Anno 1717–1728
§ 140

[346] Von Anno 1717 an waren eilf Jahre vergangen, als eben dieselbe Plage von neuem, und nunmehro das dritte mal über mich kam. Aus dem Jahre 1728 kannst du leicht urteilen, was dazu zufälliger Weise Gelegenheit müsse gegeben haben. Da von Anno 1715 bis Anno 1720 nebst der großen Gemüts-Unruhe, so mich Anno 1717 betroffen, die Spasmi und Convulsiones mich lange genug gequälet, so gelangte ich wohl endlich sowohl in diesem Stücke zu meiner Gemüts-Ruhe, als auch zu mehrerer Gesundheit meines Leibes; allein es war noch ein Dorn in meinem Fuße übrig geblieben, und der war noch nicht aus demselben gezogen worden; und, da der Schmerz bisher durch andere Trübsalen war unterdrücket worden, so daß ich denselben nicht sonderlich gefühlet, so fieng er mir jetzund an wieder wehe zu tun, und zwar mehr, als er mir ehemals und zu andern Zeiten getan hatte. Ich habe anderswo schon geschrieben, daß ich meinem ärgsten Feinde diejenige Plage nicht wünschen, noch gönnen wollte, die derjenige hat, welcher malade en Religion, wie es die Franzosen nennen, oder krank an der Religion ist, wenn ich so reden mag; das heißt, der gewisse Lehr-Sätze heget, die er vor[346] wichtige Wahrheiten ansiehet, und weil er dieselben von großem Nutzen zu sein glaubet, daferne sie andern mitgeteilet würden, im Gewissen, und bei Verlust der Gnade Gottes sich höchst verbunden achtet, dieselben nicht länger geheim zu halten, sondern sie öffentlich vorzutragen, und sie mündlich, oder schriftlich der Welt zu communiciren, und doch wegen natürlicher Furcht aller der Unruhe, und der Übel, die er sich dadurch könnte zuziehen, davon immer zurücke gehalten wird, und solches stets von einer Zeit zur andern unter vieler Sorge und Kummer, Peinigung des Gemütes, und Gewissens-Angst, aufschiebet. Wenn diejenigen hitzigen Eiferer, die zuweilen auf eine unbarmherzige Weise mit denen umgehen, die nicht in allem ihrer Meinung sind, wüßten, wie einem solchen Menschen zu Mute, und was er vor ein armer elender, und geplagter Mensch sei, der nicht etwan aus Hochmut, und mit fröhlichem Mute über den andern herfähret, vielweniger die Eiferer, die anderer Meinung sind, im Herzen vor Narren, sondern sie vor tausend mal glückseliger, als sich selbsten, hält; so würden sie zuweilen gar anders mit ihnen verfahren, und mit ihnen, als armen, und recht elenden geplagten Menschen, viel gelinder umgehen. Denn obgleich dieselben zuweilen auch in ihren Schriften sich mutig, und beherzt anstellen, und auch wohl allerhand Sarcasmos brauchen, mit welchen sie die Sätze ihrer Gegner schlecht, falsch, und verächtlich zu machen suchen; so gehet ihnen solches doch nicht allemal von Herzen, sondern sehen solches aus einem neuen Irrtum ihres Verstandes nur vor ein Mittel an, ihren Schriften, so sie diesfalls herausgeben, Lauf zu machen, und den Leuten in ihre Hände zu bringen, die nicht gerne eine Schrift lange in ihren Händen behalten, und lesen, wenn sie nicht beherzt, und mutig abgefaßt, und mit allerhand scharfsinnigen Einfällen angenehm, und schmackhaft gemacht ist; dergleichen Schreib-Art auch wohl einige große Verteidiger unserer Kirchen selbst sich, wie bekannt, gar öfters bedienet haben.

Diese Bewandnis hatte es auch mit mir. Ich schrieb, wie bekannt, Anno 1728 einen Tractat: Einfluß der Göttlichen Wahrheiten in den Willen, und in das Leben der Menschen; nicht, als ob ich unser Religions-Systema vor so arg und böse angesehen, daß ich hätte glauben sollen, als ob man bei demselben nicht könne selig werden, und als ob es den einzeln Wahrheiten und Lehr-Sätzen nach, aus welchen es zusammen gesetzet, dem Worte Gottes zuwider wäre; sondern, weil es so schwer, sonderlich vor gemeine Leute, zu verstehen, und wegen des vielfältigen[347] Mißverstandes auch die edelsten Wahrheiten desselben bei viel tausend Menschen zum Mißbrauch, und zur fleischlichen Sicherheit ausschlügen; so hielt ich davor, ich wäre nach meiner Erkenntnis, und nach meiner Einsicht verbunden, ein solches Systema zu erwählen, und bekannt zu machen, bei welchem die Übung der Gottseligkeit, nach meinem Erachten, nicht so viel Gefahr liefe, und doch auch der Gnade Gottes in Christo kein Eintrag geschähe, welches ich in obgedachtem Buche vorgetragen. Die wenigen Sarcasmi und Stichel-Reden, die darinnen vorkommen, giengen mir auch eben nicht sonderlich von Herzen, sondern ließ sie nur da und dorten sparsam mit einfließen, damit das Buch nur nicht so gar trocken geschrieben sei, sondern etwan solche Leser bekommen möchte, die darwider schrieben, als von denen ich hoffte, ja mit recht sehnlichem Verlangen darauf wartete, daß sie meine Skrupel, so mich bisher gequälet, mir benehmen, und ich bei meinem Amte zur rechten Ruhe wieder gelangen möchte, die ich mir längstens gewünschet hatte.

Ja ich war so sehr eingenommen mit der Einbildung, als ob ich Gewissens halber solches zu tun verbunden [verpflichtet] wäre, daß ich auch die erschrecklichen Plagen, so ich in den vorhergehenden Jahren, insonderheit 1717 ausgestanden, meinem Stillesitzen und Stilleschweigen zuschrieb, und daß ich aus Menschen-Furcht bishero solche nötige Wahrheiten, und Einrichtung unserer christlichen Lehr-Punkte unterdrücket hätte. So sehr wir Menschen verbunden sind, dahin zu trachten, daß wir nicht unter die Zahl dererjenigen geraten, von welchen David den Ausspruch einst tat, daß sie nicht schaueten auf die Werke des Herrn, und nicht achteten auf das Werk seiner Hände [Ps. 28,5], so versehen wir es freilich sehr oft darinnen, daß wir uns im Urteilen übereilen, und unsere Übel und Trübsalen, und was Gott mit uns vornimmt, solchen Ursachen zuschreiben, denen wir sie nicht zuschreiben sollten. Und vielleicht war auch wohl bei mir dies ein Fehler und übereiltes Urteil, daß ich Anno 1726 und 1727 und kurz zuvor, ehe ich diesen Tractat schrieb, bei meiner schier gänzlich wieder erlangten Gesundheit, die geistliche Dürre in meiner Seele, wenn ich dieses Wort den Mysticis abborgen darf, und den Mangel der Andacht, und der guten geistlichen Bewegungen, die mein Herze sonst jederzeit häufig empfunden, welcher Mangel noch dazu mit einem eiteln, weltlichen, und allzusehr nach der Welt-Freude, und Welt-Lust schmeckendem Sinne, der mir oft recht bedenklich vorkam, als eine Ursache, und als eine Strafe meines Aufschubs ansahe, daß[348] ich noch immer trainiren und zaudern wollte, dasjenige zu schreiben, und der Welt mitzuteilen, zu dessen Erkenntnis der Mensch doch nicht von ohngefähr komme, sondern welches ihm gleichsam als ein anvertrautes Pfand, welches er wohl anlegen solle, mitgeteilet werde.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 346-349.
Lizenz: