§ 62

[152] Man hat beinahe den höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit, daß die menschliche Seele ihren Haupt-Sitz im Gehirne habe, und daß sie da empfinde, sehe, höre, rieche, schmecke, oder daß ihr daselbst die nächste Gelegenheit und Ursache zu empfinden, zu hören, zu sehen und zu schmecken gegeben werde. Denn ich wüßte sonst nicht, warum die Nerven und Fibren [Nervenfasern], welche durch die Lebens-Geister, oder durch das Fluidum nerveum [Nervenflüssigkeit], wie es etliche nennen, das in denselben ist, beweget, aufgeblasen, und ausgedehnt werden, von den Organis sensoriis und sinnlichen Werkzeugen an, (welche durch die äußerlichen Objecta, durch Licht, Luft und andere subtile materialische Ausflüßungen der Dinge berühret werden,) bis in das Gehirn hinauf giengen, und sich bis dahin erstreckten, so daß diese Nerven und Fibren alle im Gehirne oben zusammen stoßen, und sich endigen. Daß aber dem also sei, kann ein jeder bei Anatomirung des menschlichen Hauptes mit seinen Augen wahrnehmen.

Die menschliche Seele hat aber auch, wie wir wissen, eine Kraft, sich der Dinge wiederum zu erinnern, welche sie zuvor als gegenwärtig gesehen, gehöret, gerochen, gefühlet, so daß ihr dieselben Dinge von neuem, obwohl etwas schwächer, und nicht in so lebhafter Gestalt vorkommen; wie denn auch deshalben unsere Imagination nur eine halbe Sensation [Sinneswahrnehmung] pfleget genennet zu werden. Folgentlich müssen diejenigen Fibren und Nerven, und die Lebens-Geister in denselben, obschon nicht in den Organis sensoriis [Sinnesorganen], wie bei der Sensation, doch oben im Gehirne von neuem, und schier auf[152] gleiche Weise, beweget werden, wie zuvor bei der ersten Sensation geschahe.

Und da wir uns bei Gelegenheit eines Dinges, so wir gegenwärtig mit den Sinnen wahrnehmen, vieler andern Dinge erinnern können, so nicht mehr gegenwärtig, und die wir doch auch ehemals gegenwärtig empfunden und wahrgenommen; so siehet man nicht, wie solche Recordation [Erinnerung] und Imagination bei der Seelen im Gehirne vorgehen könne, es sei denn, daß bei dem ersten Eindruck der gegenwärtigen Dinge im Gehirne einige Merkmale, Plicæ, Vestigia [Falten, Spuren] und Fußstapfen, müssen sein gemacht, und auch diese Plicæ, Vestigia und Fußstapfen so müssen sein connectiret, und an einander gehänget worden; so daß, wenn eine Plica und Merkmal von diesen beweget wird, das andere Merkmal, so damit verknüpfet, auch beweget werde, und also die Seele bei Erinnerung des einen sich auch des andern erinnern könne. Daß aber solche Plicæ, Vestigia, Fußstapfen und Merkmale zusammen verknüpft und an einander gehänget sind, kann freilich nirgends anders, als daher kommen, weil bei uns Menschen, wenn wir gegenwärtige Dinge vor unsern Augen haben, nicht nur dasjenige, worauf hauptsächlich unser Absehen gerichtet, die sinnlichen Werkzeuge berühret, und sich ins Gehirne eindrucket; sondern auch viel andere Dinge, so zugleich gegenwärtig, ohne daß wir insonderheit darauf Achtung geben, sich zugleich mit eindrücken. Z.E. da ich jetzt Gegenwärtiges dictire, sind vielfältige Dinge, die ich auf einmal zugleich wahrnehme; v.g. die Trummel, die ich höre, der schöne heitere Himmel, den ich sehe, das Reißen in meinem Arm, welches ich fühle, die Kälte in Beinen, da der Herbst nahe, das Buch, so auf dem Tische, das Kleid, so ich auf dem Leibe habe, und viel andere Dinge mehr. Wenn ich nun morgen, oder übermorgen bei Gelegenheit eines andern gegenwärtigen Dinges an eines von den heutigen gedenke, so kann ich mich leicht auch aller der andern Dinge erinnern, die ich jetzund erzählet habe.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 152-153.
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