Anno 1695
§ 29

[74] Ich hatte gemeinet, daferne ich nur die Sünden nicht mehr tun, und die Tat derselben unterlassen würde, daß alsdann eine beständige Freude, und Gemüts-Ruhe von Stund an erfolgen müsse. Dieses geschahe freilich endlich wohl, aber nicht so bald,[74] und beständig, als ich gedacht hatte. Denn nun, da die sündlichen Werke außen blieben, und dem Verstande je mehr und mehr die Augen aufgiengen, mein ehemaliges Leben recht einzusehen; so fieng mir die Sünde erst an recht häßlich vorzukommen, und in ihrer schändlichen Gestalt zu erscheinen. Ich grämte mich, daß ich in meiner ersten Jugend das Unglück gehabt, in den Kot der Sünden so tief hinein zu fallen, und mein Gewissen zu verunreinigen. Mit einem Worte, das Gewissen fieng mich jetzt erst recht an zu nagen, und die Traurigkeit wegen begangener Missetaten setzte mir so gewaltig zu, daß ich mich derselben nicht erwehren konnte. Sie wurde noch größer, als ich Lipsii Buch de Constantia in die Hände bekam, und solches durchlas. Der melancholische Stylus, in welchem das Traktätlein geschrieben, und insonderheit das Kapitel, in welchem von einem bösen Gewissen gehandelt wird, waren fähig, meinen traurigen Humeur [Stimmung] noch mehr zu erregen. Und noch einen größern Eindruck in meine betrübte, und bekümmerte Seele machte das verlorne Schäflein des Herrn Scrivers, welches nicht ohne sonderbare Schickung Gottes, wie ich glaube, mir zu solcher Zeit in die Hände kam, und welches ich ganz durchlas. Das schreckliche Exempel des Menschen, der sich dem Teufel verschrieben, und kümmerlich wieder zurechte gebracht worden, und doch hernach wieder zurücke gefallen: ingleichen die andern Historien von entsetzlichen Sünden-Fällen großer Übeltäter, die zum Teil ein Ende mit Schrecken genommen, oder noch durch besondere Gnade Gottes aus ihrer Seelen-Gefahr erlöset worden, und welche Herr Scriver diesem seinem Tractate hinten angehänget, waren ein rechtes Öl in das Feuer meines Gewissens, welches ohnedem schon sattsam brannte, und mir heiß genug machte. Wer weiß, wie es dir noch gehen wird, dachte ich, und ob es nicht auch mit dir einmal ein solches Ende nehmen wird! Ach wäre ich bei meinen Eltern in der Einfalt blieben, so würde aller solcher Jammer nicht über mich gekommen sein! Wollte Gott, ich hätte niemals an das Studiren gedacht, noch das Gymnasium mit meinen Augen gesehen, in welchem ich um alle die Gottseligkeit gekommen, die ich bei meinen Eltern als ein Knabe gehabt, und bei welcher mir so wohl war! So dachte ich; und außer dem jammerte es mich auch auf eine ganz unbeschreibliche Weise, so daß es mir durch Mark und Bein drang, daß ich andere durch mein Exempel zu gleichem unordentlichem Leben verleitet hatte, und ich sie jetzt nicht so leicht auf andere Gedanken bringen konnte.[75]

In der Himmelfahrts-Woche hatte eine von meinen Schwestern Hochzeit, die jetzt noch lebt. Die Hochzeit währte 3 Tage. Am dritten Tage, als in der Mittwoche, überfiel mich eine Traurigkeit mitten unter der hochzeitlichen Freude der andern Gäste. Ich sahe, wie sie so fröhlich waren, und meinte nicht anders, sie wären alle frömmer, denn ich, und hätten alle noch ein unverletzt Gewissen; da doch wohl manches sein Gewissen nur schlafen mochte, gleichwie das meinige eine Zeit lang geschlafen hatte, aber nunmehro aufgewachet war. Ich preisete sie selig, und sprach bei mir selbst: Ach, wenn du doch auch so fröhlich sein könntest! Hat ihre Lust schon noch viele menschliche Schwachheiten bei sich, so wird sie ihnen Gott nicht zurechnen. Die Wehmut nahm je mehr und mehr bei mir zu, und ich konnte unmöglich länger bei der Compagnie bleiben, sondern stahl mich von den »Hochzeit-Gästen weg, und gieng auf das freie Feld, und ließ meinen Tränen freien Zügel und Lauf, die auch so häufig [zahlreich] waren, daß ich mich darinnen hätte baden können. Ich bat Gott inbrünstig, er sollte doch das schwere Joch der Übertretung in mir stillen, daß sich mein Herz wieder zufrieden geben möge. Nun geschahe dieses wohl nicht so bald darauf, wie ich gebeten; Ich war aber doch durch Gebet und Tränen stark worden, so oft mich neue Angst anfiel, solche mit Geduld zu ertragen, und nicht alle Hoffnung sinken zu lassen, sondern in stiller Gelassenheit auf die Hülfe des Herrn zu warten. Es ist wahr, es war nichts auf Erden, was mich in diesem Zustande hätte erfreuen können. Keine Music ergötzte mich mehr, und kein Spiel erquickte mich mehr. Poselte [kegelte] ich mit meinen Commilitonibus, so geschah es mit einem Herzen, das schwerer war, als die Kugel, die ich in Händen hatte, und schätzte die Mit-Schüler, welche auf eine viel ungezwungenere Weise, als ich, fröhlich waren, eben so glücklich, als die Gäste auf der Hochzeit meiner Schwester. Erwachte ich des Morgens, nachdem ich noch ziemlich [fest] geschlafen, so fieng mein Herz schon wieder an zu pochen, und war mein Kreuz alle Morgen da, und mußte alsdann nur das Marter-Holz wieder auf mich nehmen, und mich den ganzen Tag damit schleppen. Die Gemüts-Plage hatte auch, allem Ansehen nach, meinen Leib, so gesund auch derselbe meinem Bedünken nach war, verderbet, so daß jetzt die Melancholie auch einen Grund und Stütze in dem hitzig und dicken Geblüte, und in den verstopften Visceribus [Eingeweiden] fand, welche durch die anhaltende Angst waren verursachet worden. Das Übel war auf den höchsten Grad gekommen,[76] als ich auf die letzt so gar den Appetit zum Essen verlor, und ich den Leuten sagen sollte, was mir fehlte, und jedermann doch mehr eine Krankheit des Gemüts, als des Leibes die Ursache dessen zu sein vermutete.

Da wurde mir wohl recht bange; aber auch alsdenn war die Zeit, da Gott nicht länger zusehen, sondern sich meiner erbarmen wollte. So einen heißen Sommer ich in diesem 1695. Jahre gehabt, so war hernach der darauf folgende Herbst vor mich desto kühlender, und erquickender. Ich gieng in der Hitze der Anfechtung hin und her, und lief aus einer Kirche und Predigt in die andere, Trost und Linderung vor meine geängstete Seele zu suchen. Um das Ende des Sommers hatten wir einen Buß-Tag, und in der Elisabeth-Kirche, so mir am nähesten, predigte des Morgens der Senior, Hermann, dessen Worte und Predigten mir sonst schon manchmal sehr waren zu Herzen gegangen. Er redete sehr scharf wider solche Sünden, deren ich mich auch schuldig befand. Doch so scharfe Lauge er eine gute Zeit den Sünden aufgegossen, und so empfindlich er ihre Wunden, so ihnen die Sünde in dem Gewissen geschlagen, gerühret hatte: so gelinde, und erquickend war gleichwohl das Öl des Trostes, das er in solche hinein goß. Es kam immer ein starker Trost-Grund auf den andern, und mein Herze fieng an vor Freuden zu springen. Die innerliche Freude, die ohnedem schon eine große Menge Tränen herfür gebracht, erreichte noch den höchsten Gipfel, als er unter andern aus dem bekannten Sterbe-Liede: Ich habe meine Sache Gott heimgestellt, die Worte anführte: Meinen lieben Gott von Angesicht, werde ich anschauen, dran zweifle ich nicht. Es fehlte nicht viel, daß ich nicht in der Kirche überlaut vor Freuden zu schreien anfieng. Mußte ich mich hier schon hemmen, so jauchzete ich hier doch voll gutes Muts, und gieng hernach fröhlich aus der Kirche nach Hause, als ich noch mein Lebtag aus der Kirche nicht gegangen war. Denselben Tag, und einige Tage und Wochen darauf durfte ich nur an diese Worte gedenken, und an das, was der Prediger mit denselben verknüpfet hatte; so öffnete sich immer wieder von neuem die Quelle der Freuden und der Freuden-Tränen, und grieff mir oft dermaßen nach dem Herzen, daß ich meinte, es müßte vor Freuden zerspringen. Da erfuhr ich das erste mal in der Tat, wie einem zu Mute, dem das Herze vor Freuden springen, oder zerspringen will: und die Erfahrung lehrte mich, daß bei manchem bußfertigen Sünder würklich vorgehe, was wir in dem bekannten Buß-Liede singen: Aber dein heilsam Wort das macht mit seinem süßen[77] Singen, daß mir das Herze wieder lacht, als wenns beginnte zu springen etc.

Doch wieder auf die Worte des Sterbe-Liedes zu kommen: Meinen lieben Gott von Angesicht, so kann ich nicht mit Worten genug beschreiben und ausdrücken, was dieser Vers im Liede, als in welchem sich ein Christ des seligen Anschauens Gottes in der zukünftigen Welt tröstet und versichert, in meinem Leben sowohl zur Stunde der Anfechtung, als auch außer solchem Zustande, so oft ich durch göttliche und geistliche Betrachtungen, Liebe, Freude und Hoffnung zu Gott erwecket, und das Zeugnis des Heiligen Geistes in meiner Seelen gefühlet, vor wunderbare, und ungemeine Kraft noch immer gehabt, mein Leben hier auf Erden in einen halben Himmel zu verwandeln. Bei dem vollgedruckten, und gerüttelten Maß [Luk. 6,38] des himmlischen Trostes, das bei gewissen Fällen Gott in meinen Schoß und Seele ausschüttet, sind diese Worte gemeiniglich das letzte, und beinahe wie das Siegel, welches der Geist Gottes auf alle vorhergegangene Tröstungen drücket, oder das, was gleichsam bei diesem Maße überlauft. Und wenn ich gleich eine zeitlang dieselben Worte ohne Bewegung ansehe, und singe, und schier auf die Gedanken kommen will, als ob sie nun die ehemalige alte Kraft zu bewegen, und das Herze zu rühren verloren hätten, so findet sich solche doch wieder, sobald der Heilige Geist, als der Gnaden-Wind Gottes, der da bläset, wenn [wann] er will [vgl. Joh. 3,8], bei gewissen Gelegenheiten wiederum zu wehen anfänget. So gar [ganz] wunderbar ist Gottes Geist in seinen Würkungen, daß er einen Vers aus der Bibel, oder aus einem Liede, das zu einer Zeit von dem Menschen kaltsinnig und ohne Bewegung gelesen und angehöret wird, und das, als wie tot und erstorben, da liegt, (wiewohl es niemals an und vor sich tot und unkräftig,) zu einer andern Zeit, wenn der Mensch göttliche und ewige Dinge genauer betrachtet, oder sich in schweren Zufällen [Unglücksfällen] befindet, zu so einem gesegneten Werkzeug und Mittel macht, und machen kann, Erstaunens-würdige Dinge zu tun, den Menschen es recht an das Herze zu legen, recht ins Herze zu sprechen, und das Herze mit der süßesten Freude zu erfüllen. Andern Leuten begegnet solches mit andern Liedern und Macht-Sprüchen heiliger Schrift; und, da wir einmal aus heiliger Schrift wissen, daß der Heilige Geist durch das Wort derselben in die Herzen der Menschen würke, so ist es nicht nötig, sich erst hier die Mühe zu geben, und zu sagen,[78] was die Ursache dieses Unterschiedes sei, gesetzt, daß man auch gleich einige Ursachen davon anzuführen wüßte.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 74-79.
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