Die Begrüßung im Hause und draußen.

[67] Ein hervorragendes Merkmal für den Grad unserer gesellschaftlichen Bildung besteht im Grüßen. Der Gruß soll stets, auch bei näheren Bekannten, lediglich das Zeichen der gegenseitigen Achtung sein; eine besondere Vertraulichkeit darf durch den Gruß sich also nur bei Verwandten bekunden. Deshalb muß jeder die Bedingungen eines mustergültigen Grußes kennen. Bei einem eleganten Gruß kommt es auf zweierlei an: auf die Haltung und auf die Verbeugung.

Die Haltung des Körpers sei also stets gerade, die Füße seien mit den Fersen aneinandergezogen. Die Verbeugung besteht in einem tieferen oder leichteren Neigen des Kopfes. Bei höhergestellten Personen neigt man auch den ganzen Oberkörper leicht nach vorn, um dann sofort wieder die aufrechte Haltung mit gehobenem Haupte einzunehmen. Den Hut, den man in guter Gesellschaft auch im Empfangszimmer nicht aus der Hand legt, ergreife man mit der rechten Hand an der Krempe und halte ihn leicht schwebend, die innere Höhlung dem eigenen Körper zugewendet, etwa in der Nähe der Knie, wobei noch besonders darauf aufmerksam gemacht wird, daß viele gerade gegen diese Regel dadurch einen Vorstoß begehen, daß sie die Höhlung des Hutes nach oben halten, als wollten sie ein Almosen erbitten.

Die Verbeugung darf nicht linkisch oder plump sein; wer sich selbst die nötige Eleganz der Körperhaltung bei Verbeugungen nicht zutraut, mag die erforderlichen Übungen vor dem Spiegel vornehmen. Denn ein guter Gruß ist für jedermann notwendig, weil der erste Eindruck ja vielfach[67] entscheidend ist, und jeder doch bestrebt sein soll, den besten Eindruck bei seiner Umgebung hervorzurufen. Man achte ferner darauf, daß der Hut bei der Verbeugung nicht verlegen an der Krempe in den Händen gedreht wird, bis er schließlich zur Erde fällt, oder daß man ihn auf dem Stocke tanzen läßt usw.

Wenn Leute, die sich genau kennen, auf der Straße miteinander zusammentreffen, begrüßen sie sich wohl militärisch, indem sie die Hand bis zur Höhe des Hutes erheben, oder aber sie winken sich gegenseitig zu. Es ist jedermanns Sache, zu wissen, ob er diese Formen des Grußes anwenden darf oder nicht; fernerstehenden Personen gegenüber sind sie jedenfalls unschicklich.

Im Vorübergehen auf der Straße usw. fällt bei der Begrüßung die Verbeugung fort. In solchem Falle lüftet der Herr den Hut, und hält ihn solange schwebend über dem Haupte, bis die Person, der der Gruß galt, vorüber ist. Hierbei hat man zu beachten, daß der Gegrüßte anzublicken ist und daß man den Hut mit der Hand erfaßt, die von dem Begegnenden abgewandt ist. Da man beim Begegnen gewöhnlich rechts ausweicht, erfolgt das Abnehmen des Hutes in den meisten Fällen mit der rechten Hand.

Begegnet man hochgestellten Personen, denen man ein äußeres Zeichen der Chrsnicht zu geben hat, so geht man nicht vorüber, sondern tritt ein wenig zur Seite, wendet den Körper und das Gesicht dem zu Begrüßenden zu und macht eine Verbeugung.

Vorstehende Regeln für eine gute Verbeugung und einen richtigen Gruß beziehen sich auf das Verhalten der Herren; bei Damen ist die Sache weniger einfach. Bei ihnen besteht die regelrechte Verbeugung in einer eigentümlichen Beugung der Knie, wodurch eine sehr graziöse und anmutige, aber schwer zu erlernende Bewegung hervorgerufen wird. Meistens wird diese Verbeugung, wie auch die der Herren, schon in der Tanzstunde gelehrt. Wenn einer Dame nicht Gelegenheit geboten war, an einer solchen teilzunehmen, so wissen wir freilich für diese auch keinen anderen Rat, als vor dem Spiegel dutch Selbstübung alles nachzuholen.

Junge Damen verneigen sich vor älteren tiefer als vor gleichaltrigen. Wird einer Dame ein Herr vorgestellt,[68] so antwortet sie nicht durch eine Verbeugung, sondern nur durch ein höfliches Neigen des Kopfes. Wird eine Dame im Freien begrüßt und hat sie bereits Platz genommen, so braucht sie sich nicht völlig von ihrem Sitz zu erheben, um eine regelrechte Verbeugung auszuführen; vielmehr erhebt sich die Dame nur etwa halb von ihrem Sitz, höher gestellten Damen gegenüber auch ganz, und die Verneigung der Angekommenen ist das Zeichen des Niedersetzens. Herren gegenüber erhebt die Dame sich gar nicht, sondern begnügt sich mit einer leichten Neigung des Oberkärpers.

Auch im Vorübergehen verneigt sich die Dame gar nicht, sondern sie senkt nur bei leichter Neigung des Oberkärpers den Kopf; höchstens bei näheren Bekannten ist eine freundlich winkende Miene gestattet.

Es gibt Gegenden in Deutschland, beispielsweise ist am Harz diese Sitte üblich, wo die Damen zuerst grüßen, also den Herren erst die Erlaubnis erteilen, sie auf der Straße durch einen Gruß auszuzeichnen. In England und Amerika ist diese Sitte allgemein. Ohne uns hier darüber auszulassen, was besser sei, wollen wir uns nur begnügen, auf beide Gebräuche hingewiesen zu haben.

Gehen zwei oder mehrere Herren gemeinsam die Straße entlang, und es begegnet der Gruppe eine Person, die nur von einem aus der Gesellschaft gekannt ist, so haben die anderen, wenn der eine von ihnen grüßt, gleichfalls die Hüte zu lüften, dabei aber zu beachten, daß sie in etwa hinüber- und herübertönende Zurufe, wie »Guten Tag!«, »Grüß Gott!«usw. nicht miteinzustimmen haben. Begegnen mehrere Herren Damen, die einem aus der Gesellschaft bekannt sind, so schließen sie sich dem höflichen Gruße ihres Begleiters schweigend an, ohne die Damen scharf anzusehen, was dem ihnen bekannten Herrn jedoch unter Umständen nicht nur gestattet, sondern sogar geboten ist.

Bleibt der den Damen Bekannte stehen, um sie anzureden, so gehen die übrigen mit gelüftetem Hute schweigend vorüber und langsam weiter, ohne sich umzublicken, bis der andere sich ihnen wieder angeschlossen hat.

Geht eine Dame in Begleitung eines Herrn, der von einem anderen gegrüßt wird, so braucht sie von dem Gruß keine Notiz zu nehmen; will sie aber den Gruß auch als ihr[69] geltend betrachten, so kann sie leicht das Haupt neigen. Wohl aber hat der begleitende Herr unter allen Umständen mitzugrüßen, wenn seine Begleiterin Bekannte grüßt, mag er diese nun kennen oder nicht.

In Gegenden, wo der Handkuß Sitte ist, also besonders in Österreich und teilweise in Süddeutschland, in Sachsen, Schlesien usw., darf diese Art des Grußes nur angewendet werden, wenn die Dame die Hand dazu reicht. In Norddeutschland ist der Handkuß meistens nur seitens der Kinder ihren Eltern gegenüber oder seitens junger Mädchen gegenüber älteren Damen üblich.

Zu den Formen des Grüßens gehört auch das Darreichen der Hand. Ein Händedruck ist aber eine Sprache des Gefühls, weshalb er in Norddeutschland in der Regel nur zwischen näheren Bekannten, Freunden oder Verwandten zur Anwendung gelangt. Denn ebenso, wie der Händedruck uns sumpathisch sein kann, uns anzuzeigen vermag, wie hoch wir in der Achtung dessen stehen, der uns die Hand reichte, ebenso sehr vermag das Berühren der Hände eine vollständige Gleichgültigkeit, abstoßende Kälte und eisigen Hohn auszudrücken, sodaß der, dem eine solche Begrüßung zuteil wurde, voll inneren Erbebens wünscht, diese wäre lieber unterblieben!

Wem die Hand geboten wird, hat sie anzunehmen, auch wenn die Bekanntschaft nur oberflächlich ist; eine dargebotene Hand auszuschlagen, ist eine Beleidigung. Wer es nicht sehr geschickt anzufangen weiß, einen angebotenen Händedruck so zu übersehen, daß es den Anschein bekommt, als wäre die Zurückweisung nur lediglich eine Folge von Unachtsamkeit, der nehme lieber die dargebotene Hand an; es steht ja in seinem Belieben, hierbei eine Zurückhaltung zu zeigen, daß dem anderen die Luft zu ferneren derartigen vertraulichen Begrüßungen vergeht.

Jüngere Personen haben bei Begrüßung von älteren Leuten abzuwarten, ob letztere ihnen die Hand darbieten; ebenso müssen sich Untergebene ihren Vorgesetzten gegenüber verhalten, oder Herren im Verkehr mit Damen, es sei denn der Herr bedeutend älter oder ein Verwandter oder naher Bekannter. Damen gegenüber muß man mit dem Drücken[70] der Hände sehr zurückhaltend sein, auch darf die Handreichung nicht länger dauern, als es diese Höflichkeitsbezeigung, welche ja nur in einem Berühren der Hände besteht, überhaupt verlangt.

Wenn eine Dame einem Herrn die Hand zum Gruße reicht, so gewährt sie ihm stets ein Zeichen offener Vertraulichkeit, die zwar keine besonderen Rechte einräumt, jedenfalls aber die Schranke des Fremdseins umstößt; die Dame muß deshalb damit stets sehr vorsichtig sein – ein Herr aber darf die von einer Dame ihm dargereichte Hand unter keinen Umständen ausschlagen; das wäre eine Beleidigung schwerster Art.

Drückt eine Dame einem Herrn die Hand, so gibt sie ihm das Recht, bei ihr eine Zuneigung für ihn vorauszusetzen. Ist diese Zuneigung gegenseitig, dann verrät der Händedruck das Geheimnis des Herzens, und das Weitere gehört nicht in den Kreis der Erörterungen in dieses Buches.

Zum Schluß noch einige allgemeine Bemerkungen: Beim Eintritt in ein Eisenbahnabteil tut man gut, leicht zu grüßen. Ebenso macht man an der Mittagstafel beim Platznehmen den Nachbarn zur Linken wie zur Rechten kleine Verbeugungen; in beiden Fällen ist man aber dadurch zur Unterhaltung nicht verpflichtet.

Begegnet ein Herr in einem Privathause auf der Treppe einer unbekannten Dame, so macht er ihr Platz und lüftet den Hut zum stummen Gruß; auf der Treppe öffentlicher Gebäude dagegen begrüßen sich Unbekannte gar nicht.

Ihm bekannte Damen hat der Herr so oft zu grüßen, wie er ihnen am Tage begegnet; nur im Dunkel der Nacht unterbleibt die Begrüßung. In großen Städten, wo die Straßen abends taghell erleuchtet sind, gelten die gleichen Vorschriften, wie für den Tag.

Es klingt seltsam, aber es ist nur zu wahr: auch der Dank auf einen gespendeten Gruß kann verletzen. Hierbei sei nicht einmal an einen Vorgesetzten gedacht, der vielleicht den ergebenen Gruß seines Untergebenen nicht mit freundlicher Milde und Herablassung, sondern stolz und hochfahrend erwidert. Auch im Privatleben kann ein Gruß so kalt und höhnisch erwidert werden, daß die Absicht zu beleidigen klar erkennbar ist. Das ist aber immer ein Zeichen[71] niedriger Gesinnung. Der wahrhaft Gebildete wird niemand eine wegwerfende Miene zeigen, sondern stets, ohne mit der Wimper zu zucken, wie an einem Fremden, an dem vorüber gehen, den er seines Grußes für unwürdig hält.

Wem derartiges widerfährt, der mag klug sein und tun, als hätte er es nicht bemerkt; entweder er wird mit kalter Höflichkeit weitergrüßen, oder er wird sich auf den Standpunkt völligen Fremdseins stellen und dann für die Folge solchen peinlichen Vorfall vermeiden.

Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 67-72.
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