1.

[106] Als unsicherer Heerespflichtiger ward ich mit geschlossenen Händen zwischen zwei Polizisten zur Kaserne übergeführt. Auf der Wache am Haupttor löste man mir die Handfesseln. Der Wachthabende unterfertigte den Ablieferungsschein und die Schutzleute zogen sich zurück. Ich unterstand nunmehr dem Kriegsgesetz.

Gleich beim Durchschreiten des Tores fühlte ich, daß ich einer fremden Gewalt ausgeliefert sei. Zwei kettenumzogene Kanonenrohre lagen wie gekauerte Doggen links und rechts der Schwelle. Das Innere des Hauptportals war mit Trophäen aus Ritterrüstungen und Kriegswaffen behangen. Das Gefühl, aus dem Gefängnis zu kommen, verschüchterte und bedrückte mich; mir war, als müsse mir jedes Auge meine Schmach ansehen.

Von der Hauptwache führte mich ein Soldat mit geschultertem Gewehr auf das Regimentsbureau. Wir querten den breiten Hof. Eben durchhallte ihn Trommelschlag und Horngeschmetter. Diese Töne drangen aus der fernen Kindheit erinnerungsstark herauf. Damals zerrissen sie die klare, milde Frühlingsluft, wenn ich durch die Wiesen dahinschlich und durch den geheimnisvoll flüsternden Wald. Dieselben Klänge sind es, aber der arme Mensch, dem sie das Innerste emporwühlen, ist nicht mehr der sorglos unschuldige Knabe von damals; über einen Abgrund rufen sie mich an, über einen Abgrund, den nichts ausfüllt und der mich vielleicht bald verschlungen hat.

Auf dem Regimentsbureau hieß mich der Schreiber warten. Dann brüllte er auf einmal: »Stillgestanden! Der[106] Herr Adjutant kommt!« Nach Erledigung einiger Förmlichkeiten ward ich dem III. Bataillon überwiesen und von hier aus der 12. Kompagnie, 6. Korporalschaft, zugeteilt. Der Regimentsschreiber, ein Sergeant, führte mich aufs Kompaniebureau. Unterwegs raunte er mir mit eigentümlichem Lächeln zu: »Na, warten Sie nur! Sie kommen in eine gute Kompanie!« Ich antwortete bestürzt: »Es ist doch keine Strafkompanie?« Worauf er hart auflachte und entgegnete: »Nein, nein, das gibt's hier nicht. Aber warten Sie nur!«

Diese unheimlich-dunkle Bemerkung, dazu die verdächtige Miene des Sergeanten entzogen meinen Sohlen auf einmal den festen Estrich, auf dem sie hallend schritten. Eine unbewußte Angst schnürte mir plötzlich die Kehle zu.

Der Empfang beim Feldwebel war nicht dazu geeignet, mich zu beruhigen. Der Schnauzbärtige musterte mich von oben bis unten mit einem stechenden Blick, wechselte mit dem Sergeanten einige leise Worte, musterte mich wieder, lachte kurz und höhnisch auf und wandte sich hinter seinen Tisch. Ich mußte diesem Hüter der Ordnung verdächtig vorkommen. Ich war ein unsicherer Kantonist, ein arbeitsscheuer Landstreicher, ein wegen Unterschlagung bestrafter Gauner, ein vaterlandsloser Sozialdemokrat; mit andern Worten: durchaus ein gemeingefährliches Subjekt!

Bevor ich auf meine Einführung als unsicherer Heerespflichtiger zu reden komme, will ich schildern, wie sich der Einzug und das Einleben in die Kaserne unter »normalen Verhältnissen« vollzieht.

Aus den entlegensten Weilern und Dörfern, von den Ebenen des Hochgebirges, aus den Fischerhütten am Seestrand strömen die Ausgehobenen zum nächsten Sammelplatz. Soldaten mit geschultertem Gewehr nehmen sie in Empfang und führen sie den Regimentern zu. Die Städte stoßen ihre Söhne säulenweise aus, denn die Staatsklugheit verlangt, daß die Rekruten fern der Heimat dienen.[107]

Mein Regiment bezog seine jungen Mannschaften aus Posen und Schleswig-Holstein. Die meisten Polen verstanden kein Wort Deutsch.

Schon auf dem Transport geht den Rekruten die Lust gründlich verloren, in deren Rausch sie am Tage der Aushebung, bekränzt, mit Blumensträußen geschmückt wie Festochsen, die Regimentsnummer an der Kopfbedeckung, durch die Dorfstraßen torkelten und johlten. Die Ausgelassenheit würde den ahnungslosen Helden übrigens teuer zu stehen kommen. Der begleitende Unteroffizier studiert schon jetzt den Charakter seiner zukünftigen Leute und macht sich im Geiste Notizen, die er bei erster Gelegenheit dem Feldwebel zuflüstern wird, nicht zur Freude des betreffenden Opfers.

Auf der Montierungskammer bereits werdet ihr, begnadete Verteidiger Deutschlands und seines Kaisers, mit dem neuen Geist bekannt gemacht. Noch habt ihr Helm und Feldmütze nicht fest in den Händen, so fliegen euch schon die Maulschellen an den Kopf, wie dicke Hummeln, und ihr nehmt sie entgegen mit dem Gesicht des Verliebten, der seiner Angebeteten zu Füßen liegt, einen heißen Kuß erwartet und plötzlich einen Kübel Eiswasser über den Kopf erhält. Wer euch vor einigen Stunden nur scheel angesehen hätte, dem wärt ihr unsanft ans Nasenbein gefahren; hier aber rutscht den größten Raufbolden und den rabiatesten Messerstechern das Herz in die Hosen, und sie schlucken die Ohrfeigen wie reife Pflaumen, denn schon haben sie es gemerkt: In diesen Mauern heißt es »schweigen und dulden«; in diesem Reiche herrscht die Dienstmütze.

Mancher Rekrut hatte sich vielleicht schon einen Helm aufgesetzt und sich im Spiegel betrachtet, voll Bewunderung für die kriegerische Wandlung seines äußeren Menschen. Schwirren aber diese ersten Kasernenspatzen klatschend durch den Raum, so betrachtet er das Stück gepreßtes Ochsenleder schon mit anderen Empfindungen. Die Erlebnisse des früheren Trägers beginnen ihn aus dem Schweißleder anzuduften. Zudem braucht er diesen kriegerischen Schmuck[108] noch nicht. Achtsam setzt er den Helm in seinen Spind, vorschriftsmäßig den Raubvogel mit Adlerkrallen und Krummschnabel nach außen gewandt, und deckt seinen Schädel mit der Feldmütze.

Die Feldmütze ist unbezahlbar. Jahrhunderte haben an ihr herumgelogen, herumgebogen und gezogen, bis sie in der heutigen Form ihr Ideal erreichte: die Form der Null, zu der sie ihren Träger macht.

O ihr Edeln vom Mützengeschlecht: Nachtmützen, Zipfelmützen, Feldmützen, ihr Philister und Sklaven, was könntet ihr nicht alles erzählen von Faulheit, von Kriechertum und Niedertracht! Aber du sei mir gegrüßt und verehrt, phrygische Mütze, blutroter Lockenschmuck der Freiheit, im Aufstieg versponnene und umgebogene Flamme, vor der Königskronen und Marschallshüte in den Staub gekollert sind! Du, vor der sich der freie Mann verbeugen darf, Herrliche, sei mir nochmals gegrüßt!

Die Feldmütze zu tragen ist eine Kunst. Der Rekrut muß sie, bis auf die Augenbrauen niedergezogen, steif und gerade rücken. Erst im letzten Dienstjahr darf er das erhabene Sinnbild außer Dienst ein wenig freier, sogar mit kecker Lässigkeit zur Seite schieben.

Inzwischen haben sich die Neulinge in Reih und Glied gestellt. Mancher müht sich redlich, eine forsche Haltung anzunehmen. Er meint es gut und wirft den Bauch ganz stramm heraus; aber schon belehrt ihn ein Fauststoß des Korporals, daß er dasteht wie eine »schwangere Leiche«.

Er weiß auch nicht, warum die Korporale lachen und mit welchem Recht sie seine Augen, Ohren, Mund, Nase und Nüstern so behaglich studieren. Manchmal ruft ein Korporal seinen Kollegen und zeigt ihm seine Kerls. Beide befühlen und betasten den Rekruten, treiben Späßchen und Witzchen und grinsen dazu. Sie entdecken manches Anziehende, aber nichts Schmeichelhaftes: Bärennase, Hottentottenaugen, ein Negermaul, eine Zulukaffervisage. Über dieser Zergliederung bei lebendigem Leibe merkt der Rekrut,[109] daß er nicht länger sich selbst angehören darf, sogar nicht in seinem Eigensten; daß er nicht mehr Herr ist über Haare und Bart, über Nase, Mund und Zähne. Der Mund muß auf Befehl auf- und zuklappen, damit der Herr Vorgesetzte seine Zunge studieren und seine hohlen Zähne zählen kann. Mit welchem Recht muß er das über sich ergehen lassen? Mit dem Recht, das die Feldmütze vergibt.

Die Feldmütze, mein lieber Rekrut, leiht dem Korporal die Freiheit, womit er seine Klauen an dir herumtasten läßt und den Eindruck seiner Neugier auf deine Gefühle studiert. Nicht allein für den Krieg will er dich erziehen, gegen den Erbfeind und die Russen; er will dich vor allem für den Frieden erziehen, daß der Staat an dir einen ruhigen Bürger und der Kapitalismus einen zufriedenen Arbeiter gewinne. Daher muß jetzt schon deine Gefügigkeit erprobt, dein Wille gebrochen, jede Selbständigkeit bis in die Wurzel bei dir ausgerottet werden; denn nur der allein seligmachende Kasernengehorsam ist des Rekruten erste Pflicht.

Könnte man dich im Schlafe mustern, man würde dir vorschreiben, wie du schlafen sollst; nach Tempo Augen zu, Beine gestreckt, Knie durchgedrückt, Hacken aneinander, Hände an den Hemdnähten, die innern Flächen nach außen, die Daumen geschlossen angelegt, Ellenbogen leicht gewölbt und nach vorn gepreßt, Bauch rein, Brust raus, Kopf hoch, Kinn angezogen, Atmung und Pulsschlag im regelmäßigen Rhythmus eines biedern Gewissens, Träume keine oder nur vom Hurratod für Kaiser und Vaterland.

Das Kichern und Grinsen der niedern Vorgesetzten wird durch ein plötzliches Kommando unterbrochen:

»Stillgestanden! Der Herr Hauptmann ist da!«

»Guten Tag, Rekruten!«

Ist das nicht überaus freundlich und vertrauensvoll?

Langsam schreitet der Gefürchtete die Front ab und verweilt vor jedem Mann zu einer kurzen Prüfung.

Ein friedlicher Augenblick! Er entscheidet häufig über das Schicksal des Rekruten. Schon jetzt steht häufig für den[110] Hauptmann und den Feldwebel fest, wer von den neuen Leuten zum Gefreiten befördert, zum Offiziersburschen oder zu andern bevorzugten Stellen begnadet wird.

Der Hauptmann ist inzwischen beim letzten Mann angekommen. Da heißt es plötzlich: »Die mit Gefängnis Vorbestraften vortreten!« Das Wort schlägt ein wie der Blitz. Das Gesicht manches Rekruten flammt auf. Der Arme glaubte, er könne im Schutz der Kasernenmauer ein neues Leben beginnen; er wähnte das unselige Geheimnis seiner Vergangenheit gehütet. Und jetzt! O die Schande!

»Nur vortreten! Vortreten! In acht Tagen kommen eure Akten. Und dann wehe.«

Da schiebt die Furcht einen Sünder nach dem andern vor.

»Weshalb sind Sie vorbestraft?«

Im Flüsterton antwortet es: »Wegen Diebstahls.«

»Laut! Laut! Hier wird laut gesprochen. Verstanden?«

Noch krampft sich mir das Herz, wenn ich an einen dieser Auftritte denke. Es war ein halbes Jahr nach meinem Eintritt. Ein Dolmetsch mußte den Polen die Aufforderung des Hauptmanns verpolnischen. Da trat ein Mann vor und antwortete auf die Frage des Hauptmannes: »Vorbestraft wegen Gänsedieberei und Hasenverdacht.«

Der Hauptmann und seine Trabanten lachten im Chor. Der Dolmetsch erklärte schließlich, Mareck sei als des Gänse- und Hasendiebstahls verdächtig in Untersuchungshaft gewesen, aber freigesprochen worden.

Nach der Musterung werden die Kriegsartikel vorgelesen und die Rekruten auf die Stuben entlassen.

Hier entwickelt sich ein reges Leben. Das Putzzeug wird gekauft. Es stellt sich durchschnittlich auf zehn Mark für den Mann. Für die Armen zahlt die Kompagnie und zieht die Auslagen von der Löhnung ab.

Dann werden dem Rekruten die Herrlichkeiten anvertraut, die es ihm erlauben sollen, das erstandene Putzzeug[111] nützlich anzuwenden, nämlich: Gewehr mit Mündungsdeckel und Visierbinde in Leder, Seitengewehr mit Lederscheide, Koppel und Koppelschloß, zwei Troddeln, eine zum Wachdienst, eine zur Parade, zwei Tuchröcke, zwei Tuchhosen, zwei Drilchanzüge, zwei Unterhosen, drei Hemden, zwei Paar Stiefel, eine weiße Paradehose, ein Helm, zwei Feldmützen, ein Tornister mit Traggerüst, ein Feldkessel mit Riemen, eine Mantelatrappe, zwei vordere, eine hintere Patronentasche, Schanzzeug, Zelttuch, Stricke usw. zum Aufrichten des Zeltes im Manöver, ein Paar Segeltuchschuhe und Patronen.

Feldmarschmäßig zum Manöver ausgerüstet, mit gepacktem Tornister und Kessel, wiegt der Soldat siebzig Pfund schwerer als nackt. Dabei liegen Sandsäcke und Ziegelsteine bereit, um zu erzieherischen Zwecken die Last der Vaterlandsliebe noch drückender auf des Trägers Schultern zu legen.

Quelle:
Bergg, Franz: Ein Proletarierleben. Zweite Auflage, Frankfurt a. M. 1913, S. 106-112.
Lizenz:

Buchempfehlung

Goldoni, Carlo

Der Diener zweier Herren. (Il servitore di due padroni)

Der Diener zweier Herren. (Il servitore di due padroni)

Die Prosakomödie um das Doppelspiel des Dieners Truffaldino, der »dumm und schlau zugleich« ist, ist Goldonis erfolgreichstes Bühnenwerk und darf als Höhepunkt der Commedia dell’arte gelten.

44 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon