Verkehrsformen zwischen Herren und Damen.

Heutzutage herrscht nicht mehr jener Frauenkultus des Mittelalters, der schwärmerische Ritter zu den waghalsigsten Abenteuern oder lächerlichsten Handlungen begeisterte: man denke nur an Ulrich von Lichtenstein, der das Waschwasser seiner Dame aus deren Pantoffel trank. Wohl aber gilt in Deutschland der Satz, daß die Frau zu ehren ist, und die Art und Weise, wie wir diese Ehrfurcht erweisen, deutet den Grad der gesellschaftlichen Bildung an, die wir besitzen. Wer im Verkehr mit Damen liebenswürdige Zuvorkommenheit, Höflichkeit und dienstfertige Gefälligkeit beweist, und zwar nicht nur gegen hübsche Damen, wird bald überall den Ruf eines galanten, in Damenkreisen gern gesehenen Mannes erlangen und wird sich den Dank der Damen verdienen.

Bei Ausübung der vorgenannten galanten Tugenden ist aber dringend eine weise Mäßigung für jeden besonderen Fall anzuempfehlen. Denn für den Verkehr zwischen Herren und Damen hat die Gesellschaft ein besonders scharfes Auge, und der Mann bedenke deshalb immer, daß er durch übereifrige Dienstwilligkeit den Ruf der Dame gefährdet. Diese muß deshalb ihr Benehmen gegen Herren klug einzurichten wissen; sie muß zurückhaltend in Worten und im Betragen sein, darf aber andererseits nicht durch übergroße Kälte und stolze Haltung den Herren die üblichen Ritterdienste erschweren oder ganz unmöglich machen. Denn auch die Dame hat gegen Herren Höflichkeit zu beobachten. Deshalb mag sie sich alle kleinen Aufmerksamkeiten nur ruhig gefallen lassen und sich dankbar dafür erweisen, indem sie die Herren mit jener freundlichen Höflichkeit behandelt, die dem der Eitelkeit durchaus nicht unzugänglichen sogenannten stärkeren Geschlechte so wohlgefällt.[64] Eine Dame kann sich vom Herrn bedienen lassen – – nie aber darf das Gegenteil eintreten. Fällt beispielsweise einer Dame etwas aus der Hand, so bückt sich der Herr, um den Gegenstand aufzuheben und ihr ihn zu überreichen. Im anderen Falle jedoch läßt die Dame den Herren sich bücken; sie darf sich gar nicht um ihn bemühen.

Es gibt Fälle, wo eine Dame sogar kleine Dienste von völlig fremden Herren annehmen kann, ohne sich bloßzustellen. Wenn beispielsweise eine Dame beim Betreten eines Hauses die schwere Haustür nur mit Anstrengung öffnen kann, und ein zufällig vorüber gehender Herr hilft ihr dabei oder öffnet selbst, so kann sich die Dame das wohl gefallen lassen, ohne mehr als zu einem kühlen Danke verpflichtet zu sein. Mit einer stummen Verbeugung und mit stummem Abnehmen des Hutes hat der Herr sich zu empfehlen.

Bietet ein der Dame bekannter Herr ihr seinen Arm an, und die Dame hat guten Grund, das nicht anzunehmen, so kann sie diesen Dienst ablehnen. Nur darf sie dann nicht in Gegenwart des zurückgewiesenen Herrn den Arm eines anderen annehmen.

Geht eine Dame in Begleitung zweier Herren, so darf sie gegebenenfalls nur den Arm des einen nehmen, und der andere Herr geht an der anderen Seite der Dame, ohne ihr den Arm anzubieten. Gehen zwei Damen in Begleitung eines Herrn, so muß letzterer so klug sein, keiner von beiden den Arm anzubieten. Denn zwei Damen an den Armen eines Herrn bilden eine Gruppe, die allenfalls unter Verwandten oder sehr nahen Bekannten im fröhlichen ungezwungenen Beisammensein auf Ausflügen vorkommen darf, niemals aber in den Straßen der Stadt, auf Spaziergängen usw.

Begegnet eine Dame einem ihr nur oberflächlich bekannten Herrn, der die Unschicklichkeit beginge, sie anzureden oder gar begleiten zu wollen, so muß sie schnell einen schicklichen Vorwand finden, den Zudringlichen zu entfernen.

Im Gespräch zwischen Herren und Damen muß große Vorsicht walten, denn nicht alles, was Herren im Verkehr unter sich interessiert, ist geeignet zur Unterhaltung in Damengesellschaft. Wenn durch Ungeschicklichkeit eines Anwesenden ein Gegenstand in den Kreis der Erörterungen gezogen werden sollte, dessen Behandlung das Gefühl der[65] Damen verletzen kännte, so ist es dringende Pflicht der anderen Herren, von dem Thema geschickt abzulenken.

Sehr zu warnen ist vor übertriebenen Schmeicheleien, die den Damen von seiten der Herren oft gemacht werden. Kluge Damen fühlen sich durch solche faden Reden verletzt, weil es ja immer ein Zeichen mangelhafter Bildung oder großen Eigendünkels ist, wenn man faden Schmeicheleien Glauben schenkt.

Verpönt ist es, über das Alter von Damen zu sprechen, eine allzuscharfe Kritik auszüben und Verhältnisse persönlicher Natur auszuforschen. Man richte die Unterhaltung so ein, daß die Damen daran teilnehmen können und nicht gezwungen sind, sich lediglich auf ein kurzes ›Ja‹ oder ›Nein‹ zu beschränken. Angelegenheiten des Hausstandes sind ebenfalls kein geeignetes Thema für die Unterhaltung zwischen Damen und Herren. Der Ton sei harmlos, leicht und ungezwungen, dabei stets höflich und achtungsvoll; auch den Damen ist es dringend anzuempfehlen, sich eine gewisse Leichtigkeit anzueignen, denn durch ›Zimperlichkeit‹ oder ›Nervosität‹ mögen die Herren nicht die Unterhaltung gestört sehen. Es wird niemand von einer Dame verlangen, daß sie durch ›Geist‹ glänzen soll; aber an einem eingeleiteten Gespräch, das für Damen geeignet ist, teilzunehmen, ist Pflicht jeder Dame.

Noch eins: über Dinge des Gefühls sollen junge Leute miteinander nichtreden oder streiten; auch ist es unschicklich, wenn Damen sich zuerst nach dem Befinden des Herrn erkundigen.

Im öffentlichen Verkehr gebührt in den meisten Fällen der Dame der Vortritt vor dem Herrn. Nur beim Aussteigen aus dem Wagen, beim Anstieg auf Treppen oder Bergen und überall, wo die Sicherheit es erfordert, daß der Herr vorangehe, folgt die Dame nach. So zum Beispiel in öffentlichen Gärten bei starkem Gedränge, wo es gilt, einen Weg zu bahnen. Beim Eintritt in ein Gasthaus läßt die Dame, die zuerst eintritt, den ihr folgenden Herrn an sich vorbeischreiten und folgt ihm dann auf den gewählten Platz. Hierbei sei den Damen empfohlen, ja recht sehr auf sich zu achten; besonders haben sie es zu vermeiden, ihre Blicke allzufrei durch den Raum schweifen zu lassen.[66]

Beim Herabsteigen von Treppen geht der Herr entweder neben der Dame oder hinter ihr; im Theater, Konzert oder im Eisenbahnwagen überläßt der Herr jeder Dame, also selbst der unbekannten, den besten und bequemsten Platz. In Begleitung einer Dame halte der Herr sich an ihrer linken Seite; geht ein Herr mit einer älteren und einer jüngeren Dame, so bleibt erstere in der Mitte, die letztere bildet den linken, der Herr den rechten Flügel.

Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 64-67.
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