Anno 1693
§ 21

[62] Von Ostern bis Michael in diesem 1693. Jahr, und also das erste Jahr in Primo ordine hatte ich nirgends eine bleibende Stäte, sondern vagirte hin und wieder [zurück] herum, und fand nicht, wo mein Fuß ruhen kunte. Bald schlief ich einige Wochen bei meinen Eltern, die mich aber lieber in der Stadt versorgt wünschten. Bald substituirte [vertrat] ich bei Wirbitzen, einem Distillirer, vor den Informator [Hauslehrer] auf einige Zeit, der verreiset war, und aß und schlief daselbst; wo mich aber die Wanzen so entsetzlich plagten, daß ich des Morgens dafür nicht sehen kunte, und die Augen mit Beulen schier wie eine halbe geballte Hand groß umgeben waren. Bald ließ mich der Præceptor in der Sieben-Rade-Mühle, Herr Gœling, der vor kurzem als Prediger auf dem Neu-Begräbnis [Friedhof] bei Breslau gestorben, auf einen Monat bei sich herbergen und schlafen; allwo ich aber die Bisse der Korn-Würmgen [-Käfer] eben so wenig vertragen kunte. Bald schlief ich auf etliche Wochen bei dem Kretschmar Trillern, wo ich auch einen mensam ambulatoriam [Freitisch] hatte, in der Schenk-Stube auf der Bank, auf einem Polster, dergleichen man den fremden Leuten, so da herbergen, zu geben pfleget. Des Tages aber spielte ich gemeiniglich ein paar Stunden mit den Gästen in der Karte, und gewann hier gemeiniglich so viel Bier, als ich zu trinken vonnöten hatte. Ich hatte also einen lectum ambulatorium [wechselnde freie Lagerstätte],[62] wie einen mensam ambulatoriam, nur daß man überall, wo ich meine Lagerstatt aufschlug, meiner gar bald überdrüssig wurde, und gerne sahe, wenn ich meinen Stab weiter setzte.


Anno 1693

Denselben Sommer waren schreckliche Donner-Wetter, und fielen einst [einmal] auch Schloßen, wie Schnip-Käulgen [Murmeln] so groß, welche den Fenstern in der ganzen Stadt großen Schaden taten. Man erzählte dazumal, daß hier und da Feuer aus den Wolken herunter gefallen wäre, ohne daß es zuvor geblitzet und gedonnert; welches, ob dem also gewesen, ich dahin gestellet sein lasse. Weil diese Schloßen zum Teil, wenn sie auf die Steine fielen, sich länglich und spitzig schlugen, so wollten die Leute, insonderheit die Armen, welche überall die Land-Plagen, und derselben Ursachen in der Reichen-Leute Pracht und Hoffart suchen, mit ganzer Gewalt Fontangen darinnen finden. Und, da kurz vorher ein ganz Heer Heuschrecken bei uns durchzog, mit denen ich einst [einmal], da ich in die Vorstadt hinaus gieng, wie mit lauter dicken Schnee-Flocken umgeben war; so fand der Linguiste Acoluth, von dem ich oben geredet, auf den Flügel derselben arabische Buchstaben, vielleicht, weil er zu Hause bei seinem Alcoran [Koran] mit vielen arabischen Buchstaben zu tun hatte; so daß es demselben in diesem Stücke, wie dem Lipsio gegangen; der, da er den Tractat de Cruce schrieb, mit so viel Kreuzen seine Glandulam [Drüse] und sein Gehirn angefüllt, daß er hernach überall bei alten Monumenten, wo die Figuren nicht gar zu kenntlich, Kreuze sehen wollte, auch wo keine waren; weswegen er auch von dem P. Malebranche de inquirenda veritate, in dem Kapitel de imaginatione nicht wenig perstringiret [getadelt] worden.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 62-63.
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