Der Kopenhagener Kongreß

Am 29. März 1883 sollten wir in Kopenhagen zusammentreten und zwar im Vereinshause der dänischen Parteigenossen. Am 4. Januar forderte der »Sozialdemokrat« zur Wahl der Delegierten auf.

Der Ort des Kongresses wurde den Delegierten auf besonderem Wege mitgeteilt. Obwohl außer den Delegierten noch viele andere Leute den Ort des Kongresses erfuhren, wurde die preußische Polizei doch vollkommen hinters Licht geführt. Der »geniale« Polizeirat Krüger, damals die Seele der politischen Polizei in Preußen, meinte wie viele andere Leute, der Kongreß würde »natürlich« in der Schweiz stattfinden und dirigierte deshalb eine Wolke von Spitzeln nach der Schweizergrenze, wo sie sich von Mülhausen bis Lindau ausbreitete. Gerade an dem Tage, an dem wir uns in Kopenhagen versammelten, schrieb die dortige bürgerliche Presse, daß »soeben« der Kongreß der deutschen Sozialdemokratie in Zürich zusammengetreten sei.

Wir Abgeordnete fuhren auf unsere Reichstagsfahrkarten und doch merkte die preußische Polizei nichts, obwohl die Nummern der Karten damals auf der Eisenbahn sehr sorgfältig notiert wurden. In Kiel bestieg ich den Postdampfer, der mich nach Korsör bringen sollte, von wo es dann per Bahn nach Kopenhagen ging. Es war meine erste größere Meerfahrt. Ich dachte an die Seekrankheit und glaubte ihr vorzubeugen, indem ich mir ein Beefsteak und eine Flasche Bordeaux zu Gemüte führte. So lange wir durch die Kieler Bucht fuhren, hielt das auch vor. Als wir aber auf die offene See hinauskamen und das Schiff zu stampfen und zu schlingern begann, stellte sich die Seekrankheit ein, welche mir den Genuß der Seefahrt verdarb, die an dem sonnigen Tage sonst so schön gewesen wäre. Das Beefsteak opferte ich den Möven, die unverdrossen das Schiff über das Meer begleiteten. Mein Freund Grillenberger, bei dem die Seekrankheit den höchsten Grad erreichte, lag in einer Ecke und stöhnte: »Grüßt meine Greth, ich glaub', ich seh' sie nimmer!« Eine sehr hübsche dänische Dame wollte sich halb totlachen über die Grimassen, welche die seekranken Passagiere schnitten, aber sie wurde hart dafür gestraft, indem ein Seekranker sein Innerstes über sie ausströmte, als sie die Kajütentreppe emporstieg.

Kopenhagen ist eine prächtige Stadt, und ich kam aus der Bewunderung gar nicht heraus. Die schönen Schlösser und öffentlichen Gebäude, der Hafen mit seinem Mastenwald, die Denkmäler, das Thorwaldsenmuseum, der Hafenplatz, wo mehrere hundert eroberte Geschütze jeglichen Kalibers standen, und drüben über dem Sund die blauen Berge Norwegens ich konnte mich nicht satt sehen. Besonders gefiel mir das Schlößchen[53] Rosenborg mit seinen historischen Sammlungen; dort betrachtete ich lange ein Porträt des närrischen Karl XII. von Schweden, aus dem man die Absonderlichkeiten dieses Abenteurers wohl herauslesen konnte. Als ich mich in die Waffensammlung vertiefte, kam Bebel dazu und meinte, es sei gut, wenn es unter uns auch Leute gäbe, die sich im Kriegswesen umschauten. Er wußte, daß ich kriegsgeschichtliche Studien trieb.

Nicht weniger gefiel mir die Bevölkerung. Man sah viel imposante Männergestalten und außerordentlich viel schöne Frauen, mehr große als zierliche. Die Dänen erschienen freundlich, liebenswürdig und gastfrei, und ich bedauerte tief die alte Gegnerschaft zwischen Dänen und Schleswig-Holsteinern. Im geselligen Leben gab es einige bemerkenswerte Züge; so sah man in jeder Straße eine Wirtschaft, wo angeschrieben stand, daß Damen auch allein da verkehren könnten. Sonst sah man in den Wirtschaften die Gäste meist gruppenweise zusammenspeisen; es fanden sich da gewöhnlich vier, sechs oder acht Leute zusammen, die sich sonst gar nicht zu kennen brauchten, aber gemeinsam ein Menu aufstellten, das dadurch mannigfaltiger wurde. Bei den Mahlzeiten trank man gewöhnlich zwischen den Gängen einen Schnaps, der aber nicht so schädlich war, wie der preußische Kartoffelfusel, denn es war reiner Kornbranntwein (Hobro). In Dänemark ißt man ziemlich fett; daher das Bedürfnis nach einem Schlückchen Schnaps. So war es damals; wie es infolge der antialkoholischen Agitation jetzt geworden, weiß ich nicht.

Unter den dänischen Parteigenossen fand ich interessante Leute, namentlich Holm, welchen man den dänischen Bebel nannte, und Hördum, vor einigen Jahren verstorben, der mir Kopenhagen zeigte. Die dänische Sozialdemokratie fühlte sich als Macht in dem kleinen Staate mit seinen politischen Freiheiten. Als wir in das schöne und große Vereinshaus in der Römersgade eingeführt wurden, sagten uns die Parteigenossen Kopenhagens mit Stolz, daß ihr Haus ihr Eigentum sei und in diesem die Polizei »nix to seggen« habe.

Ich wohnte mit vielen anderen Parteigenossen in dem eleganten Jernbahn-Hotel1, wo die Kellner deutsch sprachen. Besonders imponierte mir, daß sich in den einzelnen Wirtschaftsräumen stets eine Art Samowar mit heißem Wasser befand, um welches Gefäß sich lockend alle Essenzen für die beliebten nordischen Getränke gruppierten; schwedischer Punsch, dänischer Punsch. Grog usw. konnte da jederzeit hergestellt und gegen Erlegung einer mäßigen Pauschaulsumme in beliebigem Quantum genossen werden, gerade wie man im Elsaß zur französischen Zeit im Herbst für einen Franken à discrétion (beliebig viel) neuen Wein trinken konnte.

Die dänische Polizei schien zunächst unsere Anwesenheit nicht zu bemerken, oder sie tat wenigstens so, als wüßte sie nichts. Darum gingen unsere Verhandlungen in dem schönen großen Saale des Vereinshauses[54] zunächst ganz ungestört vor sich. Sechzig Delegierte waren zusammengekommen, welche hier der in Deutschland tobenden Reaktion eine trotzige Antwort gaben, und zwar einstimmig. Es wurde beschlossen:

»Der Kongreß spricht sich entschieden gegen jederlei Nachgiebigkeit gegenüber den uns verfolgenden Parteien, sowie gegen jede auf die Nachsicht der Behörden spekulierende Rücksichtnahme aus und fordert ein rücksichtsloses Vorgehen der Partei.«

Ferner wurde beschlossen:

»Der Kongreß erklärt, daß er in bezug auf die sogenannte Sozialreform im Deutschen Reich weder an die ehrlichen Absichten, noch an die Fähigkeit der herrschenden Klassen – nach deren bisherigem Verhalten – glaubt, sondern der Überzeugung ist, daß die sogenannte Sozialreform nur als taktisches Mittel benützt wird, um die Arbeiter vom wahren Wege abzulenken.2 Der Kongreß erklärt es aber für die Pflicht der Partei, resp. deren Vertreter in den Parlamenten, bei allen auf die ökonomische Lage des Volkes gerichteten Vorschlägen, gleichviel welchen Motiven sie entspringen, die Interessen der Arbeiterklasse energisch wahrzunehmen, selbstverständlich ohne auch nur einen Augenblick auf die Gesamtheit der sozialistischen Forderungen zu verzichten.«

Alsdann wurde der Fraktion die Leitung der nächsten Reichstagswahlen übertragen und beschlossen, daß nur solche Kandidaten aufgestellt werden sollten, welche das Parteiprogramm in allen Punkten anerkennen und sich verpflichten, »sich an allen durch die Gesamtbeschlüsse der Parteivertretung herbeigeführten Aktionen zu beteiligen«.3

Während dieser Verhandlungen waren zahlreiche amerikanische Blätter eingetroffen, welche lange Nekrologe für Bebel enthielten, da in Amerika die Nachricht von Bebels Tod verbreitet worden war. Die Nekrologe erregten viel Heiterkeit, und man prophezeite dem totgeglaubten Bebel nach altem Glauben ein langes Leben, was auch eintraf, denn er lebte noch dreißig Jahre.

Wegen einer in Mannheim vorgekommenen recht ärgerlichen Geschichte wurde beantragt, bei Stichwahlen, an denen kein Sozialdemokrat beteiligt sei, sich der Abstimmung zu enthalten. Diesen Antrag hielt ich, namentlich unter dem Sozialistengesetz, für gänzlich unangebracht, denn es konnte uns doch nicht gleichgültig sein, ob ein Anhänger oder ein Gegner des Sozialistengesetzes in den Reichstag kam. Bei dieser Gelegenheit stieß ich mit Vollmar zusammen, der für den Antrag war, und wir bekomplimentierten uns, wie es die Erhitzung der Zeit auch bei gegenseitigem persönlichen Wohlwollen oft mit sich brachte. Vollmar warf mir »reinen Parlamentarismus« vor, während ich entgegnete. Vollmar wolle Robespierre nachahmen, der sich durch einen himmelblauen[55] Frack sich von den dunkelblauen Fräcken seiner Kollegen abhob; so wolle sich Vollmar durch einen röteren Frack abheben.

Ich beantragte über den Antrag namentlich abzustimmen, weil ich wußte, daß damit die Ablehnung eher zu erreichen sei, als beim Handaufheben. In der Tat wurde der Antrag mit 34 gegen 24 Stimmen abgelehnt.

Die Verhandlungen waren manchmal hitzig, aber im wesentlichen sachlich, und wir trennten uns am Schlusse in voller Einmütigkeit.

Am Abend des 31. März gaben uns die dänischen Parteigenossen im großen Saal ihres Hauses ein imposantes Festbankett. Der Saal war mit zahlreichen Fahnen geschmückt und auch sonst prächtig dekoriert. Eine Rednerbühne ging durch den Saal, wie die Kommandobrücke eines Schiffes über dessen Verdeck. Verschiedene Redner sprachen von hier herab, Massengesänge und Deklamationen wechselten ab, und es herrschte eine gewaltige Begeisterung ob des unerschütterlichen Kampfesmutes und der Zuversicht der deutschen Sozialdemokratie.

Gewaltige Punschterrinen wurden herbeigeschleppt. So mancher deutsche Sozialdemokrat konnte die schweren nordischen Getränke nicht vertragen, und man sah nach Mitternacht verschiedene »Leichen«, über welche wir den Mantel christlicher Liebe decken wollen.

Inzwischen aber war draußen in der politischen Welt allerlei vorgegangen. Henri Rochefort hatte irgendwie erfahren, daß der Kongreß der deutschen Sozialdemokratie in Kopenhagen zusammengetreten sei, und hatte dies in fetten Lettern an der Spitze seines Blattes publiziert. Alsbald erhob sich die Wolke der Polizeispitzel, die an der schweizerischen Grenze niedergegangen war, wiederum und flog nordwärts. Auch wurde sofort von Berlin aus ein Druck auf die dänische Regierung ausgeübt, dessen Wirkung wir gleich zu verspüren bekamen. Am anderen Morgen in aller Frühe wurde in sämtlichen Gasthäusern nach Delegierten des Kongresses geforscht und wurden ihre Persönlichkeiten von der Polizei festgestellt. Dies ergab einige Mißhelligkeiten, da sich verschiedene Delegierte unter fremdem Namen eingeschrieben hatten. Den meisten Aufenthalt verursachte der dänischen Polizei ein schwäbischer Delegierter, aus dem nichts herauszubringen war, als: »I hoiß Schwitzgäbele!« Wie dieser Name wohl nach Berlin berichtet worden sein mag!

Bei mir klopfte es um halb sechs Uhr früh; ich wollte schlaftrunken erst nicht antworten, aber da hieß es draußen in gebrochenem Deutsch: »Machen Sie auf, es sind die Behörden!« Ich öffnete, und es kamen zwei Beamte, welche ihre Überröcke aufknöpften und auf eine Blechmarke verwiesen, die sie trugen. »Wer sind Sie? Was tun Sie hier? Gehören Sie zum sozialdemokratischen Kongreß?« lauteten die Fragen. Ich hatte meinen richtigen Namen eingetragen und legitimierte mich auch mit meiner Reichstagskarte, worauf die beiden abzogen. Nebenan gabs einen großen Disput mit Bebel, der einen anderen Namen eingetragen hatte und erst darauf bestand, daß er nicht Bebel sei, es schließlich aber zugab.[56]

Die dänische Polizei war sehr höflich, aber die Wirte waren wütend über die Störung, welche heftige Proteste der nicht sozialistischen Gäste hervorrief. Denn diese waren natürlich alle aus dem Bett getrieben und verhört worden. Als ich zum Frühstückszimmer ging, mußte ich eine förmliche Lästerallee passieren. Der Wirt wies uns zwar nicht weg, würdigte uns aber keines Blickes mehr.

Es hieß, die dänische Regierung sei stark verschnupft wegen unserer engen Verbindung mit den dänischen Parteigenossen; dann hieß es, der demokratische Abgeordnete Brandes, der Bruder des bekannten Schriftstellers Georg Brandes, habe seine Vermittlung bei der Regierung angeboten. Indessen teilte Bebel bei Beginn der Sitzung mit, daß die dänische Polizei, entsprechend dem von Preußen ausgeübten Druck, nunmehr uns aufsässig werde und zur Abreise dränge. So sah man sich gezwungen, die Arbeiten des Kongresses noch am gleichen Tage zu schließen, was natürlich nicht ohne Überstürzung geschehen konnte. Die Haltung der Fraktion und die Haltung des »Sozialdemokrat« wurden vom Kongreß gebilligt. Die kleine Differenz zwischen Hasenclever und mir einer- und der Redaktion des »Sozialdemokrat« anderseits wurde nach unseren Erklärungen für erledigt erklärt, nachdem der Vertreter der Pariser deutschen Sozialdemokraten vergeblich versucht, die Sache von neuem aufzubauschen.

Am 14. März war Karl Marx gestorben. Der Kongreß beschloß, sein Andenken in gebührender Weise zu ehren. Darauf trennten wir uns.

Ich blieb noch einige Tage in Kopenhagen und sah mir das Thorwaldson-Museum an, wohin mich der dänische Parteigenosse Hördum begleitete. Am Abend reiste ich ab und zwar fuhr ich quer durch Seeland wieder nach Korsör, da man hier schon allerlei Gerüchte von politischen Attacken auf die heimkehrenden Delegierten vernahm, so beschloß ich auf Hasenclevers Anraten mit ihm nicht direkt nach Kiel zurückzufahren. Wir fuhren von Korsör über Nyborg und Odense durch Fühnen und erreichten bei Vamdrup die schleswig-holsteinische Bahn, die uns nach Kiel brachte.

Ich ging in den Laden eines mir bekannten Parteigenossen, der mich aufgeregt empfing. »Was«? rief, er, »Sie laufen noch frei herum?« Darauf wurden von herzukommenden Parteigenossen neue Gerüchte gemeldet; es sei eine große Polizeiaktion im Gange, und schon viele Verhaftungen seien vorgenommen. Heinzel, der Delegierte von Kiel, sei mit dem Schiff von Korsör gekommen und gleich am Ladungsplatz von der Polizei in Empfang genommen worden. Müller, der Delegierte von Darmstadt, habe gerufen: »Na, adieu Heinzel!« und sei daraufhin auch gleich von der Polizei gepackt worden. Ich ging nach dem Bahnhof, wo ich einige Delegierte fand, denen ich diese Gerüchte mitteilte, ohne sie zu verbürgen. Darauf wurde ich von einem Parteigenossen an einen alten Schuhmachermeister gewiesen, wo ich mich einstweilen verborgen halten sollte. Ich fand einen prächtigen alten Sozialisten vor, der von[57] den Jahren 1848 und 1849 sehr interessant zu erzählen wußte. Er ließ es sich nicht nehmen, mir eine Flasche Wein vorzusetzen, die er, wie er sagte, für einen besonderen Zweck aufgespart hatte. Ich blieb mehrere Stunden bei ihm; dann wollte ich ihn nicht länger belästigen und begab mich in ein vornehmes Hotel, wo ich sicher sein konnte, von der Polizei an der Tafel nicht gesucht zu werden. Alsdann beschloß ich, mich nach dem Dorfe Neudorf bei Eutin zu begeben und dortige Bekannte, die auch mit Geib bekannt gewesen, um einen Unterschlupf für einige Tage zu bitten. Ich stieg nicht in Kiel, sondern auf der nächsten kleinen Station ein und entging so der schnüffelnden Polizei.

In Neudorf ward ich von dem mir befreundeten Gutsbesitzer und dessen Familie sehr gut aufgenommen und blieb zwei Tage dort, wobei ich auch Gelegenheit hatte, die Stätte zu sehen, wo der von mir so sehr verehrte Dichter Johann Heinrich Voß so lange gewirkt und seine »Louise« geschrieben hatte. In Heidelberg hatte ich sein Grab besucht.

Als meine lieben Gastfreunde mich zur Bahn brachten, sagte eine der ledigen jüngeren Damen des Hauses mit echt holsteinischer Offenheit:

»Wenn Sie wieder kommen, können Sie auch Freunde mitbringen, aber unverheiratete.«

Ich versprach mein möglichstes zu tun, bin aber leider nicht mehr in jene Gegend gekommen.

Unbehindert passierte ich auf der Rückreise Hamburg und Harburg, von wo ich ausgewiesen war, verließ dort aber den Bahnhof resp. den Zug nicht. Erst in Frankfurt am Main, wo ich haltmachte, erfuhr ich, was in Wirklichkeit vorgegangen war. Ich hatte gut getan, zeitig aus Kiel zu verschwinden und mich »seitwärts in die Büsche« zu schlagen. Denn auf den Bahnhöfen von Kiel und Neumünster waren die Parteigenossen Auer, Bebel, Dietz, Frohme, Heinzel, Müller, Ulrich, Viereck und Vollmar verhaftet worden.4 Bezüglich der darunter befindlichen Reichstagsabgeordneten waren die Verhaftungen ungesetzlich resp. verfassungswidrig, da der Reichstag nicht geschlossen, sondern nur vertagt war. Alsbald stellte die sozialdemokratische Fraktion einen Antrag auf Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen die Polizeibeamten, welche die Übergriffe begangen hatten. Der Reichstag verwies den Antrag an die Geschäftsordnungskommission. Nach langen Verhandlungen beschloß der Reichstag 1885, daß die Verhaftungen verfassungswidrig sei, aber weiter geschah nichts, und die Polizei ging frei aus. Das paßte zum ganzen.

Es fanden sich in Sachsen Staatsanwälte, welche die in Kiel und Neumünster verhafteten Sozialdemokraten wegen »Geheimbündelei« anklagten. Sie wurden vom Landgericht Chemnitz freigesprochen, aber das Reichsgericht hob dies Urteil auf und verwies die Sache an das[58] Landgericht Freiberg, welches denn auch eine Verurteilung aussprach. Es wurden Strafen von sechs bis zu neun Monaten verhängt und zwar auf Grund von § 129 des Reichsstrafgesetzbuches, welches die Teilnahme an einer Verbindung, zu deren Zweck und Beschäftigung es gehört, Maßregeln der Verwaltung oder Vollziehung von Gesetzen durch ungesetzliche Mittel zu verhindern, mit Gefängnis bis zu einem Jahre bedroht. Die Existenz einer solchen Verbindung war zwar nicht erwiesen, aber das Gericht setzte sie voraus. Auf dem Kongreß von Kopenhagen war über den Stand des »Sozialdemokrat« berichtet und dessen Haltung gebilligt worden. Durch diese »konkludenten Handlungen«5 war dem Gericht bewiesen, daß die Angeklagten zu der nicht bewiesenen geheimen Verbindung gehörten, und darum wurden sie verurteilt.

Das Freiberger Urteil bewirkte, daß eine Flut von Geheimbundprozessen hereinbrach. Im ganzen wurden über 80 solcher Prozesse angestrengt, die meist mit Verurteilung endeten. Der größte Prozeß dieser Art war der zu Elberfeld, wo 87 Personen angeklagt waren. Die Justiz erreichte in diesen Zeiten den Höhepunkt ihrer Schneidigkeit. Welchen Scharfsinn die Herren Juristen bei der Verfolgung der sozialistischen Agitation aufboten, kann man ersehen aus der Art, wie man den Abonnenten des »Sozialdemokrat« beizukommen suchte. Das Abonnement war nicht strafbar, aber man half sich damit, daß man in einem Abonnenten einen »Anstifter« zur Verbreitung des verbotenen Blattes erblickte und diese »Anstiftung« bestrafte, während man dem im Ausland lebenden Verbreiter selbst (der Expedition des Blattes) nichts anhaben konnte. Solcher Scharfsinn wäre wohl besser auf die Entdeckung der Urheber wirklicher Verbrechen verwendet worden, wo die Justiz so oft versagt.

Heben wir noch einiges heraus!

Ein Zigarrenarbeiter namens Kückelhahn war nach der Meinung des Gerichts in 26 Fällen überführt, den verbotenen »Sozialdemokrat« verbreitet zu haben. Das Maximum der Strafe für die Verbreitung einer verbotenen Druckschrift betrug nach dem Sozialistengesetz sechs Monate Gefängnis. Der Staatsanwalt meinte, er könne für die 26 Fälle eigentlich dreizehn Jahre Gefängnis beantragen, er wolle sich aber mit sechs Jahren begnügen. Das Gericht erkannte auf dreieinhalb Jahre.

Zu den schönsten Blüten der damaligen Justiz gehörten die Diätenprozesse, welche Bismarck gegen etwa dreißig fortschrittliche und sozialdemokratische Abgeordnete anstrengen ließ. Er wollte erst die Diäten, welche die Abgeordneten aus der Partei-oder Fraktionskasse empfingen, als, »Bestechungsfonds« aufgefaßt und die Empfänger entsprechend verfolgt wissen. Aber hier versagten die Staatsanwälte. Endlich fand man im Allgemeinen Preußischen Landrecht zwei Paragraphen, welche den Fiskus berechtigen sollten, den verbotenen Gewinn aus einem »Geschäft«, das gegen ein ausdrückliches Verbotgesetz verstößt, zurückzufordern.[59] Dabei stützte man sich auf den Artikel 32 der Verfassung, der damals lautete: »Die Mitglieder des Reichstages dürfen als solche keine Besoldung oder Entschädigung beziehen.« Die Gerichte weigerten sich erst, den Bezug von Parteidiäten als ein »Geschäft mit verbotenem Gewinn« aufzufassen. Aber das Oberlandesgericht Naumburg ging endlich mit schönem Beispiel voran, verschiedene Abgeordnete wurden verurteilt, und das Reichsgericht gab seine Bestätigung. Den Verurteilten – es befanden sich mehrere Sozialisten darunter – wurden die Diäten abgepfändet. Zu diesem Zwecke erschien auch ein Exekutor an der Bahre des verstorbenen sozialistischen Abgeordneten für Breslau-West, J. Kräcker.

Ein famoses Kulturbild!

Dieses Vorgehen Bismarcks sollte das Ansehen der fortschrittlichen Abgeordneten schädigen und die sozialdemokratische Parteikasse schwächen. Es erregte aber nur den stärksten Unwillen in weiten Kreisen, auch außerhalb der betroffenen Parteien, namentlich da Bismarck zu gleicher Zeit sich das Gut Schönhausen schenken ließ.

Beiläufig sei erwähnt, daß die Diäten, welche von der Partei an die Abgeordneten gezahlt wurden, den Verhältnissen entsprechend sehr niedrig waren. Die von uns deren bedürftig waren, hätten der Partei gerne diese Ausgabe erspart, aber es ging nicht anders. Die Diäten hatten mit drei Mark pro Tag begonnen und waren um diese Zeit auf fünf Mark pro Tag gestiegen; dazu kam eine kleine Wohnungsentschädigung. Wie andere mußte auch ich während der Session eifrig journalistische Arbeiten verrichten, um zu den Diäten und zum Haushalt daheim etwas zuschießen zu können. Nach einer Berechnung, die ich einmal aufgestellt habe, beliefen sich die Zuschüsse, die ich im Laufe der Jahre zu den Diäten zur Bestreitung meines Aufenthalts in Berlin geleistet, auf mehr als zwölftausend Mark.

Dabei hatten Großkapitalisten, wie die »Könige« Heyl und Stumm mit ihren Millioneneinkommen die Liebenswürdigkeit, uns die kümmerlichen Diäten als »eine ungerechte Belastung des Volkes« vorzuhalten.[60]

Fußnoten

1 Eisenbahnhotel.


2 Die etwas mangelhafte Fassung dieser Resolution erklärt sich aus der Eilfertigkeit, die am Schlusse des Kongresses, als die Resolution vorgelegt wurde, geboten war, wie man gleich sehen wird.


3 Gegen den letzten Satz verstieß später Rittinghausen.


4 Der Polizei war dabei ein »Entwurf einer geheimen Organisation der Sozialdemokratie« in die Hände gefallen, ein von Kokosky verfaßter Bierulk, mit dem sich verschiedene Staatsretter ernsthaft beschäftigten.


5 Kokludent soviel wie beweiskräftig, schlußfolgernd.


Quelle:
Blos, Wilhelm: Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten. 2 Bde, 2. Band. München 1919, S. 61.
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