[49] Ohne Zweifel wird jeder, der im Familienverkehr gewöhnt ist, alle die Regeln und Vorschriften guter Lebensart, die in dem vorigen Abschnitt erwähnt wurden, zu befolgen, auch im weiteren gesellschaftlichen Verkehr, und sei es unbewußt, jenen Gesetze gemäß sich verhalten, die unter Gebildeten selbstverständlich sind und deren Übertretung die gute Gesellschaft auf die Dauer sicher nicht ungestraft läßt.

Denn gar bald ist die Gesellschaft einig im Urteil über einen Mitmenschen, und wer das Mißgeschick hatte, bei seinem ersten Eintritt in die große Welt nicht zu gefallen, der hat vielleicht lange Zeit an sich selbst zu arbeiten, bis er jene Sicherheit über sich selbst erlangt, durch die er imstande ist, den ersten ungünstigen Eindruck zu verwischen. Das Sprichwort: ›Man empfängt den Menschen nach seinem Kleide, aber man entläßt ihn nach seinem Verstande‹ sagt, wie alle guten Sprichwörter, eine große Wahrheit. Deshalb ist es also verständig gehandelt, wenn man sich nicht über die gute Sitte, den Anstand hinwegsetzt; man muß sein Verhalten stets so einrichten, daß das Urteil der Gesellschaft für uns günstig sei und bleibe!

Wohlverstanden, nicht vom äußerlichen Menschen allein sei das gesagt; vielmehr muß das tadellose Äußere sich mit dem gediegenen Inneren decken. Die Harmonie zwischen dem äußeren und inneren Menschen muß vollkommen sein, und nicht nur die Kleidung und Haltung, sondern auch das[49] gesprochene Wort muß den gebildeten Menschen kennzeichnen.

›Gebildeter Mensch‹! Dieser Ausdruck ist freilich sehr dehnbar. Denn nicht das tote Wissen ist es, das in der Gesellschaft damit bezeichnet wird, sondern die Umgangsformen sind es. Es kann jemand ein halbes Dutzend Sprachen erlernt haben und er mag außerdem ein ›Gelehrter‹ sein, sobald er jedoch im Verkehr mit seinen Mitmenschen gegen die von der Gesellschaft aufgestellten Gesetze der Schicklichkeit verstößt, wird jedermann den Verkehr mit diesem ›Ungebildeten‹ meiden oder aufs geringste beschränken. Dagegen wird der Niedriggestellte, sofern er sein Betragen darnach einrichtet und wenigstens den guten Willen zu erkennen gibt, das Fehlende sich anzueignen, stets ein ermunterndes Entgegenkommen finden. Die Gesellschaft weiß in ihm sogleich einen Menschen mit angeborenem Taktgefühl zu erkennen und gewährt ihm den Zutritt, während sie jenen Gelehrten, der des Taktes entbehrt, um so schärfer verurteilt und von sich ausschließt.


Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 49-50.
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