sich[191] selbst als einen Mann bezeichnet, »der nicht leicht in Zorn geräth, doch aufgeregt, unendlich raste.«

Die Charaktere, welche bei meiner ersten Ehe zusammentrafen, stießen sich ab, statt sich zu ergänzen; statt sanfter Bande glaubte ich nur die Zügel der Herrschaft zu empfinden; bittere Enttäuschungen und Erfahrungen gesellten sich dazu und führten endlich zur Beruhigung beider Theile die Lösung einer Verbindung herbei, die am besten nie geschlossen worden wäre und welcher eine zweite auf dem Fuße folgte. Ich habe oben erwöhnt, wie die Darstellerin des Käthchens von Heilbronn den Grafen Wetterstrahl zu den innigsten Empfindungen beseelt hatte. Diese gegenseitigen Beziehungen hatten mittlerweile an Intensivität zugenommen und sich endlich zu dem Wunsche einer dauernden Verbindung ausgebildet. Am 19. Mai 1818 führte ich Emilie Butenop im Oertchen Weigelsdorf nächst Breslau zum Altare.

Unsere Hochzeitsreise verlegten wir in den Winter und richteten dieselbe nach Königsberg, wohin ich zu einem längerem Gastspiele eingeladen worden war. Von meinen Freunden und dem Publicum wurde ich hier mit wahrhafter Liebe empfangen und begrüßt. Die Erinnerung an mich war ungeschwächt und die Aufnahme meiner Leistungen und der meiner Gattin eine rauschende. Unser Gastspiel umfaßte einen bedeutenden Zeitraum und den größten Theil unseres Rollenrepertoires.

Alle unsere freien Stunden genügten kaum, um den Einladungen zu Diners, Gesellschaften, Bällen, Schlittenfahrten u.s.w. zu genügen, und die Königsberger machten die[192] Tage unseres Aufenthaltes zu einem ununterbrochenen Feste. Diese Beweise von herzlicher Anhänglichkeit waren vollständig geeignet, die Strapazen der Winterreise vergessen zu machen, die sich an meine früheren Reiseberichte als würdiger Pendant anschlossen.

Unser Weg führte uns durch einen Theil von Posen. Auch hier waren es wieder die Nachtquartiere, die den Gegenstand unserer Sorgen ausmachten. In einem derselben schienen eine brüllende Kuh und ihr blöckendes Kalb, die man getrennt hatte, unsere Wachsamkeit unterstützen zu wollen, was ihnen vollständig gelang. Der Zustand einer nächsten Unterkunft, die wir unnachsichtlich mit Ungeziefer und den freundlichen Hausthieren theilen sollten, brachte uns zu der Resignation, unsere Schlafstellen in unseren Reisewagen zu verlegen, wo ich mit der geladenen Pistole in der Hand übernachtete. Diese Stellung nahm ich übrigens auch während der Fahrt gewöhnlich ein, sobald die Sonne sich neigte und »die Krähe flog zum dohlenvollen Wald«, denn es galt nicht nur, sich gegen die freien Eigenthumsbegriffe der Sarmaten, sondern auch gegen die bratenlüsternen Wölfe zu vertheidigen, deren weitvernehmbares Heulen ihre unzweifelhaften Absichten verkündete.

Vom Königsberger Gastspiele ist mir eine Anecdote in besonders belustigender Erinnerung geblieben. Wir gaben »Egmont«. Während der Scene mit Alba mache ich die Entdeckung, daß der Souffleur stiller und stiller wird und endlich läßt mir seine Stellung und sein Schnarchen keinen Zweifel übrig, daß er eingeschlafen sei. Der Gedanke ängstigt mich, daß[193] dieser Umstand in der Straßenscene Klärchens im fünften Acte Verwirrungen und für meine Frau Verlegenheiten verursachen könne und ich steige im Entre-Act nach dem Souffleurkasten hinab, um den Schläfer zu wecken. Ich fasse ihn an, ich schüttle ihn, vergebens! er war bocksteif.

Das Königsberger Theater war ein sehr großes Gebäude und nicht zu heizen. Die Kälte war daher in strenger Winterzeit exorbitant und das ganze Podium glitzerte und glänzte wie ein Haufen Brillanten. Um sich gegen diese empfindliche Temperatur einigermaßen zu schützen, griffen fast alle Souffleurs zu dem Mittel, sich von Zeit zu Zeit durch einen Schluck Liqueur oder Branntwein zu erwärmen. Unser Mann schien diesen Nothhelfer zu sehr in Anspruch genommen zu haben, wie sein Athem verrieth. Der Act sollte beginnen, Gefahr war im Verzuge; ich fasse daher den Trunkenen an den erstarrten Beinen, ziehe ihn vom Sessel und aus dem Souffleurkasten, lasse ihn in Gottesnamen liegen, setze mich an seine Stelle und fange an zu souffliren. Bei der zweiten oder dritten Rede bemerkte ich, wie meine Frau stutzt, unverwandt nach dem Souffleurkasten blickt und daß sie Mühe hat, das Lachen zu verbergen, als sie ihren Geliebten, den sie eben zu retten bemüht ist, in voller irdischer Pracht in der Unterwelt entdeckt. Während der letzten Reden der Volksscene verlasse ich den usurpirten Thron Pluto's, kehre zur Oberwelt zurück, gebe Auftrag, den Souffleur fortzuschaffen und zu substituiren und habe dann gerade Zeit, mich auf mein Lager im Kerker zu werfen, um meinen Monolog zu halten.

Meine Erinnerungen an Danzig veranlaßten mich, unser[194] Gastspiel auf diese Stadt auszudehnen, die in mehr als einer Beziehung so bedeutsam in mein Leben eingegriffen hatte. Von beiden Städten sollte ich für immer Abschied nehmen. Bei meiner Rückkehr fand ich eine Veränderung am Breslauer Theater, die allgemein tief beklagt wurde. Der allverehrte Professor Rohde, dem das Institut seinen ehrenvollen Standpunkt verdankte, zog sich nämlich von der Leitung der Bühne zurück und Regierungsrath Heinke trat an seine Stelle.

Heinke war zwar von den besten Intentionen beseelt, stand aber doch der eigentlichen Theateradministration zu fremd gegenüber. Er fühlte das selbst und legte daher einen großen Theil der artistischen Geschäfte in die Hände der Regie.

Nun hatte ich vollauf zu thun, um meiner Doppelstellung an einem solchen Kunstinstitute gerecht zu werden. Eine der ersten Aufgaben, die mir zufielen, war die Einrichtung von »Romeo und Julie« in Schlegel's Uebersetzung.

Dieses Meisterstück der Liebestragödien wurde in einer Vollständigkeit zur Darstellung gebracht, wie ich sie nirgends wieder vorgefunden habe. Nur Tieck soll in Dresden ein ähnliches Verfahren eingeschlagen haben. Mit Ausnahme von ein Paar unbedeutenden Scenen und einigen Modificationen aus scenischen Rücksichten, wurde das ganze Stück fast unverändert dargestellt und machte den tiefsten Eindruck.

Namentlich der erste, dritte und vierte Act, die jetzt überall so unbarmherzig behandelt werden, müssen durch solch eine restitutio in integrum ganz anders wirken. Die dramatische Anlage des Ganzen, die Consequenz in der Entwicklung und Steigerung der Charaktere macht die chronologische[195] Scenenreihe so unentbehrlich, daß jede Unterdrückung zur empfindlichsten Lücke wird. Wie herrlich werden die Parteien in den Eingangsscenen gezeichnet, wie sein psychologisch ist der Umschwung in Romeo, der von der fruchtlosen Anbetung einer Spröden zu dieser Leidenschaft übergeht, als er Gegenliebe findet. Die erste Begegnung Romeo's mit Julien gleicht in der heutigen Darstellungsweise mehr einer Concertpiece als dem Mittelpuncte eines bewegten Balltreibens. Man muß hier das Balletpersonal zu Hilfe nehmen und den Tanz in einzelnen Gruppen sichtbar werden lassen. Den Vorgrund muß eine Art Ruhezimmer bilden mit Reihen von Sesseln, wo die Tanzenden ausruhen. Hier empfängt Capulet seine Gäste mit Scherzen, hier weist er Tybalt zurück. Hier sucht auch Julie Kühlung und hierher folgt ihr Romeo und spricht sie an.

Die Balconscene gehört in den zweiten Act. Es muß eine kleine Pause eintreten, bis Ruhe im Hause wird, bis Julie allein sein kann. Die Versuche Romeo's, in den Garten zu gelangen, die Nachsetzungen Benvolio's und Merkutio's leiten die nachfolgende Scene höchst spannend ein. Jetzt werden an den meisten Bühnen die Scenen bei Lorenzo im zweiten Act zusammengezogen, Julie läuft auf's Gerathewohl zum Mönch und hinterdrein sucht die Amme Romeo auf, um die Trauungsstunde zu erfahren. Welche Gestalten werden Capulet, Lorenzo und die Amme nach dem Originale. Wenn nach der Brautnacht der traumseligen Julie plötzlich die zweite Heirat droht, wie nothwendig sind da die Scenen in der Zelle zwischen Paris und Lorenzo, zwischen dem Mönch und[196] Julien. Unter dem Vorwand der Beichte sucht sie ihn auf, klagt, droht und hier gibt er ihr den Schlaftrunk. Bei den heutigen Einrichtungen trägt er den Mohnsaft schon mit sich herum. Und wie herrlich ist die Scene an Juliens vermeintlicher Leiche; dieser ungeheure Klageruf der Eltern, des Bräutigams, der Amme und diese herrlichen Trostesworte des eingeweihten Mönches. Alle diese unvergänglichen Momente und Gedanken verlieren die Farbe durch die tyrannische Wirthschaft des Rothstiftes, der in »Romeo und Julie« gewüthet hat, wie kaum in einem anderen Shakespeare'schen Drama.

Ich erkenne an, daß unsere gesellschaftlichen Verhältnisse, worin Theekessel oder Souper eine gewisse Kunstgrenze vorzeichnen, für Direction und Regie den Rothstift unentbehrlich machen, aber immer noch ist zwischen Streichen und Streichen ein Unterschied, wenn man nicht die allbekannte Anecdote des alten Theaterdirectors Bottner wiederholen will, der auf die Vorstellung seines Souffleurs, daß eine durch Streichen unverständlich gewordene Stelle herzustellen sei, zwei Blätter aus dem Buche riß und dem Souffleur mit triumphirendem Blicke zurief: »Na nu, souffliren Sie die Stelle, wenn Sie können.«

Da ich gerade bei den Theateranecdoten angelangt bin, so kann ich nicht umhin, Reizenberg's zu erwähnen, dessen Bekanntschaft ich in Breslau machte.

Der Name Reizenberg schließt für Theaterkreise Alles in sich, was jemals über Vernachlässigung, Unordnungsliebe und Vagabundenthum in der Schauspielerwelt bekannt und beklagt worden ist.[197]

Reizenberg, oder nach seinem Familiennamen »von Reizenstein«, hatte in der österreichschen Armee gedient; eine unglückliche Herzensangelegenheit soll auf sein Gemüth zuerst störend eingewirkt und ihn bewogen haben, in der bunten und geräuschvollen Bühnenwelt Vergessenheit für das Vergangene zu suchen. Er war einer jener Menschen, an welche die Natur Alles verschwendet, was der Schauspieler bedarf, um die Länder seiner Muttersprache im Siegeszuge zu durchwandern: Gestalt, Gesichtsausdruck, Auge, Organ, ein glückliches Gedächtniß, geistige Befähigung und eine glühende Phantasie. Das Schicksal aber sprach der Eboli nach: »Alles das an einen Sterblichen?« Die furchtbare Göttin griff nochmals in die Urne, um den Liebling mit einer Eigenschaft zu begaben, die ihn vor Uebermuth bewahre; sie wollte vielleicht die Mäßigkeit herausziehen, aber sie vergriff sich und beschenkte ihn mit dem Leichtsinn. Dieser Fehler, der zwar nie zur Tugend, aber in bescheidenem Maße eine liebenswürdige Schwäche werden kann, ergoß sich in Reizenberg's organische Natur als Essenz, als Urstoff und paralysirte Talent und Naturgaben. Sein Wesen artete in Flüchtigkeit, Unbeständigkeit Ungeduld, Ungebundenheit und endlich in Schrankenlosigkeit aus und so endete als Bettler und so gut wie auf dem Anger, der bei einem Leben nach Natur-, Welt- und Kunstgesetzen vielleicht ein Künstler geworden wäre, an dessen Grabdenkmal Mit- und Nachwelt trauerte.

Bei dieser unglücklichen Mischung des Blutes war es natürlich, daß Reizenberg einen bedeutenden Anfang und ein klägliches Ende hatte. Zu anderen Ausschweifungen gesellte[198] sich »der Teufel Trunkenheit«; der Genuß von Spirituosen im Uebermaße verzehrte seine Geistes- und Körperkräfte, so daß Reizenberg in derselben Rolle an einem Abend enthusiastisch ausgezeichnet und am nächsten Abend von dem unwilligen Publicum ausgezischt oder ausgelacht wurde. Von der angesehensten Stellung an bedeutenden Bühnen sank er nach und nach zu den Wandertruppen der untergeordnetsten Art herab und endete damit, auf Dörfern und in Scheuern den Bauern für einige Kreuzer Komödie vorzuspielen.

Als endlich im Jahre 1831 den bekannten Literaten F. C. Weidmann sein Weg nach Schwechat bei Wien führte, begegnen ihm zwei Männer, die auf einem Karren einen Sarg fahren und ein Blödsinniger tanzt mit wahnwitzigen Sprüngen um den Aufzug herum. »Was macht Ihr da?« fragt Weidmann. – »Wir begraben einen Todten.« – »So? wer war er denn?« – »Ein Komödiant.« – »Wie heißt er?« – »Reizenberg!«

Nach Breslau war Reizenberg 1816 gekommen. Mit Ausnahme einzelner Excesse und der unvermeidlichen Schulden, die er allerorten zu contrahiren wußte, hatte er ungefähr ein Jahr lang seinen unstäten Geist in Breslau gefesselt, wo sein unverwüstliches Talent so manchen schönen Erfolg errungen hatte. Nun schien aber auch das Maß monotoner Ordnung für ihn gefüllt zu sein. Eines schönen Sommertages bemerkt der aus dem Bade zurückkehrende Breslauer Polizeipräsident Streit auf der Landstraße nach Breslau einen Spaziergänger.

»Herr Reizenberg,« ruft der Präsident ganz erstaunt, »wie kommen denn Sie hierher?«[199] »Zu dienen, Herr Präsident, ich habe einige freie Tage und mache mit Erlaubniß der Direction einen kleinen Ausflug in das Gebirge.«

»Ei, da wünsche ich Ihnen recht schönes Wetter und viel Vergnügen. Haben Sie etwas nach Breslau zu bestellen?«

»Wenn Sie die Güte haben wollen, die besten Empfehlungen an alle Bekannten zu übernehmen, so werden Sie mich sehr verbinden.«

»Sie können darauf rechnen.«

Nach einigen Tagen vernimmt Präsident Streit, daß Reizenberg vermißt wird.

»Den habe ich ja auf der Reise in das Gebirge getroffen.«

Ein allgemeines »Aha!« klärte den Präsidenten auf.

Reizenberg war ohne eigentliche Veranlassung verschwunden und tauchte in Prag wieder auf.

Hier nahm sein Hang zur Trunksucht bereits bedenkliche Dimensionen an und von den unzähligen Anecdoten, die er hier geliefert hat, ist wohl nachfolgende die bekannteste:

In den »Kreuzfahrern« hat Reizenberg den Balduin zu spielen. Er kommt in berauschtem Zustande in das Theater und vermag kaum die Scenen des ersten Actes herauszubringen. Mit Ende des Actes ist Reizenberg, der halb besinnungslos auf einer Bank hinter den Coulissen liegt, factisch außer Stande weiter zu spielen. Ein junger Schauspieler, Ludwig Löwe, erbietet sich, die Rolle weiter zu spielen. Dem Publicum wird gemeldet: »Wegen plötzlicher Erkrankung des Herrn Reizenberg wird sich Herr Löwe erlauben, die Rolle in Eile zu übernehmen.« Reizenberg hört das und ruft mit[200] Stentorstimme von seinem Lager aus: »Reizenberg ist nicht krank, Reizenberg ist nur besoffen!« Löwe wurde für seine Aushilfsleistung lebhaft ausgezeichnet und ging nach dieser eclatanten Talentprobe aus dem Fache der Naturburschen zu den Helden über.

Bei einem Gastspiele in Troppau wurde Reizenberg von dem schwachbesuchten Hause hervorgerufen, wobei sich besonders Kinderstimmen hervorthaten. Reizenberg tritt vor, blickt nach den Engelstimmen im Paradiese und sagt: »Der hoffnungsvollen Jugend Troppau's meinen Dank.« Eine rauhe Stimme versichert ihm: »Es waren auch Männer darunter.« Reizenberg verbessert sich sehr verbindlich: »Den hoffnungsvollen Männern von Troppau meinen Dank.«

In dem letzten Stadium seiner Theaterlaufbahn war bekanntlich Max Cäsar Heigel sein Gefährte auf den Wanderungen durch Flecken und Dörfer. Wenn sie nach längerer fruchtloser Wanderung von fern eine größere Ortschaft erblickten, die einige Ausbeute zu versprechen schien, so pflegten sie auszurufen: »Bagdad!« was so viel heißen sollte, als: »Stätte des Heils.« Einst erreichen sie einen solchen Ort in dem Augenblicke, da Keiner von Beiden über einen Heller zu gebieten hat. Nichtsdestoweniger setzen sie sich im Wirthshause zur Flasche. »Hier wird nicht viel zu holen sein,« meint der kleinmüthige Heigel.

»Das wird sich zeigen,« erwiedert Reizenberg, läßt Heigel im Wirthshause sitzen und geht auf Entdeckungen aus.

Nach einer halben Stunde hört Heigel Trommelwirbel. Die Jugend des Ortes kommt unter hellem Geschrei und Gelächter[201] angezogen mit Reizenberg, hinter dem eine alte zerbrochene Trommel gepaukt wird. Reizenberg verkündet der Bevölkerung, daß mit Genehmigung der Ortsobrigkeit gegen Abend eine theatralische Vorstellung stattfinden werde, deren Gegenstand mit Rücksicht auf den Sonntag ein biblischer sei. Reizenberg hat in einer halben Stunde Alles veranstaltet. Eine große Scheune wird zum Kunsttempel erhoben, an der geschlossenen Seite werden aus Bretern Sitzplätze geschaffen und der offene Theil durch einen Vorhang aus Betttüchern u. dgl. geschlossen. Die neugierige Bevölkerung versammelt sich zahlreich. Das Zeichen zum Anfange der Vorstellung wird gegeben. Reizenberg und Heigel, letzterer mit der Casse unter dem Arme, erscheinen mit Betttüchern drapirt. Mitten auf der Scene wendet sich Reizenberg um, sagt zu Heigel: »Petri, folge mir!« und so verschwinden sie. Eine Pause folgt, die sich immer verlängert. Als endlich beinahe eine Viertelstunde verstrichen ist, begibt sich das Publicum hinter den Vorhang, um nach der Ursache der Unterbrechung zu spähen. Alles ist leer. Weder Christus noch sein Jünger läßt sich sehen. In weiter Ferne aber, schon auf der Höhe eines Berges kann man zwei Gestalten entdecken, die in eilender Bewegung begriffen sind und die zu verfolgen ein fruchtloses Unternehmen wäre.

Reizenberg und Seydelmann waren oftmals Gegenstand meines ernsten Nachdenkens. Reizenberg, mit allen Gaben der Natur und des Talentes, geht elend unter, weil ihm Ordnung, Sitte und Ziel fehlen, Seydelmann, dem die Natur so viel versagt hat, erwirbt sich durch Ausdauer, ernsten[202] Willen und Mäßigkeit einen hochgeachteten Namen und eine ehrenvolle Stelle in der Kunstgeschichte. Darin ist wahrlich mehr Moral als in mancher Predigt.

Quelle:
Anschütz, Heinrich: Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. Wien 1866, S. 190-203.
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