Vom guten Benehmen an der Tafel.

[86] Mit der Annahme einer Einladung erwächst jedem die Verpflichtung, auch pünktlich zu erscheinen. Nichts ist störender, als wenn die fast vollzählige Gesellschaft noch auf ein oder zwei Teilnehmer warten muß.

Ereignet eine derartige Verzögerung sich bei Tafel, so kann diese außerdem noch das Verderben einzelner Gerichte zur Folge haben, und deshalb ist es gestattet, daß der Wirt oder die Wirtin das Zeichen zum Beginn geben, wenn die übliche Viertelstunde über die festgesetzte Zeit verstrichen ist.

Meldet darauf der Diener, daß alles bereit sei, so wird der Gast, der durch seinen Rang oder sein Alter sich auszeichnet, die Dame des Hauses zu Tische führen, wogegen der Hausherr, der in der Regel bereits vorher den einzelnen Herren die Damen bezeichnete, die ihnen zur Tischnachbarin bestimmt worden, der dem Range nach Würdigsten seinen Arm anbietet. Sollten aber ausnahmsweise derartige Anweisungen nicht erteilt worden sein, so haben junge Herren mit dem Auffordern zu warten, bis die älteren ihre Wahl getroffen haben; ein Zeichen guter Lebensart äußert sich dann stets dadurch, daß junge Herren, deren Neigung natürlich den jüngeren Damen zugewendet ist, etwa noch nicht aufgeforderten älteren Damen sich zu Rittern anbieten.

Bemerkt sei hierbei, daß der Herr der Dame den rechten Arm zu reichen hat, in den diese ihren linken Arm legt, und daß die Hausfrau mit ihrem Begleiter zuerst das Speisezimmer betritt, wogegen der Hausherr mit seiner Dame den Schluß bildet.[86]

Was nun die Tafel selbst anlangt, so sei sie zierlich und sauber hergerichtet; für das Auge mögen einige Blumenaufsätze sorgen, für den Magen aber mit Geschick gewählte Speisen. Die Schüsseln und Schalen dürfen nicht überladen sein; lieber lasse man mehrere Schüsseln von einem Gericht umhergehen. Mit dem Geschirr viel Geräusch zu machen, ist unstatthaft; deshalb empfiehlt es sich, unter das Tischtuch eine Filzdecke zu legen und das dienende Personal zur Vorsicht beim Umherreichen zu ermahnen.

Wird die Reihenfolge der Gäste von seiten des Wirts bezeichnet, so geschieht dies, indem man auf jede Serviette oder in jedes Weinglas einen weißen Zettel steckt, auf dem der Name dessen geschrieben steht, der sich an diesen Platz setzen soll. Bei Anordnung der Plätze ist alle Vorsicht geboten und der Wirt hat besondere Aufmerksamkeit darauf zu verwenden, daß nur Personen zusammengebracht werden, die zu einander passen.

Die Plätze neben Wirt und Wirtin gelten als Ehrenplätze, und zwar gilt der Platz rechts von der Hausfrau als der vornehmste aller Plätze für einen Herrn, darauf folgt der zur linken Seite, usf., wogegen in Bezug auf den Ehrenplatz für Damen das gleiche Verhältnis zum Hausherrn obwaltet. Doch muß man hierbei darauf achten, daß nicht zwei Personen aus der Familie beisammen sitzen.

Das Umherreichen der Speisen ducch die Dienerschaft muß immer zur linken Hand geschehen; man achte also darauf, daß man nicht einem Diener einmal versehentlich durch allzu lebhafte Bewegungen eine Schüssel mit Speisen aus der Hand schlägt oder anderes Unheil anrichtet. Das Anreichen geschieht der Reihenfolge nach, wobei das erste Gericht und der Braten an den Ehrenplätzen zuerst gereicht werden; wenn eine zahlreiche Gesellschaft beieinander ist, empfiehlt es sich, mehrere Diener anzunehmen.

Wie die Speisen zu verzehren sind, haben wir bereits in der ersten Abteilung dieses Werkes gesagt; die Regeln der guten Lebensart sind die gleichen für das Essen im Familienverkehr wie in der Gesellschaft.

Der Nachbarin zur Rechten hat jeder Herr seine besondere Aufmerksamkeit zu widmen, indem er ihr das Glas rechtzeitig füllt, wobei zu beachten ist, daß der Herr aus[87] einer vollen Flasche zuerst sein eigenes Glas halbvoll zu gießen hat, damit nicht etwa kleine Korkstückchen in das Glas der Dame gelangen.

Die Tafel aufzuheben, ist Sache der Hausfrau, und es wäre ein grober Verstoß, wenn einer der Gäste durch geräuschvolles Aufstehen das Zeichen zum Aufheben der Tafel gäbe. Ist von seiten der Hausfrau dadurch, daß sie sich erhob und den beiden Herren zu ihrer Rechten und Linken eine stumme Verbeugung machte, – ›gesegnete Mahlzeit‹ zu wünschen, ist nur in kleinen Kreisen üblich – das Zeichen gegeben, daß die Tafel aufgehoben ist, so führt jeder Herr seine Tischnachbarin zur Rechten in die Empfangszimmer zurück und verabschiedet sich von ihr durch eine Verbeugung. Darauf sucht er sich der Frau des Hauses zu nähern, um auch ihr eine Verbeugung zu machen und ihr irgend etwas Verbindliches zu sagen. Kann er aber nicht ohne besondere Mühe zu ihr gelangen, so mag dies auch unterbleiben.

Während der Tafel darf die Unterhaltung sich natürlich nicht auf die Güte der dargereichten Speisen beziehen; ebenso wie mißbilligende Bemerkungen hierüber sind alle lauten Urteile über die Ausschmückung der Tafel zu unterlassen; höchstens darf der Herr seiner Nachbarin irgend ein Gericht als besonders wohlschmeckend empfehlen oder es darf dem Weine mit einer lobenden Bemerkung Ehre angetan werden. Daß junge Mädchen vermeiden müssen, von den umhergereichten Likören zu nehmen, sei noch besonders bemerkt.

Die Kleidung betreffend, haben Damen beim Festmahl im Festkleid, Herren im Frack mit weißer Halsbinde zu erscheinen. Bei einem Frühstück genügt der Überrock.

Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 86-88.
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