2. Neujahr.

[616] 617. Die sogenannten Ablösungen. »Für die Ablösung von Neujahrskarten wurden dem Wohlthätigkeitsverein von Herrn N.N. hundert Mark überwiesen.«

Wie viele solcher oder ähnlicher Anzeigen stehen am ersten Jahrestag in den Zeitungen der größeren Städte! In denen der kleineren noch selten – dort ist das Uebermaß auszuteilender und zu empfangender Glückwünsche noch nicht zur Last geworden. Bedenkt man den Umfang, den der Verkehr eines geselligen Hauses in einer Großstadt jetzt anzunehmen pflegt, so begreift man die eigentümliche Art, sich durch Geldspenden, die noch dazu öffentlich angekündigt werden, von gesellschaftlichen Pflichten der Höflichkeit loszukaufen.

Da man aber, wenn man fünfhundert oder mehr Glückwünsche zu schreiben hat, nicht mehr freundliche und herzliche Gedanken für die Adressaten zu hegen im stande ist, sondern die Gratulation doch nur zur leeren Formsache herabgedrückt wird, so thut man recht daran, sich die Mühe der Arbeit, andern die Langeweile des Lesens zu ersparen und »wohlthätig« zu sein. Dem Verein wird das Geld – aus welchem Grunde es auch gegeben sei – immer willkommen sein, und irgendwo wird es Thränen der Not und des Kummers trocknen helfen. Fast zu viel Lohn – für Bequemlichkeit.

[617] 618. Gratulationspflicht. Immerhin werden für manchen noch Verpflichtungen genug fortbestehen – sei es gegen Vorgesetzte, Kollegen, Verwandte oder Freunde, von denen er sich nicht »loskaufen« oder die er nicht fallen lassen kann. Es ist auch ganz hübsch, eine Art von gemeinsamen Gedenktag im Jahr zu haben, an dem entfernt oder getrennt voneinander Lebende sich gegenseitig an ihre Existenz erinnern, sich ein kleines Zeichen des fortbestehenden guten Gedenkens geben und sich in kurzen Worten Mitteilungen über des vergangenen Jahres Freud und Leid machen. Da werden die Beziehungen einmal wieder aufgefrischt durch irgend eine Nachricht, neue Interessen geknüpft, vielleicht ein Wiedersehen geplant, und wie aus einer Versenkung treten fast Vergessene wieder vor uns hin. »Ach wie rührend – der denkt noch an uns! Wie selten erinnert sich noch jemand empfangener Freundlichkeiten! Und so gut geht es ihm –? Ja, der hat es verdient!«

[618] 619. Erinnerungszeichen. Freilich haben die illustrierten Postkarten in das große Schweigen, das nach ein paar Jahren nicht nur flüchtiger Bekanntschaft, sondern auch festerer Freundschaft und lebhafter Korrespondenz zu folgen pflegt, eine Bresche geschlagen und die Sucht, von irgend einem berühmten Aussichtspunkt der neidischen Mitwelt zu verkünden: »Ja, denkt euch mal: da oben bin ich jetzt,« veranlaßt uns merkwürdige Menschenkinder, an noch merkwürdigere Bekanntschaften einen Gruß zu senden. Man wird nicht immer damit Freude machen, selbst bei edelster Absicht nicht. Manchmal wird es heißen: »Was soll das überhaupt? Den Menschen kenn' ich kaum, weiß nicht mal mehr, wie er aussieht!« Bei einem Neujahrsgruß wird das niemand sagen, über den freut sich jeder. Man denkt – oder bildet sich ein: »Der hat all seine Freunde an seinem inneren Auge Revue passieren lassen – darunter bin auch ich! Also nicht vergessen!« Eine Neujahrsgratulation, selbst auf einer bunten, oder der viel selteneren einfachen Postkarte, wirkt viel herzlicher und persönlicher als ein Witz aus der Sommerfrische.

[619] 620. Unpassende Neujahrsscherze. »Witze« zu Neujahr sind allerdings auch sehr beliebt, wenigstens bei den Absendern. Nicht immer bei den Empfängern. Häßliche oder unanständige Karten, oder solche, die auf einen körperlichen Fehler, ein Leiden, eine Eigentümlichkeit oder gar eine Schuld des Empfängers anspielen, sind verpönt, sie sind Beweise schlechten Geschmacks und rohen Herzens. Ein Mensch, der einigermaßen gebildet und feinfühlend ist, wird niemals eine solche Taktlosigkeit begehen. Ebenso steht es mit anonymen Briefen und Karten. Selbst ganz harmlose sind ungehörig und können den Empfänger beunruhigen oder peinliche Folgen für ihn haben. Wenn man nicht aus Scherz eine namenlose Karte schreibt, an deren Handschrift und Art und Weise der Absender sofort zu erkennen ist, unterlasse man diese anonyme Schreiberei ganz; jedenfalls darf man sich auch dies nur mit sehr nahen Verwandten oder Bekannten erlauben. Besser und richtiger ist es, auch nicht zum Spaß »anonym« aufzutreten. In dem Fortlassen des Namens, den mystischen Andeutungen oder klaren Anspielungen, gegen die der andere ja wehr- und machtlos ist, liegt eine gewisse Feigheit. Leute, von denen man weiß, daß sie unangenehme, aufklärende oder verleumderische anonyme Briefe schreiben, sind geradezu geächtet, auch ohne daß sie gerichtlich bestraft worden waren. Es ist nicht gut und auch nicht klug, sich in den Ruf zu bringen, daß man anonyme Briefe schreibt, seien sie auch noch so harmlos. Jemand zu mystifizieren, ihm Zweifel und Aerger zu erregen, ist ein Zeichen von Bosheit, aber niemals von Witz.

Eine humorvolle oder in gemütlicher Weise neckende Karte wird dagegen niemand übelnehmen. Natürlich kann man auch diese nicht an jeden richten.

[620] 621. Form der schriftlichen Gratulation. An Vorgesetzte wird man sich begnügen, auf die Visitenkarte zu schreiben:


»N.N.

erlaubt sich, seinen ergebensten Glückwunsch zum Jahreswechsel auszusprechen.«


An nähere Bekannte, Kollegen u.s.w. schreibt man:


»Die besten (herzlichsten oder freundlichsten) Wünsche zum Neuen Jahr sendet

N.N.«


An Verwandte und gute Freunde fügt man einen Gruß hinzu oder die Frage nach dem Wohlergehen. Benutzt man nur die Visitenkarte, so muß man sich natürlich kurz fassen und in einem oder zwei geschickten Sätzen alles sagen, was man auf dem Herzen hat. Nimmt man eine Korrespondenzkarte oder einen Briefbogen, so gebraucht man die direkte Anrede und vermeidet es, von sich in der dritten Person zu reden. Dann hat man ja Raum und kann, wenn man durchaus will, poetische Vergleiche und Bilder gebrauchen. Aber: klar, herzlich, nicht zu lang – das bleibt der wirksamste Glückwunsch.

[621] 622. Gedruckte Karten. Viele Ehepaare lassen Glückwunschkarten fertig drucken und begnügen sich damit, selbst nur die Adresse zu schreiben. Eine bequeme, aber wenig Gefühl verratende Methode – eine kühle Formsache! Solche Karten lauten:


»Baron N. und Frau erlauben sich, die herzlichsten Glückwünsche zum neuen Jahr zu senden –« oder »Ein recht frohes, neues Jahr wünschen

Baron N. und Frau.«


Das alte »Prosit« oder »Prost Neujahr«, das man sich wohl noch zuruft, wendet man schriftlich wenig mehr an. Die moderne Welt findet es ein wenig burschikos, nicht mehr ganz salonfähig – vor allem unmodern. Gutes, altes Wort, damit bist du gerichtet! Aber tröste dich: alles kommt wieder, eines Tages wirst du neu erstehen, wenn nicht überhaupt der Kultus des neuen Jahres immer mehr zurückgedrängt wird. Um Feste ist man ja heutzutage nicht verlegen, Anstoß dazu findet sich genug und wie die Jahrmärkte allmählich verschwinden, weil sich überall Gelegenheit zu guten Einkäufen und noch besseren Vergnügungen findet, so wird man nach und nach vielleicht auch noch die Extrafeier am Altjahrabend, am Sylvester, und am Neujahrstage überflüssig finden. Aber wir wollen es nicht hoffen!

[622] 623. In Frankreich hat die Neujahrsfeier die Bedeutung unseres Weihnachtsabends. Nicht zum heiligen Fest, erst zum Jahreswechsel erreichen die Läden und Schaufenster die schönste Auswahl der »étrennes«, der Neujahrsgeschenke, für die der unermüdliche industrielle Eifer immer wieder neue Formen und Verpackungen ersinnt. Der Salon einer Weltdame gleicht an diesem Tage einem Zaubergarten. Denn jeder zu dem Hause in geselligem Verkehr stehende Herr sendet eine kostbare Jardiniere, ein prächtiges Blumenarrangement oder eine neue von der Mode acceptierte, seltene Pflanze. Ein ebensolcher Ueberfluß ist an Bonbonnieren, seinen Vasen oder Nippes, und den Grad der Verehrung mißt man an dem Wert der überreichten Gabe. Gar keine schlechte Einrichtung – wenigstens nicht für die Damen!

[623] 624. Julklapp. Auch die aus dem Norden übernommene Sitte des »Julklappwerfens« ist immer mehr im Aussterben begriffen. »Julklapp« – heißt zwar Weihnachtsgeschenk, im allgemeinen wendet man es bei uns aber in manchen Gegenden Norddeutschlands auf die geheimnisvoll umschnürten, mit rätselhaften Inschriften oder Spottgedichten versehenen Geschenke an, die mit lautem »Julklapp« dem Freunde ins Haus geworfen werden, oder die man im Kreise lieber Verwandter und Freunde großen Körben entnimmt und gemeinsam auspackt. Je mehr Umhüllungen solch ein Geschenk hat, je lustiger die begleitenden Verse sind und je häufiger die Adresse wechselt, bis endlich der Glückliche des Pudels Kern erhält, desto mehr Vergnügen macht die Sache. Zwar heißt es:

»Patius amicum, quam dictum perdendi« (Lieber einen Freund verlieren, als einen Witz) – aber in feierlicher Familiensitzung, wo es darauf ankommt, die Stimmung nicht durch eine Kränkung oder Uebelnehmerei zu trüben, sollte man diese Gefahr nicht laufen, sondern sich lieber ein noch so gelungenes Wortspiel oder einen besonders merkwürdigen Reim versagen, ehe man den Spöttern zu viel Stoff, dem andern zuviel Aerger giebt. »Knittelreime« sind sehr beliebt auf Julklappen und in jeder Familie, in der die alte hübsche Sitte noch fortlebt, werden einige Witze und Reime jährlich neu angewendet werden, die schon Gemeingut aller sind und desto größeres Vergnügen erregen. Kinder machen zu Neujahr ihre ersten poetischen Ergüsse und auch ihre gutgemeinten Verse soll man nicht erbarmungslos herunterreißen. »Aller Anfang ist schwer –« und es soll Leute geben, die das Dichten auch im Greisenalter noch nicht gelernt haben. Ein Neujahrsreim bleibt wenigstens immer noch ein unschuldiger Versuch!

Quelle:
Baudissin, Wolf Graf und Eva Gräfin: Spemanns goldenes Buch der Sitte. Berlin, Stuttgart [1901], S. 616-624.
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