An die junge Herrenwelt.

[148] Es ist unschicklich, die persönliche Sauberkeit zu vernachlässigen. Man trage keine schmutzige Wäsche, halte seinen Anzug in guter Ordnung, vernachlässige überhaupt keine Einzelheit der Kleidung; besonders nach eingenommener Mahlzeit sehr zu beherzigen.

Es ist unschicklich, mit schwarzgeränderten Fingernägeln, mit schmutzigen Händen und Ohren usw. zu erscheinen.

Es ist unschicklich, seine Nägel, Ohren usw. an einem anderen Orte als im Schlafzimmer zu reinigen.[148]

Es ist unschicklich, Bart und Haare zu färben, oder die Wangen zu schminken.

Es ist unschicklich, allzuviel Haaröl oder Pomade zu verwenden. In keinem Fall darf die Anwendung dieser Artikel sich durch starken Geruch bemerkbar machen.

Es ist unschicklich, grellfarbige Kleider mit auffallenden Mustern zu tragen. Für den Mann ziemen sich nur ruhige, stumpfe Farben mit wenig hervortretenden Mustern. Die Kleidung des Mannes sei der Jahreszeit angemessen und nicht launenhaft oder reich verziert. Vor allem vermeide der Mann, als ein ›Geck‹ oder ›Modenarr‹ angesehen zu werden.

Es ist unschicklich, den Gesellschaftsanzug schon des Morgens anzulegen.

Es ist unschicklich, mit ungewichsten Stiefeln sich auf der Straße zu zeigen. Schmutzig gewordene Stiefel lasse man vor dem Ausgange reinigen.

Es ist unschicklich, den Hut allzusehr ins Genick geschoben oder in die Stirne gedrückt zu tragen; das erste sieht plump aus, das letzte lächerlich.

Es ist unschicklich, viel Schmucksachen, Nadeln, Ringe, große Hemdenknöpfe, Siegelringe, Anhänger, Armbänder und dergleichen anzulegen, weil das geckenhaft aussieht.

Es ist unschicklich, sich in Schlafrock und Pantoffeln außerhalb des Schlafzimmers zu zeigen.

Es ist unschicklich, in Hemdärmeln sich blicken zu lassen.

Es ist unschicklich, die Hände in die Hosentaschen zu stecken oder die beiden Daumen in die Armlöcher der Weste zu hängen.

Es ist unschicklich, eine nachlässige, schlotterige Haltung anzunehmen, wenn man sich auf der Straße blicken läßt. Man vermeide aber auch eine allzusteife Haltung und befleißige sich einer gewissen Würde. Man gehe mit angemessenen, festen Schritten, hüte sich, die Knie nach außen zu biegen oder die Füße einwärts gebogen zu setzen.

Es ist unschicklich, viel zu spucken und auszuwerfen. Wer an Bronchial- oder Lungenkatarrh leidet und zum Auswerfen[149] gezwungen ist, soll nur die für den Auswurf bestimmten Gefäße benutzen und darf nie den Fußboden beschmutzen. In Ermanglung eines Gefäßes für den Auswurf bediene man sich des Taschentuches.

Es ist unschicklich, auf der Straße und an öffentlichen Orten eine Melodie vor sich hinzusummen, zu pfeifen, oder unbändig zu lachen und zu brüllen.

Es ist unschicklich, ohne Ursache zu lächeln oder zu grinsen. Man lächle oder lache, wenn es nötig ist, halte aber zu anderer Zeit den Mund geschlossen und bewahre ein ruhiges Betragen. Menschen, die zu allem lachen, werden für dumm gehalten.

Es ist unschicklich, mit offenem Munde und hängender Unterlippe einherzugehen.

Es ist unschicklich, in Gesellschaft zu gähnen.

Es ist unschicklich, mit den Händen fortwährend den Bart zu streichen oder sonstwie an seinem Körper andauernd herumzutasten.

Es ist unschicklich, gleich allzu vertraut zu sein, Bekannte auf den Rücken zu schlagen, ihnen Rippenstöße zu geben, oder ähnliche sogenannte Freundschaftsbeweise anzuwenden.

Es ist unschicklich, mit brennender Zigarre die Wohnung eines Fremden zu betreten.

Es ist unschicklich; unangemeldet ein Privatzimmer zu betreten. Selbst bei nahen Freunden vergesse man nicht, daß sich diese in ihrer Zurückgezogenheit nicht gern überraschen lassen.

Es ist unschicklich, in Schriftstücken, die auf dem Schreibtische eines anderen liegen, zu lesen.

Es ist unschicklich, einem Schreibenden über die Schulter zu sehen.

Es ist unschicklich, in Gesellschaft mit den Fingern zu trommeln oder mit den Füßen zu trampeln.

Es ist unschicklich, während eines Gesprächs mit einem anderen den Stuhl oder einen anderen Gegen stand zu rücken oder herumzudrehen.

Es ist unschicklich, Zwiebeln oder Knoblauch zu essen, wenn man nicht mehrere Stunden danach allein bleiben kann.[150]

Es ist unschicklich, einer Dame zuerst die Hand zu reichen. Diese Anregung hiezu muß stets von der Dame ausgehen.

Es ist unschicklich, das Aufstehen beim Eintritt einer Dame zu unterlassen.

Es ist unschicklich, die Beine übereinanderzuschlagen. Das ist ebenso unschicklich für Herren, wie für Damen.

Es ist unschicklich, mit Quasten, Knöpfen oder mit anderen, ähnlichen Gegenständen in Gegenwart anderer Personen zu spielen. Auch das ›Daumendrehen‹ ist unschicklich; eine ruhige Haltung ist das erste Erfordernis guter Lebensart.

Es ist unschicklich, allzu selbstbewußt aufzutreten. Wahre Höflichkeit denkt immer zuerst an andere.

Es ist unschicklich, von Menschen zu sprechen, die den anderen unbekannt sind.

Es ist unschicklich, auf Unkosten eines anderen witzig sein zu wollen, ihn zu hänseln oder lächerlich zu machen.

Es ist unschicklich, die Eigenschaften anderer Personen in der Gesellschaft über die Maßen zu rühmen, denn übertriebenes Lob erzeugt Unzufriedenheit. Auch kann es dahin gedeutet werden, daß der Lobende sich selbst unzufrieden oder unbedeutend fühlt.

Es ist unschicklich, im Wirtshause über Politik oder Religion zu reden. Derartige Auseinandersetzungen nützen gar nichts, führen aber zu Heftigkeit und Streiterei.

Es ist unschicklich, einen Redenden zu unterbrechen oder ihm ins Wort zu fallen.

Es ist unschicklich, alte Witze oder veraltete Geschichten zu wiederholen. Auch allzu deutliche Wortspiele sind unpassend, in Gegenwart von Damen sogar höchst verwerflich.

Es ist unschicklich, immer nur witzig sein zu wollen, weil man sich schließlich dadurch lächerlich machen kann.

Es ist unschicklich, Widerwillen zu zeigen, selbst einem Plagegeist gegenüber. Der beste Prüfstein der wahren Höflichkeit ist die Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Verhältnisse, auch wenn diese uns unangenehm sind.

Es ist unschicklich, beim Kartenspiel Daumen und Finger anzufeuchten, um die Karten besser ausbreiten zu können.[151]

Es ist unschicklich, den Stock oder den Schirm wagrecht unter dem Arm zu tragen. Ost sind durch diese üble Angewohnheit schon böse Verletzungen verursacht worden.

Es ist unschicklich, mit aufgespanntem Regenschirm anderen lästig zu fallen oder den Verkehr auf der Straße zu erschweren.

Es ist unschicklich, auf der Straße zu essen.

Es ist unschicklich, die Eingänge von Kirchen, Theatern, Bahnhöfen oder anderen öffentlichen Gebäuden zu verstellen und die Vorbeigehenden zu mustern.

Es ist unschicklich, mit Bekannten auf der Mitte des Weges stehen zu bleiben und dadurch andere zu zwingen, auszuweichen. Vielmehr hat man bei solchen Gelegenheiten zur Seite zu treten.

Es ist unschicklich, auf der Plattform eines Pferde-oder Eisenbahnwagens anderen Mitreisenden den Verkehr zu erschweren. Man trete höflich beiseite und mache bereitwillig Platz zum Ein- oder Aussteigen.

Es ist unschicklich, bekannte Damen auf der Straße aufzuhalten, um mit ihnen zu sprechen. Man hat an ihrer Seite weiter- oder zurückzugehen und wenn man gesagt hat, was man sagen wollte, empfehle man sich mit entblößtem Haupte.

Es ist unschicklich, durch allzugroße Höflichkeit anderen lästig zu fallen. Übertriebene Höflichkeit ist auch ein Fehler, denn sie kann für sklavische Unterwerfung gehalten werden!

Es ist unschicklich, bei öffentlichen Lustbarkeiten oder anderen Gelegenheiten, wobei große Menschenmassen zusammenströmen, zur rascheren Erlangung eines Platzes für die Heimfahrt den Pferde- oder Eisenbahnwagen zu stürmen, Männer, Frauen und Kinder beiseite zu drücken oder vorwärts zu schieben.

Es ist unschicklich, in einem Wagen, Omnibus oder dergleichen mehr Platz zu beanspruchen, als man nötig hat.

Es ist unschicklich, in einem bereits vollzählig gefüllten Eisenbahn- oder Straßenbahnwagen noch einen Platz zu beanspruchen.

Es ist unschicklich, anderen Mitreisenden den Eintritt in einen Eisenbahnwagen oder dergleichen zu erschweren,[152] indem man sich vor den Eingang stellt und der Wahrheit zuwider sagt: »Es ist alles besetzt,« lediglich, um selbst bequemer fahren zu können.

Es ist unschicklich, Bücher zu leihen und sie gar nicht oder beschädigt zurückzugeben.

Es ist unschicklich, Wissen oder Kenntnisse zu heucheln, die man nicht besitzt. Andernfalls darf man mit seinem Wissen auch nicht aufdringlich sein und hüte sich vor allem vor hartnäckigem Besserwissen.

Es ist unschicklich, seine Muttersprache nicht grammatikalisch richtig zu sprechen. Besonders in einigen Gegenden Norddeutschlands ist eine Verwechslung von ›mir‹ und ›mich‹ zu einer argen Unsitte geworden. Auch die Verstümmelung gewisser Konsonanten meide man, zum Beispiel hüte man sich zu sagen ›jut‹ anstatt ›gut‹ ›wahm‹ anstatt ›warm‹ und dergleichen.

Es ist unschicklich, sich durch häufigen Gebrauch von Fremdwörtern einen gelehrten Anstrich geben zu wollen.

Es ist unschicklich, durch übermäßiges Klavier-oder Violinspiel oder durch Gebrauch irgend eines anderen Musikinstrumentes den Nachbarn lästig zu fallen. Man musiziere nie bei offenem Fenster – wenn man nicht etwas Vollendetes leisten kann.

Es ist unschicklich, die Selbstbeherrschung zu verlieren, zumal in Gegenwart anderer. Man tobe nicht, wenn etwas wider Erwarten ausgefallen ist, man werde aber auch nicht mürrisch und reizbar.

Es ist unschicklich, sich einer guten Handlung, die man begangen, zu rühmen.

Es ist unschicklich, die Gesellschaft von Damen zu besuchen, wenn der Atem nach geistigen Getränken oder der Bart und die Kleidung nach Tabaksqualm riecht.

Es ist unschicklich, jemand in Gegenwart anderer auszuschelten. Das geschehe immer nur unter vier Augen.

Es ist unschicklich, Kinder in Gesellschaften, Wirtshäuser, Biergärten und dergleichen mitzunehmen.

Es ist unschicklich, zu glauben, man dürfe sich unzarte Äußerungen oder Anspielungen erlauben, weil man in[153] vorgerückten Jahren ist. Wie der gute Wein, sollte auch der Geist des Menschen mit dem Zunehmen der Jahre immer lauterer werden.

Es ist unschicklich, die Offenheit so weit zu treiben, daß sie als Grobheit aufgefaßt werden könnte.

Es ist unschicklich, die in diesem Buche erteilten Ratschläge außer acht zu lassen, weil man der Meinung ist, diese seien für die eigene Person überflüssig.

Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 148-154.
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