VII.

Andere Länder, andere Sitten.

[806] 807. Andere Länder – andere Sitten. Dieses Kapitel ist so reich und mannigfaltig, daß man allein hierüber einen dicken Band schreiben könnte, und wollte man alle fremden Gebräuche anführen, so würde man dabei auf die heterogensten Anschauungen stoßen.

Ueber die Frage, warum küssen sich die Menschen, meditierte schon der berühmte Kater Hidigeigei vergebens. Bei uns dürfen sich in der Oeffentlichkeit nur Verwandte, Brautleute und Ehegatten küssen. In Rußland darf zur Osterzeit jeder Herr jeder Dame, der er auf der Straße begegnet, einen schallenden Kuß geben und niemand darf sich dagegen wehren, wenn der Kuß von den Worten begleitet ist: »Christ ist erstanden«. In England können am heiligen Abend alle Paare, die sich unter dem Mistelzweige, der die Stelle unseres Tannenbaumes vertritt, treffen, küssen so viel sie wollen und mögen.

Wir beschenken unsere Freunde und Bekannten zu Weihnachten. In Frankreich heißt der Neujahrstag der Tag der étrennes, an dem jeder Herr jeder Dame seiner Bekanntschaft ein Geschenk, das in Blumen, Schmuck, Büchern oder sonstigen Gaben zu bestehen hat, schicken muß.

Wer in Rußland ein öffentliches Gebäude, die Post, das Telegraphenamt u.s.w. betritt, thut gut, wenn er sich nicht der Majestätsbeleidigung schuldig machen will, als

Herr stets den Hut abzunehmen, denn überall hängt das Bild des Zaren und »Väterchen Zar« ist heilig. Erweist man dem Bilde nicht aus eigenem Antriebe die Reverenz, so wird man dazu angehalten, ist aber auch dieses erfolglos, so wird einem unter Umständen der Hut in sehr wenig freundlicher Weise vom Kopfe geschlagen.

Ebenso haben in Rußland alle Damen und Herren, auch die Fremden, aufzustehen, wenn die Nationalhymne gespielt wird, und Gnade Gott demjenigen, der als Herr nicht seinen Hut abnimmt.

Wenn man in Deutschland seine Wohnung wechselt, ist es üblich, daß unsere Freunde und Bekannten uns durch Blumen erfreuen. In Rußland schickt man in das neue Heim Salz und Brot, und in England hat nicht das Ehepaar, das seine Wohnung wechselte oder sich irgendwo neu niederließ, die ersten Besuche zu machen, sondern die Nachbarn machen die erste Visite.

An dem Tage, da eine deutsche Dame ihren Jour hat, pflegt der Hausherr nie zu Hause zu sein, um in seiner Ruhe von den Besuchern nicht gestört zu wer den, in Frankreich, namentlich in Paris, ist der Herr beim Jour seiner Frau zugegen und empfängt die Besucher mit, denn im Gegensatz zu uns pflegen in Frankreich fast ebensoviele Herren wie Damen Jourbesuche abzustatten.

Würde bei uns eine Dame in einem öffentlichen Restaurant rauchen, so fände man das zum mindesten shoking, in Schweden sieht man in den Hotels die Damen der ersten Gesellschaft nicht nur ihre Cigarette, sondern die längsten, dicksten und schwersten Importcigarren rauchen.

Wer in Dänemark zum erstenmal einer Dame wieder begegnet, mit der er auf einem Feste oder sonst irgendwo zusammen war, begrüßt sie mit den Worten: »Tak for sidst« (danke für das letztemal).

In Rußland folgt man jedem Leichenzug, der uns begegnet, bis zur nächsten Straßenecke und in allen katholischen Ländern erfordert es der gute Ton, daß man mit dem Hute in der Hand stehen bleibt, bis der Leichenzug vorüber ist.

Wer in Rom oder überhaupt in Italien als Dame andere Kleider als schwarze trägt, würde unangenehm auffallen. Schwarz ist die Farbe der eleganten Welt, helle Sommerkleider trägt man nur im kalten Norden.

Wer in Paris mit dem Omnibus fahren will, hat sich im Bureau der Gesellschaft ein Billet zu kaufen und geduldig zu warten, bis seine Nummer von dem Schaffner aufgerufen wird. An schönen Sonntagen, an denen ganz Paris auf den Beinen ist, dauert dieses Vergnügen unter Umständen eine halbe Stunde und länger.

Auch bei uns in den großen Städten haben es die Kutscher sich im Laufe der Zeit angewöhnt, mit den Fußgängern männlichen und weiblichen Geschlechts zu kokettieren. Mit ihrem leeren Wagen fahren sie im langsamsten Schritt neben uns her und werfen uns so lange schmachtende Blicke zu, bis wir endlich das Prinzip der Sparsamkeit über den Haufen werfen, in den Wagen steigen und dem Kutscher Straße und Hausnummer zurufen. Wollte man in Rußland ebenso verfahren, ohne vorher mit dem Rosselenker zu accordieren, so würde man traurige Erfahrungen machen. Man sagt dem Manne, während man neben seinem Wagen einhergeht, wohin man will, und läßt sich den Preis nennen. Lautet die Forderung zwei Rubel, so geht man ruhig weiter und bietet höchstens 20 Kopeken. Man kann sicher sein, daß der Fuhrmann uns mit seinem Gespann folgt und zehn Eide schwört, daß er uns unter einem Rubel nicht fahren könne. Man bietet dann 25 Kopeken und wird für fünfzig Kopeken immer an das Ziel seiner Wünsche gebracht werden. Die Russen fahren wie die Teufel und sind für das kleinste Trinkgeld, das man ihnen verabfolgt, dankbar, während in Frankreich ein Satz von 25 Centimes Trinkgeld Brauch ist. Selbst für die kleinste Tour muß man an Fuhrlohn Francs 1.50 bezahlen.

Auf der Straße führt der Russe seine Dame links und auf Gesellschaften in altrussischen Häusern sitzen nicht wie bei uns die Herren und Damen in bunter Reihenfolge, sondern die Herren nehmen auf der einen Seite der Tafel Platz, die Damen auf der anderen, so daß die Paare, die sich führen, einander gegenübersitzen.

Wer bei uns von einer Gesellschaft fortgeht, giebt dem Dienstmädchen oder dem Diener ein Trinkgeld, in Frankreich ist dies selbst nach einem großen Diner nicht üblich.

Bei uns stößt man mit den Gläsern bei dem Trinken an, in Paris gilt dies als unanständig, ebenso wie es für unfein gilt, selbst als Herr mehr als ein Glas Rotwein anders als mit Wasser gemischt zu trinken. Der Champagner, der eingegossen wird, ist nur für die Damen bestimmt, wie uns die Franzosen überhaupt in der Mäßigkeit ganz bedeutend über sind.

Niemand, selbst der Zar nicht, darf in Moskau bedeckten Hauptes durch das heilige Thor gehen, und wer es dennoch thut, macht sich der größten Religionsverletzung schuldig, ebenso wie derjenige, der mit dem Hute auf dem Kopfe vor dem Heiligenbild der Mutter Gottes und der ewigen Lampe vorübergeht.

Bei uns ist jeder Herr glücklich, wenn er in Uniform herumlaufen kann und der Reserveoffizier fühlt sich nur dann als Mensch, wenn er zu einer Uebung eingezogen ist. In England trägt kein Offizier außer Dienst Uniform.

In Oesterreich darf man sich keine Bemerkung darüber erlauben, daß die Offiziere, wenn sie ausgehen, den Säbel zu Haus lassen und dafür den Spazierstock oder Regenschirm mitnehmen, und der russische alte General erscheint selbst im Dienste auf einen dicken Stock gestützt. In Frankreich, wo der Offizier zum großen Teil aus der Schar der Unteroffiziere hervorgeht, spielt er, wenn er sich nicht im Generalstab befindet, überhaupt keine nennenswerte gesellschaftliche Rolle.

Haben wir von einem Gast Besuch, der uns besonders lieb und teuer ist, so pflegen wir ihm ein Gastgeschenk zu machen und fassen es als persönliche Beleidigung auf, wenn der Gast unsere Gabe zurückweist oder sie bei seiner Abreise absichtlich oder unabsichtlich vergißt.

Sobald wir in Spanien die Schwelle eines gastlichen Hauses überschreiten, werden wir mit Geschenken überhäuft, alles, was wir nur irgendwie bewundern, wird uns zu Füßen gelegt, wir haben die Pflicht, uns dafür zu bedanken, aber erst recht die Pflicht, nichts von den Geschenken, die man uns machte, mitzunehmen.

Während wir im Gespräch mit anderen unsere eigene Würde und unser eigenes Ansehen aufrecht erhalten, spricht der Chinese, wenn er sich mit einem Bekannten unterhält, von sich selbst nie anders als von dem größten Lumpen, der auf der Welt herumläuft, während er den anderen fortwährend als den besten, edelsten und tugendhaftesten aller Menschen hinstellt.

In Deutschland erkennen die meisten Hausfrauen es dankbar an, wenn der Gatte, ach der Teure, ihr den Vorschlag macht, einmal mittags im Restaurant zu speisen, damit sie nicht nötig hat, sich um die Wirtschaft zu kümmern. Wollte ein Engländer der Frau einen ähnlichen Vorschlag machen, so würde sie dies als persönliche Beleidigung auffassen und daraus den Schluß ziehen, daß es ihrem Manne bei ihnen zu Hause nicht recht schmeckt.

Wenn eine Dame in England bei einer Freundin zum Besuche ist, so machen die Bekannten der Freundin ihr den ersten Besuch, um damit anzudeuten, daß auch sie einen Verkehr mit dem Gaste wünschen.

Zwar leben auch wir nicht in einem Lande, in dem jeder ungestraft seine Meinung haben kann, aber dennoch können wir von unserem Kaiser sprechen, ohne deshalb gleich verdächtig zu erscheinen. Jedem, der nach Rußland kommt, ist es dringend zu empfehlen, niemals in der Oeffentlichkeit das Wort »Zar« überhaupt nur in den Mund zu nehmen, denn selbst für die Bewohner seines Landes ist der Herrscher aller Reußen nicht nur ein heiliges, sondern auch ein geheimnisvolles Wesen. Nie liest der Russe, wo der Zar sich augenblicklich aufhält, wann und wohin er reist, und womit er sich beschäftigt. Besucht er eine Stadt, so wird dies erst im letzten Augenblick bekannt gegeben und sehr häufig damit auch gleichzeitig das Verbot erlassen, sich an den Fenstern oder auf der Straße zu zeigen. Wenn der Zar reist, ist die ganze Eisenbahnlinie mit Soldaten besetzt, die sich bei dem Nahen des Zuges alle umzudrehen und ihrem Herrscher ihre weniger schöne Seite zu zeigen haben.

Im Gegensatz zu uns erscheint man im Auslande sowohl als Herr wie als Dame bei jeder Theatervorstellung in Gesellschaftstoilette. Die teuren Preise bringen es mit sich, daß man in Paris oder in Petersburg und Moskau sehr gut, ohne sich nur das geringste zu vergeben, auf den zweiten Rang oder selbst in den dritten begeben kann. Auch hier ist Gesellschaftstoilette üblich.

In Paris spielt der Theaterhut für die Damen meistens eine noch größere Rolle, als die Toilette. Die Summen, die hierfür ausgegeben werden, spotten oft jeder Beschreibung, und jede elegante Pariserin läßt sich für jedes Kostüm einen besonderen Hut anfertigen und sichert sich die Gewißheit, daß keine andere Dame dasselbe Modell erhält. Natürlich ist das ein Scherz, den sich nur sehr reiche Damen, die hunderttausend Francs und mehr für ihre Toilette im Jahr auszugeben haben, gestatten können. Ohne Hut auf dem Kopf erscheint keine Dame im Zuschauerraum und auch der Herr giebt seinen Cylinder nicht in der Garderobe ab. Er sitzt mit dem Cylinder auf dem Kopf, bis der Vorhang sich hebt, und nimmt ihn dann ab, um ihn in der Zwischenpause sofort wieder aufzusetzen.

Wer als Herr, ohne den Hut auf dem Kopf zu haben, in das Foyer oder in das Restaurant geht, wird erbarmungslos für einen Kellner gehalten und darf sich nicht wundern, wenn er aufgefordert wird, Bier und Butterbrot herbeizubringen. Nebenbei bemerkt, ist Butterbrot zu essen in Frankreich ein sehr teurer Spaß, denn belegte Brötchen, wie sie bei uns überall zu haben sind, bilden dort eine unbekannte Größe.

Thöricht wäre es, in einem französischen Theater die berufsmäßigen Claqueure, über die jeder Fremde sich ärgert, durch energisches Zischen zur Ruhe bringen zu wollen. Unter Umständen hätte dies weiter keinen Erfolg, als daß man freundlich gebeten würde, das Lokal zu verlassen.

Wer sein Opernglas vergessen hat oder als Dame während der Vorstellung den Wunsch nach gefüllten Konfitüren hat, findet beides in einem Automaten vor seinem Platz und hat weiter nichts nötig, als 50 Centimes in die Oeffnung zu werfen, dann wird ihm, was er sucht.

Bei uns kauft man sich die Billets im voraus an der Theaterkasse, in Paris existieren die Bureaux de location, in denen man allerdings gegen einen sehr beträchtlichen Aufschlag Billets der sämtlichen Theater vorfindet. Auch ist dort überall ein Plan sämtlicher Zuschauerräume vorhanden, der nicht wie bei uns gezeichnet ist, sondern ein Modell des ganzen Theaters vorstellt. In Deutschland kann jede Dame getrost in das Parkett gehen, in Paris giebt es viele Theater, in denen die Damen zum Parkett nicht zugelassen werden.

Die Behauptung des Bädeker, daß uns in Paris spät abends nur diejenigen Droschken nach Hause fahren, die mit uns in demselben Viertel wohnen, ist entschieden veraltet. Obgleich ich in Paris manchmal sehr, sehr spät nach Hause kam, habe ich nicht einen einzigen Kutscherangetroffen, der sich weigerte, mich zu fahren.

Sobald ein Stück in einem französischen Theater sich dem Ende nähert, erscheint die Logenschließerin und bittet in einschmeichelnder Weise: »N'oubliez pas la petite ouvreuse«, das heißt auf deutsch: »Vergessen Sie die kleine Pförtnerin nicht«. Die meisten Schließerinnen haben den Vorzug, wenigstens fünfzig Jahre alt, häßlich und unansehnlich zu sein, und aus ihrem Munde klingt die neckische Bezeichnung »kleine Schließerin« sehr drollig.

Ebenso wie auf der Straße oder in der Pferdebahn liest der Franzose auch im Theater seine Zeitung und in den Zwischenakten werden selbst im Zuschauerraum beständig alle möglichen Zeitungen ausgerufen.

Selbst derjenige, der als guter Ehemann in Paris mit seiner Frau in einem Restaurant speist, hat nicht nötig, für sich und seine Begleiterin mehr zu bestellen, als eine Portion. Als Ausländer geniert man sich gewöhnlich beim erstenmal, sich zwar zwei Teller, aber nur einmal Fleisch kommen zu lassen. Man bestellt, den Warnungen des Kellners zum Trotz, eine doppelte Portion, und befindet sich wenig später einem Embarras de richesse gegenüber, gegen den selbst der hungrigste preußische Soldatenmagen anzuessen sich vergebens bemühen würde.

Ob man auf Reisen billiger oder teurer lebt, als daheim in den eigenen vier Wänden, richtet sich naturgemäß nach dem Wert der betreffenden Landesmünze. Was bei uns eine Mark kostet, kostet in Rußland einen Rubel, in Holland einen Gulden, in Dänemark eine Krone, in Frankreich einen Frank u.s.w. Am meisten merkt man diesen Unterschied, wenn man von Holland nach Belgien kommt. Alles, was dort einen Gulden, also ungefähr eine Mark 80 Pfg. kostet, hat man in Brüssel für einen Frank (80 Pfennige), und man hat dann in Belgien das Gefühl, als würde man sein Geld gar nicht los. Thatsächlich ist Belgien lächerlich billig und für hundert Frank kann man sich die halbe Welt kaufen.

Wird man in Paris zu einem Diner eingeladen, so gilt es als selbstverständlich, daß der Gastgeber später mit allen seinen Gästen ins Theater fährt und für diese schon im voraus sich eine Loge bestellt. Unserem Wirte den für unseren Platz ausgelegten Betrag etwa zurückgeben zu wollen, wäre geradezu beleidigend. Die Sitte, wie bei uns, nach dem Diner noch stundenlang sitzen zu bleiben und sich den Magen voll Bier zu pumpen, kennt man nicht.

In Paris herrscht das Nachtleben und man darf sich nicht darüber wundern, wenn man abends um zehn als Herr zu einem Abendessen oder als Ehepaar nachts um halb elf zu einem Balle geladen wird.

Im Auslande nehmen die Damen noch weniger als bei uns außerhalb des Jours Visiten an und die Besuchszeit ist auch dort nachmittags zwischen vier und sechs. Früher als drei erscheint man nicht und länger als bis sechs darf man nur dann bleiben, wenn man wenige Minuten vorher erst kam.

Kaffeegesellschaften, wie unsere Damen sie lieben, sind im Auslande unbekannt. Unser Jour fixe ist in England das at home, doch gilt diese Bezeichnung auch für größere Gesellschaften, für die besondere Einladungen ausgesandt und gewöhnlich viel mehr Gästezugezogen werden, als die Räume des Hauses zu fassen vermögen.

Wir legen viel Wert darauf, wie andere sich verbeugen und grüßen, der Engländer vernachlässigt unter Umständen seine Haltung auf der Straße, aber niemals bei Tisch.

Bei uns werden auf den Bällen alle möglichen Rundtänze getanzt, in England dagegen weiter nichts als nur Walzer.

Steife Besuche, wie wir sie kennen, sind jenseits des Kanals nicht üblich. Wer dennoch eine solche Visite macht, darf als Herr hierbei niemals einen Frack anziehen, der überhaupt erst am Abend angelegt wird. Selbst wenn die Familie ganz unter sich ist, erscheint der Herr im Frack, die Dame in Gesellschaftstoilette. Bei uns ist die Saison im Winter, in London dagegen in der Zeit von Mai bis Juli, wo die oberen Zehntausend ihre Landsitze verlassen und sich in der Residenz ein Rendez-vous geben.

Sich nach einem dieser teilweise feenhaft schönen Landschlösser einladen zu lassen, um die Jagden mitzureiten oder sich dort sonst zu amüsieren, ist für gewöhnliche Sterbliche ein äußerst kostspieliges Vergnügen, denn in Bezug auf unsere Toiletten und hauptsächlich auf die Trinkgelder, die man geben muß, werden Anforderungen an uns gestellt, denen nur die wenigsten Geldbeutel gewachsen sind. Eine Gesellschaft, ein Diner, eine Festlichkeit folgt der anderen und man würde jede Dame, die nicht jedesmal in einer anderen Toilette erschiene, geringschätzig über die Achseln ansehen.

Im allgemeinen kann man sagen, daß im Prinzip in England jeder hoffähig ist, dem die bürgerlichen Ehrenrechte nicht gerichtlich abgesprochen wurden. Jedes junge Mädchen, das zur Gesellschaft gerechnet werden will, muß der Königin bei dem Drawing Rooms vorgestellt sein. Die ganze Feierlichkeit besteht darin, daß man eine sehr tiefe Verbeugung macht und der Königin die Hand küßt. Zu den Hoffestlichkeiten hat man deshalb natürlich noch keinen Zutritt, aber es ist nun einmal der Stolz und der Ehrgeiz einer jeden Miß, der Königin vorgestellt zu werden, wie es die heißeste Sehnsucht einer jeden jungen, schönen Orientalin ist, dem Harem ihres Sultans eingereiht zu werden.

Wer bei der Queen eingeführt werden will, bedarf dazu der Empfehlung einer Dame, die selbst schon einmal bei Hofe war. Natürlich geht es hier nicht ohne allerlei Protektion ab und mancher kommt zu Hofe, der gar nicht dorthin gehört. Ueberhaupt sind in dieser Hinsicht manche Leute ja von einer geradezu beneidenswerten Unverfrorenheit. Aus dem Munde einer Jüdin habe ich sogar einmal gehört, daß sie sich eine Audienz bei dem Papst zu verschaffen gewußt hat.

In jedem Lande, das wir betreten, soll uns die Religion des Volkes heilig sein, und weder durch Worte, Gebärden und Gesten dürfen wir uns über sie lustig machen oder sie gar verspotten. Die Kirchen sind überall zur Abhaltung des Gottesdienstes erbaut und nicht, damit neugierige Reisende mit dem Hut auf dem Kopfe, der Cigarre im Munde, dem Bädeker in der Hand, dort herumlaufen und durch ihre Fragen und ihre Unterhaltung den Gottesdienst stören.

In England gehört es zum guten Ton, an jedem Sonntag wenigstens einmal, wenn nicht zweimal zur Kirche zu gehen, und es gilt für unpassend, am Sonntag auch nur das Geringste zu thun, selbst zu lesen oder Handarbeiten zu machen, ist verpönt. Wer als Gast in einem englischen Hause wohnt, hat sich diesem Brauch zu fügen, er darf es nicht ablehnen, dem Gottesdienst beizuwohnen.

Wenn wir auf der Pferdebahn für eine Dame zehn Pfennig auslegen, so ruht diese nicht eher, als bis sie uns diesen Betrag zurückerstattete, eine Amerikanerin empfindet es als persönliche Beleidigung, wenn man überhaupt nur den Versuch macht, für sie etwas auszulegen. Eine Spanierin denkt anders. Wer als Herr sie begleitet, während sie ihre Einkäufe macht, ist verpflichtet, alles, was sie kauft, aus seiner Tasche zu bezahlen, und es würde für mehr als unhöflich gelten, wenn er erlaubte, daß die Dame in seiner Gegenwart die Börse zöge.

In Amerika wird kein Herr es wagen, solange seine Gattin Besuch hat, in ihr Zimmer zu treten, ohne vorher anzuklopfen. Wer in Deutschland irgendwo zu Gast ist, muß, wenn er höflich sein will, nicht nur soviel essen, wie nur irgend in ihn hineingeht, sondern häufig noch weit mehr. In Spanien würde man geradezu als unerzogen angesehen werden, wenn man nicht einen Rest auf seinem Teller zurückließe. Der Deutsche, der in China lebt, erhält von seinen Bekannten zu Neujahr fünf Geschenke, drei wertvolle, die der Chinese sich irgendwo borgt, und zwei billige mit der Aufforderung zugesandt, sich eins derselben auszusuchen, aber Gnade Gott demjenigen, der sich in seiner Harmlosigkeit das schönste Stück wählt. Man erwartet von ihm, daß er die billigste Gabe sich aneignet. Ebenso bietet der Chinese in einem Restaurant seinem Gast die teuersten Speisen und Getränke an, aber setzt es dabei als selbstverständlich voraus, daß er mit dem billigsten, was es überhaupt giebt, zufrieden ist. In Schweden beginnt selbst in den vornehmsten Häusern das Diner mit einem Schnaps und erst als letzter Gang wird die Suppe serviert.

Eine Französin ist glücklich, wenn das Wetter ihr irgendwie erlaubt, sich aufzuschürzen und die elegante Chaussure zu zeigen. Eine Römerin läßt selbst beim stärksten Regenwetter ihre kostbare Schleppe im Schmutze nachschleifen.

Einem Engländer kann man jede Bitte abschlagen, ohne daß er es uns verdenkt, aber er wird mehr als grob, wenn man ihm ein Versprechen, das man gab, nicht hält.

Bei uns im Theater klatschen wir zum Zeichen unseres Beifalls, in Italien zischt man, und wer sich besonderer Beliebtheit erfreut, wird ausgezischt, wo er sich nur immer sehen läßt. In Spanien darf man bei Tisch als Gast selbst das erste Glas nicht leer trinken, in Italien muß man das zweite Glas, das angeboten wird, zurückweisen.

In Norddeutschland schelten die Frauen, wenn ihre Männer zum Frühschoppen gehen, und in München halten Damen Frühschoppensitzungen ab und genießen dabei Bier und Würste häufig in so ungeheuren Quantitäten, daß nicht nur eine nordische Frau, sondern auch ein nordischer Mann vor Bewunderung erstarrt.

Wenn uns jemand einen Anstandsbesuch macht, so sagen wir dafür »Danke«, in Japan sendet der, der sich durch den Besuch erfreut fühlt und das Bedürfnis hat, sich dankbar zu erzeigen, seinem Besucher einige Geschenke in sein Quartier.

Wer bei uns in einem großen Geschäft den Versuch macht, zu handeln und die Preise zu drücken, stellt sich selbst damit in ein etwas eigentümliches Licht und kann es erleben, daß der Verkäufer ihn darauf aufmerksam macht, daß es hier nicht zu handeln gäbe. Nicht nur im Orient und in Italien, sondern auch in Rußland muß man dagegen feilschen, als wäre man nicht der Käufer, sondern der Verkäufer. Auch die Geschäfte, die den Titel »Hoflieferanten« führen, bilden keine Ausnahme, und wer den geforderten Preis ohne weiteres bezahlen würde, könnte sicher sein, von dem Besitzer und seinen Angestellten gehörig ausgelacht zu werden. In Rußland darf der Deutsche sich in dieser Hinsicht selbst in dem elegantesten und vornehmsten Geschäft nicht genieren.

Wenn man in Belgien einem Droschkenkutscher zuruft, er solle schnell fahren, so wird er zur Antwort geben: »Ich fahre schon schnell, denn das befiehlt hier das Gesetz.« Im heiligen Rußland mäßigt der Rosselenker an jeder Straßenecke die Gangart seines Pferdes, denn überall befinden sich Heiligenbilder und vor jedem muß der Kutscher sich bekreuzen und den Hut ziehen. Wollte man ihn, weil man keine Zeit hat, anhalten, hierin abzuweichen, so käme das einer Religionsverletzung gleich.

Bei uns im Theater darf in den Zwischenpausen jeder Herr aufstehen und sich im Zuschauerraum umsehen. In der Schweiz ist dies im höchsten Grade auffällig und ungehörig, und vor einiger Zeit ging eine Notiz durch die Zeitung, daß sich in Zürich zwischen einem deutschen Herrn, der von dieser Sitte nicht ablassen wollte und dem dortigen Publikum, das die Einführung dieses neuen Brauchs nicht zugeben wollte, Abend für Abend im Theater ein förmlicher Kampf entstand. Leider ist es mir nicht bekannt, welche Partei den Sieg davontrug.

Quelle:
Baudissin, Wolf Graf und Eva Gräfin: Spemanns goldenes Buch der Sitte. Berlin, Stuttgart [1901], S. 806-807.
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