IX.

Ein Besuch in den Tuilerien.

[49] Am Tage nach meiner Ankunft machte ich dem Gouverneur der Tuilerien, meinem so unversehens vom Fayence-Fabrikanten in Brüssel zu einem hohen Staatsposten beförderten Freunde Imbert einen Besuch. Das lange Gitter vor dem Tuilerienhofe lag am Boden, im übrigen war das große Königsschloß unversehrt. An allen Eingängen stand die sakramentale Inschrift: Propriété nationale, die gleich einem Schutzengel wirkte. Das monumentale Gebäude, an welchem seit der Katharina von Medici so viele weltgeschichtliche hervorragende Fürsten gebaut hatten, machte trotz seiner Ausdehnung und mancherlei Einzelschönheiten keinen imposanten Eindruck. Heinrich IV. hatte den ersten Bau durch Hinzufügung des Pavillon de Flore vergrößern und durch eine Galerie längs des Seineufers mit dem Louvre verbinden lassen. Ludwig XIV. ließ das Schloß teilweise erhöhen, setzte dem Pavillon de l'Horloge ein plumpes Dach auf und fügte dem Ganzen einen neuen, geschmacklosen Pavillon hinzu, von welchem aus Napoleon I. eine zweite Galerie zu errichten begann, die dazu bestimmt war, noch eine Verbindung mit dem Louvre herzustellen, jedoch erst unter Napoleon III. vollendet wurde.

Die Tuilerien waren nach tapferer Verteidigung durch die Schweizer von den Pariser Sektionen am 10. August 1792 erstürmt worden, und Ludwig XVI. mußte sich mit seiner Familie in den Schutz der Nationalversammlung begeben. Im Palast der Bourbonen hielt alsdann der Konvent seine Sitzungen. Später bewohnte ihn Napoleon als erster Konsul und als Kaiser. Ihm folgte Ludwig XVIII., Karl X. und Louis-Philippe, der letztere gleich seinem Vorgänger zur Flucht aus dem Schlosse der Könige Frankreichs gezwungen. Nun aber thronte darin seine irdene Herrlichkeit, der Steingutfabrikant Imbert, und empfing ohne alle Zeremonie den geringsten der Sterblichen, der ihm herzliche Grüße von Frau und Kindern brachte.

Die Tuilerien sind nicht mehr. Nicht einmal die berühmte »eine letzte Säule« zeugt von entschwundener Pracht. Die Kommunarden haben den ausgedehnten Palast, an den so zahlreiche, erhabene und gemeine historische Erinnerungen sich knüpfen, angesichts des deutschen Siegers, der die befestigte Stadt in seine Gewalt[50] gebracht, in Brand gesteckt, und jetzt ist die Stelle, auf welcher der Palast sich erhoben hatte, dem Erdboden gleich.

Ich fragte nach dem Herrn Gouverneur. Ein ehemaliger Fürstendiener, der in den Dienst der Republik übergegangen war, geleitete mich in die Appartements des Prinzen Joinville, in denen Freund Imbert seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Imbert empfing mich mit einem freudigen Ausruf. Seine neue Würde hatte ihn durchaus nicht stolz gemacht. Er umarmte mich voll Herzlichkeit, ließ sich von mir erzählen, wie ich zuletzt die Seinen angetroffen und wie es allen Freunden in Brüssel ergehe. Ich erzählte, was ich erlebt, und er erzählte seine Erlebnisse.

Ich mußte mit ihm frühstücken. Der Herr Gouverneur läutete. Ein Diener trat ein. »Monsieur le gouverneur est servi,« lauteten seine Worte. Wir traten in einen Saal nebenan. Für den Gast wurde auf einen Wink ein zweites Couvert aufgelegt. Wir aßen aus der Küche des Prinzen Joinville, wir tranken den Wein aus seinem Keller, und ich muß es ohne zu erröten gestehen, wir hatten in unserm verhärteten Gemüt nicht einmal die Empfindung einer damit begangenen Missetat. Die Herrlichkeit aber dauerte für unseren Freund Imbert nicht lange. Nach einigen Wochen war in den Pariser Zeitungen zu lesen, daß der Posten eines Gouverneurs der Tuilerien einem General übertragen worden sei. Ob die Republik sich in anderer Weise gegen Imbert dankbar erwiesen, das ist mir nicht bekannt geworden.

Die junge Republik war dankbar gegen ihre Begründer und Verteidiger. Davon sollte mir, als ich eben aus den Tuilerien getreten war und im Schloßhof mich umsah, ein unvergeßliches Beispiel vor Augen geführt werden. Aus den zu ebener Erde gelegenen Räumen des alten Palastes traten wohl an die zweihundert der sonderbarsten Gestalten, die einem auf Erden begegnen können. Barrikadenkämpfer, so sagte man, und sie stellten sich auf vorausgegangene Anordnung in zwei Gliedern auf.

Viktor Hugos ausgezeichneter Roman »Notre Dame de Paris« ist dem modernen Geschlecht leider unbekannt. Sie wüßten sonst, was es heißen will, wenn ich sage, ich hätte lauter Gestalten aus der Cour des Miracles vor mir gesehen. Was eine ungeheure Stadt an menschlichem Bodensatz, an vollständig gescheiterten Existenzen besitzt, das kommt an Tagen eines Volksaufstandes, auch wenn er aus den sittlich gesundesten Kreisen der Bevölkerung hervorgegangen, an die Oberfläche, nicht um zu kämpfen und das[51] Leben für den Sieg einer hohen Idee einzusetzen, sondern um auf den Augenblick zu warten, wo es ohne Gefahr etwas zu gewinnen gibt. Während des Kampfes wagt jenes »Lumpenproletariat« – der Ausdruck rührt von Marx her – sich nicht hervor. Wenn die Kämpfenden ihre Pflicht erfüllt haben, Sieger und Besiegte sich todmüde hinlegen, dann ist die Stunde für die Niedrigsten der Niedern, für die unrettbar Verlorenen herangerückt, dann kommen die Schlachtenhyänen, wie man sie im ernsten Kriege genannt hat, und vollziehen ihr nächtliches Werk. Als die Tuilerien eingenommen waren, gab es natürlich ein arges Drunter und Drüber. Ein Teil derjenigen, welche den alten Königssitz gestürmt hatten, – die jungen Idealisten nämlich – blieb wohl die Nacht über auf dem eroberten Platz und schützte ihn. Am frühen Morgen schrieb man dann an alle Türen das mahnende Wort »Propriété nationale.« Aber es waren nach und nach doch wenig achtungswerte Elemente über den seines Gitters beraubten offnen Schloßhof durch die zertrümmerten Fenster in die unteren Räume des langgestreckten Gebäudes eingedrungen, und denjenigen, welche mit ihrer Beute nicht verschwanden, war es eine so wonnige Empfindung, einmal ihre Glieder auf zusammengetragenen Polstern im Königspalast auszustrecken. Viele von ihnen zogen freiwillig am andern Morgen wieder ab, abends aber waren die verführerischen Räume im Erdgeschoß wieder gefüllt. Es ging nicht gut an, die Leute erbarmungslos in die Nacht hinauszujagen. Endlich aber mußte Ordnung geschafft werden, und so wurde den Eindringlingen angekündigt, daß sie am nächsten Tage das Nationaleigentum der Tuilerien auf Nimmerwiederkehr zu verlassen hätten.

Und so befanden sie sich nun in zwei Gliedern aufgestellt im Schloßhof. Es waren fast alles Leute, die das kräftige Jugendalter überschritten und das, was man den redlichen Kampf ums Dasein zu nennen berechtigt ist, schon hinter sich hatten. Der Alkohol, den Zola in seinem Roman »l'Assommoir« mit allen seinen giftigen Wirkungen gewissermaßen als eine mystisch-diabolische Persönlichkeit uns dargestellt, hatte auf die meisten der blöden Gesichter seine Signatur eingegraben. In Fetzen gehüllt, standen die verlotterten Gesellen da, das Unzusammengehörendste an zerrissenen und schmutzigen Kleidungsstücken auf dem Leibe. Dazu waren sie noch mit einzelnen Waffenstücken aus allen Trödlerläden von Paris behängt. Ein ganzes Gewehr, mit dem man noch[52] einen Schuß hätte abgeben können, hatte niemand aufzuweisen; der eine blickte stolz auf einen verbogenen Säbel, der andere wies ein Stück von einer Lanze auf, oder gar nur eine Säbelscheide, eine Patronentasche. Sehr imposant nahm sich einer der Tapfern mit einem Helm auf dem Kopfe als einziges Stück einer soldatischen Ausrüstung aus.

Vor diese Spottgestalten trat nun ein General, dessen Name mir nicht mehr erinnerlich ist. Er hatte den Auftrag, sie zum freiwilligen Aufgeben ihrer Schlafstellen in den Tuilerien zu bewegen. »Bürger«, redete er sie an, »Ihr habt um das Vaterland Euch wohl verdient gemacht, und das Vaterland, das so viel Schmerzen zu stillen, so viel Wunden zu heilen hat, es gedenkt auch Eurer, der glorreichen Verteidiger seiner in blutigen Kämpfen errungenen und stets wieder bedrohten Freiheit, das Vaterland vergißt Euch nicht, Euch, die ärmsten seiner Söhne, die seiner Fürsorge Würdigsten. Ihr müßt dies Haus verlassen, das noch vor wenigen Tagen der Sitz eines stolzen Königs war, den Ihr vertrieben habt, weil er den Volkswillen nicht zu beachten verstand; dies Haus gehört jetzt der Nation. Sie allein hat jetzt darüber zu verfügen. Geht zurück in jenen Saal, aus dessen Fenstern unsere ruhmvolle Tricolore Euch grüßt. Dort harren Eurer mehrere Eurer Mitkämpfer. Lege ihnen jeder von Euch freimütig seine Wünsche dar, sie sollen Euch gewährt werden. Nicht Geld, das Ihr verachtet und dessen Annahme Euch peinlich wäre, bietet die Republik Euch an; doch möchte sie nicht, daß ihre Verteidiger, die ihren Leib dem Feinde entgegengeworfen, und dabei das eingebüßt haben, womit der Tapfere seine Blöße bedeckt, zerfetzt einhergehen. Was jeder von Euch an ehrbaren Kleidungsstücken braucht, das erkläre er ohne Scheu vor jenen dazu bestellten Männern. Es soll ihm gereicht werden. Euch alle aber fordere ich auf, angesichts des klaren Himmels, der auf unsere junge Freiheit herniederstrahlt, in den Ruf einzustimmen: »Es lebe die Republik!«

»Vive la république!« erscholl es aus aller Munde. Die Schlacht war ohne Blutvergießen, ohne jede Gewaltanwendung, durch eine einfache Rede gewonnen. Die ungebetenen Gäste, nachdem sie ihre Wünsche hatten aufschreiben lassen – nur wenige verlangten eine vollständige Kleidung, die meisten begnügten sich mit der Erneuerung des einen oder anderen Gegenstandes – verließen ihre ihnen lieb gewordene Schlafstätte, und es wurde ohne[53] Verzug für die Wiederherstellung der Tuilerien in ihren früheren Stand gesorgt.

Als ich in die Stadt zurückkehrte, begegnete ich einem Zuge der Pariser Wäscherinnen, die im Begriff waren, wie die Dames de la Halle es schon getan, der provisorischen Regierung zu gratulieren. Auf ihrem ganzen Wege erklang wieder das »Mourir pour la patrie«. Es war trotz dieses Hymnus auf den Schlachtentod ein heiterer Festzug, er wurde in den Straßen mit den lebhaftesten Zurufen begrüßt, alles kicherte, lachte, die Augen strahlten und flammten, und Witzpfeile flogen hin und her.

Von den fremden Nationalitäten hatten schon die Polen, die Amerikaner und die Italiener die provisorische Regierung in glänzendem Aufzug begrüßt. Die Deutschen, die zahlreichsten in Paris niedergelassenen Ausländer, brauchten längere Zeit, um sich zu einem gemeinsamen, politischen Akt zu organisieren. Endlich am 6. März, erklärten sie sich bereit, dem Beispiel der anderen Nationalitäten zu folgen.

Quelle:
Born, Stephan: Erinnerungen eines Achtundvierzigers. Berlin, Bonn 1978, S. 49-54.
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