Anno 1728
§ 146

[364] Hier muß ich mich nur beiläufig wundern über die unterschiedenen Humeure [Charaktere] der Menschen. Mancher hat große Missetaten und Himmel-schreiende Sünden auf seinem Herzen, und ist dabei verwegen, frech und beherzt, verläßt sich aufs Leugnen, und erschrickt vor keiner Gerichts-Stätte, ja weiß demjenigen noch alle Mühe und Verdruß zu machen, welcher wider ihn denunciret, oder ihn angeklaget, daferne er ihn nicht der geziehenen Tat überführen kann. Und ein ander, wenn er noch so ein gut Gewissen hat, kann wegen seines schwachen Leibes und Gemütes auch nicht die geringsten Troublen ausstehen, welche ihm von denen, die ihn anklagen, gemachet werden, und ist fähig wer weiß was zu tun, damit er nur allen Verdrüßlichkeiten entgehen, und zur Ruhe gelangen möge. Mein Haupt war[364] vom XXI. Sonntage nach Trinitatis bis folgenden Dienstag bis auf den höchsten Grad von Sorg und Furcht zerrüttet, und konnte meine Not nicht höher steigen; bis zu allem Glücke des Abends Gott mich zu rechter Zeit von dieser Gemüts-Qual erlösete. Denn da geschahe es eben, daß der Herr Consul regens [regierender Bürgermeister] M. Heinsium an mich abschickte, und bei mir zuhören ließ, ob ich etwan geneigt wäre zu resigniren. Ich hätte mich vor dem Jahre schon gegen ihn wegen Schwachheit meines Leibes erkläret, daß, wenn man mir auch nur 100 Rtlr. zur Pension bestimmen wollte, ich mein Amt aufgeben wollte. Wenn ich vielleicht noch des Sinnes, so könnte ich es jetzt mit mehrerm Vorteil tun, weil man mir wohl etwas mehr, als so was weniges bestimmen dürfte: es wäre noch ungewiß, wie meine Sachen laufen könnten, und was etwan vor ein Urteil und Rescript vom Hofe anlangen möchte: ich sollte es überlegen, und ihm den folgenden Tag frühe wieder Antwort sagen lassen. Man kann leicht erachten, in was vor unaussprechliche Freude und Frohlocken ich über solches Antragen gesetzet worden, zu einer Zeit, da ich vor Gemüts-Kummer mehr halb tot, als noch lebendig war. Ich überlegte, was zu tun. Ehe ich schlafen gieng, mußte ich zur Resolution schreiten, sonst hätte mir der Pro- und Contra-Streit im Gemüte in derselben Nacht vollends den Rest gegeben, und kein Auge zutun lassen, da ich ohnedem durch schlaflose Nächte ganz erschöpft war. Ich resolvirte demnach, die Offerte anzunehmen, und brachte noch denselben Abend die Resignation zu Papier und ins reine, und schickte sie des Morgens um 9 Uhr auf das Rathaus.

Der schreckliche Aufstand, der dadurch wider mich von den Leuten erreget wurde, als sie davon Nachricht bekamen, war eine neue Plage vor mich. Sie wollten mich zu Tode quälen wegen dessen, was ich getan: sie redeten mir ins Gewissen, vorgebende, daß ich es nimmermehr würde verantworten können. Und es wäre mir auch selbst bald angst darüber worden, so daß ich wünschte, daß ich mehr Bedenk-Zeit zu so einer wichtigen Sache mir ausgebeten hätte. Hätte ich auch vorher sehen können, daß meine Suspension von Kanzel und Catheder nicht sollte cassiret werden, sondern ich bis an das Ende meines Lebens suspendirt bleiben, wie ich diese Stunde noch bin, da mir doch so gar von hoher Hand war versprochen worden, daß ich wiederum Freiheit bekommen sollte zu predigen, und meine Collegia, wie vor diesem, zu lesen; so würde ich eher alles haben über mich ergehen lassen, als daß ich hätte resigniren sollen. Das war[365] wohl eine recht ängstliche Woche vor mich; insonderheit, wenn ich bedenke, was mir folgenden Sonntag darauf begegnete. Der Herr Consul regens wollte an demselben Tage nach der Vesper auch gern mündlich mit mir wegen meiner Resignation reden, welche ich schriftlich eingegeben hatte. Nun hatte ich die vorhergehenden Tage gar verdrüßliche Briefe von Dresden bekommen, und unter andern auch das Consilium [Rat] vernommen, das ein gewisser Theologus bei Hofe gegeben, man sollte mich zwischen vier Mauren einschließen. Diese Dinge hatten mein Gemüte so eingenommen und verwirret, daß, da mich der Herr Bürgermeister ließ zu sich entbitten, ich auf die kindischen Gedanken geriet, als wenn er mich würde arretiren, und in gefängliche Verhaft bringen lassen. Wie mir bei diesem Wahn zu Mute müßte gewesen sein, ist leicht zu erachten; und ob mich gleich mein eigener Famulus auslachte, und mir sagte, was es sein würde, so war ich doch nicht zu besinnen. Es waren Leute, die mich animirten, und antrieben, daß, ob ich gleich A gesaget, ich doch nicht B sprechen dürfte, sondern meine Resignation zurücke nehmen, und Ursachen genug, die mich darzu antrieben, vorwenden könnte; allein auch dies war hier was Curieuses, woran ich manchmal auch nach der Zeit gedacht habe, daß, wenn ich mir auch noch so sehr vorgenommen hatte, mich zu sperren, und auf die Hinter-Beine, so zu reden, zu treten, ich doch hernach gleichsam mit den Haaren von mir selbst von meinem Vorsatz abgezogen wurde, und alles unterschrieb, und eingieng, was man von mir begehrte. Es hätte kaum anders sein können, wenn es gleich Gottes ausdrücklicher Wille gewesen, daß ich mich so verhalten sollte, und Gott selbst beschlossen hätte, mich nicht länger im Amte zu lassen. Das, was ich auch hernach vernahm, zeigte mir, daß ich eben nicht übel daran getan.

Mittwoch nach dem III. Advent war der Tag, da in meinem Gemüte und Herzen etwas vorgieng, welches ich schier nicht anders, als eine ausdrückliche Versicherung von Gott ansehen kunte, daß meine zwanzig-wöchentliche Not und Anfechtung nunmehro zu Ende wären. Des Abends um 6 Uhr betete ich, und hatte meine Betrachtungen nach Gewohnheit; und obgleich vom 12. Julii an bisher mein Herze so harte, wie ein Stein, und so trocken, wie ein Stücke dürre Holz gewesen, und nicht die geringste Weichherzigkeit bei mir empfunden hatte; so weiß ich nicht, wie es jetzo zugieng, daß sich alles auf einmal änderte, und ob ich mir selber, oder ob mir Gott solchen ausnehmenden Mut machte. Ich fieng vor gutem Mute an zu jauchzen, daß[366] meine Not ein Ende hätte, und gieng getrost, und mit aller guten Hoffnung des Abends um 7 Uhr einem hohen Minister [Geistlicher] aufzuwarten, der meine Freude noch vermehrte, indem er mich versicherte, daß nun alles aus wäre, und ich weiter nichts zu besorgen hätte, und sollte ich nur eine Supplique [Gesuch] aufsetzen, und selbe ihm zuschicken, so sollte meine Suspension aufgehoben, und mir Collegia wieder zu lesen die Freiheit gegeben werden. Und ich wünschte, daß ich solches getan, und mich nicht die Meinung einnehmen lassen, als wenn es mit dieser Sache keine Schwürigkeit haben würde, und ich solches gar wohl bis auf Ostern aufschieben könnte, bis ich das begehrte Scriptum würde eingesendet haben, welches ich auch demselben in der Jubilate-Messe eingehändiget.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 364-367.
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