Anno 1715
§ 130

[322] Montags nach Quasimodogeniti [1. Sonntag n. Ostern] besuchte ich die Frau D. Sinnerin, die mir schon viel große Wohltaten erzeiget, und längst gewünschet hatte, daß ich einmal zu ihr kommen möchte. Ich vergieng mich im Urteilen bei mir über einen vornehmen Mann allhier, auf welchen wir zu reden kamen, und sagte, daß er ein Mann von keiner Resolution wäre, und sein Lebtage nichts ausmachte. Und siehe, da ich nach Hause kam, erfuhr ich, daß er ihr naher Anverwandter sei. Darüber geriet ich in große Reue, Kränkung, und Furcht. Die Angst setzte mir dermaßen zu, daß ich gegen Abend nicht wußte, wo ich mich lassen sollte. Die Sache war von keiner Importanz [Wichtigkeit]; und doch kunte ich mein Herze nicht zur Ruhe stellen. Alles zitterte und bebete an mir; und, ob ich wohl vermutete, daß es großen Teils von meinem kranken Leibe herkommen möchte, so hielt ich es doch zugleich vor einen Vorboten einer großen Anfechtung. Angst, Schwermut, Traurigkeit und Zagen hielt die ganze Woche bei mir an: ich betete, weinete, gieng spazieren, es wollte alles nichts helfen. Sonntags drauf gieng ich mit Herr M. Gehren um die Vorstadt; ich war aber durch die ausgestandene Angst schon so entkräftet worden, daß, da ein Tambour mit der Trummel kam, und vor uns vorbei trummelte, ich mich beinahe auf die Erden setzen mußte, aus Furcht, ich möchte umfallen, weil ich nichts mehr aus Schwachheit vertragen kunte. Im Rückwege gieng er ins Georgien-Spital, und nötigte mich wider meinen Willen mit ihm hinein zu gehen; denn ich fürchtete die melancholischen Leute im Spital. Und siehe, es geschahe, was ich fürchtete. Wir waren kaum in Hof gekommen, so war ein Mann vom blöden Verstande da, der uns anpackte; wodurch denn, weil ich dergleichen Leute nicht vertragen kann, mein ängstliches Wesen vermehret wurde, so daß ich unter lauter Herzens-Bangigkeit nach Hause gieng, und immer umzufallen meinete. Nach der Zeit hat mir bei solcher Gelegenheit ein Gurt um den Leib gute Dienste getan, dergleichen ich aber zu solcher Zeit noch nicht hatte. Hätte ich so viel gewußt wie jetzund, so hätte ich nur mein Schnupftuch nehmen dürfen,[322] und solches fest um den Leib binden, oder eine Stürze [Wärmflasche] mir im Spital wärmen lassen, und mir auf den Leib legen; als welches hernach bei diesen und dergleichen Fällen mein ordentliches Haus-Mittel gewesen, wenn ich kein anders haben können; so würden die Spasmi sein gehindert und geschwächt, und der Weg nach Hause mir sein leichter gemacht worden.

Ich hatte voriges Jahr den Cursum philosophicum privatissimum einem Magister, und eines Rats-Herren Sohne gelesen; und dieser gieng nunmehr zu Ende, aber mit lauter Furcht und Zagen. In der Pneumatique sollte ich, wie ich sonst gewohnet war, wenn ich der Auditorum viel hatte, nach der neuern Philosophie zeigen, wie es zugehe, wenn die Phantasie bei den Menschen lædiret wird: woher es komme, wie es wohl eher geschehen, daß, wenn ein schwanger Weib, so eine schwache Imagination hat, einen rädern siehet, sie ein Kind auf die Welt bringet, dem Arme und Beine zubrochen; und andere seltsame Phænomena mehr, so von einer kränklichen Einbildungs-Kraft herkommen. Aber mit was vor Zittern, und Beben, und Stocken in der Rede solches geschehen, so daß ich immer dachte, ich müßte vom Stuhle fallen, ist nicht zu beschreiben. Ja, wenn ich auch sonst, so oft ich mit eben dieser Maladie behaftet gewesen, des Abends das Moral-Collegium hielt, so wußte ich kaum, wie ich aus der Stube auf dem langen Saale durch die Studiosos durchkommen sollte, und dankte Gott, wenn ich ohne umzufallen bis zu meinem Stuhle, der in der Mitte des Saales stund, hingelangte.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 322-323.
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