Die Achtundvierziger

Unter den alten Demokraten war die bedeutendste und interessanteste Erscheinung ohne Zweifel Ludwig Pfau. Für diesen Mann hatte ich schon früher die lebhafteste Sympathie empfunden. Nun war es mir eine hohe Freude, ihm persönlich nähertreten zu können.

Wer dem engeren Freundeskreis des demokratischen Dichters und gefürchteten Kunstrichters angehört hat, der wird dessen interessante Persönlichkeit, eine der letzten originellen Erscheinungen an der 1848er Revolutionsepoche, nicht so bald aus dem Gedächtnis verlieren. Über zwanzig Jahre sind verflossen, seitdem er aus dem Leben geschieden. Wenn ich mich in eines seiner Werke vertiefe, so denke ich im Augenblick gar nicht daran, daß der alte Pfau schon lange gestorben ist, und wenn ich mit einem seiner Sätze nicht einverstanden bin, so ist mir, als müßte seine breite Gestalt mit dem mächtigen Kopfe, der hohen und breiten Denkerstirn und den in der Erregung sprühenden Augen zur Tür hereinkommen,[183] mit der nervigen Faust auf den Tisch schlagen und mit mir einen heftigen Disput über bürgerliche Demokratie und Sozialdemokratie beginnen, wie er so oft getan. Zu einem befriedigenden Abschlusse kamen wir dabei natürlich nie, da keiner den anderen überzeugen konnte und schließlich sich jeder hinter die Wälle und Mauern seiner Prinzipien zurückzog.

Pfau kam mit seinen Anschauungen der Sozialdemokratie ziemlich nahe, aber er hat sich nie zu derselben bekannt, wie man in Norddeutschland manchmal geglaubt hat. Er setzte einen gewissen Stolz darein, der Partei treu zu bleiben, deren Banner er von Jugend auf gefolgt war, wenn er mit seinen sozialökonomischen Anschauungen auch manchmal weit über deren Programm hinausging. Er war von einem heftigen, oft vulkanisch hervorbrechenden Widerwillen gegen den modernen Kapitalismus erfüllt, womit er oft die Spießbürger, namentlich schwachnervige Demokraten, erschreckte. Das Wachstum der Sozialdemokratie ward von ihm als Gegenstoß auf die unheilvollen Wirkungen des Kapitalismus sympathisch begrüßt, aber er verkannte die sozialdemokratische Bewegung in einem wesentlichen Punkte. Er meinte, es sei dieser nur darum zu tun, einen neuen Produktionsapparat zu konstruieren, der täglich so und so viel Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände zum reichlichen Unterhalt der Gesamtheit auswerfe, und er befürchtete darin eine Vernachlässigung der geistigen Interessen. Er verstand es indessen, seinen Irrtum mit Geist zu motivieren, was viele, die ihm nachplapperten, nicht verstanden. In seinen letzten Jahren schien er übrigens von diesem Irrtum zurückgekommen zu sein.

Proudhon, mit dem er befreundet war und dessen Werke er zum Teil übersetzt hat, scheint ihn stark beeinflußt zu haben. Dagegen goß er oft die volle Schale seiner ätzenden Kritik über seinen Landsmann Schäffle aus und bedauerte, daß er nicht früher daran gedacht, diesem den »Deckel vom Hafen zu tun«, wie einer seiner Lieblingsausdrücke lautete.

Von seinen Liedern und Gedichten sind manche stark sozialistisch gefärbt und beleuchten den grellen Gegensatz zwischen der Üppigkeit des Reichtums und dem Elend der Arbeit. Diese Gedichte machten seinen Namen bei den sozialistischen Arbeitern bekannt, bei deren Festlichkeiten sie oft vorgetragen wurden. Manchmal arbeitete er auch ein Gedicht für einen solchen Anlaß besonders um. Auch im dem 1848 von ihm herausgegebenen vorzüglichen Witzblatt »Eulenspiegel« zeigte er, wie in der eben erkämpften bürgerlichen Freiheit die Klassenvorurteile unberührt geblieben waren. Er schilderte in drastischer Weise einen Vorfall in Weil im Dorf bei Stuttgart. Dort hatte man, während Württemberg von der Tauber zum Bodensee von Freiheitsliedern widerhallte, einen armen Handwerksburschen wegen »Fechtens« eingesperrt. Der Gefangene hing seine zerrissenen Hosen zum Fenster hinaus und rief unaufhörlich: »Hier ist die deutsche Freiheit zu sehen!«, bis der Büttel diesen unbequemen Sozialphilosophen[184] zum Schweigen brachte. Diese Illustration der neuen Freiheit machte indessen viel Aufsehen und blieb nicht unbemerkt im Schwabenland und weiterhin.

Der »rote Pfaule« wollte 1848 bei einer großen Versammlung in Göppingen die Republik proklamieren und wurde mit Mühe davon abgehalten. Der Haß seiner Gegner war so groß, daß man die stets reaktionär gesinnten Weingärtner gegen ihn aufhetzte, um ihn durchzuprügeln. »Er empfing«, so heißt es in einer Stuttgarter Korrespondenz des »Grenzboten«, von 1848, »den Besuch von sechs Weingärtnern, Schildhaltern der Stuttgarter Loyalität, welche ihm sowohl wie seinem Mobiliar eine vollständige Zerschlagung androhten, falls er seinem Witz gegen hohe Herren nicht eine bessere Wendung gebe.«

Diese Zensur fand indessen allgemeine Mißbilligung.

Selbstverständlich griff die Hand des Staatsanwalts mehr als einmal nach einem solchen Schriftsteller. Pfau wurde schon 1849 genötigt, Deutschland zu verlassen, worauf er wegen seiner Teilnahme an der revolutionären Bewegung zu 21 Jahren Zuchthaus in contumaciam verurteilt wurde. Er brachte 14 Jahre im Exil zu, hielt sich aber inzwischen einmal unerkannt als »Engländer« in Wildbad auf. In Paris und Brüssel arbeitete er sich zu dem unvergleichlichen Kunstkenner empor, als der er heute noch allgemein geschätzt wird. Lange Jahre vor anderen hatte er die Bedeutung Millets erkannt, von dessen Werken er sagte: »Weder Götter noch Könige werden vor diesen Bauern bestehen«. 1864 amnestiert, kehrte er nach Württemberg zurück und wirkte hier für die Demokratie, namentlich als Redakteur des »Beobachter«. Bald zog es ihn wieder nach Paris, von wo er 1870 als Deutscher ausgewiesen wurde. Auf die vom Reiche dafür ausgesetzte Entschädigung verzichtete er. In der »Frankfurter Zeitung« nahm er mutig die besiegte Kommune von Paris gegen die unerhörten Verleumdungen in Schutz, die man über diese Revolution ausgoß. 1876 griff er das »preußische Regiment« in einem Bericht über die Münchener Kunstausstellung heftig an und die Folge war, daß Bismarck mit dem gesamten preußischen Ministerium Strafantrag gegen ihn stellte. Es machte bedeutendes Aufsehen, als der inzwischen weithin bekannt gewordene Autor der »Freien Studien« vor der Frankfurter Strafkammer erschien. Die Spannung des zahlreichen Auditoriums, als man den Angeklagten aufrief, hat am besten Friedrich Stoltze geschildert:


»Und wie man steht und wie man lauscht,

Teilt sich die Flut empor,

Aus den bewegten Massen rauscht

Ein prächt'ger Pfau hervor,«


Hier hielt er jene meisterhafte Verteidigungsrede, die eine äußerst scharfe Kritik des Bismarckschen Regimes enthielt und weithin Widerhall fand.[185] Aber den Redner selbst konnte sie nicht vor der Verurteilung retten; Pfau erhielt drei Monate Gefängnis zudiktiert, die er in Heilbronn absitzen mußte.

Zur Zeit des Sozialistengesetzes, als das Spießbürgertum überall Umsturz und Verschwörung witterte, hatte auch Pfau unter der reaktionären Strömung zu leiden. Er hatte zu Anfang der achtziger Jahre dem Kunsthistoriker Lübke »den Deckel vom Hafen getan«. Lübke wurde als Kunsthistoriker von Pfau kritisch unrettbar vernichtet und gab seinen Posten in Stuttgart auf. Pfau wollte seine im »Beobachter« erschienenen Artikel gegen Lübke als Broschüre herausgeben, aber er konnte in Stuttgart keinen Verleger finden. Alle lehnten es ab und einer schrieb, er müsse seine Frau fragen, die natürlich jede Verbindung mit dem »Sozialdemokraten« Pfau zurückwies. Schließlich wendete sich Pfau an den neu errichteten Dietzschen Verlag, wo die Broschüre sofort angenommen wurde.

Allerdings – Pfau hatte in seinen »Freien Studien« die Verderblichkeit des modernen Kapitalismus in scharfen Worten gegeißelt; er hatte als Kunstkritiker den Gedanken, »daß die Theokratie des Schönen nur in der Freiheit gedeiht«, mit aller Kraft seiner unüberwindlichen Logik und seines glänzenden Stils ausgesprochen – mußte zu jener Zeit das Philistertum nicht scheu einem solchen Verwegenen ausweichen? –

Übrigens fand am Stuttgarter Hofe, wie mir von einem, der dort aus- und einging, mitgeteilt wurde, damals folgendes Gespräch statt:

Karl: Jetzt geht es deinem Schützling, dem Lübke, aber schlecht.

Olga: Ach, das ist ja nur der Pfau.

Karl: Wenn es »nur« der Pfau ist, hätte dein Professor eigentlich leicht mit ihm fertig werden müssen. –

Pfaus Ideale umspannten die Welt und die Menschheit, wie er in seinem berühmten Schillerlied – zum hundertsten Geburtstag Schillers 1859 – ausgesprochen hat:


»Ihr Völker nah und ferne,

Jauchzt unterm Himmelszelt,

Die Denker und die Sterne,

Die leuchten aller Welt.

Sprich, Genius, dein Werde,

Bis jede Schranke fiel –

Die Menschheit und die Erde!

Ein Volk! Ein Land! Ein Ziel!«


Daß Pfaus eigenartige Persönlichkeit der Gegenstand zahlreicher Legen den und Anekdoten war, ist begreiflich. Namentlich, da ihm trotz seiner eminenten Gedankenarbeit auch das Kleine und Nebensächliche nicht entging. So saß er bei einer Märzfeier zu Frankfurt wie oft tief in Gedanken versunken an der Festtafel und die demokratische Jugend flüsterte sich bewundernd zu, wie seine Gedankenarbeit ihn auch hier in Anspruch[186] nehme. Plötzlich hob Pfau den Kopf und sagte zu einem gegenübersitzenden Jüngling: »Könntet Se net des übrig Stückle Ochsefleisch nehme, wo do noch uf der Platte liegt? Es wär doch schad'.« –

Die Freundschaft mit Ludwig Pfau hat mir viel Förderung und Klärung gebracht, namentlich was das Jahr 1848 betraf. Diese Freundschaft übertrug sich auch auf seine heute noch in hohem Alter lebende Schwester Marie. Von den gleichen Ideen wie ihr Bruder erfüllt und auch mit künstlerischem Verständnis begabt, kam sie, nachdem sie lange Jahre im Ausland gelebt, nach Deutschland zurück, um dem greisen Bruder den Haushalt zu führen. Sie hat sich lange in jenem Kreise glänzender Geister bewegt, der sich im Hause Ollivier zu Paris und in Südfrankreich gebildet, und dem außer den Olliviers selbst Richard Wagner, Franz Liszt, Pierre Leroux und die Gräfin d'Agoult angehörten. Das Haus Ollivier vermochte nicht zu verhindern, daß sie im Jahre 1870 als Deutsche ausgewiesen wurde. Ihr Haushalt ist für ihre Freunde eine der letzten Stätten altschwäbischer, heute so selten gewordener Behaglichkeit und Gemütlichkeit.

Ludwig Walesrode, damals der Nestor der deutschen bürgerlichen Demokratie, hat mir aus dem reichen Schatze seiner Erfahrungen und Erinnerungen vieles gespendet. Er hieß eigentlich Cohn und war 1810 zu Altona geboren. In den vierziger Jahren wirkte er für die Demokratie in Königsberg und machte sich dort durch seine mit seinem und treffendem Humor erfüllten »Untertänigen Reden« bekannt. Später gab er seine »Totenschau« und die »Demokratischen Studien« heraus, für welche Lassalle seine Abhandlung »Fichtes politisches Vermächtnis« schrieb. Bekannt ist das humoristische Improvisatoren-Duell, das zwischen Walesrode und Gottschall in Hamburg stattfand. Gottschall begann:

»Walesrode – Episode – Literatur – Nur!« und Walesrode antwortete sofort:

»Gottschall – Wortschwall – Poesie – Nie!«

Eine solche Abfuhr hatte der witzig sein wollende Gottschall wohl nicht erwartet.

Nach Stuttgart zog Walesrode die Persönlichkeit Freiligraths, zu dessen engerem Freundeskreis er gehörte. Er liegt auch neben Freiligrath auf dem Uffkirchhof zu Cannstatt begraben; sein Grabmal ist mit einem sehr ähnlichen Reliefbild von Donndorf geschmückt. Auch mit Fritz Reuter war er sehr befreundet und es existiert ein prächtiger Brief Reuters, in dem »Lurwig« zu Schnäpsen und Würsten eingeladen wird.

Mir war es ein hoher Genuß, bei dem gebrechlichen, aber geistesfrischen und stets witzigen alten Herrn zu sitzen und seinen Erzählungen zu lauschen, wobei sein feingeschnittenes Antlitz oft durch das Lächeln sokratischer Ironie verklärt wurde. Eine Hauptzielscheibe seines Witzes war der als Herausgeber des Briefwechsels zwischen Schiller und Cotta bekannte Schriftsteller Vollmer, übrigens auch bekannt durch seinen[187] ungeheuren Appetit auf alles Schweinerne.1 Außer von den Personen, die er 1848 gekannt – er sprach sehr gerne von Johann Jacoby – erzählte er mir auch von einigen Mainzer Klubisten von 1792, die er aufgesucht hatte. Es war mir dies um so interessanter, als man sich in Deutschland um die überlebenden Führer jener Mainzer Revolution wenig bekümmert zu haben scheint. In Winkel am Rhein suchte Walesrode den dort lebenden »alten Hofmann« auf. Der aus Würzburg gebürtige Professor und Schriftsteller Andreas Josef Hofmann war wohl der bedeutendste Kopf in dem berühmten Klub der »Freunde der Freiheit und Gleichheit« und wurde später Präsident des rheinisch-deutschen Nationalkonvents, der zu Mainz tagte und den Anschluß des Landstrichs von Landau bis Bingen an die französische Republik beschloß. Hofmann gelang es, bei der Eroberung von Mainz durch die Preußen zu entkommen und er trat in französische Staatsdienste, in denen er bis zu Napoleons Sturze verblieb. Dann kehrte er nach Deutschland zurück und blieb in Winkel, der Heimat seiner Frau, wo er 1849 starb. Walesrode sprach begeistert von diesem »römischen Charakter«, der durch nichts zu beugen war. Hofmann sprach rücksichtslos aus, was er für richtig hielt. Während der Mainzer Revolution zog er heftig gegen die Räubereien einiger französischer Kommissäre los, worauf General Custine drohte, ihn aufhängen zu lassen. Aber Hofmann ließ sich nicht einschüchtern. Diese Affäre kam später vor dem Pariser Revolutionstribunal bei der Verhandlung gegen Custine zur Sprache und trug nicht wenig zu dessen Verurteilung bei.

Diese Charakteristik des »alten Hofmann« ist um so bedeutsamer, als verschiedene Mainzer Klubisten, namentlich Wedekind und Böhmer, später wieder unter den »Fürstendienern« zu finden sind, die von ihnen auf Tod und Leben bekämpft worden waren.

Walesrode führte eine sehr ausgebreitete Korrespondenz und ich hatte, als er 1889, 79 Jahre alt, gestorben war, Gelegenheit, einen Teil derselben einzusehen. Es befanden sich dabei sehr interessante Briefe von Freiligrath, Bamberger und Moritz Hartmann. Leider ist von dieser Korrespondenz nichts an die Öffentlichkeit gekommen.

Eduard Schmidt-Weißenfels, der nach einem vielbewegten Leben sich dauernd in Stuttgart niedergelassen hatte,2 hat mit dem reichen Schatze seiner Erinnerungen meinen historischen Arbeiten viel Förderung angedeihen lassen. Diese merkwürdige Persönlichkeit hat manche politische Wandlungen durchgemacht; im Kern seiner Anschauungen blieb er aber der Achtundvierziger Demokrat, wenn er[188] auch zu den Schriftstellern gehörte, welche in dem nach Popularität haschenden »Joppenfürsten« Herzog Ernst von Gotha eine Zeitlang einen politischen Heiland erblickt hatten. In seinen verschollenen Memoiren erzählt er, daß er 1847 wegen eines Duells nach Frankreich flüchtete, dort ins Elend geriet und durch eine zufällige Begegnung mit dem christlichen Sozialisten Lamennais Gelegenheit erhielt, sich als Journalist eine angenehme Existenz zu verschaffen. 1848 war er Sekretär beim Bureau der preußischen National-respektive Vereinbarungsversammlung. 1850 machte er als Freiwilliger den Feldzug in Schleswig-Holstein mit. Er gibt interessante Schilderungen aus dem geselligen Leben der schleswig-holsteinischen Armee. Sein Quartier hatte er lange bei dem Bruder des bekannten Demokraten Harro Harring, dessen Schriften einst so viel Aufsehen gemacht. Er machte den unglücklichen Sturm auf Friedrichstadt mit und ging nach der Auflösung der schleswig-holsteinischen Armee wieder nach Frankreich. Er lernte dort eine große Anzahl von hervorragenden politischen und literarischen Persönlichkeiten kennen. Gleich nach dem Staatsstreich wurde er verhaftet, eine Zeitlang von Gefängnis zu Gefängnis geschleppt, endlich freigelassen und aus Frankreich ausgewiesen. Seine Mitteilung, daß zugleich mit dem Staatsstreich Louis Napoleons ein demokratischer Staatsstreich vorbereitet gewesen, dem der Prätendent durch den seinigen zuvorgekommen, ist eine Legende. Nach Deutschland zurückgekehrt entfaltete er eine äußerst rege literarische Tätigkeit; indessen sind seine meist historischen Schriften so ziemlich vergessen. In Stuttgart machten seine beiden Hofgeschichten »König Null« und »Prinz Erdmann« großes Aufsehen. Er gehörte auch zu dem engeren Freundeskreise Freiligraths.

Dieser Mann hat mir viel Material für meine historischen Arbeiten verschafft. Äußerlich war er nicht anziehend, aber ein gemütlicher Gesellschafter, der sehr den guten Wein liebte. Wenn er auf das Jahr 1848 zu sprechen kam, konnte er sich immer noch für die allgemeine Brüderlichkeit begeistern, die im März des Völkerfrühlings herrschte und die sich nachher in so erbitterte Klassenkämpfe verwandelte.

Er erzählte gern eine Episode aus seinen journalistischen Erlebnissen in der Konfliktszeit Preußens. Er gehörte zur Fortschrittspartei und schrieb damals einen sehr scharfen Artikel gegen Bismarck in einem schlesischen Blatte. Bismarck stellte Strafantrag und Schmidt-Weißenfels mußte in Görlitz erscheinen, wo der Prozeß verhandelt werden sollte. Als er dort angekommen, erzählte er, sei er von einer ungeheuren Menschenmenge am Bahnhof empfangen worden, welche die Pferde an seiner Droschke ausgespannt und diese nach einem Gasthofe gezogen habe, wo er bis zum Übermaß mit Wein traktiert worden sei. Man habe ihn in ein Hinterzimmer gebracht, wo drei Männer saßen, die sich als seine Richter vorgestellt und mit ihm angestoßen hätten. Mit einem ungeheuren Kater sei er im Gerichtssaal erschienen und habe bei der Verhandlung heute unglaubliche Ausfälle gegen Bismarck gemacht, worauf er[189] freigesprochen worden sei. Bei der Abfahrt zum Bahnhof habe das Volk wiederum die Pferde ausgespannt und den Wagen gezogen. Bei dieser Sache scheint mir Schmidt-Weißenfels, der ein geborener Berliner war, etwas stark retuschiert zu haben; indessen erscheint die Stimmung des Volkes gegen Bismarck sehr charakteristisch. Schmidt-Weißenfels wurde gegen Ende seines Lebens sehr verbittert, was wohl von materiellen Sorgen kam. Er starb 1893 im siebzigsten Jahr.

Karl Mayer, bekannt als langjähriger demokratischer Abgeordneter und Redakteur des »Beobachter«, war 1881 in den Reichstag gewählt worden, wo ich mit ihm bekannt wurde. Er war, wie schon erwähnt, auch Mitglied des Frankfurter Parlaments gewesen und hatte, zu schwerer Zuchthausstrafe verurteilt, lange Jahre im Exil zugebracht. Seine Erinnerungen waren für mich eine Fundgrube. Zugleich war er unerschöpflich an Anekdoten, Schnurren und Witzen.

Er war der Sohn des von Heine so bösartig verspotteten Justizrats und Dichters Mayer, des bekannten Freundes von Uhland und Justinus Kerner. Dieser Mayer sen. wurde übrigens auch von seinen schwäbischen Landsleuten als Dichter nicht gerade hoch geschätzt. Als er nämlich dem als Spötter und Kritiker gefürchteten »roten Seeger« ein Bändchen ländlicher Gedichte zur Prüfung gab, antwortete Seeger, nachdem er sie gelesen: »Ländlich send se; se kommet mer vor wie lauter Schafböllele!« Indessen war Mayer sen. ein vortrefflicher und liebenswürdiger Mensch und Freiligrath hat ihm ein wunderschönes Gedicht gewidmet.3 Karl Mayer jun. erzählte gerne aus seiner Jugendzeit, als sein Vater Oberamtsrichter in Waiblingen war.

Dort seien an gewissen Tagen immer eine Anzahl Soldaten vor dem Amtsgerichtsgebäude versammelt gewesen und als einmal ein Fremder gefragt habe, was diese Soldaten hier wollten, habe der Amtsdiener geantwortet: »Dees send so plurium!«4 In Heilbronn mußte Mayer als zwölfjähriger Schüler dem durchreisenden polnischen Revolutionsgeneral Rybinski einen Lorbeerkranz aufs Haupt setzen, der sich, wie Mayer meinte, auf der kahlen Heldenstirn recht komisch ausnahm. Als Tübinger Student wohnte Karl Mayer jun. bei dem Freunde seines Vaters, dem Dichter Ludwig Uhland, dessen Häuslichkeit er öfter anziehend geschildert. Man sah Frau Uhland »mit dem weißen Spenzer« als besorgte Hausfrau walten. Uhland gehörte zu den »trinkbaren« Dichtern, der darauf sah, daß niemand mit dem Wein zu kurz kam, und es war ein feierlicher Moment, als für den neuen Hausgenossen Karl Mayer beim Mittagstisch eine Flasche trefflichen Neckarweines auf den Tisch gestellt wurde, die[190] nunmehr täglich dort erschien. Karl Mayer widmete sich der Jurisprudenz und hatte als Referendär einmal in der Irrenanstalt Winnenthal eine Visitation vorzunehmen, wobei er dort den unglücklichen Lenau vorfand. Seine Schilderung des Zustandes, in dem sich der wahnsinnige Dichter befand, war tief ergreifend; Lenau lebte in einer tierischen Unreinlichkeit.

Aus dem Frankfurter Parlament konnte er sehr interessant erzählen; als Abgeordneten-Stellvertreter gehörte er dieser berühmten Körperschaft erst an, als sie »Rumpfparlament« wurde, aber er war oft als Zuhörer dort. Unvergeßlich war ihm das Wort von Robert Blum bei der Schaffung der Zentralgewalt: »Wollen Sie das Himmelsauge der Freiheit brechen sehen und die alte Nacht über unser Deutschland aufs neue herausführen, so schaffen Sie Ihre Diktatur!« Tiefe Weisheit lag in diesem Worte gerade nicht, denn die Revolution brauchte eine Diktatur, allerdings eine demokratische und keine erzherzogliche.

Karl Mayer jun. war als Dichter bedeutender als sein Vater, aber er unterließ es, seine Verse gesammelt herauszugeben. Er trieb auch historische Forschungen, namentlich über den Bauernkrieg von 1525. Er erzählte mir, der fränkische Bauernkriegforscher Lommel habe einmal sehr wichtige Briefe, die den Bauernkrieg betrafen, bei ihm »versetzt«, aber wieder eingelöst, wodurch sie verloren gingen. Bezeichnend ist, daß er sich für den Rothenburger Bauernkriegsforscher Georg Wilhelm Bensen interessierte und mehrfach zu ihm hinüberreiste. Dieser bedeutende Gelehrte, der schon vor Zimmermann eine breite Grundlage für die Bauernkriegsforschung schuf und sich namentlich auch um die Lokalgeschichte von Rothenburg ob der Tauber große Verdienste erworben, ward von seinen Zeitgenossen nicht gewürdigt und wegen seiner demokratischen Anschauungen angefeindet. Er mußte als Schulmeister in dem damals weltfernen Rothenburg versauern und als Karl Mayer ihn fragte, was er denn mache, wenn er sich langweile, antwortete er: »Dann sauf i halt!« Dieser Bensen hat 1847 ein Werk erscheinen lassen, betitelt: »Die Proletarier«. Dasselbe ist weit entfernt von wissenschaftlichem Sozialismus, aber es enthält ein ungeheures Material und beruht auf dem Satze, »daß in dem großen Organismus, den wir ein Volk zu nennen gewohnt sind, alle Organe in der genauesten Verbindung stehen und daß bei der Krankheit des einen die anderen natürlich mitleidend sind« –. Dieser Satz richtet sich im Grunde gegen jegliche Klassenherrschaft.

Als Redakteur des »Beobachter« mußte Karl Mayer mehrmals als Festungsgefangener auf dem Asperg sitzen. Die Zeiten waren damals noch so idyllisch, daß einmal die Volkspartei ihre Landesversammlung auf dem Asperg bei dem gefangenen Führer abhalten konnte.

Eine Karl Mayer verwandte Natur war der Rechtsanwalt Sigmund Schott, der auch im Reichstage und im Landtage saß und ein gut demokratischer Politiker, aber ein sehr mäßiger Dichter war. Es war der Sohn[191] jenes Albert Schott, der als alter »Demagoge« in das Frankfurter Parlament gewählt wurde und der bei der Sprengung des Rumpfparlaments in Stuttgart an der Seite Uhlands beinahe von den Lanzenreitern seines Schwiegervaters Römer niedergeritten worden wäre. Dieser Albert Schott besaß jenes gastliche Haus, das einen Sammelpunkt für bedeutende Menschen von nah und fern bildete und von Moritz Hartmann so warm gepriesen worden ist. Der Rechtsanwalt Sigmund Schott war 1848 Kommandant der Stuttgarten Bürgerwehr-Artillerie, die er fleißig üben ließ. Da er keinen rechten Unterstand für seine Batterie hatte, so bat er, die Geschütze im Hofe der Stadtdirektion unterbringen zu dürfen. Dies wurde gerne gewährt. Als nun das Rumpfparlament im Fritzschen Reithause zu Stuttgart tagte und die Gefahr gewaltsamer Sprengung näherrückte, bot die Bürgerwehr dem Rumpfparlament ihren Schutz an. Moritz Hartmann, Mitglied des Parlaments, erzählt darüber: »Das Bureau der Nationalversammlung, auf den Antrag eingehend, verlangte, daß die Bürgerwehr-Artillerie vor dem Sitzungssaale auffahre, um uns den Eingang frei zu erhalten. Aber als die Artillerie Folge leisten wollte, fand es sich, daß die Regierung an ihr Eigentum Hand gelegt und die Kanonen konfisziert hatte.«

Über diese merkwürdige Angelegenheit habe ich mich eingehend informiert und die Angaben von Moritz Hartmann durchaus bestätigt erhalten. Als Sigmund Schott, der Batteriechef, mit seiner Mannschaft vor dem Stadtdirektionsgebäude erschien und seine Geschütze abholen wollte, verweigerte der Stadtdirektor deren Herausgabe mit der Motivierung, es könnte mit ihnen »Unheil angerichtet« werden. Die Bürgerwehr ließ sich diese unglaubliche Herausforderung gefallen und der unglückliche Batteriechef Sigmund Schott mußte mit langer Nase abziehen.

Daß eine bewaffnete Macht sich ihre Geschütze von der Polizei konfiszieren ließ, steht in der Weltgeschichte wohl einzig da.5

In Gesellschaft von Karl Mayer und Sigmund Schott befand sich öfter der Rechtsanwalt August Becher, der auch Mitglied des Frankfurter Parlaments gewesen und vom Rumpfparlament in die Reichsregentschaft gewählt worden war. Pfau erzählte, bei der Wahl der[192] Regentschaft habe ein auf der Zuhörertribüne befindlicher Gastwirt Dallinger, wegen seines großen Maulwerks der »schwäbische Marat« genannt, mehrmals »Becher!« gerufen und darauf sei dieser zum Reichsregenten gewählt worden. Becher war sowie Sigmund Schott sehr gesprächig, aber so wenig dieser von der Bürgerwehr-Artillerie sprach, erwähnte Becher jemals seine kurze Regentschaftsperiode. Die Rolle dieser Regentschaft war allerdings ziemlich komisch gewesen.

Zu den Achtundvierzigern im weiteren Sinne gehörte auch der berümte »Schartenmayer«, der Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer. Ich bin mit ihm nicht näher bekannt gewesen, aber ich kam mehrere Male mit ihm an dem gleichen Tisch in den kleinen und überfüllten Bierwirtschaften zu sitzen, wo er zu verkehren pflegte. Er erschien mir in seinen letzten Jahren verbittert und gallig; was dies verursacht, ist mir nicht bekannt. Seinen Leistungen als Dichter und Denker hat man in unserer Partei immer Anerkennung gezollt. Darum wird es auch erlaubt sein, dem Politiker Vischer, der oft sehr feindselig gegen uns aufgetreten ist, eine andere Beurteilung angedeihen zu lassen. Vischer gehörte im Frankfurter Parlament zu jenen schönrednerischen Professoren, die so viel dazu beitrugen, daß die Revolution »so wunderschön verfahren und verritten« wurde; auch auf ihn war der berühmte Spottvers in der »Reichstagszeitung« von Robert Blum gemünzt:


»Fünfundsiebzig Professoren –

Vaterland, du bist verloren!«


Diese Professoren trauten ihren Reden eine welterschütternde Wirkung zu. Vischer war von solcher Selbstüberschätzung nicht frei, wie aus einem Briefe hervorgeht, wo er erzählt, wie er in Frankfurt mit dem bekannten Fürsten Lichnowsky im Parlament über Schulfragen debattiert und wie sich nachher Lichnowsky »seinen furchtbaren Gegner« mit Interesse betrachtet habe. Der brutale und aufgeblasene Aristokrat und Militär Lichnowsky, ein Draufgänger und Gewaltmensch wie er im Buch steht, hat gewiß den schwäbischen Professor Vischer nicht für so »furchtbar«, wie dieser sich selbst gehalten.

Vischer hielt wie Uhland treulich beim Rumpfparlament aus, obschon er wie dieser gegen dessen Verlegung nach Stuttgart gestimmt hatte. Aber sein Auftreten in einer der letzten Sitzungen des Rumpfparlaments, am 16. Juni 1849, ist von der Demokratie mit Recht aufs schärfste verurteilt worden. Zu dem Antrage, die Volkswehren auf die Reichsverfassung zu verpflichten, bemerkte Vischer mit Recht, derselbe käme zu spät und er (Vischer) habe umsonst gleich in den ersten Wochen des Parlaments die Organisation einer Volkswehr für ganz Deutschland beantragt. Aber zugleich beschimpfte er die Volkserhebung in Baden und der Pfalz und tat, als ob dort »unsaubere Elemente« die Oberhand gewonnen hätten. Er sagte: »Ich bin mit zerrissenem Herzen über die Lachen mutwillig[193] und unnütz vergossenen deutschen Bruderblutes bei Hemsbach6 gewandert.« Um dieses Auftreten zu würdigen, muß man bedenken, daß die Pfalz und Baden sich für die Reichsverfassung erhoben und daß Sigel, der Kommandant der badischen Revolutionsarmee, bei Hemsbach die Hessen angegriffen hatte, um nach Frankfurt vorzudringen und sich dort dem Parlament zur Verfügung zu stellen. Vischer wußte nicht recht, was er wollte, denn zum Scheitern des Verfassungswerkes hatten er und seine Genossen gewiß mehr beigetragen, als die badische Revolutionsarmee, die dem Parlament hatte brüderlich Hilfe bringen wollen. Der Abgeordnete Damm aus Tauberbischofsheim wies damals unter dem Beifall des Parlaments und der Zuhörer die »unedlen Verdächtigungen« Vischers zurück.

Bei der Kaiserwahl in Frankfurt hatte sich Vischer der Wahl enthalten und zwar als Großdeutscher. Später ward er ein Bewunderer der Bismarckschen Politik und das Bruderblut, das in den von dieser Politik herbeigeführten Schlachten vergossen wurde, hat Vischers Herz nicht so zerrissen, wie die Verluste in dem kleinen Gefecht bei Hemsbach, wo es etwa vierzig Tote gegeben hatte.

Vischer und David Strauß gingen in mancher Beziehung den gleichen Weg. Nachdem sie den biblischen Gott abgeschafft, legten sie sich einen neuen Gott in Gestalt des märkischen Junkers Bismarck zu. Vischer dachte übrigens in politischen Dingen nie so reaktionär wie Strauß.

Als 1870 Deutschland sich von Napoleon III. überfallen glaubte und der Furor Teutonicus hohe Wogen schlug, apostrophierte Vischer die Franzosen wörtlich:

»Euch unverschämter Nation soll man die Hände zusammenschnüren, daß euch das Blut aus den Nägeln spritzt!«

Nehmen wir an, daß diese Äußerung durch die Rodomontaden der französischen chauvinistischen Presse provoziert war. Aber es gab damals doch nicht wenige Leute, welche sich erstaunt fragten: »Ist denn dies das Resultat der Studien eines Gelehrten, der vier Bände über Aesthetik geschrieben hat?«

Dem wissenschaftlichen Sozialismus und der Arbeiterbewegung stand Vischer vollkommen verständnislos gegenüber. In einer seiner Aufsatze kam er auf die Zerstörung römischer Kultur durch die Goten zu sprechen und es entfuhr ihm dabei das geflügelte Wort: »Unsere Goten werden die Knoten sein!«

Unter »Knoten« verstand er das moderne Proletariat. Es ging ihm wie so manchem anderen Gelehrten, der alle Straßen im alten Athen und Rom kennt, aber sich in der wirklichen heutigen Welt nicht zurechtfinden kann. Darum verwechselte er das altrömische Proletariat mit dem[194] modernen und es war ihm offenbar nicht der bedeutende Ausspruch von Sis mondi aufgefallen, auf den auch Karl Marx verweist, daß nämlich das altrömische Proletariat auf Kosten der Gesellschaft lebte, während die moderne Gesellschaft auf Kosten des Proletariats lebt. So schaute Vischer unser Zeitalter durch eine »antike« Brille an und die Arbeiterbewegung erschien ihm als kulturfeindlich.

Als 1907 bei der Vischer-Säkularfeier Vischer in einem überschwänglichen Artikel eines Parteiblattes als »Erzieher« gepriesen wurde, schrieb ich:

»Wir können dem nicht beistimmen; er war jedenfalls kein Erzieher in unserem Sinn und unter den hervorragenden Geistern der sozialistischen Bewegung gibt es genug solche, die uns als Erzieher mehr geeignet sind.«

Die oben angeführten Tatsachen erscheinen uns bedeutsam genug, um bei einer Charakteristik Vischers nicht übergangen werden zu können, wobei gewiß keine kleinliche Gehässigkeit im Spiel ist. Wenn der Liberalismus eine seiner Größen feiert, so halten auch wir mit unserer Anerkennung nicht zurück, wo es sich um Verdienst gegenüber der Allgemeinheit handelt. Aber wir glauben dann auch fragen zu dürfen, welche Stellung diese Größen im besonderen gegenüber der großen Kulturbewegung unserer Zeit eingenommen haben, und da trennen sich unsere Wege von denen der anderen.

Kehren wir von dem verbissenen und grollenden Achtundvierziger Vischer wieder zu den lebensfrohen wie Karl Mayer und Schott zurück. Und da erscheint uns zunächst mein 1907 im einundneunzigsten Jahr verstorbener Freund Theobald Kerner, dessen markante Persönlichkeit mit dem stets schalkhaft angehauchten Antlitz so lebendig vor mir steht, als sei er eben zur Tür hereingekommen.

Das berühmte Kernerhaus zu Weinsberg, welches der Mittelpunkt von so viel Sage und Romantik ist, hatte ich, wie schon berichtet, im Jahr 1868 zum erstenmal betreten und alles, was ich dort sah und erlebte, hatte einen mächtigen Eindruck hinterlassen. Es lag über diesem Hause jener Hauch altschwäbischer Gemütlichkeit, innerhalb deren revolutionäre und reaktionäre Existenzen, so sehr sie sich sonst abstoßen mochten, sich ungestört zusammenfanden und mit gleicher Liebenswürdigkeit aufgenommen wurden. Solcher Häuser und Familien gab es mehrere in Württemberg; namentlich waltete solcher Geist in dem Hause des genialen Dichters Hermann Kurz, der nach einem Leben voll Drangsal und Entbehrungen endlich in Tübingen mit Ach und Krach die kümmerliche Stellung eines zweiten Unterbibliothekars erlangt hatte.7 In dieser Stellung blieb Kurz entschiedener Demokrat, wenn er auch nicht so unversöhnlich war, wie der Pfarrer Hopf, der 1870 in der württembergischen Kammer die Kriegskredite verweigerte. Aber im Kurzschen Hause verkehrten[195] revolutionäre Elemente, darunter Eduard Vaillant, der später Mitglied der Pariser Kommune und heute noch sozialdemokratischer Abgeordneter in der französischen Kammer,8 sowie jener Cohen-Blind, der 1866 auf Bismarck schoß und sich im Gefängnis tötete. Er hatte die landwirtschaftliche Akademie in Hohenheim besucht; dort ist noch sein Bild vorhanden – als Schüler, nicht als Attentäter. Frau Kurz besang sogar diesen jungen Mann in einem Gedicht, das im Auslande erschien und wo es hieß:

»Du deutsches Volk, du sollst sein Rächer sein, dich setzte er zu seinem Erben ein!«

Trotz alledem erhielt später der Sohn des Dichters, der Bildhauer, Aufträge vom Hofe. Der Sohn hatte übrigens in seiner Jugend auch eine sehr radikale Broschüre über die Pariser Kommune geschrieben.

Solcher Geist, der alles menschlich nahm, herrschte auch im Kernerhause. Fürsten, weltliche und geistliche, Würdenträger jeder Art. Künstler. Dichter, Schriftsteller und Gelehrte von den verschiedensten politischen Anschauungen verkehrten hier, wie im »steinernen Album« im Turme auf der Weibertreu zu lesen; sie waren alle angelockt vom Geisterspuk des schlauen Justinus, dem die Seherin von Prevorst und andere Merkwürdigkeiten ein reizvolles interessantes Leben bereiteten in dem kleinen weltfernen Weinsburg, wozu allerdings auch dessen reiche historische Erinnerungen beitrugen. 1848 fuhr der Sturm der Revolution auch über Weinsberg hinweg und riß den alten Geisterseher Justinus mit, so daß er sich sogar an der Wahlbewegung beteiligte. Als der Schlossermeister Nägele von Murrhardt im Kreis Weinsberg kandidierte, bestieg auch Justinus Kerner die Rednerbühne und warf in die Volksversammlung die recht demokratischen Verse:


»Nicht Doktors, nicht gelehrte Geister,

Wir wählen einen Schlossermeister;

Der schlägt mit Hämmern klein und groß

Baldmöglichst Deutschlands Ketten los.«


Der Schlossermeister wurde auch gewählt und hielt brav auf der Linken bis zum Ende aus.

Als die Frankfurter Linke den Beschluß durchsetzte, daß das Rumpfparlament nach Stuttgart übersiedelte, machten auf der Reise nach Heilbronn Moritz Hartmann, Johann Jacoby, Heinrich Simon und Rappard einen Abstecher nach Weinsberg. Der alte »Magus« empfing diese Demokraten, wie Moritz Hartmann erzählt, sehr freundlich, fand, daß Hartmanns und sein »Nervengeist« übereinstimmten, riet aber doch, von den revolutionären Wegen abzulassen. Er hänge zwar an mehreren Mitgliedern der Königsfamilie mit großer Freundschaft und seine konservative Gesinnung sei Gemütssache, aber er habe in der[196] Theorie gegen die Demokratie nichts einzuwenden und müsse ihr recht geben. Er sei eben kein Politiker. Damit verband er einige Witze, die aber ausschließlich gegen seinen zurzeit sehr revolutionären Sohn Theobald gerichtet waren, der im bekannten Geisterturm im Kernerschen Garten in einer Gesellschaft junger Mädchen Patronen machte.

So wars im Kernerhaus. Hier stießen scharfe Gegensätze aufeinander, aber die Reibung blieb eine sanfte.

Theobald Kerner trat damals in der roten Bluse auf, wie mir von Augenzeugen erzählt wurde. Ob es ihm mit den Patronen gar so ernst war, weiß ich nicht; vielleicht ward sein Eifer durch die jungen Mädchen gehoben. Er hielt namentlich in Heilbronn sehr revolutionäre Reden. Am 1. November 1849 wurde er auf den Asperg gebracht, zugleich mit dem zur Linken gehörenden Grafen Waldpurg-Zeil. Der revolutionäre Graf ward auf dem Asperg von den Untersuchungsgefangenen aus den Gittern mit schallendem Hoch begrüßt. Theobald Kerner ward am 29. April 1850[197] aus der Festungshaft entlassen, vom König begnadigt. Das letztere hatte jedenfalls sein Vater veranlaßt. Es stimmte zur sanften Reibung der Gegensätze in der Atmosphäre des Kernerhauses.

Hier sei eingeschaltet, daß sich im Briefwechsel von Justinus Kerner ein Brief an einen Freund befindet, wo mitgeteilt ist, die bekannte Lola Montez, Geliebte des Königs Ludwig I. von Bayern, sei während der Revolutionszeit in Weinsberg gewesen und habe dort eine Kur mit Eselsmilch durchgemacht. In verschiedenen historischen Aufsätzen ist »Lola Montez in Weinsberg« ernsthaft behandelt worden. Mir erschien diese merkwürdige Geschichte etwas verdächtig und in einer launigen Unterhaltung mit Theobald im »Rebstöckle« zu Weinsberg befragte ich ihn, was an der Sache sei. Er lachte sehr und klärte mir die Geschichte auf. Ein stets neugieriger Freund hatte an seinen Vater geschrieben, was es Neues in Weinsberg gebe, und Justinus hatte, um sich einen Ulk zu machen, die mutwillig erfundene Nachricht von Lola und der Eselsmilch zum besten gegeben. Die Tänzerin, deren Fuß den historischen Rechtsboden Bayerns erschüttert hat, ist nie in Weinsberg gewesen.

Theobald glaubte nicht an die Geister und Gespenster seines Vaters, aber es machte ihm Spaß, abergläubische und beschränkte Besucher des Kernerhauses mit allerlei Geister- und Koboldsgeschichten zu foppen. Was er wirklich von diesen Dingen dachte, darüber gab die Inschrift an seinem Holzstall Aufschluß:


Ihr Pfaffen, löscht das Höllenfeuer,

Das Holz ist ohnehin so teuer.«


die nunmehr verschwunden ist.

An der Tür des großen Parterrezimmers im Kernerhause hängt die Uniform eines württembergischen Tambours aus dem Jahre 1814. Von dieser Uniform erzählte er eine köstliche Geschichte.

Der Tambour zog 1814 mit nach Frankreich. Nachdem sein Bataillon aus einem französischen Städtchen, wo es Mittag gemacht, abmarschiert, kam hinterher der Pfarrer gerannt und schrie: »Verfluchtes Schwab, aben gestohlen meine Stiefeletten!« Der gewissenhafte Major ließ halten und befragte die Mannschaften. Niemand wollte von den Stiefeletten etwas wissen. Aber der Pfarrer bestand darauf. Der Major ließ die Tornister ablegen und öffnen; es fand sich nichts. Aber der Pfarrer tobte weiter, so daß der Major ihn endlich greifen und ihm Fünfundzwanzig aufzählen ließ. Der Pfarrer rannte davon und rief noch zurück: »Und aben doch gestohlen meine Stiefeletten!«

Im Weitermarsch wurde der Major nachdenklich, gebot halt und sagte: »Ihr habt natürlich die Stiefeletten doch gestohlen; so sagt mir wenigstens, wo sie sind!« Da trat der Tambour vor, nahm den großen Tschako ab und sagte: »Do send se, Herr Major!« Und sie lagen richtig drin. Der Major fuhr zurück und meinte: »Ja, da hat ja der arme Pfarrer unschuldig die Fünfundzwanzig aufgezählt bekommen!« Dem Tambour[198] wurde nun bänglich zu Mut und er sagte bebend: »Herr Major! Wenns die göttliche Vorsehung nicht gewollt hätte, so hätte der Pfarrer die Prügel nicht bekommen.« Der Major mußte lachen und ließ die Sache auf sich beruhen. Soweit erzählte Theobald die Sache gewöhnlich. Wenn er aber abergläubische Zuhörer hatte, so fügte er hinzu, der Tambour könne wegen der Prügel, die der Pfarrer ungerechterweise bekommen, im Grab keine Ruhe finden und komme jede Nacht, um in die Uniform hineinzuschlüpfen und die Stiefeletten zu suchen. Da diese aber nicht mehr vorhanden, so könne der Bann nicht von ihm gelöst werden. Es gab alte Weiber, denen dabei die Haare zu Berge stiegen.

Im Geisterturm hinter dem Kernerhause sah ich einen merkwürdig geformten, mit großer Kunst gefertigten Stuhl. »Ja, der hat auch seine Geschichte«, sagte Theobald. In Weinsberg, erzählte er, habe ein Bauer gelebt, der ein unglaublich böses Weib gehabt. So klein sie von Statur, so groß sei ihre Niederträchtigkeit gewesen. Eines Tages kam der Bauer ins Kernerhaus und meldete – Justinus Kerner war Oberamtsarzt – daß sein Weib sich an einem Querbalken in der Scheune erhängt habe. Justinus ging hin, sah die Leiche an, nahm einen Stuhl und besichtigte den Querbalken. Auf dessen Oberfläche sah man im Staube zwei ungeschlachte Hände abgedrückt. Der Bauer entfloh und Justinus, der Mitleid mit dem geplagten Mann gehabt, hatte es mit der Anzeige nicht allzu eilig. Nach langen Jahren kam der Stuhl aus Südamerika.

Theobald hatte immer den Schalk im Nacken. Als ich ihn einst mit Bruno Schönlank besuchte und Theobald sehr demokratische Anschauungen äußerte, meinte Schönlank, er begreife nicht, wie man mit solchen Ansichten Hofrat werden könne. »Ja«, sagte Theobald, »als ich die Ernennung zum Hofrat bekam, habe ich mich auch gefragt, ob ich jetzt denn dümmer geworden sei, als zuvor.«

Wir hatten aber auch viel ernste Unterhaltungen. Namentlich sprach er gern mit mir von jenem Bruder seines Vaters, Georg Kerner, der seinerzeit aus Begeisterung für die französische Revolution nach Paris gegangen war und dort die Tage der Schreckenszeit durchlebt hatte. Er ging dann mit seinem Landsmann Reinhard, der sich zur Diplomatie emporgearbeitet, als dessen Sekretär nach verschiedenen Orten, zuletzt nach Hamburg, wo er sich als Arzt niederließ und eine demokratische Zeitschrift herausgab. Er mußte den Schmerz erleben, daß sein Landsmann, der französischer Gesandter in Hamburg war, auf Befehl Napoleons den Hamburger Senat bewog, die Zeitschrift zu unterdrücken.9 Ein wegen[199] seiner edlen Menschlichkeit allgemein geachteter Mann starb er schon 1812 im zweiundvierzigsten Lebensjahr und man sagte, der Gram über die Tyrannei Napoleons habe dazu beigetragen. »Mit Ihnen kann ich doch über diesen Onkel sprechen«, sagte mir einmal Theobald; »ich verehre ihn sehr, aber wer weiß etwas von ihm?«

Auch vom Bauernkrieg von 1525 und von dem blutigen Volksgericht über die in Weinsberg von den Bauern gefangenen Junker unterhielten wir uns viel; doch ist die vom Kernerschen Hause ausgehende Tradition, wonach Graf Helfenstein die Nacht hindurch, bevor er in die Spieße gejagt wurde, im »Geisterturm« gefangen gelegen, ein Irrtum. Helfenstein wurde um zehn Uhr morgens, als Weinsberg von den Bauern genommen war, auf dem Kirchturm gefangen. Während der Bauernrat zusammensaß, hielt Jäcklein Rohrbach, der Führer des Aufstandes im Neckartal, in einer Mühle10 eine Versammlung der verschiedensten Elemente ab, wo auf sein und der schwarzen Hofmännin Betreiben beschlossen wurde, die gefangenen Junker sogleich durch die Spieße zu jagen. Dies geschah denn auch; eine Nacht lag nicht dazwischen.

Da saßen wir oft in dem großen Zimmer im Parterre des Kernerhauses und ernst schauten auf uns die Bilder der abgeschiedenen Geister herab, die einst das Kernerhaus belebt. Da war das schöne Bild der Frau von Krüdener, die erst auf dem Gute Katharinenplaisir am Michelsberg bei Tripstrill oder Treffentrill mit der Prophetin Kummer von Clebronn gelebt und deren verrückte Idee vom tausendjährigen Reich in sich aufgenommen hatte, bis der dicke König Friedrich dazwischen fuhr und die Prophetin festnehmen, die Krüdener aber aus dem Lande bringen ließ. Die Krüderer aber kam wieder und ließ sich auf dem Rappenhof bei Weinsberg nieder. Sie kam viel in das Kernersche Haus und vom Rappenhof ging sie 1815 nach Heilbronn, um dort mit dem Kaiser Alexander I. zusammenzutreffen und die heilige Allianz zu gründen. Justinus Kerner pflegte zu sagen: »Die heilige Allianz ist auch in Weinsberg entstanden und gehört zu den kakodämonischen Erscheinungen.«11 Genau genommen wurde der Grund zu der heiligen Allianz von der Krüdener und der Prophetin Kummer zu Tripstrill gelegt.

Das Bild der Krüdener befindet sich noch im Kernerhause, dagegen ist das schöne Bild Lenaus von Rahl verschwunden, das so lange zum Schmuck des Kernerhauses gehörte.12 »So sah mein armer Lenau aus in seinen glücklichen Tagen«, pflegte Justinus Kerner zu sagen. In Weinsberg hat Lenau einen Teil seines unstäten Lebens zugebracht und in dem Kernerschen Gartenhause verschiedene seiner Dichtungen voll[200] melancholischer Schönheit zu Papier gebracht.13 Hier entstand auch das bekannte Gedicht auf das große Faß im Hofkeller zu Oehringen:


»Ich stand als höchster grüner Baum

Vor Zeiten froh im Waldesraum.«


Auch das Bild der Seherin von Prevorst ist noch mehrfach vorhanden und ebenso ein Portrait des berühmten Mesmer, an dessen Grab in Meersburg am Bodensee ich in meiner Jugend so oft geweilt.

Die Jahre kamen und gingen, die Alten aus der Uhland-Periode verschwanden, nur Theobald Kerner blieb in unverwüstlicher Gesundheit und machte lustige Verse von dem einzigen Heiligenschein, der ihm zuteil werden würde bei der – Feuerbestattung. 1906 sah ich ihn zum letztenmal und machte meiner Frau die Freude, diesen letzten Repräsentanten alter schwäbischer Romantik noch einmal von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Der Einundneunzigjährige scherzte wie immer. Da wir erst kurz verheiratet waren, sagte er zu meiner Frau: »Sie liabs kleins Fraule, ischt er au brav?« Und als sie lachend bejahte, meinte er: »Wenn er net pariere will, no kommet Sie nur zu mir; i wills em no scho sage!« Wir begaben uns dann mit ihm und Frau Else Kerner in das Gasthaus zur Traube, wo er täglich mit dem alten Traubenwirt Hildt, der im dreiundneunzigsten Jahr stand, sein Viertelchen Wein trank. Beide Alten trugen grüne Lampenschirme auf der Stirne, was ganz merkwürdig aussah. Alsbald entspann sich folgendes Gespräch:

Hildt: Theobald, es reut mi was.

Kerner: Was reut di denn?

Hildt: Daß mer im Jahr achtevierzig net wütiger gwese sin.

Kerner: Ja, mi reuts au! –

Theobald war als Dichter bedeutender als gewöhnlich angenommen wird; seine eigenartigen Naturdichtungen wären von seinem Vater nie erreicht worden, der mehr das Volkslied traf. Als Satiriker trifft er oft den Nagel auf den Kopf. Vortrefflich hat er einen dichtenden Schulmeister getroffen, der »ein Naturbild aus der schwäbischen Dichterschule« zum besten gab:


»Wiesenblümchen, Waldessee.

Kirchgeläute, Käferle,

In der Luft das Krab, Krab, Krab,

Horch im Tal der Mühl' Geklapp!« –


In einem scharfpointierten Gedicht bringt er die Stimmung zum Ausdruck, die im Freiligrathschen Kreise herrschte, als nach der Schlacht von Sedan der Krieg mit Frankreich fortgesetzt und die Annektion von Elsaß-Lothringen als Ziel sichtbar wurde:
[201]

»Und auf Wilhelmshöh' statt auf Galgenhöh'

Der fürstliche Missetäter14

Und ringsum Parteihaß und blutiges Weh

Und »Franzosenfreund« und »Verräter«

Gescholten ein jeder, der's menschlich meint

Und der den Menschen auch ehrt noch im Feind –

Zwerghafte Größe der Zeiten!«


Der hier zum Ausdruck kommende Mißmut richtete sich gegen die damals übliche Franzosenfresserei.

Zum Schlusse sei nach dem Original ein wenig bekannter Brief hier wiedergegeben, den Theobald Kerner im November 1896 aus Weinsberg an Ludwig Pfau gerichtet hat. Der Brief lautet: »Mein lieber Freund! Das Kleksographiebüchlein meines Vaters, das ich dir hier sende, hat mich zu ernstem Nachdenken gebracht. Ehe dreißig Jahre vergehen bin ich hundert Jahre alt und dann (vielleicht auch etwas früher) heißt es: »Einsteigen in den Nachen des Charon und hinüber ins graue Hadesreich!« Ich habe von jeher dem Satz gehuldigt: »Üb' immer Treu und Rötlichkeit bis an dein kühles Grab!« und werde davon nicht abgehen und als Roter sterben, aber im Hades muß ich diese schöne Leuchtfarbe ablegen und werde ein Schwarzer, eine von den dunklen Gestalten, wie du sie hier im Büchlein abgebildet findest, und auf einmal kommst auch du, lieber, guter roter Freund mir entgegen, schwarz wie die Nacht. Und als solche schwarze Zentrumsgestalten, nicht zu unterscheiden von Stöcker und Loyola, müssen wir dann äonenlang im Hades weilen. Auch unser Karl Mayer, Walesrode, Haußmann und mein vielverkannter braver Dulk huschen an uns vorbei, schwarz wie Krammetsvögel und kennen uns nicht in unserer Schwärze. Das ist doch höchst betrüblich! Wozu war all unser Ringen nach Licht und Freiheit, wozu unsere roten Volksreden, unsere roten Bestrebungen? Freiligrath sang: »Pulver ist schwarz, Blut ist rot, golden flackert die Flamme!« Das hat alles keine Dauer, ist nichts als poetischer Schwindel. Auch das rote Blut, die goldene Flamme wird im Hades schwarz wie Pulver. Alles vergeht, nur die lebenslänglichen Schultheißen in Württemberg nicht. Von ihnen geht wie von dem Jünger Johannes die Sage, daß sie nicht sterben, sie sind unter ministeriellem Schutz lebenslänglich, sie kommen nicht in den Hades. Diese auf dem Schreiberboden Württemberg gezüchteten Diätenbazillen sind zäh, unzerstörbar, gegen sie gibt es keine Lymphe. Ehen!

Theobald Kerner an Ludwig Pfau


Wenn man diesem Brief auch anmerkt, daß ihn kein junger Mann geschrieben, so ist solch frischer Humor bei einem Vierundsiebzigjährigen doch eine seltene Blüte. –

Aus meiner Korrespondenz mit zwei berühmten Zeitgenossen, die sich im Jahr 1848 hervorgetan, sei hier einiges mitgeteilt.[202]

Viel Freude und Anregung brachte mir der Briefwechsel mit dem französischen Senator Hippolyte Carnot. Dieser war der zweite Sohn jenes berühmten Mitgliedes des Wohlfahrtsausschusses von 1793, Lazare Nicolas Marguerite Carnot, welcher gegen die große Koalition, von der die französische Republik angegriffen war, vierzehn Heere organisierte, die den Feind an allen Grenzen zurückschlugen. Er erhielt dafür den historischen Ehrentitel »Organisator des Sieges«. Er leitete auch später die Feldzüge der Republik, mußte aber infolge des Staatsstreichs vom 18. Fruktidor flüchten. Unter dem Konsulat kehrte er zurück und sprach gegen das Kaisertum als unerschütterlicher Republikaner. Napoleon ließ ihn lange ohne Anstellung. Nach dessen zweitem Sturze wurde Carnot als »Königsmörder« – er hatte im Konvent für den Tod Ludwigs XVI. gestimmt – aus Frankreich verbannt15 und hielt sich in Magdeburg auf, wo er 1823 im siebzigsten Jahre starb.

Der verbannte Carnot erfuhr in Deutschland viel Verehrung. Man rühmte, daß »seine strenge und martialische Stirne jede Heuchelei verschmähte« und daß er dem Despotismus der Robespierre und Saint-Just ebenso zu trotzen gewagt, wie dem Despotismus Napoleons, sowie daß er unter dem Kaiserreich in einer stolzen Armut gelebt. Der berühmte Historiker Niebuhr sagte, er würde sein letztes Stück Brot mit Carnot teilen und der Literarhistoriker Körte, ein Neffe Gleims, veröffentlichte während Carnots Aufenthalt in Magdeburg ein liebenswürdiges Buch über ihn. Diese Dinge mögen dazu beitragen, haben, Carnot den Sohn in der Vorliebe, die er für Deutschland gewann, zu bestärken.16

Des großen Carnot Sohn Hippolyte, 1861 zu St. Omer geboren, war mit dem Vater in die Verbannung gegangen und blieb von seinem sechzehnten bis zweiundzwanzigsten Jahr in Magdeburg. Seine Sympathien für Deutschland konzentrierten sich auf die deutsche Literatur. Er hat Wilhelm Müllers »Griechenlieder« ins Französische übertragen. Nach des Vaters Tode kehrte er nach Frankreich zurück und redigierte dort mit dem bekannten Sozialisten Pierre Leroux die »Revue encyclopédique in der er den Franzosen die deutsche Literatur empfahl. Er bekannte sich bald zu sozialistischen Anschauungen und schloß sich den Saint-Simonisten an, deren Extravaganzen ihn aber bald abstießen. Er nannte Enfantins Theorien vom Verhältnis der Geschlechter eine »Verordnung des Ehebruchs«. Bei den Saint-Simonisten wurde er[203] mit Heinrich Heine bekannt, was aus dem Empfehlungsschreiben hervorgeht, daß ihm Heine 1846 an Varnhagen von Ense nach Berlin mitgab. Dort hieß es:

»Der Überbringer dieser Zeilen ist Herr Carnot, ein Sohn würdig des väterlichen Namens, was viel sagen will. Ich glaube also nicht vieler Worte zu bedürfen, um ihn zu empfehlen, und gar bei Ihnen, der Sie offenen Blicks und voller Teilnahme sind für jede von sich selbst empfehlende Persönlichkeit. Herr Carnot wird über manche Dinge, die Sie interessieren, sehr genaue Nachricht geben können; wir kennen uns schon seit zehn Jahren, wo ich ihn im sacré collège17 der Saint-Simonisten fand. Das waren brillante Zeiten – jetzt ist Herr Carnot nur Mitglied der Deputiertenkammer.«

Seit 1839 Deputierter schloß sich Carnot der bürgerlich-republikanischen Opposition an; für den Sozialismus in demokratischem Sinne behielt er sein Leben hindurch starke Sympathien. Die Flut der Revolution von 1848 trug ihn rasch empor. Er trat als Minister des Unterrichts in das provisorische Ministerium vom 24. Februar. Er hatte zwar keine Zeit zur Einführung einschneidender Reformen, aber die in seinen Lehrbüchern hervortretenden sozialistischen Anschauungen wurden scharf angegriffen. Er trat aus der Regierung Cavaignacs aus, nachdem dieser die Pariser Arbeiter in der Junischlacht blutig niedergeworfen hatte. 1850 wurde Carnot als Anhänger der äußersten Linken in die gesetzgebende Versammlung gewählt. Unter dem Kaiserreich in die Deputiertenkammer gewählt, verweigerte er wegen des Staatsstreichs Napoleon III. zweimal den Huldigungseid und leistete ihn erst 1864; in der dritten Republik wurde er erst in die Nationalversammlung und dann in den Senat gewählt. Sein ältester Sohn war der Präsident der Republik. Sadi Carnot, der unter dem Dolch eines italienischen Anarchisten fiel. Dieser Präsident war, seiner Familientradition getreu, von allen Präsidenten der dritten Republik der anständigste gegenüber der modernen Arbeiterbewegung.

Aus irgend einem literarischen Anlaß kam ich mit Hippolyte Carnot in Verbindung im Jahre 1886. Wir schrieben uns seitdem oft. Er schrieb mir französisch und ich ihm deutsch.

Einige Briefe dieses interessanten und deutschfreundlichen Franzosen seien hier wiedergegeben.

Am 26. Mai 1881 schrieb er mir aus Paris, nachdem ich ihn zur Vollendung des achtzigsten Jahres beglückwünscht:

»Ich habe das Glück, mein hohes Alter ohne irgend eine physische oder moralische Schwäche zu tragen. Ihre Aufmerksamkeit18 hat mich sehr ergriffen, denn die Erinnerungen an meine Jugend, die ich in Deutschland[204] zugebracht, sind mir immer teuer. Ich bin einer von denen; welche den grausamen Kampf beklagen, der sich zwischen unseren beiden Nationen entsponnen hat, und ich liebe es, zu glauben, daß wenn jemals die demokratischen Ideen dahin gelangen werden, in Ihrem Lande zu herrschen, unser Haß besseren Gefühlen weichen wird.«

Im Frühjahr 1882 schreibt er von einem Landaufenthalt im Departement Seine-et-Oise:

»Ich trage meine einundachtzig Jahre wie ein junger Mann und genieße zu gleicher Zeit all das Glück eines Großvaters. Soll ich hinzufügen, daß ich als Bürger das Glück habe, zu sehen, wie mein Vaterland von Tag zu Tag sich mehr kräftigt und mit entschiedenem Schritt die Richtung einschlägt, wohin es zu bringen, alle meine Anstrengungen zielten? ... Ich habe Deutschland zu lange nicht gesehen, um über seine gegenwärtigen Bestrebungen urteilen zu können, aber wenn ich mich in die Tage zurückversetze, da ich es näher gekannt habe, so scheint mir, daß es einen falschen Weg eingeschlagen hat. Statt einer moralischen und geistigen Einheit, die sein Bestreben schien, ist ihm eine politische Einheit auferlegt worden, welche vielleicht nicht seine Bestimmung ist und welche seinen Fortschritt mehr aufhält als ihn begünstigt. Man ist versucht zu glauben, daß dies mehr das Werk eines einzelnen Mannes ist, als der Nation selbst. Man hat Nutzen gezogen aus dem künstlichen Patriotismus, der sich in Deutschland als Abneigung gegen Frankreich nach den napoleonischen Kriegen gebildet hat ... Wenn Deutschland dahin gelangte bei sich selbst freiheitliche Einrichtungen zu begründen, so würde kein Grund mehr vorhanden sein, einen ernsthaften Konflikt zwischen Ihrem Lande und dem meinigen zu befürchten.«

Diese Auffassung eines deutschfreundlichen Franzosen von der deutschen Einheit ist immerhin bemerkenswert. Er dachte an das erste napoleonische Reich mit seiner überstraffen Zentralisation, das auch von einem einzelnen geschaffen worden, und hatte daraus seine Lehren gezogen.

Inzwischen hatte ich das Grab des großen Carnot in Magdeburg besucht. Eine einfache, mit Efeu bewachsene Steinplatte, nur mit dem Namen »Carnot« versehen, deckte die Gebeine des gewaltigen Mannes, dessen Genie 1793 die Heere der »verschworenen Könige« von den Grenzen Frankreichs zurückschlug. Ich pflückte einige Efeublätter von dem Grabe und sandte sie an Hippolyte Carnot nach Paris. Er antwortete mir von seinem gewöhnlichen Landaufenthalt Chabannais, während gerade wieder großes Kriegsgeschrei in der deutschen und französischen Presse war, am 4. Oktober 1883:

»Ich beeile mich, Ihnen zu danken für die Efeublätter, die Sie auf dem Grabe meines Vaters zu Magdeburg gepflückt und mir übersandt haben. Die Details über die Instandhaltung des Grabes haben mich sehr interessiert ... Ich glaube wie Sie, daß die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« die wahren Gefühle der Deutschen nicht mehr repräsentiert,[205] als unsere anarchistischen und legitimistischen Blätter diejenigen der Franzosen. Aber die Presse genießt bei uns eine absolute Freiheit, während sie bei Ihnen nur mit Erlaubnis der Regierung sprechen kann. Es ist also nicht ganz ohne Grund, wenn man sich durch die von der »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« beliebte Ausdrucksweise erregt fühlt. Was die Bevölkerung anbetrifft, so wünscht sie weder in dem einen noch in dem anderen Lande den Krieg; sie hat zu sehr nötig, zu arbeiten, um zu leben. Aber es gibt in beiden Ländern turbulente Minoritäten, und die Minoritäten reißen oft die Majoritäten mit sich fort. In Deutschland wird die Agitation durch eine Partei unterhalten, die im passenden Moment davon profitieren will, sei es auch nur, um für den Fall von Schwierigkeiten in der inneren Politik eine Ablenkung zu bewerkstelligen. In Frankreich geht die Agitation von einigen wenigen Ehrgeizigen aus, die nur auf den Sturz der Regierung sinnen, müßten sie auch einen Krieg oder unglückliche Krisen hervorrufen, und hinter ihnen rennen selbstverständlich die Narren einher, die gar keine Art von Regierung wollen. Wenn einige ehrenhafte Leute, von ihrer Hitze fortgerissen, von militärischer Revanche sprechen, so befindet sich die Masse der französischen Patrioten nicht auf diesem Wege; sie streben gewiß darnach. Frankreich die Provinzen zurückzugeben, die es verloren hat, aber diese Zurückforderung ist nicht von Rachedurst eingeflößt. Dabei, gestatten Sie mir, dies Ihnen zu sagen, stehen sie über den deutschen Patrioten von 1807 bis 1813, welche einen sehr heftigen Nationalhaß kundgaben;19 ihre Regierungen haben sich unglücklicherweise Mühe gegeben, ihn wach zu halten. – Trotz alledem lasse ich mich nicht abhalten, auf den endlichen Triumph der Vernunft und der Menschlichkeit zu hoffen.«

Am 12. April 1886 schreibt Carnot aus Paris in trüber Stimmung. Zwar freut er sich, daß ihm in diesem Moment ein Enkel geboren ist; allein die ihm widerwärtigen Parteikämpfe in Frankreich machen ihn bekümmert. »Als Bürger und Menschenfreund«, schreibt er, »erfahre ich nicht dieselbe Befriedigung wie als Familienoberhaupt. Ich würde mich noch trösten, wenn Europa nur eine ökonomische Krise durchzumachen hätte. Die Krisen dieser Art sind nur zeitweilig; sie hören nach mehr oder weniger langen Leiden durch eine Wiederherstellung des Gleichgewichts wieder auf. Was mich sehr beunruhigt, ist die geistige und sittliche Verwirrung, welche die Gesellschaft ergriffen hat und welche allgemein die Charaktere erniedrigt. Man stellt die Erziehung der Menschen und der Völker nicht wieder her, wie wenn man die Ruinen flickt. – Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich sage, daß Deutschland in dieser Beziehung eine ebenso schlimme Periode durchmacht, als Frankreich. Das hindert mich aber nicht, Vertrauen auf die Zukunft zu haben, wie fern sie auch sein mag.«[206]

Anläßlich eines Gedankenaustausches über die Wirkungen der großen französischen Revolution20 schreibt er im Frühjahr 1887: es freue ihn, daß man auch in Deutschland dem Frankreich von 1789 die Anerkennung zolle, die es bei allen Freunden der Freiheit verdient. »Wenn ich«, fährt er fort, »den unglücklichen Kampf von 1870/71 beklage, so geschieht dies nicht allein wegen des Unglücks, das er über mein Land gebracht, sondern auch, weil er den Haß neu geschürt hat, der durch so viele Friedensjahre erloschen schien und der nun vielleicht auf lange Zeit hinaus den großen Fortschritt der europäischen Gesellschaft aufhal ten wird. Die wahren Patrioten müssen wünschen, daß die Säkularfeier von 1789 weniger ein Fest der Franzosen als ein Fest aller Völker sei

Aus dieser wehmütigen Stimmung raffte sich der Greis empor, als sein Sohn zum Präsidenten der Republik gewählt wurde. Als ich ihn dazu beglückwünschte, antwortete er mir am 23. Dezember 1887 mit seinem unverwüstlichen Optimismus:

»Wenn die Streitigkeiten der Parteien in Frankreich sich beruhigen, können Sie dann nicht auch hoffen, daß in Deutschland der Geist der Gerechtigkeit triumphieren wird über die Intoleranz?«

Es war der letzte Brief, den ich von ihm erhielt. Sein Tod erfolgte nicht lange nachdem sein Sohn Präsident der Republik geworden, am 17. März 1888.

Der Magdeburgische Friedhofgärtner Lohrengel – das sei hier hinzugefügt – wollte seine angebliche besondere Fürsorge für das Grab Carnots 1864 benutzen, um von Napoleon III. das Kreuz der Ehrenlegion zu ergattern. Seine Bettelbriefe sind später ans Tageslicht gekommen.21 Er sandte dem französischen Botschafter in Berlin eine Photographie des Grabes nebst drei Efeublättern und schrieb dazu:

»Als Seine Majestät der Kaiser Napoleon III. die Überreste Carnots (nach Frankreich) überführen wollte, traf er bloß auf Undankbare. Dessenungeachtet haben diese edelmütigen Intentionen, die von jedermann gewürdigt werden, zur Folge gehabt, daß sie die Absichten von Carnot jun. vereitelten.« – Über diese Affäre ist mir nichts Näheres bekannt. Wenn Napoleon III. die Gebeine Carnots benutzen wollte, um sich damit populär zu machen, und wenn Hippolyte Carnot sich dem widersetzte, so tat der letztere nur; was ihm Ehre und Pflicht geboten, wofür allerdings ein nach einem Orden schnappender Friedhofsgärtner kein Verständnis haben konnte.

1891, während der Enkel des großen Carnot Präsident der französischen Republik war, wurden die Gebeine des »Organisators des Sieges«[207] nach Paris ins Pantheon übergeführt, wobei am Grabe in Magdeburg von preußischen Truppen die militärischen Ehrenbezeugungen erwiesen wurden. Ein französischer Journalist, der den feierlichen Akt mit ansah, erzählte mir, daß in dem geöffneten Sarge unter den völlig zerfallenen Überresten noch ein Reiterstiefel und ein lederner Handschuh zu bemerken gewesen seien.

Nach der meuchlerischen Ermordung des französischen Präsidenten Sadi Carnot durch einen italienischen Fanatiker unternahmen die deutschen Nationalliberalen eine Art Feldzug gegen den »Umsturz«, wobei sie die deutsche Sozialdemokratie mit der »moralischen Verantwortlichkeit« für die Attentate ausländischer Anarchisten belasten wollten. Das Fiasko der sogenannten Umsturzvorlage ist bekannt. Ich veröffentlichte damals einen Teil meiner Korrespondenz mit Carnot, um den Unsinn, der den Inhalt jenes Feldzuges gegen den Umsturz bildete, auch von dieser Seite zu beleuchten. –

Eine lebhafte Korrespondenz führte ich lange Jahre hindurch mit einem anderen berühmten Achtundvierziger, mit dem General Franz Sigel, der Deutschland 1849 verlassen und es nicht wieder gesehen hat.22 Sigel war bürgerlicher Demokrat und Republikaner; seine allgemeine politische Anschauung faßt er mir gegenüber in die Sätze zusammen: »Die Republik ist die Form, die Demokratie ist die Methode, durch welche sich die Elemente des Volkes entwickeln und um die politische Macht kämpfen können. Ich erkenne deshalb jede Bewegung an, die sich unter den bestehenden Gesetzen organisiert und offen und ehrlich nach Anerkennung und Macht strebt, mag die Bewegung politischer, sozialer oder religiöser Natur sein. Wir können uns also gut verstehen.«

Sigels politische Rolle ist bekannt; er war 1848 in Baden der militärische Führer des republikanischen Aufstandes, den man nach seinem politischen Führer Hecker benannt hat, und befehligte 1849 zeitweilig die badische Revolutionsarmee. Er war in Baden eine sehr populäre Persönlichkeit. Marx und Engels haben sehr abfällig über ihn geurteilt, während Johann Philipp Becker und Mieroslawski ihm hohes Lob erteilten.23 Im nordamerikanischen Bürgerkriege rettete er der Union den Staat Missouri und erfocht gegen die Südstaaten den bedeutenden Sieg von Pea Ridge. »I will to Sigel!« ward das Stichwort für die Deutschen, welche damals zu Hunderttausenden sich an dem Kampfe gegen die Sklavenbarone des Südens beteiligten und so, mit Marx zu reden, die Sturmglocke für die Emanzipation der europäischen Arbeiterklasse läuten halfen. Sigel erfocht in der zweiten Schlacht am Bull Run einen bedeutenden Erfolg gegen den gefürchteten südstaatlichen[208] General Jackson und bewies damit seine großen militärischen Fähigkeiten. Aber die eingeborenen amerikanischen Generale, namentlich der ebenso einflußreiche wie unfähige General Halleck, waren ihm aufsässig und als er, da man ihm zu wenig Mannschaft gegeben, das unbedeutende Treffen von Newmarket verlor, ward ihm sein Kommando genommen. Man setzte ihn nach dem Kriege in hohe Ämter ein, wo er sich hätte bereichern können. Er tat es aber nicht, was von den Yankees als Naivität aufgefaßt wurde. Er hatte im Alter viel Mißgeschick aller Art zu ertragen und wurde von taktlosen Leuten oft hämisch verspottet.

Ich war durch Amand Goegg, seinen Mitkämpfer von 1849, mit ihm bekanntgemacht worden, und er hat wie Goegg ein wertvolles Material für meine »Deutsche Revolution« geliefert. 1901 vertraute er mir die Herausgabe seiner Memoiren an, aber dies Buch konnte erst kurz nach seinem Tode 1902 erscheinen.24

Aus meiner Korrespondenz mit General Sigel sei hier nur ein Brief zitiert, welcher von Bedeutung für die Beurteilung des Verhältnisses zwischen den deutschen und den eingeborenen amerikanischen Offizieren ist.25 Es heißt da:

»Was Sie über Halleck und Grant schreiben, ist mir natürlich bekannt. Im Februar 1862, als ich noch in Missouri war, hatte ich mit Halleck ein Zerwürfnis, das seinen Grund darin hatte; daß er Papiere, die ich ihm für die Regierung, d.h. für den Präsidenten Lincoln zur Beförderung einschickte, nicht beförderte, das heißt, wie ich damals glaubte und noch glaube, unterschlug. Ich schrieb, nachdem ich auf seinem Bureau gewesen, er mir aber keine genügende Erklärung gegeben hatte, im Februar 1862 einen deutschen Brief an meinen Schwiegervater Dr. Dulon26 nach Newyork, worin ich ihm unter anderen Dingen auch das Verfahren Hallecks mitteilte und bemerkte, derselbe habe nicht als Soldat, sondern als »pfiffiger Advokat« gehandelt. Mein Schwiegervater ließ sich verleiten, diesen Brief, den ich als eine Vertrauenssache betrachtete, in einer deutschen Zeitung (Volkszeitung von dem bekannten Sozialdemokraten Dr. Douai) zu veröffentlichen, worauf der Brief durch die englischen Zeitungen im ganzen Lande die Runde machte. Da ich die Urheberschaft des Briefes nicht in Abrede stellte, Halleck auch nichts entgegnete oder mich offiziell zur Verantwortung zog – ebensowenig privatim – so blieb die Sache wie sie war. Aber von jener Zeit an saß mir Halleck auf dem Nacken und tat alles Mögliche gegen mich, ebenso gegen die deutschen Truppen und ihre Offiziere. Es läßt sich deshalb auch sein Bericht an Grant in[209] Beziehung auf das Treffen von Newmarket (1864) erklären.27 Daß Grant diese verläumderische Depesche in seine Memoiren aufnahm, hatte auch seinen Grund. Ich war während der Präsidentschafts-Kampagne von 1868 und 1872 für ihn und habe, wie ich glaube, viel für ihn getan, besonders im Staat und Stadt Newyork. Ich war aber gegen Grant, als er zum dritten Male gewählt werden wollte (1876), hauptsächlich wegen der korrupten Praktiken, die unter seiner Administration herrschten. Das konnte er mir nie vergessen und ebensowenig sein schriftstellerischer Gehilfe Badeau. So kam es, daß er oder Badeau die Gelegenheit benutzte, mir eins anzuhängen, wie man sagt. Die Intrigen Hallecks sind durch offizielle Dokumente bewiesen und begannen, ehe ich meinen Brief an Dulon schrieb; auch seine infamen Auslassungen gegen die ausländischen Offiziere, die in der westlichen Armee zu meiner Zeit in Missouri tätig waren, sind bekannt.28 Halleck ist übrigens abgetan, denn man hat seinen perfiden Charakter, seinen Egoismus und seine Unfähigkeit, die er als wirklicher Befehlshaber einer Armee gezeigt, kennengelernt. Die Abberufung Mac Clellans und seiner Armee von der Halbinsel war hauptsächlich Hallecks Werk. Er wollte seinen Schützling Pope ans Ruder bringen. Es gelang ihm, aber der Krieg wurde dadurch um ein Jahr verlängert.«

Der Kongreß bewilligte Sigel einen – recht mäßigen – Ehrensold und die Deutschen der Union setzten ihm ein schönes Denkmal in Newyork, ein anderes in St. Louis. Das Lied des amerikanischen Dichters Robinson: »Ich focht mit Sigel« ist heute noch in Nordamerika populär.

Elsie Sigel, deren schauerliches und mysteriöses Ende als Opfer einer chinesischen Mörderbande längere Zeit die Öffentlichkeit beschäftigte, war die Enkelin des Generals Franz Sigel. Er hatte das Glück, von dieser Katastrophe nichts mehr zu erfahren und auch nichts von den albernen Artikeln, welche gelehrte deutsche Philister über diese Affäre losließen. –[210]

Fußnoten

1 Walesrode sprach vom »sterbenden Vollmer« – bei dessen Lebzeiten natürlich – oder wie er in seinen letzten Augenblicken ein gestochenes Schwein schreien hört und zu seiner Umgebung sagt: »Es hat eine Sau geschrien, seht doch nach, wo es Metzelsuppe gibt.«


2 In den meisten Handbüchern wird als sein Geburtsjahr 1833 angegeben; er war aber zehn Jahre älter.


3 Schon grünt das Tal im Grunde,

Die Höh'n doch schimmern weiß,

Das sei dir gute Kunde,

Du lieber Dichtergreis usw.


4 Exceptio plurium, bei Alimentationsprozessen die Einrede des Beklagten, daß auch andere in der kritischen Zeit mit der Klägerin verkehrt haben.


5 Der damalige Stadtdirektor Seeger war ein klassisches Beispiel jener 48er Demokraten, die im ersten Sturm der Bewegung die bureaukratische Schlangenhaut abwarfen, sie aber dann wieder nachwachsen ließen. Als 1849 der badische Maiaufstand ausbrach, schickte die provisorische Regierung ihr Mitglied Fickler nach Württemberg, um auf der Landesversammlung der Demokratie zu Reutlingen für den Anschluß Württembergs an Baden zu wirken. Kaum in Stuttgart angekommen wurde Fickler auf der Königsstraße verhaftet. Er sprach das zusammenströmende Volk an und bat es, dem Demokraten und Stadtdirektor Seeger seine Verhaftung mitzuteilen. Aber der Fickler begleitende Polizist sprach in mitleidigem Tone: »Descht jo grad der Herr Stadtdirektor Seeger, wo Sie feschtnemme läßt! Fickler, der fest auf seine Befreiung durch Seeger gehofft, ergab sich verblüfft in sein Schicksal und wurde sofort auf den Asperg gebracht. Solche Dinge passierten den leichtgläubigen Demokraten noch mehrfach.


6 Das Gefecht bei Hemsbach an der Bergstraße fand am 30. Mai 1849 statt, demselben Tage, an dem das Frankfurter Parlament die Übersiedelung nach Stuttgart beschloß.


7 Den unbedeutenden, aber reaktionären Streber Fallati aus Hamburg hatte man in den fünfziger Jahren zum Oberbibliothekar der Tübinger Universität gemacht.


8 Inzwischen verstorben.


9 Karl Friedrich Reinhard aus Schorndorf, kam während der großen Revolution als Erzieher nach Frankreich, schloß sich den Girondisten an und kam, obwohl ursprünglich Theologe, durch diese in eine diplomatische Laufbahn, wurde verschiedene Male Gesandter und 1799 auch kurze Zeit Minister des Auswärtigen. Er regierte als Gesandter Napoleons eigentlich das Königreich Westfalen. Später war er Gesandter der Bourbonen beim Bundestag in Frankfurt am Main. Er starb 1837. Sein Briefwechsel mit Goethe ist 1851 erschienen. Es leben noch verschiedene Nachkommen von ihm.


10 Die Mühle, die heute den Fremden gezeigt wird, ist eben so »historisch« wie das Haus des Käthchens von Heilbronn. Weinsberg wurde 1325 gänzlich niedergebrannt.


11 Kakodämonen = böse Geister, wie sie Justinus zu sehen oder zu fühlen glaubte.


12 Ich sah das Bild zu Lebzeiten Theobalds noch einmal in einer Porträts-Ausstellung zu Stuttgart; es hieß, das Bild sei in den Besitz eines Arztes übergegangen.


13 Ein Lenau-Denkmal hatte auch besser nach Weinsberg als nach Eßlingen gepaßt.


14 Napoleon III.


15 Während der hundert Tage verlieh Napoleon an Carnot, der damals Minister des Innern war, den Grafentitel, indessen machte und macht diese republikanische Familie von diesem Titel keinen Gebrauch, was im jetzigen Frankreich immerhin viel heißen will.


16 Die Carnots wohnten zu Magdeburg in dem altertümlichen Hause Große Schulstraße 15, wo sich jetzt eine Wurstfabrik befindet. Auf dem Internationalen Kongreß zu Stuttgart sprach ich mit Jaurès über diese Dinge und wir waren einig in der Meinung, daß die Franzosen an dem Hause eine Gedenktafel anbringen sollten. Jaurès wollte in Paris eine entsprechende Anregung geben, aber er kam nicht dazu.


17 Heilige Lehranstalt.


18 Ich hatte ihm in Aussicht gestellt, nach dem Grabe seines Vaters zu Magdeburg zu sehen.


19 Er meinte, wie er an anderer Stelle sagte, die Dichtungen von Arndt und Heinrich von Kleist mit ihrer Franzosenfresserei.


20 Hippolyte Carnot hat die Memoiren seines Vaters und diejenigen der berühmten Konventsmitglieder Bertrand Barrère und Bischof Grégoire herausgegeben. Namentlich die beiden ersteren Werke sind außerordentlich wichtig für die innere Geschichte der Regierung des Wohlfahrtsausschusses und des Direktoriums.


21 Siehe »Briefe deutscher Bettelpatrioten an Louis Napoleon Boneparte«. Von Bernhard Becker. Braunschweig bei Bracke, 1873.


22 Sigel war 1824 zu Sinsheim geboren und ist 1902 zu Newyork gestorben.


23 Die Unordnung, welche Karl Marx 1849 im Mai bei den badischen Revolutionstruppen sah, ist fälschlich Sigel zur Last gelegt worden, denn als Marx in Mannheim war, hatte Sigel den Oberbefehl noch gar nicht übernommen.


24 Denkwürdigkeiten des Generals Sigel aus den Jahren 1848 und 1849. Herausgegeben von Wilhelm Blos. Mannheim; 1902.


25 Der Brief ist auch in den Denkwürdigkeiten Sigels angeführt.


26 Bekannter Achtundvierziger, der in Bremen gewirkt hatte.


27 Dort hieß es: »Sigel tut nichts als laufen und hat nie etwas anderes getan.«


28 Halleck bezeichnete die als Offiziere in der Unionsarmee dienenden politischen Flüchtlinge, die wegen Beteiligung an den Aufständen von 1848 und 1849 verurteilt waren, als »Verbrecher«.

Quelle:
Blos, Wilhelm: Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten. 2 Bde, 2. Band. München 1919, S. 211.
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