Meine Kindheit in Schmölln

[28] Schmölln mochte zu jener Zeit 6000 Einwohner gezählt haben; heute ist es noch einmal so stark bevölkert. Die Hauptindustrie daselbst ist die Steinnußknopffabrikation, welche ich den Lesern später ausführlich beschreiben werde. Seit Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ist auch die Holzschuh- und Pantoffelindustrie sehr emporgeblüht; und wie diese nach Schmölln gekommen ist, weiß ich ebenfalls genau zu berichten. Zum ersten Male wird Schmölln um das Jahr 800 n. Chr. in der Geschichte erwähnt, denn daselbst residierte zu jener Zeit Graf Bruno von Pleißen und Osterland, Herr zu Schmolen etc. etc., von dem die Legende besteht, daß er einst auf einer Eberjagd in der Gegend des heutigen Krimmitschau von seinen Begleitern abgekommen war und plötzlich vor einem riesigen Eber gestanden hat. Sein Pferd stürzte noch dazu und er kam ebenfalls zu Fall, worauf er durch den Eber schwer verletzt wurde. Er hat dabei die Worte gesagt: »Soll ich hier in Kummer und Elend verschmachten?« Aus dem Grunde ist später eine Kapelle an jenem Orte errichtet worden und heute steht das Dorf Kummer daselbst. Doch das nur nebenbei. Ich bin einmal ein Freund von solchen Geschichten und kann das nicht gut umgehen.

Also es war ein neuer Wohnort und ich natürlich sehr neugierig, die noch nie gesehene nähere Umgebung kennen zu lernen, d. h. damit meine ich nur den Bahnhof und die umliegenden Straßen und den dahinter durch die Stadt fließenden Sprottenfluß, an dessen Rändern ich besonders gern weilte. Allein immer mußte ich erst der an der Nähmaschine sitzenden Mutter die Zahlen von 1 bis 100[28] laut vorsagen, dann noch un, deux, trois, quatre bis dix, und eins, zwei drei – gings die Treppe hinunter, froh, der dumpfen Stube entrinnen und dafür in Gottes freier Natur herumtummeln zu können. Allerdings kam es dabei auch einmal vor, daß ich in meinem jugendlichen Eifer mit dem Kopfe an eine Wagendeichsel rannte; denn vor unserem Hause standen die Kohlen- und Getreidewagen immer zu Dutzenden herum. Dann gab es allemal ein groß' Geschrei über das Blut und das Loch im Kopfe, und von der Mutter und dem manchmal auch dazu kommenden Vater gab es auch als schmerzstillendes Rezept eine Extraauslage hinten drauf.

Im ersten Jahre hatte ich nur eine Bekanntschaft, die Beyer Lina, ein etwa 12jähriges, großes Mädchen, das mich Sonntags öfter mit spazieren nahm, mir das große Alphabet vorschrieb, wenn sie zum Wegebesorgen bei meiner Mutter war und dann und wann auch Haus hielt, wenn meine Eltern einmal am Abend ausgingen. Ich fragte sie dann, ob sie auch beten könne und ließ mir das Vaterunser vorsagen; denn meine Mutter hatte mir nur das Gebet gelernt: »Ich bin klein, mein Herz ist rein und niemand soll drin wohnen als Jesus allein.« Ich plapperte es jeden Abend laut im Bett und dachte mit Bewunderung und Staunen an diesen Jesus, den ich nicht kannte. Im übrigen vertrieb ich mir die Zeit meist allein mit Kreiseldrehen, oder hockte bei meinem Vater in dessen Bahnwärterhäuschen, und schaute zu, wie er feste drauf los schusterte. Damals nämlich verfertigte er sämtliches Schuhwerk, was für die Familie gebraucht wurde, selbst. Das Sohlenklopfen hörte ich ganz besonders gern an, und die Leute schauten gar manchmal zum Fenster hinein, wie mein Vater mit der linken Hand (er war von Jugend auf links gewöhnt, und arbeitet heute noch alles mit der linken Hand) den Hammer auf das Leder niedersausen ließ. Durch diese Arbeiten, zu denen die Schneiderei meiner Mutter kam, wurde mancher Taler weniger ausgegeben, als es sonst der Fall gewesen sein würde.

Vielfach spaßte ich auch mit meinem jüngeren Bruder Felix am Sprottenufer. Dort mündeten die städtischen Abwässer in einen großen Kanal ein. Etwa 3 bis 400 Meter entfernt war in der Mittelgasse[29] ein größeres Senkloch angebracht. Die größeren Knaben stiegen nun dort hinab, zogen uns nach und dann wurde durch den stinkenden Schlamm, die Hosen so weit als möglich aufgekrempelt, die unterirdische Wanderung angetreten, bis man den Mündungsausgang an der Sprotte erreichte. Ich atmete immer ordentlich auf, wenn ich das Tageslicht wieder sah. Viele Jahre später, als ich Viktor Hugos Roman »Die Armen und Elenden« las, dachte ich bei seinen Schilderungen der Pariser Kloaken oftmals an dies leichtsinnige Jugendvergnügen, Ich sah mich wieder in der schaurigen Finsternis, von den ekelhaften Gerüchen umgeben (stören tat es uns damals freilich nicht), ich hörte den Jubel wieder, der ausbrach, wenn wir glücklich am Ausgange angelangt waren. Nur die Ohrfeigen spürte ich nicht mehr, die es gegeben hatte, wenn der Vater hinzukam. Dann aber hielt ich mich stets tagelang nur in seiner Umgebung auf. Königlich freute ich mich und dünkte mich wer weiß was, wenn mein Vater mich mit auf die Bahnmeisterdräsine nahm und auf den Schienen losfuhr.

In jenen Tagen sah ich auch den ersten Jahrmarkt in meinem Leben. Ich erinnere mich noch sehr gut daran. Die Schaubuden wurden damals in der Nähe unserer Wohnung, auf dem heutigen Schillerplatze, aufgestellt, und wo heute das Kaiser Wilhelmdenkmal in die Luft ragt, war in jenen Tagen eine Menagerie aufgestellt, in der ich zum ersten Male wilde Tiere sah. Ganz besonders habe ich mir ein Krokodil eingeprägt, dem eine große mit Blech ausgeschlagene Kiste als Domizil eingerichtet worden war. Der Menageriebesitzer ließ sein Schauunternehmen photographieren. Mein Vater steht auf dem Bilde im Vordergrunde an seinem Schlagposten. Er hat die Schranken geschlossen und hält in der rechten Hand die Aufzugstange. Ich sollte nicht auf das Bild und aus dem Grunde hinter einen daneben lagernden Schwellenhaufen kriegen. Allein ich muß wohl zu langsam gewesen sein, denn auf dem Bilde sieht man neben den Schwellen ganz verschwommen ein kleines Kerlchen, meine Wenigkeit, hocken. Im Hintergrunde dagegen war die Menagerie zu sehen. Am Eingange der Besitzer nebst seiner Frau Gemahlin. Daneben noch eine kleinere Schau-Bude, vor der[30] sich eine Riesendame postiert hat. Auch mein Vater erhielt ein solches Bild, wenn ich nicht irre, ist es heute noch da, trotzdem mehr als ein Vierteljahrhundert seit jener Zeit verfloß.

Schon in jener Zeit war mein Vater leicht erregbar und diese Nervosität (wie der moderne Jähzorn genannt wird), die übrigens auch auf mich übergegangen ist, hat er auch heute noch. Damals hatte er mehrere Tagelang an starken Zahnschmerzen gelitten. Da ließ er den Barbier und »Chirurg« Schick zu sich in das Wärterhäuschen kommen, um den Zahn entfernen zu lassen. Der Barbier würgte nun eine halbe Stunde lang, bevor er meinem Erzeuger den Störenfried übergeben konnte. Als dieser ihn betrachtete, sah er je doch zu seinem Entsetzen, daß der alte Schick ihn einen gesunden Zahn gezogen und den kranken stehen gelassen hatte. Mein Vater geriet darüber dermaßen in Wut, daß er dem Barbier eine Backpfeife gab, und zwar so heftig, daß dieser an die Wand taumelte. Dann stürzte er zu uns nach Hause und hätte am liebsten seinen Zorn an der Mutter ausgelassen.

Aus jenen Tagen ist mir auch ein ehelicher Zwist meiner Eltern ganz besonders in Erinnerung geblieben. Ich glaube, es war eines Sonntags, die Ursache weiß ich leider nicht anzugeben, und es kam so weit, daß mein Vater sich das Leben nehmen wollte. Ich verstand zwar den Ernst der Sache noch nicht so, aber daß es verhängnisvoll werden konnte, merkte ich, als mir mein Vater mit den Worten: »Da, mein Junge, hast Du meine Uhr, behalte sie als Andenken,« seine Taschenuhr übergab. Während sich nun meine Mutter ihm an den Hals warf und ihn mit Worten: »Mein Eduard, vergib mir, tue das nicht,« mit Küssen traktierte, schleifte ich die Uhr in der Stube umher, die Uhrkette als Leine benutzend. Die Eltern saßen am Bettrand in der Kammer, küßten sich und nach einiger Zeit war der Sturm vorüber.

Weihnachten desselben Jahres erhielten wir beiden Knaben jeder einen Pferdestall geschenkt und als besonderes Geschenk ein drittes Brüderchen, Viktor Oswald mit Namen. Außerdem bekam ich noch ein Bilderbuch mit wunderlichen Illustrationen, die ich mir heute noch ganz gut im Gedächtnis vorstellen kann, trotzdem das[31] Buch selber nicht lange gehalten hat. Der Titel des Buches war, wenn ich nicht irre, »König Mammon«. Der König selbst war als ein sehr dicker Mann auf einer Menge Geldstücke sitzend dargestellt. Die Krone zierte seinen Kopf, und in der Hand hielt er das Szepter und den Reichsapfel. Finster und brutal waren seine Gesichtszüge. Eine Menge Hexen mit verzerrten Gesichtszügen, lang herabhängenden welken und spitzen Brüsten, Schlangen statt Haare auf dem Kopfe, waren noch in dem Buche zu sehen. Viele schwangen brennende Fackeln und Peitschen in der Hand. Heute weiß ich, daß es das erste sozialistische Bilderbuch gewesen ist, das ich damals im Alter von 5 Jahren geschenkt bekam, und daß die Bilder symbolische und allegorische Gestalten darstellten. Ich erinnere mich aus jener Zeit auch noch an die »Neue Welt« und das »Lämplein«, erstres das Unterhaltungs-, letzteres das Witzblatt der damaligen sozialistischen Partei. Auch Reinecke Fuchs mit dem König Nobel war damals in einer besonderen Parodie, wenn ich nicht irre, als Agitationsschrift herausgegeben worden. Noch heute sehe ich den König Nobel auf dem Throne sitzen, vor ihm der angeklagte Fuchs, dahinter Braun, Hintz und Isegrimm, in der Luft das fliegende Getier. Alle diese Schriften und Zeitungen mußte ich regelmäßig zu einem Weber Namens Martin in der Bergstraße tragen, der sie dann unter die Arbeiter weiter verteilte. Heute weiß ich, was alle diese Schriften zu bedeuten gehabt haben.

Mehrere Tage nach Neujahr, als wir 2 Brüder mit unseren Pferdeställen spielten, war wieder einmal der Teufel bei uns los. Im Jähzorn trat mein Vater unsere liebgewonnenen Pferdeställe kurz und klein. Wir haben sehr darüber geweint und aus Rache den »König Mammon« entzwei gerissen; das weiß ich heute noch. Einige Wochen später hatten wir uns beide eine Erkältung zugezogen und waren an Diphteritis erkrankt. Mein Vater legte uns deshalb große Speckschwarten um den Hals und schnürte fest zu. Wir mochten sie zwar nicht leiden, aber es half alles Widerstreben nichts. Wir blieben ohnmächtig gegen die fettige Umklammerung des Halses. Schließlich erlangten wir auch unsere Gesundheit wieder.[32]

Dann auch kam der langersehnte Tag, an dem ich auch zum ersten Male die Schule besuchen sollte. Es war Ostern 1879. Ich trat in die 6. Klasse der Bürgerschule ein. Ein kleiner dicker Lehrer Namens Schmidt, der ungefähr 42 Jahre alt sein konnte, nahm uns freundlich in Empfang und überreichte uns nach Schulschluß große Zuckerdüten. O wie freute ich mich, als ich die Meinige in den Händen hielt. Ich wußte damals noch nicht, daß die Eltern die Düten selbst kaufen müssen und wunderte mich darüber, daß viele andere Kinder nur ganz winzig kleine Düten, im Verhältnis zu meiner bekamen.

Am ersten Schultage hatten wir weiter keinen Unterricht mehr. Am zweiten ging es mit dem i los. Denn in unserer damaligen Fibel war i der erste Buchstabe. »Auf, i und Punkt«, wurde beim Schreiben buchstabiert. In dieser Weise wurde fortgefahren, bis das ganze Alphabet durch war. Mir fiel es leicht, weil ich schon alles konnte, auch das Rechnen bereitete mir keine Schwierigkeiten, da ich bis 100 auswendig zählte und mit dem Lesen kam ich auch nach dem ersten Buchstabieren gut von statten. Am meisten fesselten mich schon die Erzählungen der biblischen Geschichte; denn da wurden bunte Bilder an die Wandtafel gehängt, und ich war immer schon auf das nächste gespannt. Noch heute sehe ich den kleinen Moses im Kästchen zappeln, das ins Schilf niedergesetzt war und die badende Königstochter vor mir, die ihn dann zu sich aufnahm.

Wir zogen dann in eine andre Wohnung. Es gefiel meinen Eltern nicht mehr bei dem Kohlenhändler und wir wohnten nun bei einem Hutmachermeister Haller am Markt. Er hatte einen Sohn Oskar, der mein Schulkamerad blieb bis zur Entlassung, trotzdem wir nur ein Jahr bei ihnen gewohnt haben. Er hat mir oft leid getan, wenn er von seinem Vater in den Schweinestall gesperrt wurde, was jedesmal der Fall war, wenn er nicht pariert hatte.

Unsre Wohnung lag im Hintergebäude in der ersten Etage. Im Vorderhaus wohnte der Lehrer Bläsig, der aber nur Mädchen unterrichtete; wir sind mit allen diesen Leuten gut ausgekommen. Das Einzige, was mißfiel, war der Ausblick nach dem Hof. Denn mein Vater wollte Aussicht auf die Straße haben.[33]

Es waren daselbst auch mehrere Hutmachergesellen in Arbeit, denen wir immer sehr gern beim Filzwalken zusahen; und die manchen Spaß mit uns Jungen gemacht haben. Einer davon Namens Emil war als Krüppel geboren, er hatte ganz schiefe Beine, die einem Sägebock auf ein Haar glichen, denn die Oberschenkel waren einwärts gerichtet und die Unterschenkel stark nach auswärts. Doch war dieser Emil ein besonders guter Mensch.

Am Gründonnerstag wurden zu damaliger Zeit die sogenannten gelben Stollen, auch Zöpfchen genannt, gegessen und dieser Umstand führte an jenem Tage, es war im Jahre 1880, eine kleine Gesellschaft von uns Schulkameraden bei dem Mitschüler Klopfer zusammen. Neben diesem, mir und Haller nahm noch ein gewisser Franz Wunderlich, einer Witwe Sohn (den übrigens jetzt auch schon die grüne Erde deckt, trotzdem er bei der Gardefeldartillerie gedient hat), und Ernst Dietzmann, dessen Vater Diakonus in Schmölln war, an dem Gelage teil. Es wurden gelbe Stollen und Kaffee serviert. Der kleine dunkelblondgelockte Pastorssohn gefiel mir ganz besonders. Ich war ihm vom ersten Augenblick, da ich ihn sah, zugetan, und ahnte an jenem Tage nicht, daß wir später die treuesten Schul- und Jugendfreunde werden sollten, die es wohl je gegeben hat. Wir liebten einander, lagen Tag für Tag zusammen und waren wie Brüder. Da ich die Vorkommnisse der Reihe nach schildern will, so müssen wir jetzt von Ernst Dietzmann für einige Zeit Abschied nehmen. Er wird uns noch oft bei der Kindheitsbeschreibung begegnen und wie wird er sich freuen, wenn ihm einst diese Schilderungen in die Hand fallen sollten! Ich grüße ihn, und er kann getrost an seinen Magnus denken – so nannten mich nämlich später die Kameraden in der Lateinschule –, obgleich dieser ein Proletarierkind war und Proletarier geblieben ist bis auf den heutigen Tag.

Das Jahr ging vorüber. Mein Vater hatte inzwischen in dem Lohgerber Schmidtschen Hause an der Sprotte in der zweiten Etage eine neue Wohnung gefunden. In dieser haben nun meine Eltern sehr viel Ungemach erdulden müssen; auch sollte es das Sterbehaus meiner Großmutter werden. Die Hausbesitzerfamilie waren nette Leute. Herr Schmidt selbst war etwas kränklich, sodaß der Gerberei[34] in der Hauptsache sein Bruder vorstehen mußte. Aber in der ersten Etage wohnte die Witwe Bäumer. Das war ein Hausdrache. Klatscherei, Schimpferei, Verleumdung und Hinterlist waren ihre Haupteigenschaften. Von was sie lebte, wußten wir nicht. Jedenfalls von der Unterstützung ihrer Söhne. Einer derselben hatte eine Glaserei, der andere ging in die Knopffabrik.

Mir gefiel das Leben in diesem Hause sehr gut. Im Hofe waren die Gerbereiwerkstätten, wo ich oft zuschaute, und hinter dem Hause befand sich ein prächtiger Obstgarten und die Lohgruben. Mit einer wahren Wollust stürzte ich nach einem Regen oder Sturm in den Garten, um das gefallene Obst auflesen zu können. Namentlich die Wenefichteln, die Weizen- und Petersbirnen, sowie die Tiefblüten und Safforäpfel hatten es mir angetan. Auch gab es da die sogenannten Paradiesäpfel, eine tomatenähnliche kleine rote Frucht, die die Größe zweier Kirschen erreichte, im Innern aber keinen Stein, sondern ein Samenhaus birgt. Besonders gern weilte ich auch in der Gerberei und sah dem Abhaaren der Felle zu, trotzdem nicht gerade wohlriechende Düfte dort vorherrschten. Die starken und prächtig gebauten Gerbergesellen hantierten mit Leichtigkeit an den schweren Fellen herum. Gegenüber von unserem Hause war eine Wagenbauerei. Auch dort schaute ich gern zu. Meine Freude hatte ich hauptsächlich an den frischlackierten Wagen, die dann zum Trocknen ins Freie gestellt wurden. In jene Tage fiel auch mein siebenter Geburtstag, der mir deshalb so in Erinnerung geblieben ist, weil ich an ihm gottesjämmerliche Prügel bekam. Ursache davon war, daß ich mich bei besonders nasser Witterung den ganzen Nachmittag über in den schlammigen Straßen herumgetrieben hatte, ohne um Erlaubnis nachgesucht zu haben. Neben der Wagenbauerei lag eine Bauernwirtschaft, wo ich täglich Milch und Butter holen mußte. Auch an dieses Haus schloß sich ein prächtiger Obstgarten an. Heute jedoch wird der geschätzte Leser eine ansehnliche Knopffabrik auf diesem Grundstück finden. Die Industrie hat da, wie überall, die Landwirtschaft verdrängt; die Besitzer erhielten aber soviel dafür, daß sie ihr Leben als Rentiers fristen können.[35]

Bei Schmidts nahmen meine Eltern auch einen Kostgänger, einen Bahnschreiber Namens Hauschild aus Gößnitz, ins Quartier. Später kam er nach Leipzig auf den bayrischen Bahnhof, nachdem er vorher noch die Tochter unserer Waschfrau geehelicht hatte. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an den pomadisierten Jüngling mit dem rabenschwarzen Haar und Schnurrbärtchen. Er trank allabendlich ein Glas Bayrisch in »den drei Schwanen« und hielt von dort aus scharfen Ausblick nach dem Haupteingang des vis-à-vis liegenden Amtsgerichts; worin seine Herzallerliebste bedienstet war. Besonders auffällig war er mir durch seine Leidenschaft für Käse; je älter, desto lieber war er ihm. Er machte sich auch nichts daraus, wenn er flüssig war und eine undefinierbare Farbe angenommen hatte. Auch das lebende Getier, welches diese Sorte mitbewohnt, die sogenannten Hutmacher, wurden mit verschluckt. Mich schüttelt es heute noch, wenn ich daran denke.

Dann kam jene Zeit heran, von der ich Eingangs meiner Schrift erzählt habe: Der Besuch und Tod unserer Großmutter, zu welch letzterem die ganze mütterliche Verwandtschaft ins Haus kam, um an dem Begräbnis teilzunehmen. Daran schloß sich nach kaum 8 Tagen die Geburt eines Schwesterchens, das die Namen Ella Franziska Flora erhielt und bei dem sechs junge reiche Paten zu Gevatter standen, nämlich drei Damen und drei Herren, doch kein einziges Paar ist Mann und Frau geworden. Dann kamen die bereits erwähnten Erbstreitigkeiten mit den mütterlichen Geschwistern, die wir seitdem nicht mehr sahen. Nur mit Claußens in Groitzsch wurden die verwandtschaftlichen Beziehungen nicht aufgegeben, und die Tante Ernestine, meiner Mutter Schwester, hat später, als wir in Not waren, manches Gute an uns getan.

Nachdem mein Vater die Erbschaftssumme meiner Mutter ausgezahlt erhalten, veranstaltete er auch ein Freudenfest, das das einzige seiner Art in meinem Leben geblieben ist. Es wurde nämlich ein Schwein geschlachtet, – das erste und letzte Mal, daß wir den Magen so angenehm belasten konnten. Ich erinnere mich noch an die abendlichen Wurstsuppen, zu denen der alte Schmidt, des Hauswirts alter Vater, stets zugezogen wurde, und an die großen Wurstenden,[36] die wir nie wieder so reichlich zu unserem Brote erhielten.

Dann kam wieder einmal Weihnachten heran. Ein Weihnachten, das mir nie aus dem Gedächtnis gekommen ist. Mein Vater hatte nämlich eine Arbeit beendet, an der er 3 Jahre lang in seinen Mußestunden im Wärterhäuschen gebastelt hatte. Es war dies ein großes festungsartig gebautes Schloß, aus starker Dosenpappe angefertigt, die er aus einer Dosenfabrik geliefert bekam. Der Mittelbau bestand aus einer Säulenhalle, einem verdeckten Erdgeschoß und einer mit roten Ziegeln bedachten Kuppel. Der linke und rechte Flügel bestand aus vier Etagen, die oben festungswallartig abgeschlossen waren. Der hintere Teil der Flügel und die Kuppel des Mittelbaues enthielten je ein Blechbassin, von denen jedes drei Eimer Wasser faßte. Vor dem Schlosse befand sich ein Platz, auf dem ein großer künstlicher Garten angelegt war. Die Rasenplätze waren durch grün gefärbte Sägespäne gebildet, die wieder mit Rondeln und Sträuchern abwechselten, welche aus Moos und Heidekraut gebildet worden waren. Kleine Lauben und Ruhebänke waren geschickt hineingruppiert und in der Mitte ein Goldfischteich angelegt, den eine Fontäne zierte. Dieser war ebenfalls durch ein Blechbassin dargestellt, in dem sich lebende Goldfische tummelten. Auf der Wasserfläche schwammen Blechenten herum. Am Ufer war ein großer, aus einer Gipsmasse gefertigter Schwan befestigt. Vor dem Schloßportal war ein Schilderhaus mit dem Wachtposten aufgestellt. In der Säulenhalle des Mittelbaues war im Vordergrunde ein Theater plaziert, d. h. Papierfiguren in schauspielerischen Posen, welche auf Pappe aufgezogen waren. Diese Figuren waren wiederum auf Hosenträgergurt befestigt, der über 2 Walzen gespannt war. Im Hintergrunde war ebenfalls eine solche Gurtwelle, auf der Papiersoldaten von den bekannten Neuruppiner Bilderbogen ebenfalls auf Pappe geklebt und kunstgerecht ausgeschnitten, in Marschstellung befestigt waren. Alles das konnte beliebig in Bewegung gesetzt werden und zwar durch die Kraft der neun Eimer Wasser, welche in den Blechbassins aufgespeichert waren. Mein Vater hatte zu diesem Zwecke einen alten Wecker gekauft, diesen[37] auseinandergenommen und ein Mühlwerk konstruiert, welches in dem Parterreraum des linken Flügels, dem Beschauer vollständig unsichtbar, aufgestellt war. Das große Mühlrad war ebenfalls aus starker Dosenpappe gefertigt und mit Mennige bestrichen worden. Das Wasser des Mittelbaues tropfte nun auf das Rad, wodurch die Figuren in der Säulenhalle, resp. die beiden Hauptwellen in Bewegung gesetzt wurden. Die Walzen waren dem Beschauer ebenfalls links und rechts unsichtbar. Der Gurt und mit ihm die Figuren liefen unter dem Erdgeschoß ebenfalls unsichtbar hin und kamen auf der anderen Seite wieder zum Vorschein. Es konnten beliebig das Theater oder die marschierenden Soldaten eingeschaltet werden. Das Wasser des linken Flügels wurde ebenfalls zum Betrieb des Mühlwerkes verwendet. Das Wasser vom Mühlrad lief dann in Bleirohren unter dem Garten ab und stieg in dem am Ufer des Goldfischteiches stehenden Schwane empor, welchem mein Vater ein schwaches Bleirohr durch den Körper gezogen hatte, das im Schnabel endete. Von dem Bleirohr merkte der Beschauer ebenfalls nichts. Das Wasser lief aus dem Schnabel des Schwans in den Goldfischteich, der ebenfalls wieder geregelten Ablauf hatte. Das Wasserbassin des rechten Flügels betrieb die Fontäne in der Mitte des Teiches. Das Gebäude hatte an den Flügeln vier Reihen Fenster aus buntem Glas. Wie ich schon erwähnte, waren die Blechkästen ca. 8 cm schmäler gelassen worden, als das Gebäude tief war. In den verbleibenden Zwischenräumen wurden Öllämpchen mit gewöhnlichen Lampendocht hinabgehängt, die extra zu diesem Zwecke angefertigt waren. Am Abend wurden die bunten Fenster mit ihnen erleuchtet, und es gab dann einen feenhaften Anblick, wenn alles in Bewegung war Die Leute kamen aus der ganzen Stadt gelaufen und staunten das Kunstwerk an. Mancher Groschen – besser situierte Leute schoben auch ein Fünfzigpfennigstück hinein – blieb in der aufgestellten Sparbüchse zurück. In den nächsten beiden Wohnungen konnten wir das Schloß nicht aufstellen. Es war nämlich ca. 3 m breit und 1 1/2 m tief ohne den Garten, auf den ebenfalls 1 1/2 m zu rechnen war. Mein Vater stellte es deshalb zum Verkauf aus. Es wurde von einem Knopffabrikanten[38] für 150 Mark erworben. Über 300 Mark hatte es meinem Vater gekostet.

Doch zurück. Weihnachten war vorüber und das Jahr 1882 war angebrochen. An diesem Neujahrstage passierte mir ein verhängnisvolles Mißgeschick. Ich hatte nach dem Mittagsessen in des Vaters sozialistischem Kalender, der »Neuen Welt«, studiert und bat dann die Mutter, ein wenig auf die Straße gehen zu dürfen. Ich erhielt die Erlaubnis, und begab mich auf das Eis der vorbeifließenden Sprotte. Andre Kinder kamen und nahmen mich mit nach dem etwa 5 Minuten entfernten Hauswehr, wo oberhalb ein recht reges Leben und Treiben herrschte, da eine prachtvolle Spiegeleisbahn zum Schlittschuhlaufen einlud. Wie oft habe ich mir zu Weihnachten ein Paar Schlittschuhe gewünscht! Aber nie bekam ich sie. Meine Eltern waren in dieser Beziehung nicht freigebig, weil zu solchen Sachen das Geld fehlen sollte. Also ich lehne mich da oben, ziemlich am Ende des Wehrs, an einen Weidenstamm, der stark flußeinwärts neigte und schaute sehnsüchtig auf das bewegte Leben und Treiben. Vorausschicken muß ich aber, daß an meinem Standpunkte die Bahn abgegrenzt war, weil in der Nähe des Wehrs offenes Wasser war. Einige Knaben standen in meiner Nähe und bald war ein Gespräch über die Eisenbahn im Flusse. Ich vergaß, daß ich an der Weide lehnte, so fesselte mich die Unterhaltung. Ein Lokomotivenpfiff ertönte in der Ferne. »Jetzt pfeift der Zug in Nöbdenitz.« Kaum hatte ich die Worte heraus, da verlor ich die Balance, bekam Übergewicht und brach am Rande des Eises in das Wasser ein. Ich wäre unrettbar an der tiefen Stelle untergegangen, hätten mich nicht noch 2 größere Knaben an den Rockärmeln erwischt und herausgezogen. Das Resultat war natürlich eine Erkältung und zu Hause eine tüchtige Portion ungebrannter Asche.

In dieser Beziehung habe ich überhaupt sehr viel Pech gehabt. So wurde ich am darauffolgenden Himmelfahrtstage nach Schloßig, einem etwa 3 Kilometer entfernten Dorfe, geschickt, um Milch zu holen. Aus dieser wollte die Mutter, die für diesen Tag im altenburgischen Ostkreise herkömmliche Speise »Semmelmilch« zubereiten. Diese »Semmelmilch« ist weiter nichts, als in abgekochter Milch geschnittene[39] Semmel. Ist die Speise ziemlich kalt geworden, wird sie auf den Tisch gebracht und mundet geradezu köstlich. Ich nahm also meinen 2 Literkrug und trottete los. Ein böses Vorzeichen erlebte ich schon am Eingange des Dorfes. Als ich nämlich den Weg nach dem ersten Gute rechts einbiegen wollte, kamen mir eine Herde Gänse in den Weg. Die männlichen Mitglieder derselben reckten ihre Hälse nach mir aus und sperrten den Schnabel laut zischend auf. Mir wurde darob nicht ganz geheuer und ich ergriff das Hasenpanier. Doch die Gänseriche im schnellsten Tempo, mehr fliegend als laufend, hinter mir her, bis noch zur rechten Zeit zwei Mägde erschienen, die die wütenden Martinsvögel vertrieben. Ich bekam nun meine Milch und machte mich wieder auf den Heimweg. Recht vorsichtig trug ich den bis an den Rand gefüllten Krug, um ja kein Tröpfchen zu verschütten. Erleichtert atmete ich auf, als ich wieder nach der Stadt einbog. Schon trennten mich nur noch wenige hundert Meter von der Wohnung, da betrachtete ich mir die Frühlingsblumen am sogenannten Blumenberge und schaute nach der Lippoldschen Maschinenbauerei hinab, die ich später auch noch einigemal erwähnen werde. Ich kann nun heute nicht mehr sagen, ob die Amboßschläge meine Aufmerksamkeit mehr gefesselt haben oder die Schneeglöckchen und Himmelschlüssel. Kurzum, mit meiner Milch beschäftigte ich mich nicht. Ein Schreck ließ mich plötzlich auffahren. Der Krug war meiner Hand entglitten, die Milch färbte den Straßenkot weiß und mir fiel das Herz in die Hosen. Wehmütig blickte ich auf die versickernde weiße Flüssigkeit. Der Krug war auch entzwei und ich fühlte schon im Geiste den Rohrstock auf meinem Rücken, der immer hinter dem Spiegel hervorragte. Falsch kalkulieren konnte ich da nicht. Ich bekam sogar eine doppelte Ration. Erst von der Mutter, dann vom Vater und zur Strafe für meine Unaufmerksamkeit am Mittag Fasten.

Und da fällt mir auch noch eine ähnliche Episode ein, die sich einige Wochen später ereignete. Ich war nach Wißmüllers Restaurant auf dem Brückenplatz geschickt worden, Bier zu holen. Meine Mutter schärfte mir Eile ein. Sie wollte, glaube ich, zu Mittag Bierkaltschale machen, da es ein recht heißer Tag war. Mit dem gefüllten[40] Krug ging es deshalb in voller Karriere über den Brückenplatz zurück. Ich wollte auch einmal gelobt sein. Schon bog ich um die Kurve zur Sprottenbrücke. Am andern Ufer lag unsre Wohnung. Da, pardautz und krach! Ich hatte den Eckstein übersehen, schlug hin, schlug mir das Schienbein wund, lief noch ein Stück mit der Nasenspitze in dem seinen Kies und der Krug mitsamt dem Gerstensafte hatte aufgehört, zu existieren. Laut aufheulend und mit gemischten Gefühlen, ob der zu erwartenden Tracht Prügel, staunte ich den Haufen Scherben an. Es half mir aber niemand, trotzdem die von der Arbeit kommenden Leute mich umstanden und das Vorkommnis bedauerten. Ich dachte auch für mich: »Was hilft mir Euer Bedauern, helft mir lieber, 25 Pfennige genügen schließlich, mich vor dem Rohrstocke zu bewahren.« Aber es blieb ein frommer Wunsch. Ich war wohl oder übel gezwungen, in den saueren Apfel zu beißen. Selbstverständlich kam ich auch nicht ohne ihn davon. Die Lektion erhielt ich prompt. Wäre mein Bruder Felix mit gewesen, so hätte der vielleicht meinen Schmerz geteilt.

Dann wurden unsere Aftermieter wieder einmal verstärkt. In der neuerbauten Villa des Knopffabrikanten Valentin Donath waren Stuckateure aus Dresden eingetroffen, welche die Rabitz-, Gips- und Stuckarbeiten darin ausführten. Das waren, mit Ausnahme eines gewissen Kahle, lauter ungeschlachte, großmäulige und eingebildete Burschen, mit denen meine Mutter nichts wie Ärger gehabt hat. Nichts konnte ihnen recht gemacht werden. Die Kost tauchte ihnen nicht. Sie wollten jeden Tag Braten und Gesottenes und Gebackenes haben. Ob des fortwährenden Haderns machte meine Mutter indes nicht viel Federlesens mit den aufdringlichen Burschen, sondern wies ihnen kaum drei Wochen später die Türe. Nur Kahle blieb bis zur Beendigung der Arbeit da. Sein Name ist mir deshalb im Gedächtnis haften geblieben, weil er mir zu dem Sommerjahrmarkt, als er mich in der Nähe meines Vaters Bahnübergang sah, einen Groschen schenkte. Das erste Geld, was ich in meinem Leben mein eigen nannte!

Dann war ich wieder einmal krank geworden. Ich hatte mich auf dem Jahrmarkt erkältet. Ich hatte dort am Abend allzulange[41] auf eine alte Zuckerfrau aus Altenburg gewartet, die stets bei uns übernachtete. Eine gewisse Sabine Hillmann, die eine Muhme meiner Mutter war und sich später in das Altenburger sogenannte reiche »Hospital« einkaufte. Während ich das Zimmer hüten mußte, wurde gerade die alte Steinbrücke über die Sprotte abgebrochen und dafür eine eiserne errichtet. Da habe ich stundenlang am Fenster gesessen und den Arbeitern zugeschaut, wie sie die schweren Steine und die zum Beton nötigen Erdmassen herankarrten.

Vis-à-vis von unsrer Wohnung wurde zu jener Zeit auch ein neues Haus gebaut. Die Maurer daran nahmen mein Interesse ebenfalls lebhaft in Anspruch. Namentlich das »Steinetreiben« oder »Ziegelwerfen«, wie wir Kinder sagten, hatte etwas besonders Fesselndes für mich. Ich staunte immer von neuem darüber, daß die Leute niemals einen Stein verfehlten, mochte es auf Leitern aufwärts oder in das Innere gehen. Heute ist das ja auch anders geworden. Da läßt man die Maurer, bei ihren durch die Organisation hochgebrachten Löhnen, nicht mehr mit »Steine treiben«, sondern vergibt das »Ziegelantragen« an Hilfsarbeiter im Akkord. Aber erst als die Fassaden geputzt und der Mörtel kunstgerecht aufgetragen wurden, da sah ich in jedem Maurer einen Künstler, und er ist es ja auch in der Tat. Mein Bruder Felix ist Maurer geworden. Er ist auch weit in der Welt herumgekommen, wie ich später beschreiben werde, hat viel Geld verdient und doch nichts übrig gebracht. Da staunten die Leute manchmal, wenn es hieß, in Leipzig verdient ein Maurer 55–60 Pfennige die Stunde. Mein Bruder hat 2 Jahre in Leipzig gearbeitet. Er sagt aber, daß die 55 Pfennige keinem Maurer geschenkt werden; denn 800 bis 900 Steine muß einer täglich vermauern. Da gibt es kein gemütliches Pfeifenstopfen und rauchen mehr, wie ich es damals in Schmölln so oft beobachtet habe.

Doch nun will ich auch einmal von der alten Trommlern und von dem Ungemach erzählen, das meine Eltern in dem Hause zu erdulden hatten. Da war mein Vater Mitglied des Vereins »Bürgergesellschaft Union« und in jenen Tagen war wohl das 10. Stiftungsfest. Mein Vater hatte deshalb ein riesiges Transparent angefertigt,[42] daß sich mit seinen großen bunten Buchstaben prächtig ausnahm. Der Stiftungstag kam heran und unsere Eltern gingen abends zum Feste. Am andern Morgen hatte meine Mutter noch ein Stückchen Gänsekeule und auch ein Stückchen von des Vaters Hasenbraten aufgehoben und uns Kindern mitgebracht. Ob sich nun mein Vater durch kaltes Bier oder durch Zugluft seinen durch Tanz erhitzten Körper erkältet hatte – kurz, am andern Tage wurde er schwer krank. Er litt an Blasenrose und war am ganzen Körper über und über mit großen blaßroten Bläschen bedeckt. Es dauerte wohl 8 Wochen, ehe die unheimlichen Flecken wieder verschwanden. Meine abergläubische Mutter glaubte natürlich, daß er »beschreit« sei. In früheren Jahren hieß es wohl behext. Und auf wen lenkte sich ihr Verdacht? Auf die alte Trommlern! Die Krankheit war aber das Schlimmste noch nicht. Bald zog anderes Ungemach ein. Wir hatten Läuse und zwar sowohl Kopf- als auch Kleiderläuse. Meine Mutter weinte gar manchmal darüber. Sie konnte machen, was sie wollte, das Ungeziefer breitete sich immer weiter aus. Sie mußte Betten verbrennen, aber auch das half noch nichts. Wo kam das Ungeziefer her? Meine Mutter war doch stets reinlich gewesen. Nun, was lag also näher? Die alte Trommlern züchtete das Viehzeug. Sie brachte da einige in eine Federkiele, steckte selbige in das Schlüsselloch und wartete, bis wir Kinder dort vorbeikamen. Denn ihre Stubentüre lag dicht an der Treppe. Wenn wir nun die Stelle passierten, blies sie in die Federkiele hinein und die Läuse saßen dann auf unseren Kleidern. So kombinierte meine Mutter die Ursache zusammen. Da wurde das großmütterliche Rezept befolgt. Die Läuse mußten gebannt werden, wie die Blasenrose meines Vaters gebannt worden war. Nachts um 12 Uhr wurde an einen Kreuzweg gepilgert. Vier lebende Läuseviecher waren mitgenommen worden und die Zauberformel hergesagt. Dann wurde das Zeug in die vier Winrichtungen zerstreut und so mußte auch die Plage im häuslichen Heim in alle vier Himmelsrichtungen verfliegen. Verschwinden taten sie ja schließlich auch, aber nur erst, nachdem mein Vater verschiedene Chemikalien angewendet hatte. Meine Mutter freilich meinte, die Zauberformel habe geholfen. Lachen Sie nicht, lieber[43] Leser. Aber ich werde Ihnen später noch manches abergläubische Kunststückchen meiner Mutter erzählen. Wie oft hat sie mir auch Drüsen und Zahnschmerzen versprochen. Bei letzteren mußte ich Wasser in den Mund nehmen. Dreimal und dreimal in das Waschbecken spucken, dabei die Formel sagen: »Nimm Wasser in den Mund und spei es in den Grund. Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen!« Um endlich der alten Trommlern, die mit meiner Mutter immerzu haderte und zankte, aus dem Wege zu gehen, wurde beschlossen, eine andere Wohnung zu suchen, die auch nach einigen Wochen in einem anderen Stadtteile gefunden wurde. Im Frühjahr 1882 zogen wir also wieder um.

Unterdes will ich Einiges aus meinem Leben in der Schule beschreiben. Die Groitzscher Tante Ernestine soll einmal über mich zu meiner Mutter gesagt haben: »Das wird einmal ein gescheidter Junge werden, der hat eine freie Stirn.« Nun, ich selbst halte mich wahrlich nicht gerade für ein Geisteslicht, aber ganz dumm bin ich nicht, wenn ich auch manche Dummheit in meinem Leben gemacht habe.

Die Schulausgaben fielen mir niemals schwer. Das Lernen ebenfalls nicht. Ich brauchte eine Sache ein bis zweimal laut und langsam durchzulesen, so konnte ich es auch schon ziemlich auswendig hersagen. Heute ist auch das anders geworden, da fällt es mir weit schwerer auswendig zu lernen. Doch damals war es ein Kinderspiel. In kurzem war ich Klassenerster oder Primus, wie es in der Lateinschule heißt. Aber aus der fünften Klasse weiß ich nichts mehr zu erzählen. Aus der vierten Klasse, wo ich wiederum bald Erster, aber anfangs Zweiter war, weiß ich mehr. Der Klassenlehrer hieß Köhler und gleich in den ersten Tagen erzählte er uns von dem deutschen Kaiser Wilhelm, der gleichzeitig König von Preußen war. Er schilderte ferner, daß das Königreich Preußen im Jahre 1701 gegründet worden ist und daß demnach 1901 das 200jährige Jubiläum stattfinden und aller Wahrscheinlichkeit nach durch glänzende Festlichkeiten in Berlin gefeiert werden würde. Wer von uns also im Jahre 1901 noch leben würde, der solle nicht versäumen, nach[44] Berlin zu reisen. Nun, das Jahr 1901 ist längst verschwunden, und ich bin nicht zum Hohenzollernjubiläum in Berlin gewesen. Ob der Herr Lehrer Köhler selbst dort gewesen ist, weiß ich auch nicht, möchte es aber auch bezweifeln.

Neben mir saß ein Dorfknabe aus Bohra, der »sitzen« geblieben war. Bohra liegt eine kleine halbe Stunde von Schmölln entfernt, ist aber in die Stadt eingeschult und eingepfarrt. Dieser Knabe, Tetzner war sein Name, hatte an Gelenkrheumatismus gelitten und war auch noch nicht ganz gesund geworden. Er sollte nicht allzulange neben mir sitzen, denn bald warf ihn die Krankheit wieder nieder und etwa 4 Wochen später war er gestorben. Wir geleiteten ihn zur letzten Ruhe, und mir, als dem Klassenersten, war die Aufgabe zugefallen, den armen Eltern das Beileid seiner Mitschüler auszusprechen und den von diesen gestifteten Kranz am Sarge niederzulegen. In einem einfachen weißen Sarge wurde der arme Tetzner an einem regnerischen Sommertage der Erde übergeben.

Da erhielt ich bald darauf einen neuen Banknachbar, der sofort Zweiter wurde, obwohl der Lehrer noch gar nichts von seinen Fortschritten wußte. Er kam aus Stuttgart. Sein verstorbener Vater war da selbst Münzmeister gewesen. Seine Mutter, die wahrscheinlich aus dem Altenburgischen stammte, bezog aus Württemberg eine Pension. Wir staunten den neuen Mitschüler an, als wir hörten, daß sein Vater Geld gemacht habe und glaubten, daß seine Mutter dadurch enorm reich sein müßte. Ich schmeichelte mir ordentlich, als er mich bald darauf einlud, ihn regelmäßig zu besuchen und war etwas enttäuscht, als ich die Einrichtung nicht einmal so schön fand, wie bei Pastor Waldmann. Doch gute Kameraden waren wir während unserer ganzen Schulzeit.

Darauf wurde ich nach Klasse 3 versetzt. Dort bekamen wir einen gemütlichen Klassenlehrer, den alten Organisten Rudolph. Wie mußte sich der alte Greis, der ziemlich wohlbeleibt war, über uns ärgern! Denn es waren in dieser Klasse eine Anzahl Konfirmanden, so Bauer, Kutschenreuter, Pohlers, Zschömisch. Die zwei Erstgenannten und namentlich der Erste, werden uns später noch etwas länger beschäftigen. Denn Bauer hat später ziemlich 6 Jahre lang[45] bei uns als Logisbursche gewohnt; Kutschenreuter traf ich etwa 12 Jahre später in Ronneburg wieder, wo er bei einer Athletentruppe als Herkules Vorstellungen gab; während sein älterer Bruder Oskar längere Zeit als Athlet und Ringkämpfer gereist ist.

Einmal kündigten sie an: Nächsten Sonntag wird Soldaten und Räuber gespielt. Bauer ist Anführer der einen Partei – der schwarze Knolle führt die Räuber. Ich war bei den Soldaten. Wir mußten aber erst zehn Pfennige entrichten, da jeder Soldat einen Husarenhelm bekam, die von Bauer verfertigt wurden. Allein es war nur ein Pappreifen, der rot beklebt war, ein Deckel war oben nicht drauf. Doch schadete das nichts, es ging los nach dem Taupadelschen Wald. Wir mit Holzsäbeln, Bauer mit einem wirklichen Säbel und mit Revolver, Pulver war natürlich auch beschafft worden. Kaum waren wir im grünen Wald angelangt, als auch schon eine Räuberabteilung in Sicht kam. Sie stand unter dem Oberbefehl des »Vizehauptmanns« Meisel. Den Haupteffekt bildeten bei diesem Sonntagsvergnügen natürlich die Abbrennung der Lagerfeuer und die Pulverexplosion. Wäre der Flurschütz dazu gekommen, so hätten wir uns auf tüchtige Hiebe gefaßt machen können. So aber ging alles in schönster Harmonie ab, nachdem die Hauptleute die Parole ausgegeben, daß in der Schule nichts von dem Pulver gesagt werden dürfe.

Wir waren unterdes längst nach unserer neuen Wohnung bei Meyers auf dem damaligen Dammplatz, heute Bismarckplatz, gezogen. Herr Meyer war ein ruhiger gutmütiger Mann, von Beruf Knopfmacher, aber nicht schlecht situiert. Seine Frau war eine Anhängerin der Baptistengemeinde. Oftmals habe ich beobachtet, daß sie den ansprechenden Handwerksburschen, anstatt einen Zehrpfennig ein frommes Traktätchen gab. Ich sah aber auch, wie die meisten »Kunden« das Papier zusammenknüllten und ungelesen wegwarfen.

Wir wohnten hier im ersten Stock und hatten wieder einen Kostgänger bekommen, einen sehr ruhigen Menschen, Gotthold Dettmar Ernst mit Namen, der trotz seiner 21 Jahre schon einen mächtigen schwarzen Vollbart trug. Allgemein wurde er der Brasilianer genannt,[46] da er 1880 mit seinem Vater und Geschwistern nach dort ausgewandert war, seiner zurückgelassenen Geliebten halber aber nach 1 1/2 Jahren zurückkehrte. Er mußte jedoch die schmerzliche Enttäuschung machen, daß sich ein »Freund« inzwischen an sein Mädchen herangemacht. Diese scheint auch nicht viel auf Treue gegeben zu haben; denn sie heiratete dann doch noch einen dritten. Der zurückgekehrte Liebhaber starb aber nicht an gebrochenem Herzen, sondern heiratete 3 Jahre später ein anderes Mädchen und hat, soviel mir bekannt ist, eine ganz glückliche Ehe geschlossen. Wie er zu uns kam, brachte er einen sprechenden Papagei mit, der aus Brasilien stammen sollte, und den ich alsbald liebgewann. Meine größte Freude war jedoch, wenn Ernst von Brasilien erzählte, das Leben und Treiben dort zu Lande schilderte, die Orangenbäume mit ihren herrlichen Früchten beschrieb und mir von den »wilden« Botokuden erzählte. Die sollten gar nicht so wild sein und keinem Menschen etwas zu Leide tun, tüchtige Jäger und Bogenspanner abgeben und bei ihnen die Sitte herrschen, daß nach dem 8. Jahre jeder Knabe für sich selbst sorgen müsse. Ich sehnte mich ordentlich, einmal eine solche Orange zu essen, denn der Freund verschwieg mir wohlweislich, daß diese Früchte hierzulande gewöhnlich Apfelsinen genannt werden. Ich konnte nicht genug hören und wurde nie müde. Oftmals sagte die Mutter zu uns drei Jungen: »Geht nun zu Bette, sonst kommt der schwarze Mann und nimmt Euch mit.« Doch da erzählte der Herr Ernst, daß in Brasilien auch einmal der Fall passiert sei, daß eine Frau zu einem Manne, der gerade in dem Augenblicke kam, als ihr fünfjähriger Knabe nicht folgen wollte, gesagt habe: »Immer nehmen Sie das unartige Kind mit.« Der Mann habe das schreiende und sträubende Kind mitgenommen, aber nicht wieder gebracht. Alles Nachforschen der verzweifelten Eltern nach ihrem Liebling sei vergeblich gewesen. Nie wieder hätten sie wieder etwas von ihm gehört. Ob diese Geschichte wahr war? Ich weiß es nicht. In Joinville, Provinz San Paulo, war der neue Wohnsitz seines Vaters, und ich betrachtete ehrfurchtsvoll die Briefe, die von dort kamen.

An einem Sonntage sagte die Mutter, daß Ernst Besuch durch[47] seine Kousine aus Ronneburg erhielt. Meine Mutter bot alles auf, um dieser den Aufenthalt so angenehm als möglich zu machen. Zum Abendbrot wurden zu dem rohen Beafsteak noch Sardellen geholt, und das Paar ließ es sich trefflich schmecken. Ob das aber die Kousine gewesen ist, daran zweifle ich heute.

In jenem Sommer hatte mein Vater auf seinem von dem Bahnfiskus gepachteten Kartoffelfeld eine große Menge Beifuß gebaut, das bekannte Gewürzkraut, das dem Gänse- und Schweinebraten zugesetzt wird. Es war uns Kindern in jenen Jahren aber ein großer Dorn im Auge, denn wir mußten die Blätter abzupfen und kleine Bündel zusammenketten. Das war unsere Ferienarbeit; bevor wir nicht ein gewisses Quantum davon gezupft hatten, durften wir nicht auf die Straße. Wir kamen darüber manchmal so in Aufregung, daß ganze Stengel kurz und klein zerrissen wurden. Wir bedachten nicht, daß tausend andere Kinder in Schmölln vom zartesten Alter an vom frühen Morgen bis zum späten Abend Knöpfe auf Kinder Anderer angenommen und ausgebeutet wurden, denn während die Weiber vom Fabrikanten 4 Pfennige für das Groß Knöpfe die Pappkarten nähen mußten, und von gewissen Leuten noch die aufzunähen erhielten, zahlten sie den fremden Kindern 1 1/2 bis 2 Pfennige, den eigenen natürlich gar nichts. Wenn einer der Leser einmal nach Schmölln kommen sollte, so darf er nicht versäumen, einmal in einem Haushalt sich das Knöpfeaufnähen dieser armen Kinder anzusehen. Das geht bei den Geübtesten so schnell, daß man den Knopf dabei gar nicht sehen kann. Man staunt, daß die Nadel niemals die Knopflöcher verfehlt.

In jenen Tagen bekam ich auch das erste Mal ein Theater zu sehen, aber man sah keine berühmten Künstler auf dieser Bühne; es war Liebhabers Figurentheater, das in der hiesigen Gegend weit und breit bekannt ist, seit den letzten 15 Jahren aber die Städte meidet und sein Dasein nur noch auf den Dörfern fristet.

Als dann der Herbst herangekommen war, verbreitete sich eines Tages in der Stadt unter uns Kindern das Gerücht, heute würden Soldaten hier einquartiert; denn in dieser Gegend finde das Manöver statt. Und als der Vormittagsunterricht beendet war, zogen sie[48] gerade ein: Infanterie, 86er und 72er, die grünen Husaren aus Stendal und Aschersleben, Artillerie aus Torgau und Erfurt. Wir rissen Maul und Nase auf und konnten uns an dem glänzenden Schauspiele nicht satt sehen; denn noch niemals war uns ähnliches vor Augen gekommen. In unserem Hause lag 1 Unteroffizier und 1 Mann. Der erstere war gleichzeitig Fourier und verteilte am Nachmittage Fleisch und Erbsen an die Mannschaften. Es waren an die 100 Fleischportionen abgewogen worden, die auf einer großen Tafel im Hofraum lagen. Das alles war etwas ganz Neues für uns Kinder. Am andern Tage fiel der Schulunterricht aus. Wir jubelten darüber. Natürlich rückten wir mit aus. Vor unserem Hause sammelte sich die Korporalschaft unseres Fouriers. Letzterer schaute die Knöpfe nach, ob sie geputzt waren. Ein Soldat lachte und bekam dafür vom Unteroffizier eine schallende Ohrfeige. Ich stand dabei und wunderte mich, daß der große Mann mit dem schwarzen Schnurrbart sich das so ohne Weiteres gefallen ließ. Wir glaubten, daß er dem herumnörgelnden Fourier die Maulschelle heimzahlen würde, aber er blieb ruhig und verzog keine Miene. Allerdings wußten wir damals noch nicht, was »Disziplin« war. Dann ging es mit fort, hinaus aus der Stadt nach dem Dorfe Drogen zu. Die Unmasse Soldaten, die wir da sahen! Auf einmal ging das Knallen und Schießen los. Die Kanonen fuhren auf, wurden abgeprotzt und donnerten in die Luft. Eine Rauchwolke hüllte uns ein und mir wurde so angst, daß ich mit meinem Bruder nach Hause lief.

Bald darauf zogen wir abermals um. Mein Vater hatte eine Wohnung auf dem Markte gemietet, konnte aber noch nicht einziehen. Es mußte deshalb ein Notbehelf geschafft werden und den fand er in einer kleinen Hinterwohnung bei einem Maler in der Brandgasse. Dort tat mir der Malerlehrling oftmals leid; denn der hatte ganz aufgesprungene Hände und mußte trotzdem immer Bleiweiß mahlen. Es war manchmal schon empfindlich kalt, aber der arme Kerl drehte unermüdlich seine Bleiweißmühle im Hofe.

Trotz des beschränkten Raumes war Ernst bei uns geblieben. Er schlief einstweilen mit meinem Vater in einem Bett. Auf dem[49] andern Korridor im Vorderhause wohnte eine Knopfmacherfamilie. Mit deren kleinen Sohn, der ganz besonders krumme Beine hatte und etwas kurzsichtig war, spielte ich immer. Heute ist dieser ein großer Schuhwarenfabrikant in Schmölln und kennt mich selbstverständlich nicht mehr.

Nach Neujahr 1883 zogen wir endlich in die neugemietete Wohnung am Markt ein. Hier nahmen wir noch 2, mitunter auch 3 Kostgänger mehr. Ja, im Laufe des Sommers bekamen wir noch einen fünften Kostgänger. Mit dem hatte es eine eigene Bewandnis; denn er war in der Lippoldschen Maschinenbauerei als Kaufmann angestellt, hatte dort aber nicht vollständig zu tun und studierte dann zu Hause in Büchern. Sehr oft hatte er die Bibel vor. Er ging Sonntags nie aus, sondern schrieb entweder oder er zeichnete zum Zeitvertreib. In letzterer Beschäftigung leistete er Erstaunliches. Wenn ich eine schwierige Vorlage aus der Zeichenstunde mit nach Hause brachte und mir schon über die Nachbildung Gedanken machte, so nahm er sie mir aus der Hand und in 10 Minuten war sie fertig. Ganz Vorzügliches aber leistete er in Karrikaturen, ob gleich ich als Knabe noch nicht viel davon verstand. Sein Name war Jentzsch und wie ich hörte, sollte sein Vater Kammerdiener beim sächsischen König sein, ihm aber wegen politischer Umtriebe die Mittel zum Studium entzogen und verstoßen haben. Später erfuhr ich dann, daß er auf Grund des Sozialistengesetzes irgendwo ausgewiesen war, und sich bei uns sozusagen nur verborgen hielt. Er ist denn auch nicht lange darauf nach Amerika ausgewandert. Ob er wieder zurückkehrte, – ich kann es nicht sagen. Doch wird der Zeichner des »Wahren Jakob« in München kaum mit ihm identisch sein. Wäre es dennoch der Fall, so mag er mir, wenn ihm dies Buch einmal in die Hand fällt, ein Lebenszeichen zukommen lassen. Ihm habe ich es zu danken, daß mich mein Vater die Mittelschule besuchen ließ; denn wenn er nicht gewesen wäre und meinen Eltern zugeredet hätte, konnte ich niemals Latein lernen. Mit Jentzsch ging mein Vater, manchmal allein und auch manchmal mit mir, nach Krimmitschau Es wurde aber immer erst in den Abendstunden aufgebrochen. Da kam es unterwegs oft vor, daß ein Handwerksbursche[50] oder sonst jemand nach der Zeit fragte; wenn dann mein Vater seinen Mantel aufknöpfte und die blanken Knöpfe der Eisenbahnuniform zum Vorschein kamen, hieß es manchmal: »Besten Dank, Herr Wachtmeister.« Man hatte ihn also für einen Gendarmen gehalten. Nun wunderte ich mich, daß wir nur in den seltensten Fällen meine Tante besuchten, die im Vorort Leitelshain wohnte. Oftmals kamen wir nicht einmal bis Frankenhausen, dem ersten Krimmitschauer Vorort, manchmal gar nur bis Grünberg, das auf der Hälfte des Weges lag. Dann trafen wir gewöhnlich mit einem oder mehreren Männern zusammen. Mein Vater sagte ein Wort, wenn es Unbekannte waren, und erhielt dann immer ein Paket eingehändigt. Ich wußte aber niemals, um was es sich handelte. Heute weiß ich es, daß es verbotene Ware, daß es sozialistische Schriften gewesen sind, die während des Ausnahmegesetzes eingeschmuggelt worden waren.

Gerade in jenem Sommer vergnügten wir Kinder uns besonders oft in dem Lohsenwald, hatten dort einen sumpfigen Ort entdeckt wo lange rohrförmige Pflanzen wuchsen, die aber saftige Stengel besaßen. Diese Stengel wurden von uns Kindern als Blasrohre verwendet. Die Munition bildeten in der Nähe wachsende, »Vogelbeeren«, die Früchte der Eberesche. Die Pflanzen aber waren eine Schirlingsart, doch haben sich keine Vergiftungserscheinungen eingestellt. Meine Eltern ärgerten sich aber jedesmal, wenn ich mit den Spielgenossen in den Wald gelaufen war und für sie keine Wege besorgen konnte. Da hat es gar manchmal Hiebe gegeben und oft mußte ich ohne Abendbrot ins Bett gehen. Doch aus letzterem machte ich mir wenig, zumal wenn Suppe auf dem Tische stand. Einmal, als ich wieder auskneifen und mit in den Wald wollte, pfiff der Vater zum Fenster herab. Als ich zurückkam, sagte er gerade zur Mutter: »Wie ein Pfeil schoß er dahin.« Es gab eine Extraauslage und das Vergnügen war auf einige Zeit vorbei.

Im selben Herbste grassierte unter den Schmöllner Kindern eine Scharlachepidemie, die zahlreiche Opfer forderte. Auch mein Brüderchen Viktor und mehrere meiner Schulkameraden starben. Ich[51] selber erkrankte daran, und kam nur mit knapper Not davon. Noch heute laufe ich mit einem bittern Denkzettel herum. Ich hatte 9 Tage lang so hohes Fieber, daß ich ohne Besinnung lag. Währenddem hatte mich mein Vater einmal in seinen Pelz eingewickelt in die Stube gebracht. Plötzlich bin ich – wie meine Mutter später erzählte – der Umhüllung entschlüpft, aufgesprungen – zur Türe hinaus und die Treppe hinunter – erst in der Hausflur gelang es den nacheilenden Vater und Kostgängern mich festzunehmen. Auch am Tage des Begräbnisses meines Bruders erwachte ich einmal, und konnte wieder die Meinigen erkennen. Als dies die Mutter merkte, kam sie zu mir aus Bett und frug, ob ich mein totes Brüderchen noch einmal sehen wollte. Auf meine Bejahung wurde ich aus dem Bett gehoben und nach dem Gewölbe im Flur getragen, wo unter Blumen unser kleiner dicker Viktor aufgebahrt lag. Meine Eltern waren ganz untröstlich über den Verlust ihres geliebtesten Kindes. Am Nachmittage saß ich am Fenster, als der schwarze Wagen vorfuhr und weinte bitterlich, als die schwarzen Männer den Sarg mit der sterblichen Hülle in den Wagen schoben. Schon den nächsten Tag hörte ich, daß auch Kürschner Hoyers 100jähriger Sohn dem Scharlach zum Opfer gefallen sei und eine Woche später starb der 12jährige Barger an der Wassersucht. Ich fiel nun aus einer Krankheit in die andere. Einige Tage lang hörte ich immer Glocken läuten und Vögel singen. Das war der Anfang zu einem unheilbaren Ohrenleiden, das mir heute noch zu schaffen macht. Die Ohren eiterten und wurden mittels einer Glasspritze gereinigt. Wäre in den folgenden Jahren diese Behandlung fortgesetzt worden, so hätte ich vielleicht keine dauernden Nachteile davon gehabt. Aber das wurde vernachlässigt; allmählich stellte sich schweres Sausen ein; doch erst ein Jahr nach meiner Verheiratung erkannte ich den ganzen Ernst des Leidens; heute habe ich im linken Ohre gar kein Trommelfell mehr, im rechten nur noch ein halbes, und sogar ärztliche Autoritäten haben sich gewundert, daß ich überhaupt noch hören kann. Seit 8 Jahren spritze ich tagtäglich das linke Ohr mit einer Gummispritze aus, um die Mittelohreiterung möglichst auf seinen Herd zu beschränken. Trotzdem ist Hammer und Amboß bereits[52] verschwunden; und die Ärzte der Leipziger Klinik wollten mich operieren. Ein anderer Ohrenarzt aber meinte, daß ich bei sorgfältiger Behandlung mit dem Ohr 80 Jahre alt werden könne. Wollte Gott, daß ich dieses Alter erreichen könnte. Ich wäre glücklich; denn meine Kinder würden dann längst erwachsen sein und ich könnte mich vielleicht noch an ihnen erfreuen. Ich glaub es aber nicht. Denn noch ein anderes, ein viel schlimmeres und viel tückischeres Leiden nagt an mir, die Schwindsucht. Doch davon später.

Jetzt zurück zu meiner Kinderkrankheit. Außer dem Ohrenleiden stellte sich nach dem Scharlach Speicheldrüsenentzündung ein. Meine inneren Mundpartien einschließlich der Lippen hatten nämlich anstatt rot die schwarze Farbe angenommen, als ob alles inwendig verbrannt sei. Dazu gesellte sich noch Rippenfellentzündung und die Wassersucht machte den Schluß. Das letzte war aber noch das schlimmste gewesen, denn meine Oberschenkel hatten den Umfang von ein paar Wassereimern und das Gesicht war so geschwollen, daß man sich förmlich entsetzte. Der Leib war sicherlich noch mehr aufgedunsen, als wenn man mir den im 300jährigen Kriege üblichen Schwedentrunk verabreicht hätte. Nun weiß ich nicht, war es der Kunst des Schmöllner Arztes zu danken, daß das Leiden nach etwa 6 Wochen wich oder machte es vielmehr ein Balsam, den mein Vater von einem »Königseer« oder einem »Großbreitenbacher« Arzneihändler gekauft hatte. Die Balsambüchsen zeigten auf der einen Seite einen aufgequollenen Wassersüchtigen und auf der andern einen zum Skelett abgemagerten Kerl. Jedenfalls, als Ostern vorbeigegangen, wandte sich mein Zustand endlich wieder zum Besseren. Ich hatte die sechs Krankheiten überstanden.

Jetzt erfuhr ich erst, daß unser dreijähriges Schwesterchen Flora, welches schon eine Woche früher als ich erkrankt war, noch immer mit dem Tode rang und das dauerte auch noch über ein Vierteljahr. Sie war so weit fertig, daß sie jede Nahrungsaufnahme verweigerte. Mein Vater hatte deshalb beim Klempner ein hornähnliches Rohr machen lassen. Mit einem Löffelstiel brach er dem Kinde dann die festgeschlossenen Zahnreihen auseinander und zwängte das[53] Rohr dazwischen. Die Mutter schüttete dann oben Wein, Fleischbrühe oder Milch hinein, ohne indes ein Resultat zu erzielen; denn die verabreichten Getränke – Speisen wurden überhaupt nicht angenommen – kamen an den beiden Mundwinkeln wieder heraus. Der Vater schalt natürlich, aber sein Schelten und Schimpfen half nichts. Die Mutter träufelte dann oben erwähnte Getränke auf ein Läppchen oder ein Schwämmchen und drückte sie dem Schwesterchen in den Mund. Auf diese Weise hielt sie das zum Skelett abgemagerte Kind immer noch am Leben. Die Hauswirtin, Frau Müller, kam fast täglich und erkundigte sich nach dem Befinden des Kindes mit den Worten: »Is e denn noch nich bal tut.« Tag für Tag mußte meine Mutter diese Worte hören und jedes Mal schnitten sie ihr ins Herz. Sie fuhr mit ihrer künstlichen Ernährungsmethode fort und hatte nach 3/4jähriger Pflege doch noch die Genugtuung, das Kind wieder gesunden zu sehen. Der Arzt, der mehrere Male das Ohr und den Hinterkopf aufgeschnitten hatte, sagte damals zur Mutter: »Frau Bromme, wenn Sie nicht so überaus unermüdlich in der Pflege Ihrer kranken Kinder gewesen, wären sie alle zusammen draußen auf dem Friedhof mit dem entschlafenen Viktor vereinigt.« Dabei hatte sie auch noch die Kostgänger in der engen Wohnung zu verpflegen gehabt!

Ich stand dann im Spätsommer oftmals mit dem genesenden Schwesterchen am Fenster. Sie fragte mich dann immer nach dem kleinen Viktor, und ich deutete nach dem Himmel, und sie sagte dann: »Im Himmel bei den schönen Engeln ist unser Viktor«. Dann zeigte sie mit dem Finger nach oben und schaute hinauf, als ob sie ihn dort oben am Firmament erspähen wollte. Dann traten mir jedesmal die Tränen in die Augen.

Einige Wochen später hörte ich oft Vater und Mutter über etwas verhandeln, wobei die Mutter vielmals äußerte: »Ach laß Dich doch lieber versetzen, mach das nicht.« Aber stets kam der Vater oben drauf und schließlich erfuhr ich, daß der Vater ein Haus kaufen wollte und endlich auch gekauft hatte. 1100 Taler hatte er geboten und den Zuschlag erhalten. Aber wie sah das Haus aus! Es stand auf dem Kirchhofe und war sehr baufällig. Maurer, Zimmerleute,[54] Dachdecker und Klempner – alle Bauberufe mußten bei der Renovierung in Anspruch genommen werden.

Als die Maurer schon feste gearbeitet hatten, stellte es sich heraus, daß das Haus an der rechten Seite auf Sand gebaut war. Man mußte deshalb niederreißen – stützen und erst Grundmauer einlegen. Es wurde dann an der Front neu verputzt, neue Balken eingezogen und neu eingedeckt, sodaß es am allergescheidesten gewesen wäre, wenn mein Vater gleich einen Neubau errichtet hätte. Teuer genug kam es. Er hatte dann auch beim Decken des Schuppens mit dem Teeren der Dachpappe Malheur. Der Zimmermann meinte, wir schütten den heißen Teer aus und machen ihn dann breit. Mein Vater hingegen wollte ihn auftragen, wie man z. B. Fußboden streicht. Der Zimmerer pochte auf seine »Erfahrungen« und setzte seinen Kopf auf. Was war das Ende vom Liede: als der heiße Teer ausgegossen wurde, entwickelte sich eine helle Flamme und das Dach stand in Brand. Schnell entschlossen eilte mein Vater die Leiter herab zum Aschenbehälter. Ergriff einige Eimer und konnte schließlich die Flammen mit der Asche ersticken. Mittlerweile war aber schon Feuerlärm geschlagen worden und als ich gleich darauf von der Schule kam, teilten mir die andern Kinder mit, daß unser neues Haus brenne. Als ich dort ankam, war aber auch schon der Obergendarm dort und ein Strafmandat von 20 Mk. war das Fazit von des Zimmermanns Eigenwillen, das aber nicht er, sondern mein Vater bezahlen mußte. In jenen Tagen bekam ich es wiederum mit dem Kantschu zu tun. Ich mußte fast täglich in einem kleinen Henkelkorbe Abfallholz vom Bau nach der elterlichen Wohnung tragen. An der Vorderfront des Hauses waren gerade die Fenstergesimse neu aufgeputzt worden. Ich weiß nun nicht, ob ich dieselben auf ihre Haltbarkeit probieren wollte oder nur nachsehen, ob sie bereits trocken geworden sind – kurz und gut – ich strich mit dem Finger darüber hin, faßte einmal mit der Hand an und hatte plötzlich ein Stück der Fassade in der Hand. Unglücklicherweise kam gerade in dem Augenblicke mein Vater von der Bahn und sah die Christbescherung. Ich nahm sofort meinen Henkelkorb und trottete mit trüben Ahnungen nach Hause Und ich hatte[55] kaum der Mutter Mitteilung von meinem Mißgeschick gemacht, als er auch schon zur Türe hereintrat. Der Kantschu war sofort zur Stelle und hageldicht fielen die Lederstreifen pfeifend auf mich herab. Er schlug mich wieder einmal windelweich, und erst als sich die Mutter wieder dazwischen geworfen, ließ er nach.

Am 1. April 1884 siedelten wir in unser eigenes Heim über. Das Parterre bewohnten wir. Das linke Logis oben hatten Beyers gemietet, die schon viele Jahre beim alten Besitzer gewohnt, und in die rechte Wohnung war eine Gößnitzer Familie, Valler, gezogen, die später noch recht verhängnisvoll für meinen Vater wurde. – Ich war umso lieber nach dem Kirchplatze gezogen, weil mich nun nur noch ein Haus von meinem Intimus Ernst Dietzmann trennte. Das nächste Haus war meine Heimat; dort brachte ich in der Folge fast mehr Zeit zu als bei den Eltern. Die Schularbeiten wurden überhaupt seitdem gemeinsam gemacht, wie wir uns denn auch stets abholten, um den Gang nach und von der Schule gemeinsam zu machen.

Inzwischen war wieder Ostern herangekommen, und ich war in die 3. Klasse der Mittelschule eingetreten, um auch die Geheimnisse des Lateins kennen zu lernen. Der Klassenlehrer, Herr Deich, war mir schon aus der 3. Bürgerschulklasse gut bekannt, wo er Geschichtsunterricht gegeben hatte. Die erste Lateinstunde fiel befriedigend für mich aus. Nachdem uns die Bedeutung von Singular und Plural klar gemacht und Nominativus, Genitivus, Dativ, Accusativ, Vocativ und Ablativ eingepaukt war, wurde amicitia dekliniert. Ich glaube, es geht noch, daß ich die Freundschaft auf Lateinisch deklinieren kann: amicitia, amicitiae, amicitiae, amicitiam, amicitia. Das Französische machte mir etwas mehr Schwierigkeiten als das Lateinische. Woher das kam, weiß ich nicht, glaube aber, daß lediglich der Lehrer die Schuld trug. Herr Deich wurde von allen Schülern geliebt; der französische Unterricht wurde jedoch vom Rektor Werner erteilt, und dieser wurde von jedem Schüler gefürchtet, von manchem sogar gehaßt. Meine Lieblingsfächer blieben Geschichte und Geographie, denen sich im letzten Schuljahre noch Literaturgeschichte hinzugesellte. Für meinen[56] Vater war mein Eintritt in die Mittelschule ziemlich kostspielig gewesen, den ich hatte sofort für 36 Mark Bücher gebraucht. Am Lernen ließ ich es ja nicht fehlen. Mein Prinzip war, niemals früher auf die Straße zu gehen, bevor nicht die Schularbeiten gemacht waren. Wenn ich dann fertig war, ging ich zu Dietzmann, und wir vergnügten uns bei schlechtem Wetter auf dessen Oberboden, wo er ein Puppentheater aufgestellt hatte, oder turnten an einem Trapez, das an der Decke befestigt war. Gegen Abend leistete uns da zuweilen auch das Dienstmädchen Gesellschaft, wenn sie ihre Küchenarbeit erledigt hatte und die Frau Diakonus ausgegangen war. War diese zu Hause, durfte das Mädchen, wenn sie grade nichts auf dem Boden oder in ihrer Kammer zu suchen hatte, nicht mit den Kindern spielen. War jedoch die Luft rein, so vergnügte sich das Mädchen nach Herzenslust mit uns und schaukelte sich auch auf dem Trapez. Wir stellten uns dann unten hin und gaben ihr Schwung und freuten uns jedesmal, wenn beim Vorschwingen die Röcke hoch flatterten und die nackten Beine sichtbar wurden. Bei schönem Wetter wurde das Kasperletheater auch zuweilen auf die Kirchenstufen postiert. Dann strömten immer die Kinder der ganzen Stadt, arm und reich, zusammen und Ernst Dietzmann unterhielt die ganze Gesellschaft mit aus dem Stegreif erdachten und gespielten Theaterstücken, in denen natürlich hauptsächlich Kasperle und der Teufel die Hauptrollen hatten, und mit Schwerten und Stöcken tüchtige Prügel auf die harten Köpfe vergeben wurden. Die ärmeren Kinder freuten sich königlich darüber, während die reichen und besser gebildeten mit schlechten Witzen um sich warfen. Dann hatte Ernst von seinem Vater einen grün-weiß angestrichenen Wagen als Geburtstagsgeschenk erhalten. Mit diesem sind wir ebenfalls fast alltäglich in und außer der Stadt herumkutschiert. Dabei spielte er gewöhnlich das Pferd, und ich saß drin als Kutscher. Bei diesen Ausfahrten sprachen wir dann manchmal über die Zukunft. Dietzmann wollte Zirkusdirektor werden und ich sollte ihn als Kassierer begleiten. In Wirklichkeit ist er heute Mittelschullehrer und ich bin Fabrik-Proletarier geworden.

Oftmals versammelten wir uns in den stillen Abendstunden auch[57] ohne Theater auf den Kirchstufen. Dann wurden Räuber- und Seefahrergeschichten, hin und wieder auch Märchen erzählt. Es war zu diesen Konferenzen aber immer nur eine begrenzte Anzahl zugelassen: Dietzmann, meine Wenigkeit, Wunderlich, Klopfer, Paul Hübner, Gebrüder Winkler, Hiller und höchstens noch Max Wagner. Letzterer war ein armer Waisenknabe. Seine Eltern waren im größten Elend gestorben. Es war alles voller Läuse zurückgelassen, und die Kinder später »verteilt« worden. Der Max war zu einem Bäcker gekommen, mußte am Tage tüchtig arbeiten und wurde unter dieser Korona auch heimlich geraucht. Gebrüder Hiller wurde unter dieser Korona auch heimlich geraucht. Gebrüder Hiller »klemmten« zu Hause im Laden dann eine Handvoll Zigarren, oder auch Dietzmann ging einmal über die Kiste seines Vaters. Was nicht in Rauch umgesetzt war, wurde an irgend einem abgelegenen Orte »vergraben«. Klopfer hatte sich eine kleine Pfeife zugelegt und Wunderlichs Franz verstieg sich sogar zu einem »Priem«. Bei einer solchen stillen Zusammenkunft auf den Kirchstufen fragte uns auch einmal Franz Wunderlich, der Sohn einer Witwe, der noch einen erwachsenen Bruder und eine erwachsene Schwester hatte: »Wißt Ihr denn auch eigentlich, wie die Menschen entstehen?« Allgemeines Staunen. Keine Antwort. Schüchtern wagte ich vom Klapperstorch anzufangen. Da aber lachte er mich aus. Glaubt nur nicht so etwas! Und nun erzählte er uns, wie die Menschen entstünden. Ich war sprachlos darüber; die Empfindungen der andern weiß ich nicht. Glauben tat ich es aber noch nicht, was er uns da erzählte. Da wagte sich Wagner Max hervor und sagte, daß er am Abend zuvor in der Dämmerung seinen Meister in der Kammer beobachtet hätte, wie dieser mit seiner Frau auf dem Bette gelegen habe. Nach verschiedenen Zweifelsäußerungen von der einen Seite und Zustimmungen von der andern, ging man auseinander. Ich aber schämte mich, da Wunderlich gerade meine Mutter als schwanger bezeichnet hatte.

In diesen Tagen gingen bei uns recht oft verschiedene Leute aus und ein. Mein Vater war Kassierer der »Hamburger Tischler-Krankenkasse« geworden, von der soeben eine Filiale gegründet[58] worden war. Aus diesem Grunde war der Buchbinder Buchwald, der nachmalige sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete aus Altenburg zu ihm gekommen; Bevollmächtigter ward der Knopfmacher Heinrich Gläser, Kassierer eben mein Vater, der Bahnwärter Bromme. Da die Kasse als sozialdemokratisch galt, wirbelte die Gründung Staub auf, und der Bezirksingenieur sagte eines Tages zu meinem Vater: »Bromme, lassen Sie sich versetzen! Sie haben große Feinde hier!« Aber mein Vater entgegnete: »Ich fürchte niemand.« In demselben Sinne hatte ihm auch meine Mutter himmlische gute Worte gegeben. Er solle sich versetzen oder pensionieren lassen, denn das letztere konnte er trotz seines noch jungen Alters zu jeder Zeit tun, weil er ob seines Unglückes den Charakter eines Halbinvaliden besaß. Deshalb konnte ihm die Bahn auch niemals kündigen. Unter den großen Feinden war wohl hauptsächlich der Kommerzienrat Hermann Donath gemeint. Dieser Kommerzienrat hatte noch einen Bruder Valentin, einen gelernten Zimmerer, der dann Reisender war, und der zuerst auf die Idee gekommen ist, Steinnußknöpfe zu machen. Als er sich anläßlich einer Geschäftsreise in Hamburg aufhielt, sah er, wie die amerikanischen Schiffe ihren Ballast auswarfen, der in solchen Nüssen bestand. Er besah sich diese und dachte, daß sich da vielleicht auch Knöpfe daraus machen ließen. Sein Bruder und ein Herr Brand in Gößnitz setzten den Gedanken in die Praxis um und siehe da, infolge der Billigkeit verdrängten die Steinnußknöpfe bald alle Perlmutter- und Hornknöpfe, oder beschränkten die Produktion derselben doch mehr auf ein Minimum. Nach einiger Zeit machte sich auch Valentin Donath selbständig, und er hatte bald ebensoviel Reichtum aufgehäuft als sein Bruder Hermann. Mit diesem Valentin Donath stand mein Vater stets auf gutem Fuße. Diesem hatte auch seiner Zeit mein kleiner verstorbener Bruder Viktor, der ganz hellblonde Locken hatte, so gut gefallen, daß er wochenlang in meinen Vater gedrungen, ihm den Knaben zur Adoption zu überlassen, trotzdem er selbst Kinder besaß. Aus letzterem Grunde war mein Vater niemals auf diesen Vorschlag eingegangen. Dieser Fabrikant war es auch, der zu jener Zeit das große Pappenschloß, welches mein Vater gebaut hatte,[59] für 150 Mark erstand. Trotzdem dieser Mann auch wußte, daß mein Vater politisch sehr frei angehaucht war, verkehrte er doch im Gegensatz zu seinem Bruder, stets freundschaftlich mit ihm.

Zu damaliger Zeit mußte ich zu Hause Zeitungen, Zeitschriften usw. immer laut vorlesen. Namentlich die »Thüringer Waldpost«, welche während des Sozialistengesetzes in dieser Gegend verbreitet wurde, mußte ich von Anfang bis ans Ende vorlesen. Obgleich ich noch nicht viel vom Sozialismus verstand, und wie mein Freund Dietzmann mehr mit den Freisinnigen sympathisierte, wurde ich trotz meiner Jugend doch nach und nach mit dem Parteileben bekannt. Als dann ein Jahr später einmal der Lehrer Patuschka in der Schule während des Unterrichts sagte: »Es gibt jetzt eine Sorte Menschen, die nennen sich Sozialdemokraten, die wollen die Ehe und das Familienleben zerstören, den Staat und die Könige abschaffen, alles Privateigentum aufheben, wodurch der intelligente Besitzende gewärtig sein muß, daß er an Stelle des Knechtes Dünger laden und Sand karren wird, während dieser ungebildete Mensch seine Stelle einnehmen wird«; wollte ich ihm entgegnen, daß er die Ziele der Sozialdemokraten falsch auslegte. Ich als Schüler kannte sie besser als derjenige, von dem wir unsere Lebensweisheit erwerben sollten.

Die schon erwähnten Wellerschen Eheleute, welche aus Gößnitz zu uns gezogen waren und die rechte Hälfte des 1. Stockes bewohnten, waren etwas unreinlich. Der Mann mochte noch angehen. Es war ein kleiner, etwas wohlgenährt aussehender Kerl, der in der Knopffabrik arbeitete. Aber die Frau war eine Xantippe. Sie hatte eine hakenförmige Habichtsnase und einen ganz vorzüglichen, aber etwas giftigen Zungenschlag. Es waren fünf Kinder vorhanden, die ob der Reinlichkeitsliebe der Mutter auch nicht gerade appetitlich aussahen, ausgenommen die beiden größeren Knaben, die sich selbst »lecken« konnten. Bald war ein regelrechter Klatsch und das übliche »Schlechtmachen« im Gange und der Zwist war da. Zu ihnen waren noch 2 Gößnitzer, die Gebrüder Heinrich, beide Knopffärber, als Kostgänger gezogen, von denen namentlich der jüngere ein ganz besonders roher Patron war, den ich später[60] noch einmal erwähnen muß. Diese beiden wurden natürlich ebenfalls auf uns gehetzt. Eines Sonnabends Abend wurde neben einigen Krügen Bier von den Wellers noch einige Flaschen Schnaps vertilgt und etwa gegen 100 Uhr ging auf einmal in ihrer Wohnung ein Rumoren und ein Skandalieren los, dessen Ursache und Absichten vorerst nicht zu ersehen waren. Es wurden Tische und Stühle gerückt, Holz gespalten und gesägt. Das Wasser in ganzen Eimern auf den Boden gegossen und breit gemacht und getollt, getanzt und gelärmt, daß wir in unserer Schlafstube, die direkt unter der Wohnung lag, nicht nur nicht schlafen konnten, sondern auch noch naß wurden, da die Feuchtigkeit an den Wänden herunter lief. Gegen 3/4 11 Uhr stand mein Vater auf, ging halb die Treppe hinauf und gebot Ruhe. Ein Hohngelächter antwortete ihm, dazwischen das Kreischen und Schreien der Frau und der noch wachen Kinder. Mein Vater begab sich zurück und etwa 1/2 Stunde war es ziemlich ruhig. Nur machten sich anscheinend fast sämtliche Familienmitglieder auf der Treppe zu schaffen. Auf einmal gegen 1/4 12 Uhr hub das Schreien, Rumoren, Poltern und Trampeln von neuem an, daß man glaubte, die Decke stürze ein. Jetzt wurde es aber meinem hitzigen Vater zu bunt. Nur mit den Hosen und Filzpantoffeln bekleidet, begab er sich noch einmal nach oben. Aber – wie sah die Treppe aus – als er Licht gemacht hatte. Auf den unteren Stufen war er ausgeglitten und ein widerlicher Gestank schwängerte die Luft. Anscheinend hatte die ganze Familie ihre Notdurft auf die Treppe verrichtet, natürlich nur um meinen Vater zum Schlimmsten zu reizen. Er stürmte über die Schweinereien hinweg und riß die Türe zu Wellers Wohnung auf. Aber darauf schienen diese nur gelauert zu haben; denn sofort wurde er mit einem scharfkantigen Stuhlbeine dermaßen von der Frau ins Gesicht geschlagen, daß er zurücktaumelte. Noch einmal versuchte mein Vater vorzugehen, aber ein neuer Schlag des rasenden Weibes traf ihn an die Schläfe. Nun stürzte die ganze Bande auf ihn los und warf ihn die Treppe herein, wo er über den ganzen Unrat des Gesindels ausrutschen mußte. Jetzt waren aber unsere auf dem Boden und im rechten Parterre schlafenden Kostgänger erwacht und diese sprangen sämtlich,[61] mit Ausnahme eines Drechslers meinem Vater zur Hilfe. Daraufhin wurde Ruhe. Einer unserer Leute holte den Arzt, damit mein schwer verletzter Vater verbunden wurde. Er war schrecklich zugerichtet und mußte einige Tage hindurch kühlen. Dazu gesellte sich noch die Kopfrose, sodaß das Schlimmste zu befürchten war. Es dauerte 3 Wochen, ehe er wieder Dienst tuen konnte. Selbstverständlich wurde Anzeige erstattet und mein Vater nahm die Klage nicht zurück, trotzdem die Furie Frau Weller auf den Knieen Abbitte geleistet hatte. Er blieb unerbittlich. Die Logisleute zeugten mit Ausnahme des Drechslers, der wahrscheinlich von der Frau »liebreich« behandelt wurde, sämtlich zu Gunsten meines Vaters und das Urteil lautete, soweit ich mich noch erinnere, auf 3 Wochen Gefängnis und Tragung der Kur- und Gerichtskosten. Es war eine wahre Wohltat für meine Eltern, als diese Gesellschaft nach einem Vierteljahr auszog.

An jenem Sonntage, da mein Vater nach der Schreckensnacht seine Wunden kühlen mußte, kam ein Dienstmädchen des Kaufmanns Emil Schaller und fragte an, ob wir nicht noch zwei Pantoffelmacher ins Quartier nehmen könnten. Auf unsere Zusage erschienen am Nachmittage zwei in der Mitte der zwanziger Jahre stehende Männer, die sich als Carl Schröder und Otto Borchert, beide aus Friesack (Westhavelland) vorstellten. Sie unterhielten sich einige Zeit mit meinem Vater, erkundigten sich nach der Ursache seiner Verletzung und zogen gegen ein wöchentliches Kostgeld von 9 Mark bei uns ein. Sie betonten aber, daß sie nur Wurst und Fleisch, keinen Käse, mit Ausnahme von Schweizerkäse, essen und nur weißen Kaffee trinken würden. Mit diesen 2 Logisherren ist die Holzschuh- und Pantoffelindustrie in Schmölln verknüpft, die bis dahin in unserem Orte gänzlich unbekannt war. Heute existiert die größte Fabrik dieser Branche im ganzen Deutschen Reiche in Schmölln. Die Geschichte der Begründung dieser neuen Industrie ist immerhin instruktiv genug, um erzählt zu werden. Sie vollzog sich folgendermaßen. Es hatte da etwa 14 Tage vor jenem Sonntage ein Handwerksbursche Namens Heinrich Schmidt aus Stendal in Schallers Kurzwarenladen um einen Zehrpfennig angesprochen. Er[62] sah darin Holzpantoffeln hängen und fragte, was sie für diese im Einkauf bezahlten. Auf die erhaltene Antwort hin sagte er: »Wenn Sie etwas riskieren wollen, die können Sie billiger haben. Ich selbst bin Pantoffelmacher und könnte Ihnen das Geschäft einrichten.« Auf die Frage Schallers, ob und wo er übernachten würde, nannte er die Herberge. Herr Schaller überlegte sich die Sache, sprach mit seinem Vater und ging dann zum Rentier Rauschenbach in der Bahnhofstraße, um sich dort 500 Taler zu borgen. Er suchte dann am Abend den Kunden in der »Penne« auf und wurde alsbald mit ihm handelseinig. Heinrich Schmidt ließ zunächst Pantoffelhölzer von einer Friesacker Firma schicken und verschrieb sich die beiden oben erwähnten Kollegen. Bald gesellte sich noch ein Vierter Namens Buchholz dazu, und wenige Wochen später wurde noch ein Mann für die »niedrigeren« Arbeiten angestellt. Schon nach einigen Wochen hatte die neue Firma soviel Beschäftigung, daß die Leute manchmal bis Mitternacht arbeiteten und bis 50 Mk. in der Woche verdienten. Für ein Paar Pantoffeln aufzunageln gab es damals 6 Pfennige. Da wollen also so ziemlich 900 Paar für diese Summe zusammengeklappert sein, ein Quantum, das nur in den seltensten Fällen bei gewöhnlicher Arbeitszeit in 14 Tagen geleistet werden kann. Doch die Arbeit drängte – die Bestellungen wuchsen und Schallers mußten schon nach einem halben Jahre eine größere Fabrik und eigene Hölzerschneiderei errichten. Um Arbeiter zu gewinnen, fuhr der Chef selbst einmal nach Friesack und Fehrbellin, den bisherigen Hauptorten der Industrie und suchte dort Fühlung mit den Leuten. In ganz kurzer Zeit waren dann 60 tüchtige Fachleute beschäftigt. So wurde die Holzschuhfabrikation eingeführt, und von den Fremden mußten ganz unauffällig nach und nach Einheimische angelernt werden. Diese lernten dann wieder andre an, und nach 2–3 Jahren war man schon so weit, daß die Friesacker und Fehrbelliner ruhig wieder ihre Wege gehen konnten. Die neue Industrie war eingewurzelt, und in Brandenburg ging die Produktion infolgedessen bedeutend zurück. Beim Nageln ging das Lernen übrigens leicht genug. Mehr Schwierigkeiten bereitete das Hölzerschneiden, da konnte man nur gelernte Brandenburger gebrauchen.[63]

Da aber der Hölzerbedarf immer größer wurde, entschloß man sich schon nach 2 Jahren, eine große Dampfsägerei zu erbauen, um mit der Bandsäge zuschneiden zu können. Auch das bedurfte dann keiner großen Erlernung. Zu dem Bandsägeschneiden konnte man ganz gut wieder heimische und billigere Arbeitskräfte verwenden als die Brandenburger es waren. Meine Eltern aber haben im Laufe dieser Jahre eine sehr große Anzahl solcher brandenburgischer Pantinenmacher als Aftermieter gehabt, von denen wir noch eine Anzahl kennen lernen werden.

Aber nebenbei wohnten auch noch Knopfmacher, Schlosser, Stockdrechsler und Zigarrenmacher bei uns. Da war z. B. der Zigarrenmacher Traugott Große, aus Pölzig gebürtig, 3 Jahre bei uns im Quartier und er wäre noch länger dagewesen, wenn er nicht nach Meerane gezogen wäre. Dieser hat sich sehr viel mit mir abgegeben. Der war einmal auf dem Wege vom Bockbierrummel nach Hause ausgeglitten und hatte sich den Arm aus der Kugel gefallen. Erst am anderen Nachmittage kam der Arzt und richtete den Arm wieder ein. Ich habe das mit angesehen und obwohl dies schreckliche Schmerzen, nach den verzerrten Gesichtszügen zu schließen, verursachte, gab der Traugott keinen Ton von sich. Mir fielen immer seine wohlgepflegten weißen Hände auf. Ich wunderte mich darüber und habe ihn manchesmal gefragt, ob sie denn gar nicht schmutzig würden. Schon deshalb dünkte mir das Zigarrenmachen eine angenehme Beschäftigung zu sein und sie wäre es wohl auch, wenn sie nur nicht so schlecht bezahlt würde. Ich selbst mußte später auch einmal in einer Zigarrenfabrik arbeiten, infolge des miserablen Lohnes habe ich es aber nach einem Vierteljahre wieder aufgegeben. Von den andern Burschen ist »Hammerfriede« zu nennen, ein etwas beschränkter kurzsichtiger Mensch, der sehr wenig verdiente und deshalb schon gezwungen war, niemals auszugehen. Wir haben deshalb viel mit ihm gespielt. Ich muß es ihm aber nachsagen, daß er niemals über ungehörige Sachen mit uns gesprochen hat. Dann war damals ein Drechsler Holland aus Eisenach bei uns, der war vielgereist, und ich lauschte besonders gern, wenn er seine Reiseerlebnisse zum Besten gab. Namentlich die Wanderungen[64] an der Ostsee von Stralsund über Swinemünde und Kolberg nach Stolp und Danzig gefielen mir sehr gut. Von dem habe ich etwas gesehen, was ich später nie wieder gesehen habe. Er ließ sich nämlich öfters einen Hering holen, direkt aus der Lauge mußte er sein, den faßte er am Schwanz und aß ihn wie er war, mit Stumpf und Stiel auf, ohne ihn abzuwaschen, ohne auch nur eine Schuppe oder Gräte wegzuputzen. Es gehört wahrlich ein guter Appetit dazu, aber er meinte, das wäre sein Radikalmittel, wenn ihm irgend einmal nicht recht zu Mute war. Später arbeitete ich einmal mit einem gewissen Brendel zusammen, der hatte auch so ein Radikalmittel, wenn ihm nicht recht zu Mute war, oder wenn er tags zuvor 20–30 Glas Bier getrunken hatte. Der füllte eine Flasche mit Nordhäuser und Rum, schüttete für 5 Pfennige weißen Pfeffer hinein und trank das in einem Zuge leer, ohne eine Miene zu verziehen. Mich aber gruselte es da immer von neuem, denn während meiner ganzen Schulzeit habe ich höchst selten einmal einen Schluck Bier und niemals Schnaps zu kosten gekriegt, habe auch niemals Verlangen danach gehabt.

Doch jetzt müssen wir wieder zu unseren familiären Verhältnissen zurückkehren. Denn es traten nun Ereignisse ein, die zu den traurigsten meines Lebens gehören und durch die sich meine liebe Mutter so gegrämt hat, daß sie sich buchstäblich die Schwindsucht an den Hals ärgerte und auch daran gestorben ist. Mein Vater kehrte fast täglich auf dem Wege von und zu der Bahn in einem Materialwarenladen ein und trank dort ein Schnäpschen oder kaufte sich eine Zigarre. Dort bediente ihn auch eine Zeitlang ein Kaufmannslehrling, der sich Unger nannte und aus Zwickau zu stammen vorgab. Er hatte sich gelegentlich meinem Vater auch als Eisenbahnerssohn vorgestellt und zwar als Sohn eines Lokomotivenführers. Seitdem unterhielt sich mein Vater fast täglich einige Minuten mit dem Jungen. Nach etwa einem halben Jahre bat der Junge meinen Vater, er sollte ihm doch einmal von einem Weißwarengeschäft Vorhemd und Kragen mitbringen, weil er seine Wäsche nicht erhalten habe; bat aber gleichzeitig, das Geld zu verlegen, da er augenblicklich nichts da habe. Mein Vater[65] wollte ihm diese Bitte nicht abschlagen und besorgte das Verlangte. Bei der Ablieferung erhielt er dafür eine oder zwei Zigarren geschenkt. Nach einiger Zeit brauchte der »Stift«, der übrigens schon eine Lehrstelle gehabt hatte, wieder etwas, hatte aber das erste noch nicht bezahlt. Mein Vater machte ihm darüber Vorhaltung und bei der nächsten Einkehr erhielt er sein Geld, das der Junge seiner Westentasche entnahm. So ging das eine ganze Weile fort, wohl über ein Jahr. Manchesmal erhielt auch mein Vater ein Schnäpschen gratis, doch dachte er sich niemals etwas dabei. Dieser Lehrling stand aber auch noch mit einer andern Person, mit einer Frau, in Verbindung. Diese beutete ihn aber mehr aus. Sie soll die Weinflaschen körbeweise fortgeschafft und auch Kaffee und derartige Sachen höchst selten bezahlt haben. Auf einmal brach die Katastrophe herein. Es kam durch einen Kommis aus Tageslicht. Die Schuld der Frau wurde, wohl wegen der kirchlichen Beamtenschaft ihres Mannes, totgeschwiegen. Mein Vater aber mußte den Sündenbock abgeben. Und er mußte bitter büßen. Zwar, der Kaufmann selbst würde auch seine Angelegenheit nicht der Öffentlichkeit übergeben haben, wenn die geheimen Wühler, in Gestalt der Ordnungsstützen, nicht gewesen wären. Hatte doch in jenem Sommer Reichstagswahl stattgefunden und der Freisinnige, ein Rektor, war gewählt worden. Der sozialdemokratische Kandidat Heine, Hutfabrikant in Halberstadt, hatte 202 Stimmen in Schmölln erhalten – ein kleines Häuflein, das bei der letzten Wahl 1903 auf über anderthalbtausend Summen angewachsen ist. Der konservative Kandidat aber war der damalige Fabrikinspektor Wohlfahrt gewesen. Ich erinnere mich noch, daß ich und Ernst Dietzmann damals die Arbeiter, als sie Mittags von der Arbeit kamen, anriefen: »Wählt Heine!« Wurde nun auch dieser nicht gewählt, so kannte doch der Ärger der Reichstreuen keine Grenzen, weil der Freisinnige durchgekommen war. Und solche verärgerte Reichstreue schürten wohl die Flammen an; der Kaufmann mußte klagen, damit der mißliebige Beamte, der sich nicht scheute, in der Eisenbahneruniform sozialdemokratische Versammlungen zu besuchen, endlich beseitigt wurde. Jetzt paßte es einmal, wo man ihn[66] fassen und unschädlich machen konnte. Der Vater erhielt also eine Anklage wegen Hehlerei zugestellt und zwar sollte er in über 300 Fällen ein Schnäpschen oder eine Zigarre erhalten haben. Mein Vater nahm sich den Rechtsanwalt Schellenberg-Altenburg, den Bruder des Paten unserer Flora, an. Dieser sagte auch zu und mein Vater fühlte sich erleichtert. Inzwischen war das von Wellers bewohnte Logis von einem gewissen Gruhl bewohnt gewesen, und nachdem dieser selbst ein Haus gekauft, zog der Weber Meyer, ein intimer Freund und Genosse meines Vaters, ein. Sobald etwas von dem Prozesse ruchbar wurde, kam eines Tages Herr Buchwald aus Altenburg; mein Vater sollte seines Amtes als Kassierer der Krankenkasse enthoben werden. Inzwischen hatte dieser aber eingehend an den Hauptvorsitzenden Blum-Hamburg berichtet und von diesem den Bescheid erhalten, daß er sein Amt so lange behalten könnte, bis ein Urteil gefällt sei. Um sich zu beruhigen, reiste mein Vater aber auch einmal noch zu Rechtsanwalt Freytag nach Leipzig, um diesen, der ein berühmter Verteidiger und Freund der Arbeiterbewegung war, womöglich zu seiner Vertretung zu gewinnen. Herr Freytag bezeichnete jedoch die ganze Angelegenheit als Bagatelle, da mein Vater ja noch unbestraft sei, wäre die ganze Geschichte mit höchstens einem Monat Gefängnis abgetan. Er würde ca. 120 Mark Vorschuß beanspruchen und das sei die ganze Geschichte nicht wert. So kam allmählich die Zeit der Verhandlung heran. Da kam – einem Blitz aus heiterm Himmel vergleichbar – vom Rechtsanwalt Schellenberg die Nachricht, daß er meinen Vater nicht verteidigen könne. Er sei, wie ihm vielleicht auch bekannt sei, mit der Tochter des Knopffabrikanten Kommerzienrat Donath verlobt und habe von seinem Schwiegervater die Direktive erhalten, die Verteidigung abzulehnen. Nun war guter Rat teuer. Da lebte in Schmölln noch ein alter Advokat Thienemann, der nur noch selten praktizierte. Dieser erklärte sich schließlich bereit, die Verteidigung zu übernehmen. Der wegen Diebstahl mitangeklagte Lehrling Hunger, welcher nach einem kühnen Griff in die Ladenkasse noch flüchtig geworden und in Kassel verhaftet worden war, war ebenfalls eingetroffen. Mit schwerem Herzen begab[67] sich mein Vater am Tage der Verhandlung nach dem Amtsgericht. Er hatte wohl die Absicht gehabt, nach Österreich zu entfliehen, aber schließlich rief er sich den Ausspruch Freytags ins Gedächtnis und faßte wieder Mut. Nur eins bedrückte ihn, seine Familie; denn obendrein war meine Mutter noch schwanger. In der Verhandlung selbst trat ein nicht geahnter Wendepunkt ein, der seine Lage noch um ein bedeutendes erschwerte. Hunger suchte nämlich alle Schuld auf meinen Vater abzuwälzen. Er sagte aus, daß ihm mein Vater geraten hätte, das Geld der Ladenkasse zu entnehmen. Im Übrigen kenne ich den Gang der Verhandlung nicht weiter, da ich mit Mutter und Geschwistern in Hangen und Bangen zu Hause saß. Das schließliche Urteil aber lautete: Vier Jahre Gefängnis, 2 Wochen Hast und Tragung der Kosten. Der Angeklagte sei vorbestraft, hatte der Amtsrichter gesagt, mein Vater aber hatte diese Strafe vergessen. Er hatte nämlich 1 Tag Gefängnis abgebrummt, weil er als 13jähriger Junge nach einer Jagd einen angeschossenen Hafen gefunden und nicht abgegeben, sondern vielmehr in der elterlichen Wohnung mit den Angehörigen verspeist hatte. Das war die Vorstrafe. Am Schlusse der Urteilsbegründung soll dann der Amtsgerichtsrat noch gesagt haben: »Bromme, Sie werden nur Ihrer politischen Gesinnung halber mit einer so hohen Strafe belegt.« Wie mein Vater nach Hause gekommen ist, wird er selbst nicht wissen. Ich sehe ihn noch heute mit uns Kindern auf dem Sofa sitzen, in den Pelz eingewickelt und bitterlich weinen. »Meine armen – armen Kinder!« Wie schnitten mir diese Worte in die Seele. Was würde für eine Zeit für uns anbrechen? Soviel wußte ich: bisher hatte ich eine sorgenlose fröhliche Kinderzeit gehabt, aber von diesem Augenblicke an würden wir erst Proletarierkinder in des Wortes wahrster Bedeutung sein. Das Erste, was nun folgte, war, daß mein Vater seine Kündigung einreichte, weil ihm von der Bahnbehörde die Mitteilung zuging, daß er bis auf Weiteres vom Dienste suspendiert sei. Er bekam dadurch seine eingezahlten Pensionsgelder zurück und hatte jeden weiteren Anspruch an die Bahn verloren. Von dem Gelde wurden noch einige Baugläubiger befriedigt, die bis auf den Malermeister Seidel wohl[68] sämtlich ihr Geld erhielten. Dann legte mein Vater auch Berufung ein und wandte sich an den Rechtsanwalt Dölitzsch, einem ehemaligen Achtundvierziger. Der aber wollte sich offenbar auch nicht mit der Bagatellsache befassen und verwies an den Rechtsanwalt Hase in Altenburg. Nach einigen Wochen fand die neue Verhandlung vor dem Landgericht Altenburg statt. Mein Vater war inzwischen verhaftet worden. Das war der härteste Schlag für ihn und uns. In jener Zeit hatte ein Zigarrenmacher Martin oft bei uns verkehrt, der in der Arbeiterbewegung agitatorisch tätig war. Da kam am Tage vor der Verhandlung, die vor dem Landgericht Altenburg stattfand, von diesem Martin, welcher noch nichts von der Verhaftung meines Vaters wußte, die Nachricht: »Urteil nicht annehmen. Vor dem Oberlandesgericht Jena den Rechtsanwalt Jäger annehmen, welcher einer der Unsrigen ist.« Wie nun diese Karte meinem Vater bringen? Da erklärte sich der Kousin meiner Mutter, der schon erwähnte Wilhelm Syrbe aus Lobstädt, der in der Lippoldschen Maschinenfabrik als Schlosser beschäftigt war, bereit, die Mission zu übernehmen. Er fuhr früh mit dem ersten Zuge nach Altenburg, kam aber zu spät. Die Verhandlung hatte schon begonnen. Das Fazit war 2 1/2 Jahre Gefängnis und Tragung der Kosten. Unser Syrbe saß während der ganzen Verhandlung wie auf Kohlen. Wie die Karte ihm zustecken? Nach der Urteilsverkündigung sprach der Verteidiger leise mit dem Angeklagten, und das schreckliche trat ein. Der Vater unterwarf sich dem Urteil. Zwar konnte ihn Syrbe nun sprechen, aber die Karte Martins erfüllte ihren Zweck nicht mehr.

Wegen der hohen Schwangerschaft und nahe bevorstehenden Niederkunft meiner Mutter erhielt mein Vater die Erlaubnis, bis dahin seine Strafe in Schmölln verbüßen zu dürfen. Alltäglich besuchte ich ihn dort in seiner Zelle, durfte aber nur solange verweilen, bis er das von der Mutter geschickte Essen ausgepackt hatte, und mir den Korb zurückgab. Es waren traurige, traurige Zeiten, und die Besuche wurden mir so unsäglich schwer; trotzdem ich erst 12 Jahre zählte, verstand ich schon alles und dachte über alles nach. In dieser Zeit mußte ich auch öfter nach der Hebamme Lorenz laufen[69] und diese zu meiner Mutter bestellen. Da fiel mir Wunderlichs Belehrung wieder ein, und ich glaubte, daß er Recht behalten würde. An einem Freitag, Nachmittags 6 Uhr, kam dann meine jüngste Schwester Elsa auf die Welt. Sie allein wußte nichts von dem Elend, daß unsre Familie heimgesucht hatte. Aber sie brachte ein Gutes mit. Der Vater erhielt einen 14tägigen Urlaub. Dann mußte er wieder in seine Zelle zurück. Eines Morgens, in der darauffolgenden Woche, erschien er wieder, in Begleitung des Amtsdieners, um Abschied zu nehmen. Er umarmte die Mutter und küßte sie und uns, dabei liefen ihm in einem fort die Tränen in den Bart. Dann beugte er sich noch einmal über den Kinderkorb und küßte das kleine Schwesterchen – dann zog ihn Bachmann am Arme hinaus. Gerade dieser Amtsdiener mußte ihn transportieren, mit dem wir lange Jahre freundschaftlich verkehrt waren, denn er war ein Schulkamerad meiner Mutter gewesen. Am andern Tage brachte er uns eine Tafel Schokolade, die mein Vater bei einem einstündigen Bahnaufenthalt in Weimar für die Wöchnerin gekauft hatte. Vielleicht war es sein letztes Geld gewesen und leer war er im Gefängnis zu Ichtershausen bei Arnstadt angekommen.

Eine schwere, leidensreiche Zeit brach nun für die Mutter und uns Kinder herein. Wir mußten uns nunmehr alles gefallen lassen und nie wieder in meinem Leben habe ich so »frohe« und »sorgenfreie« Tage gesehen. Wovon sollten wir uns nähren? Das war die erste Frage, was sollte aus uns werden? die zweite. Denn die letzten 500 Mark, die die Mutter aufgehoben hatte als Grundstock, um mich Lehrer werden zu lassen, waren beim Hausbau mit zum Teufel gegangen. Von jeher war die Mutter kränklich gewesen und litt fast täglich an Magenkrämpfen, sodaß ihre Nahrungsaufnahme äußerst gering war. Sie war deshalb in ihrem Verdienst lediglich auf die Haltung von Kostgängern angewiesen. Nun kann sich wohl jeder der Leser denken, daß solche fremde jugendliche Leute vor einer alleinstehenden Frau nicht viel Respekt haben. Wieviel hat meine arme Mutter in dieser Beziehung durchmachen müssen! Wir bekamen einmal von einem Pantoffelmacher August Müller, einem ehemaligen Nagelschmied, der das Pantoffelnageln erst bei[70] Schallers von den Brandenburgern gelernt hatte, mehr als 50 Mk. rückständiges Kostgeld. Er war dann plötzlich nach einem blauen Montag entlassen worden und hatte in Gößnitz Beschäftigung angenommen. Um nun zu unserem Gelde zu kommen, mußte ich jeden Sonnabend gegen Abend bei Sturm und Wetter nach dem eine halbe Meile entfernten Gößnitz laufen und wieder zurück. Oft erhielt ich dann bloß einen Fünfziger. Aber auf diese Weise sind wir doch zu unserem Gelde gekommen. Einmal war ein Hölzerschneider Hermann Schuster bei uns im Quartier, der sonst immer regelmäßig bezahlt hatte. Es war ein Schlesier und aus Gassen gebürtig. Der machte plötzlich Feierabend, aber gerade zu dieser Zeit hatte meine Mutter 15 Mark von ihm zu bekommen. Er bot ihr als Sicherheit sein Werkzeug (4 Schneidemesser und 1 kurze Axt) an, meine Mutter, gerührt ob dieser Ehrlichkeit, vertraute ihm, und gab ihm das Werkzeug zurück. Mit dem Bemerken, daß er ihr das Geld sicher schicken würde, reiste er ab. Er hatte Stellung in Luckenau bei Weißenfels erhalten. Bald waren 4 Wochen vergangen, kein Schuster regte sich. Dann schrieb ich nach Luckenau und setzte extra den Namen des Absenders darauf, aber weder Brief noch Geld kam wieder. So hatte meine Mutter das Nachsehen. Eines Sonntagsnachmittags waren einmal eine ganze Menge Pantinenmacher bei uns versammelt, wohl an die 12 Mann. Bei uns waren 4 im Quartier. Lenz, Schröder, Ölse und Rambow. Wir hatten unsre rechte Parterrestube für sie eingerichtet. Sie trieben an diesem Tage allerhand Allotria, hatten sich Pappeninstrumente schicken lassen, und führten damit eine Höllenmusik auf. Selbstverständlich wurde dabei auch dem Glase gehörig zugesprochen. Bier und Schnaps wurde in großer Menge vertilgt und die ganze Gesellschaft wurde betrunken. Wir Kinder wurden verulkt. Mich schickte einer fort, ich sollte für 50 Pfennige gedörrten Provisor in der Apotheke holen. Natürlich brachte ich ihm für 20 Pfennige Zigarren und für mich noch für 10 Pfennige Schokoladebrocken. 20 Pfennige gab ich der Mutter. Er war es auch zufrieden. Damals hingen als Zimmerschmuck in jener Stube einige Heiligenbilder, sowie der alte Wilhelm, Moltke und Bismarck. Aber[71] auch Bebel und Liebknecht, Marx und Lassalle hingen drin. Da hätte nur so gegen 7 Uhr am Abend ein Polizist hineinkommen sollen: Die ganze Gesellschaft wäre dann wegen Majestätsbeleidigung und Gotteslästerung verhaftet worden. Sie hatten die meisten Bilder in schändlicher Weise verunreinigt. Meine Mutter war dar, über untröstlich. Aber was konnte sie gegen diese angetrunkene Gesellschaft tun? Die waren ja am Montag früh auch noch nicht nüchtern. Rambow zum Beispiel war ausgesprochener Alkoholiker. Der Mann nahm sogar eine Flasche Schnaps mit ins Bett, und das gehackte Rindfleisch, das er gewöhnlich verzehrte, untermengte er mit Eier, Salz, Pfeffer, Zwiebel und Schnaps. Allerdings hat er es so lange getrieben, bis er am Säuferwahnsinn zu Grunde gegangen ist.

Gemütlicher als unter diesen vier Pantoffelmachern ging es bei uns in Wilhelm Syrbes Bekanntschaft zu. Da wurden auch oft Gelage abgehalten, aber nicht mit Schnaps, sondern mehr mit Schokolade und Zwieback, und stets waren eine Anzahl junger Mädchen mit dabei. Syrbe Wilhelm dichtete und sein Freund, Tischler Hemmann dichtete, während der dritte Freund, Schreiber Tetzner, über alles philosophische Betrachtungen anknüpfte. Diese gründeten später auch einen Stammtisch »Heiterkeit«, wo es manchmal hoch hergegangen sein muß. Das gewöhnliche Eingangslied bildete das Lied: »General Laudon rückt an.« Und dann kamen meist selbstverfaßte Sachen dran. So hatte Wilhelm Syrbe auf die Melodie des Schunkelwalzers auch ein Gedicht auf die Stadt Schmölln und ihre Knopfindustrie gemacht. Ich glaube, den ersten Vers noch zitieren zu können:


»An der Sprotte romantisch – zwischen bewaldeten Höh'n –

Da liegt so still und friedlich – ein Städtchen klein und schön –

Man kennt's in allen Landen – ob seiner Industrie –

Die längst schon hier bestanden – im Glanze wie noch nie.

Ja Steinnußknöpf' unzählig, elegant – macht man in Schmölln an der Sprotte Strand.«


Es dauerte auch nicht lange, da war Syrbe zum Schriftführer und Theaterregisseur des »älteren Turnvereins« gewählt worden und[72] hatte noch verschiedene andere Ehrenposten zu bekleiden. Hemmann aber, der den Mädchen eines Abends in unserer Stube seine Originalgedichte »Die Erfindung des Fracks« und »Die Erfindung der Krinoline« vortrug, reiste eines Tags gar als Schauspieler mit einer eben anwesenden Schmiere ab. In jenen Tagen quartierte sich auch ein ehemaliger Schulkamerad von mir, Paul Bauer, bei uns ein. Trotzdem er erst 15 Jahre zählte, war er größer als alle anderen Logisherren. Anfangs wollte meine Mutter den Burschen nicht annehmen. Erst auf unser Zureden hin ließ sie sich dazu herbei, und er blieb bis zur Militärzeit bei uns, wurde überhaupt so bei uns eingewöhnt, daß wir ihn schließlich als Bruder betrachteten. Meine Mutter hat freilich manchen Ärger mit ihm gehabt. Einige Male war er plötzlich weg, und voller Läuse kam er wieder. Sie mußte ihn dann stets reinigen. Auch als er das erste Mal einzog, brachte er solch lebendes Kopfinventar mit, und meine Mutter hatte dann auch mit uns die Schererei. Erst das persische Insektenpulver befreite uns wieder ganz von dem Ungeziefer

Aber auch andere Schmerzen zogen bei uns ein. Als mein Vater nach der thüringischen Strafanstalt transportiert worden war, stellten sich die noch unbefriedigten Gläubiger auf das Haus ein und ließen uns pfänden. Glücklicherweise hatte mein Vater noch seinen guten Anzug, seinen Pelz und seine selbstverfertigten langen Stiefel rechtzeitig verkaufen können. Das Mobiliar aber gehörte meiner Mutter und mußte freigegeben werden. In solcher Not sprang der Mutter mein Bruder Felix bei. Er putzte für einen Anbohrer in einer Knopffabrik Steinnüsse ab, wofür er in der Woche eine Mark bis 1,50 Mark verdiente. Nach einigen Wochen mußte auch ich mit verdienen. Beim Flaschenbierhändler Schmidt wurde ich eingestellt. Meine Beschäftigung war sozusagen alles. Ich mußte von der Lateinstunde weg den Pferdestall reinigen, das Pferd putzen und einschirren. Den Stall mit frischen Stroh füllen. Häcksel schneiden und das Pferd füttern. Bier abziehen, Flaschen reinigen, sämtlichen Familienbedarf einholen. Kohlen anfahren. Das Flaschenbier in einem Handwagen zu den Kunden fahren. Die leeren Flaschen einholen. Hof und Straße kehren. Garten begießen usw.[73]

Für alle diese Arbeiten erhielt ich die Woche 1,20 Mark reinen Verdienst und Sonnabends eine Flasche Bier mit nach Hause. Neben diesem Posten als Mädchen für Alles mußte ich aber auch meine recht reichlichen Schulausgaben erledigen; was nur Abends nach 1/2 9 Uhr geschehen konnte. Es ist wohl kein Wunder, daß ich dadurch in der 2. Mittelschulklasse beim Tagesunterricht weniger aufmerksam war, was mir auch eine schlechtere Zensur einbrachte. Jetzt wurde ich auch öfters verhöhnt und verspottet. Man nannte mich den »Sozialen«. Fast alle diese gebildeten Bourgeoissöhnchen machten es mir auf diese Weise plausibel, daß ich doch eigentlich nicht in die Bürgerschule gehörte. Nur einer blieb mir treu und ist mir heute noch treu, mein lieber Ernst Dietzmann. Das tröstete mich in meinem Unglück. Aber es wurmte mich sehr, daß ich am Tage nur noch selten mit dem treuen Freunde zusammen sein konnte. Während ich im Vorjahre noch an dem Schulausflug nach dem Rochlitzer Berg teilgenommen hatte, durfte ich in diesem Jahre nicht daran denken, mit nach Jocketa und der Voigtländischen Schweiz zu reisen. Ich habe übrigens ganz vergessen, diesen ersten Schulausflug zu beschreiben und es war doch so herrlich an diesem Tage gewesen! Früh waren wir per Bahn über Glauchau nach Rochsburg im Muldental gefahren. Hoch oben auf einer vorspringenden Felswand steht die Burg. Wir passierten eine Hängebrücke und besichtigten das Brauseloch. Lehrer und Schüler verkehrten in schönster Harmonie. Wir liefen dann etwa 2 Stunden über Lunzenau, Altschillen, Göhren nach Wechselburg. Der Weg führte immer an der Mulde entlang. Im »Sächsischen Hof« daselbst wurde das Mittagsmahl eingenommen; während aber die übrigen Kinder nicht unter 1 Mark Zehrgeld hatten, drückten sich in meiner Tasche nur 30 Pfennige herum. Ernst Dietzmann schob mir seinen »Sauerbraten« zu. Ich wollte aber nicht aufdringlich erscheinen und lehnte seine Güte ab. Im andern Moment ärgerte ich mich dann aber sehr; denn ein anderer aß nun das Verschmähte und ich hungerte. Es kostete mich Mühe, meine Dummheit nicht merken zu lassen, als ich zusah, wie der fremde Knabe den schönen saftigen Braten vertilgte. Hierauf wurde der Aufstieg nach dem[74] Berg unternommen. Unterwegs begegneten uns Kinder mit gefüllten Heidelbeerkrügen. Einige mitreisende Väter kauften deren Inhalt und wir durften uns drüber hermachen. Auf der Spitze angekommen bestiegen alle den Friedrich Augustturm, nur ich mußte unten bleiben, um den Fünfer zu sparen. Abends marschierten wir dann nach Rochlitz und fuhren von da aus per Bahn zurück. In Glauchau, wo wir 2 Stunden Aufenthalt hatten, war gerade Vogelschießen. Der Festplatz wurde besucht und die Herrlichkeiten bewundert. Aber von all dem Schwindel wurde ich nicht satt. Viel lieber betrachtete ich ein Würstchenzelt. Da kaufte mir Dietzmanns Vater, der Herr Pastor, ein Würstchen. Obgleich es gepfeffert war und stark nach Hottehü schmeckte, war es doch im Nu hinter meinem Zahngehege verschwunden. Spät Abends langten wir dann wieder bei Muttern an und es gab Gesprächsstoff für 4 Wochen. An diesen schönen Tag erinnerte ich mich nun beim Stallreinigen, währenddem die Kameraden sich im Triebtal bei Jocketa vergnügten.

Als die großen Ferien kamen, erklärte ich meiner Mutter, mit der Arbeit bei Schmids Schluß zu machen. Ich wurde davon ganz blaß und matt. Oft schlief ich während des Unterrichts ein. Zur Zeit dieser Ferien wurden wir nun dafür mit einer Gießkanne oder einem Eimer in den Wald geschickt, Himbeeren zu suchen. Waren wir fleißig, so brachten wir gegen Abend das Gefäß ziemlich voll zurück. Bummelten wir jedoch und jagten gar den Schmetterlingen nach, so war am Abend die Kanne kaum bis zum Viertel gefüllt. Die Beeren wurden dann ausgemessen und an die Konditoreien verkauft.

Zu den Herbstferien verdingte sich mein Bruder bei einem Bauer zum Kartoffellesen. Ich hatte einige Zeit Ruhe. Aber bald sollte noch eine viel gehaßtere Beschäftigung für uns blühen. Das heißt, erst mit der Zeit lernten wir sie hassen. Mein Schulnachbar war ein Restaurateurssohn Namens Max Kröber. Sein Vater war Besitzer der »Reichshalle«, und dieser fragte mich eines Tages, ob ich nicht gewillt sei, an den Abenden bei ihm Kegel aufzusetzen. Ich könnte dadurch jede Woche einige Groschen verdienen. Sofort[75] dachte ich an die Mutter und sagte zu. Die ersten Abende gefiel es mir, namentlich da auch mein Bruder Felix mit zugezogen worden war. Wir bekamen stets am Beginn eine »Fettbemme« und ein Glas einfaches Braunbier. Um 1/2 8 Uhr Abends mußten wir stets zur Stelle sein. Die Kegelbahn war die frequentierteste der Stadt und war jeden Abend von einem andern Klub belegt. An den Wochentagen waren meist bürgerliche Elemente vorhanden. Freitags jedoch spielte der Fabrikantenklub und nur Sonnabends und Sonntags »lagen« Arbeiter auf der Kegelbahn. Gewöhnlich gab es 30 Pfennige für den Abend. »Matschgeld«, wie das an vielen andern Orten gebräuchlich ist, bekamen wir nicht; aber Freitags, wenn der Fabrikantenklub Kegel schob, gab jeder noch ein Extratrinkgeld. Am besten zahlte da Valentin Donath und der Spinnereibesitzer Schulze. Beide gaben uns meistens 50 Pfennige pro Mann. Es waren aber auch Fabrikanten darunter, wie z. B. ein Zigarrenfabrikant, die nur 2 Pfennige gaben. Aber das eine schöne war dabei, daß diese Leute niemals über Mitternacht spielten. Gegen 11 Uhr war Schluß. Wenn wir etwas über 2 Mark an solchen Freitagen hatten, so bemogelte ich die Mutter doch um den überschüssigen Teil und sparte mir das Geld zur Anschaffung von Schulbüchern auf. Wenn wir dann in der Nacht nach Hause kamen, schütteten wir das Geld der Mutter auf das Deckbett.

Wir schliefen damals in der Dachkammer. Die Parterreräume waren sämtlich an Logisleute vermietet. In dieser Dachkammer war es manchmal nicht recht geheuer, denn unter unserem Hause führte der Kanal hin und in diesem herbergten hunderte von Ratten. Die Bestien sprangen am hellen lichten Tag auf dem Kirchhof herum und nun gar erst des Nachts. In derselben Kammer hatte einmal ein solches »Vieh«, das fast einen halben Meter lang gewesen sein soll, Hammerfrieden ins Ohr gebissen und jetzt mußte meine Mutter mit ihrer Kleinen in dem Bette kampieren, nur um des lieben Brotes willen. Da kam es nicht allzu selten vor, daß wir die Nager aus der Kammer vertreiben mußten, wenn wir des Nachts vom Kegelaufsetzen heimkehrten. Meine Mutter war da gewöhnlich noch wach.[76]

Unseren allergrößten Ärger hatten wir indes Sonnabends. Da kegelten die jungen Fabrikarbeiter oftmals bis früh 3 und 4 Uhr. Wer von den lieben Lesern noch niemals etwas ähnliches mitgemacht hat, weiß nicht, was das heißt »von 8 Uhr abends bis 4 Uhr früh Kegel aufzustellen«. Vorn jubeln die Spieler, wenn sie eine »Neune« geschossen haben und hinten gab uns jede »Neune« oder »Achte« einen Stich ins Herz. Felix war immer noch geduldig und setzte unermüdlich auf, trotzdem er am Tage schon seine 3 bis 5 Stunden in der Fabrik gearbeitet hatte. Ich aber war so schläfrig, daß ich eine wahre Wut auf die Kegel bekam. Nie in meinem Leben bin ich ein Kegelschieber geworden und werde auch keiner werden. Es kam soweit, daß ich meinem Bruder den Vorschlag machte, uns gegenseitig abzulösen. Wir machten da gewöhnlich 150 Kugeln aus. Während dieser Zeit legte sich der andere hinter die Matte, die als Kugelfang diente und suchte zu schlafen. Schlafen bei diesem ewigen Geräusch der einstürzenden Kegel und dem Aufschlagen der Kugeln! Wie leicht konnte auch eine Kugel in die Höhe schnellen und hinter die Matte fallen! Aber was scherten wir uns darum bei unserer Müdigkeit? Ich habe manches mal hinter der Matte gelegen und geweint. Mein Bruder biß dann vor Wut die Zähne zusammen, wenn gegen 3 Uhr Morgens die Burschen noch ein neues Spiel begannen. Oftmals hatten wir uns auf dem Heimweg verschworen, nie wieder hinauszugehen. Wenn aber der Abend kam, pilgerten wir immer wieder hinaus. Wir taten es der Mutter zu liebe. Aber von 8 Uhr Abends bis 4 Uhr Morgens 30 Pfennige für uns 2 Mann! War das nicht mehr wie Ausbeutung? In der Schule wurde ich infolge dieser Nachtarbeit immer unaufmerksamer und hatte gar keine Lust mehr an Latein und Französisch. Wo sollte die denn auch herkommen? Schließlich machten wir es doch einmal wahr. Eines Sonntags war nur mein Bruder hinausgegangen. Am andern gar keiner und des Wirts eigener Sohn mußte nun Kegel aufstellen.

Nun kam ich zu einem Kolportagebuchhändler als Heftausleger und Abonnentensammler. Jung war sein Name. Tag für Tag lief ich nun mit einer schweren Tasche unterm Arm in der Stadt[77] herum. Treppauf, treppab. Alle 3 Wochen kam etwas »Neues« heraus. »Der verlorene Sohn« oder »Der Fürst des Elends« war mein erster Roman, den ich auslegte. Ich bekam darauf zirka 50 Abonnenten. Dann kamen »Der rote Hans und die Brüder der Nacht«, »Alpenrosen«, »Die Gauner von Berlin«, »Die Waldmühle an der Tschermaja«, »Zweimal gelebt«, »Madelaine, die Geliebte des Kaisers Napoleons I.«, » Der Herr der Nacht«, »Schinderhannes«, »Rinaldo Rinaldini«, »Georg Schobris Leben und Abenteuer«, »Der Sträfling«, »Amanda, die Verstoßene«, »Toni«, »Die geheimnisvolle Maske« oder »Im Zauber der Liebe« und noch andere, deren Namen mir längst entfallen sind. Für diese Arbeit bekam ich pro Woche 1 Mark. Hier war ich wenigstens immer in der frischen Luft. Eines Tages aber hatte ich die Mappe zu Hause hingelegt und war mit dem Nachbarssohne Ernst Winkler nach der Sprotte baden gegangen. Schon als ich zum Badeplatze abbog, sah ich einen Mann stehen, der öfters mit Herrn Jung verkehrte. Ich glaubte aber, daß er nur auf einem Spaziergange begriffen sei. Wir waren noch nicht lange im Wasser, als plötzlich Herr Jung in Begleitung jenes Mannes am Ufer erschien. Ich glaube, ich habe mich im Wasser verfärbt. Er rief mich und befahl mir, hinaus zu kommen. Als ich nun in Adamskostüm vor ihm stand, frug er mich nach der Mappe. Ich sagte ihm, daß diese zu Hause liege. Da schlug er etwa 5 Minuten lang mit dem Regenschirm auf mich ein und ich bekam überall braune und blaue Flecken. Also mir gönnte er nicht einmal ein Bad und er faulenzte tagtäglich und lief immerzu spazieren oder kneipen. Ich eilte schnell nach Hause und trug die Mappe nach seiner Wohnung, gab sie der Frau und sagte, daß ich nicht wieder komme; diese wunderte sich und frug mich nach dem Grunde. Ich bedeutete ihr aber nur, ihr Mann möge die Hefte selber austragen.

Während dieser Zeit war auch unser Haus zur Subhastation gelangt und die Groitzscher Tante hatte es erstanden. So groß der Schmerz meiner Mutter über diesen neuen Verlust war, daß es die Tante gekauft, war ihr ein großer Trost. Es sollte aber nicht von langer Dauer sein. Einige Monate später kam nämlich ihr Mann[78] zu uns, um das Haus zu besichtigen. Mein Onkel aber nahm keinerlei Rücksicht auf Verwandtschaftsverhältnisse. Er verkaufte das Haus an Meyers unter der Bedingung, daß sie uns vorläufig wohnen ließen. Eines schönen Tages aber kündigten diese meiner Mutter. Das war der härteste Schlag für sie. Denn bisher konnte sie wenigstens eine große Zahl Aftermieter halten. Was sollte nun werden? Bisher nahm sie außer den Kostgängern zu Jahrmarktszeiten auch noch Handelsleute über Nacht ins Haus. Wir Knaben borgten uns dann einen Wagen, fuhren nach dem Bahnhof und boten uns den ankommenden Handelsleuten als Gepäckbeförderer an. An ihrem »Stand« halfen wir dann auch gleich die Bude mit zusammennageln und machten Reklame für unsere Betten. Mitunter kam es vor, daß auch Juden mit bei uns schliefen. Diese haben aber Schweinefleisch gegessen, und noch dazu rohes und gehacktes; das mußte ich denen immer einkaufen.

Das alles kam nun in Wegfall, wenn wir ausziehen mußten. Sogar eine größere Zahl von Logisburschen konnte dann nicht mehr bei uns bleiben. Bisher hatten wir unsern Stamm von 5 bis 6 Mann gehabt; dann und wann waren es sogar einer oder zweie mehr gewesen. Meine Mutter hatte für sie Gurken auf das ganze Jahr eingelegt und verkaufte diese an die Leute. Dadurch verdiente sie auch etwas. Ferner mußte ich regelmäßig nach Kleintauschwitz zur Butterfrau, wie die Hökerinnen hierzulande genannt werden, gehn und Butter und Käw im Großen einkaufen, und da blieb auch immer etwas Gewinn, wenn es auch nur ein paar Pfennige waren. Allerdings für mich war es auch kein Genuß, allwöchentlich zweimal den dreistündigen Weg nach Kleintauschwitz und zurück zu machen. War aber Dietzmanns Ernst mitgegangen, was oftmals der Fall war, so wurde mir der Weg nie lang, zumal es da draußen noch etwas Interessantes extra zu sehen gab. Der Gutsbesitzer Kratzsch hatte eine große Sammlung ausgestopfter Vögel. Wir haben ihm eines Tages einen schwarzen Schwan mit tragen helfen, den er von irgendwoher sich hatte schicken lassen. Oftmals mußte ich auch unserer Gemüsefrau, der alten Heinken, bis nach Altenburg den Wagen ziehen. Denn Markttags[79] kaufte diese ihre Produkte dort ein. Das war nun jedesmal ein 5stündiger Weg. Ging es nicht gerade bergauf, sondern auf ebener Chaussee oder gar bergein, so setzte sich die Frau auch noch in den Wagen hinein und ließ sich von mir fahren. Auf diese Weise kamen wir schneller von der Stelle. Bei der alten wohlbeleibten Frau ging es sonst langsam mit dem Laufen. In Altenburg hatte sie eine verheiratete Schwester, die Frau des Architekten und Zimmermeisters Winter. Bei dieser aßen wir dann stets Mittagsbrot. Am Nachmittag gegen 2 Uhr traten wir dann den Rückweg an und für die ganze Tour bekam ich dreißig Pfennige. Dafür mußte ich mir auch stets Urlaub vom Lehrer geben lassen.

Inzwischen kam die Zeit heran, da die Kündigung des neuen Hauswirts abgelaufen war. Meine Mutter hatte ihre 600 Taler Vermögen in dieses Haus stecken müssen und nach kaum 2jähriger Bewohnung mußte sie leer, ohne einen Pfennig, das Besitztum verlassen. Der Vater, dem wir von diesem neuen Unglück schrieben, konnte sich gar nicht trösten. Wir zogen in ein neues Haus Ecke Hermann- und Bergstraße, zum Materialwarenhändler Donath. Bei dem Umzug hatten wir nur den jungen Paul Bauer zur Hilfe. Einige Männer hatten sich andere Quartiere gesucht, und nur der Drechsler Holland, der Pantoffelmacher Hennig und ein Zigarrenmacher zogen mit in die neue Wohnung. Während des Ausräumens unserer alten Wohnung erschien plötzlich der neugebackene Hauswirt und hob uns die Stubentüre aus. Es ging ihm zu langsam, bis er uns hinausbekam. Wir sollten uns nicht einmal mehr erwärmen können. Da stürzte der 16jährige Paul Bauer auf den Hauswirt los, packte ihn beim Barte und verlangte die Herausgabe der Türe: »Oder ich reiße Dir Deine scheinheiligen Haare heraus,« setzte der aufgebrachte Bursche, der schon das Gardemaß hatte, hinzu. Mit dem Hünen konnte es der 40jährige Meyer nicht aufnehmen. Er gab die Türe wieder heraus. Mit Tränen in den Augen verließ meine Mutter das Haus, das wir bisher unser Eigentum genannt hatten. Beim Einzug in die neue Wohnung räumten wir 3 Fässer mit Gurken in den Keller. Dabei hatten wir beiden Knaben und Bauer uns je eine aus dem Faß herausgeholt.[80]

Wir kauten noch, als wir den Keller verließen. Da stand der neue Hauswirt, ein noch lediger Mensch, der aus dem Dorfe Drogen stammte, oben im Flur und glaubte, daß wir die Gurken ihm gestohlen hätten. Er überschüttete uns sofort mit Vorwürfen und meinte: »Vor solchen Konsorten wie Euch muß man sich in Acht nehmen!« Also so weit war es mit uns gekommen, daß man uns nicht einmal mehr das ehrliche Wort glaubte. Ich kann ihm diese Worte heute noch nicht vergessen, trotzdem wir mit der Zeit ganz gut bekannt miteinander wurden.

Wir hatten in dieser neuen Wohnung einmal sogar nur noch den Bauer und Hennig im Quartiere. Nun hatte Hennig seine aus Zeulenroda stammende Geliebte mit bei uns einquartiert. Sie schliefen in einer Kammer zusammen. Da kam eines Tages ein junges böhmisches Mädchen zu uns, die mit in der Spinnerei arbeitete und fragte nach Logis. Da sie einen guten Eindruck machte, nahm sie die Mutter ebenfalls auf, als ich und Bauer ihr dazu zugeredet hatten. Bald darauf kamen wieder 2 Mädchen und da wir über genügend Betten verfügten (was leider in meiner eigenen Wirtschaft nicht der Fall ist) so wurden auch sie behalten. Die Mädchen schliefen in einer Kammer zusammen. Sämtliche arbeiteten in der Spinnerei. Da aber verbreiteten sich seltsame Gerüchte über die letzten beiden Aftermieterinnen. Sie waren beide aus Bräunigswalde und hatten zuletzt in Ronneburg gearbeitet. Die eine derselben, die ältere, war vorher in Ronneburg verheiratet gewesen; sie sollte ein sogenannter Zwitter sein. Ich verstand das damals nicht, und war entsetzt. Heute ist es mir klar, daß sie der lesbischen Liebe ergeben gewesen, und mit jenem anderen Mädchen, die sehr hübsch aussah, widernatürliche Unzucht trieb. Dabei aß das Weib niemals Mittagsbrot, sondern knabberte immer Süßigkeiten. Verschiedene Male bot sie mir ein Stück an. In den meisten Fällen lehnte ich jedoch ab.

Mittlerweile hatte ich mich gewöhnt, dem Hauswirt Donath die Wege zu besorgen, und hatte sein Vertrauen derartig gewonnen, daß ich im Laden schalten und walten konnte, wie ich wollte. Einmal hatte ich Maskenballbillets zu holen. In der Bauerschen Buchhandlung[81] waren sie im Vorverkauf zu haben. Ich wurde dort gefragt, ob ich solche für 80 Pfennige oder 1 Mark haben wollte. Natürlich zog ich die billigsten vor. Jedoch zu Hause angekommen, hatte ich solche nur für Damen. Herrenkarten kosteten 1 Mark. Nun mußte ich den weiten Weg nochmals zurücklegen, dabei hatten wir bis 5 Uhr Schulunterricht gehabt. Auf dem Rückwege betrat ich deshalb, um am Wege zu sparen, das Eis der Sprotte, wodurch ich mindestens 5 Minuten abringen konnte. Plötzlich brach das morsche Eis und ich stand bis an den Leib im Wasser. Nun kniete ich auf die Eisfläche und schon stand ich im Begriffe, das andere Bein nachzuziehen, als ich mitsamt der Eisfläche wieder einbrach. Dadurch wurde ich am ganzen Leibe naß. Ich suchte dann ans Ufer zu gelangen, was auch gelang. Halb steif gefroren langte ich bei der Mutter an und erzählte mein Unglück, das mir dann noch eine vierwöchentliche Krankheit einbrachte. Denn anstatt mich sofort umzuziehen, mußte ich noch verschiedenes Andere besorgen.

Eines Abends lag ich auf dem Sofa und schlief, als ich plötzlich von meiner Mutter geweckt wurde. »Willi, ob Du nicht mit der Frau schlafen willst, sie kann nicht gut allein schlafen?!« Ich wunderte mich, daß mich meine Mutter nicht besser kannte. Ich, der ich überhaupt mit Mädchen keinen »Sums« machte, sollte mit dieser fremden Frau schlafen, die noch gar niemand kannte. Es war das am zweiten Tage, nachdem sie bei uns eingezogen war. Ich war erstaunt über diese unerhörte Zumutung, die sich so ganz harmlos anhörte. Später habe ich es mir genau überlegt. Wer weiß, was das Weib mit mir gemacht hätte? Denn eines Tages besuchte uns ihr früherer Mann aus Ronneburg und da erkundigte sich die Mutter nach ihr. Der meinte nun, sie sei ein Weib wie jede andere, aber mannestoll und könnte einen kräftigen Mann in ein bis zwei Jahren zu Grunde richten. Da ihr der Mann nicht genüge, so halte sie sich noch an Mädchen. Ihre Gefährtin war übrigens eine hübsche Brünette, die sie Sonntags vor dem Mittag nie aus dem Bette ließ. Sie wurde eines Tages auch mit dem Weibe uneinig, weil sie sich mit einem Burschen eingelassen hatte. Ihre Liebhaberin reiste deshalb[82] in eifersüchtiger Wut sofort ab. Nach etwa 14 Tagen stand sie aber eines Abends mit einem großen Hunde wieder vor der Haustüre. Ich hörte sie sagen: »Das Mensch steche ich tot, wenn sie sich den Kerl nicht vom Halse schafft.« Mich ekelt es heute noch, wenn ich an das alles denke. Wäre meine Mutter nicht auf jeden Pfennig angewiesen gewesen oder hätte sie sonst arbeiten können, so hätten wir uns nicht mit derartigen verabscheuungswürdigem Gesindel herumzuschlagen brauchen. Zwei Jahre später ist das Weib an der Syphilis gestorben, wie ich in Ronneburg erfahren habe.

Als diese Mädchen aus dem Hause waren, zog ein Liebespaar ein, eine ehemalige Bauernmagd mit ihrem zukünftigen Mann, der bis dahin ebenfalls auf dem Dorfe als Knecht gearbeitet hatte. Beide gingen in die Spinnerei und bewohnten die von dem Pantoffelmacher Hennig, der inzwischen geheiratet hatte, innegehabte Kammer. Es waren harmlose Leute, die ich gut leiden konnte. Ich unterhielt mich fast jeden Abend mit ihnen. Immer aber war es gut, daß wir den Bauer Paul bei uns hatten. Er tat manche Arbeit und erheiterte uns mit seinem Humor. Zu Weihnachtszeiten nagelte er für die kleinen Schwestern eine Puppenstube und Puppenmöbel zusammen; stellte Modellierbogen auf, schnitt Laubsägearbeiten aus und bastelte sonst noch manches zusammen, was sonst unterblieben wäre. Ich für meine Person hatte im Gegensatz zu meinem Vater niemals Lust zu solchen Sachen. Mein Liebstes waren meine Bücher. Ein schönes Gedicht, so recht lebhaft vor mich her zu deklamieren, historische oder geographische Bücher zu lesen, das war mein Element. Zu diesem Zweck habe ich gar manches Buch von Dietzmanns Ernst bekommen, der mir trotz meines Unglückes treu blieb und mich fast alle Wochen einmal besuchte, denn zu ihm zu kommen gab es für mich keine Zeit mehr; das Blättern im Orbis pictus und sonstigen Büchern, das Spielen am Trapez und anderes im Diakonat war für mich nur noch eine Erinnerung an vergangene glückliche Zeiten. Immerhin war ich durch meine Aufwartung bei Kaufmann Donath nicht so angehängt und es blieb mir mehr Zeit zur Erledigung meiner Schulausgaben übrig, als bei allen früheren Beschäftigungen.[83]

Inzwischen war ich in die 1. Mittelschulklasse eingetreten. Das letzte Schuljahr war angebrochen. Nur 14 Schüler waren wir. Ich saß jetzt als zehnter. Dietzmann mußte den letzten machen. Erster war Getreidehändler Kramers Sohn, zweiter Superintendent Wolfs Ältester. Die Väter aller dieser Kinder waren 2 Geistliche, 2 Getreidehändler, 1 Gastwirt, 1 Agent, 1 Sträfling (der meinige), 1 Gutsbesitzer, 1 Hutmacher und 4 Knopffabrikanten. Ein Schüler hatte keinen Vater mehr. Vielfach hatten wir Unterricht zusammen mit den Präparanden. An die Mittelschule schloß sich nämlich eine Präparanden- oder Vorbereitungsanstalt für das Lehrerseminar in Altenburg an. Die Schüler derselben rekrutierten sich in der Hauptsache aus Bauernsöhnen des altenburgischen Ost- und Westkreises, die nach 2jährigem Besuch in das Seminar zu Altenburg eintraten. In Latein, Französisch, Zeichnen, Geschichte, Geometrie, Geographie, Naturgeschichte, Singen und Chemie wurden wir separat unterrichtet, in den übrigen Fächern, Deutsch, Rechnen, Religion gemeinsam. Wie ich schon erwähnt habe, waren meine Lieblingsfächer Geschichte und Geographie. Da holte ich mir stets die erste Zensur. Wollte Herr Deich einmal in der Geschichte weitergehen, so wurde ich zur Rekapitulation des Gelernten aufgerufen. Dann war das schnell erledigt. Im übrigen frug er mich manchmal 2 Monate lang nicht. Er wußte schon, daß ich alles konnte. Jedes Schlachtendatum vom Altertum bis in die Neuzeit, die Regierungszeit eines jeden Kaisers oder Königs, ganz gleich ob es römische, deutsche, österreichische, französische oder englische waren, kannte ich. Am liebsten hörte ich Geschichte über Napoleon I. Herr Deich nannte ihn stets Napoleon den Großen. Diesen hatte ich mir als Lieblingshelden erkoren. Wie unpatriotisch von mir? Und mein Lieblingsdichter war und ist heute noch Heinrich Heine. Wie sündhaft das?

Dem Geographieunterricht war ich ebenfalls mit Lust und Liebe ergeben. Da gibt es keinen Staat, kein Land auf der Welt, von dem ich nicht die Hauptstadt und in den meisten Fällen auch den Hauptfluß und das Gebirge kenne. Unzählige Reiseschilderungen sind von mir nicht gelesen, nein verschlungen worden. In jedem[84] Falle zeichne ich Ihnen die geographische Lage und den Grenzenumriß eines jeden Staates, liege derselbe in Europa, Asien, Amerika oder Afrika, sofort aus freier Hand nieder.

Manchmal in dieser Klasse fragte mich auch der Lehrer, unser alter Patuschka, am Morgen: »Hast Du gegessen? Bei Euch ist doch Schmalhans Küchenmeister jetzt. Hier hast Du 5 Pfennige, kaufe Dir ein Brötchen bei Bäcker Heinitz.« Ich mußte dann sofort gehen und das Brötchen essen, bevor ich am Unterricht teilnehmen durfte. Ich schämte mich zwar vor meinen Mitschülern; denn Dietzmann gab mir täglich seine Frühstückssemmel, aber gegen den Lehrer durfte ich keinen Widerspruch wagen.

Auch den Religionsunterricht hielt der »Alte« ab. Er war sehr fromm und wehe dem, den er am Sonntag nicht in der Kirche gesehen hatte. Er gab uns riesige Aufsätze über die Themen »Kirchgang«, »Wie bringe ich den Sonntag zu« usw. auf, wenn einer die Kirche geschwänzt hatte. Ich ging meist mit Dietzmanns Ernst und wir lasen dann immer oben in der dritten Empore allerhand Geschichten. Zschokkes »Walpurgisnacht« habe ich vollständig in der Kirche gelesen. Freilich, während der Predigt durfte man es nicht riskieren. Denn der »Alte« fragte am andern Tage über den Inhalt der Predigt jeden etwas.

Überhaupt muß ich sagen, daß man bei Patuschka etwas lernen konnte. Er trichterte seine Sachen ordentlich ein. Niemals ging er weiter, bevor nicht das Besprochene saß. Wenn z. B. in der Anthropologie der Schüler noch nicht genau wußte, daß der menschliche Körper aus Stickstoff, Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Calcium, Schwefel, Phosphor, Kalium, Natrium, Chlor, Eisen, Fluor, Magnesium und Silicium bestand, bekam er noch nicht zu hören, daß diese Elemente Wasser, Eiweiß, Fett, Leim, Kalk, Kochsalz, Kali und Natron bildeten. Auch seine Lehrweise war drastisch und gut zu behalten. So gab er einmal beim Bruchrechnen folgenden Nachtwächterspruch als Exempel auf: »Hören Sie, Herr Schulze, und lassen Sie sich sagen – die Glocke hat – sie hat geschlagen, wenn Ihr die Zahl zur Hälften brecht, das Drittel und das Viertel recht dazu addiert, habt Ihr Gewinn? – Es steckt das Ganze und soviel[85] drinn, als laut mein unverdrossener Mund verkündigen wird zur nächsten Stund!« Obwohl ich den Spruch nie wieder hörte, habe ich ihn Wort für Wort behalten. Ich nahm als Zahl 12 an, brach die Hälfte 6, zählte 3 und 4 dazu – macht 13. Das ganze 12 steckt darin und 1. Also verkündigte der Wächter die erste Stunde. Ich hatte die Aufgabe als erster gelöst und wurde vom »Alten« dafür gelobt. Auch die Geometrie- und Physikstunden hatte ich gern, und der Lehrsatz des Pythagoras: »Das Hypetonusenquadrat ist gleich den beiden Kathedenquadraten« ist neben vielen andren unvertilgbar im Gedächtnis haften geblieben.

Mit dem Latein kam ich auch ganz gut fort. Schade, daß wir nur Sexta und Quinta gelernt haben. Hingegen machte ich mir gar nichts aus der französischen Grammatik. Französische Lektüre gefiel mir wieder. Wir haben da z. B. im letzten Jahre außer vielen kleineren Aufsätzen »Die Eroberung von Jerusalem«, »Die wilden Elefanten« (Les Eléphants sauvages), »Die persischen Briefe« von Montesquieu, Paul Louis Couviers »Schreckliche Geschichte in seinem kalabrischen Nachtquartier« und Scribes Lustspiel »Le Diplomat« übersetzt.

Im letzten Winter hatten wir außerdem in Mineralogie, Geologie und Geognosie einige Stunden. Haben aber da nur die hauptsächlichen Steine und die verschiedenen Zeitalter der Erde kurz besprochen, wobei mich hauptsächlich die Juraperiode mit ihren riesigen Eidechsenarten interessierte, die nach Aussagen des Lehrers sämtlich in versteinertem Zustande im Kloster Banz bei Bamberg zu sehen seien. Man hat diese Exemplare auf dem fränkischen Juragebiete ausgegraben. Vor 10 Millionen Jahren soll demnach in hiesiger Gegend die Steinkohlenformation, vor 5 Millionen Jahren das Jurameer und vor 1 Million Jahren die Braunkohlenformation vorherrschend gewesen sein. In der Nähe der Stadt Schmölln sollte aus dem Mittelalter der Erde die Juragruppe, Rotliegendes, Bunter Sandstein und aus der Neuzeit Diluvium und Aluvium vertreten sein.

So kam dann langsam das Ende der Schulzeit heran. Schon nach Weihnachten, als der Konfirmandenunterricht begann, den die[86] Geistlichkeit erteilte, wurde der erste Schritt zur Schulentlassung getan. Bis dahin hatte ich mir auch noch eingebildet, daß ich einige Stipendien erhalten würde und studieren könnte, da ich schon in den letzten Jahren unentgeltlich die Mittelschule besuchte. Allein eines Tages ließ mich der »Alte« ins Direktionszimmer kommen und sagte zu mir: »Bromme, mache Dir keine Illusionen. Es wird nichts daraus. Dein Vater ist Sozialdemokrat. Aber merke Dir: Der Sohn soll nicht in die Sünden der Väter fallen!«

Es war also aus mit den Luftschlössern.

Am letzten Sylvesterabend hatte mir eine geschiedene Frau, die mit in unserem Hause wohnte und als Wahrsagerin bekannt war, aus einem in ein Glas Wasser zerschlagenen Ei prophezeit, daß ich nicht den Beruf ergreifen würde, dem ich anzugehören wünschte. Ich würde aber später trotzalledem noch ein tüchtiger und wohlsituierter Mann werden. Bis heute habe ich aber von jenem Wohlstand noch nicht einmal eine leise Andeutung bekommen. An jenem Sylvester des Jahres 1886 wurde überhaupt viel Übernatürliches zusammengekohlt. Da erzählte z. B. der Bauer Paul: »Wenn man einen sogenannten Wechseltaler haben will, muß man zu Sylvester Nachts 12 Uhr an die Kirchtüre gehen und dreimal anklopfen. In der Hand hält man einen Sack mit einer schwarzen Katze. Der Sack muß mit einem Bindfaden sovielmal zusammengeknotet sein, wie nur irgend möglich; denn man muß schon längst über alle Berge sein, wenn der Teufel die Knoten gelöst hat. Je einen Knoten öffnet er immer, indem er den Arm einmal auf und niederbewegt. Also: nachdem man dreimal an die Kirchentüre gepocht hat, öffnet sich diese und ein Mann, der Teufel, tritt heraus. Er fragt nach dem Wunsche, und man sagt: Ich will einen Wechseltaler für den im Sacke befindlichen Hafen. Der Mann gibt dir den Taler und du ihm den Sack. Nun mußt du aber so schnell ausreißen als du kannst. Je mehr Knoten du beim Zuschnüren des Sackes gemacht hast, desto mehr Vorsprung erhältst du. Bist du glücklich entkommen und der Taler ist in deinem Besitz, so mußt du darauf achten, daß du ihn nur bei Einkäufen bis zu 2,99 Mark verwendest. Am besten bist du daran, wenn du nur kleine Einkäufe mit ihm eintauschst; denn[87] du bekommst da überall auf den Taler das Geld ausgezahlt und wenn du dich entfernt hast, so befindet er sich trotz allen Ausgebens immer wieder unter deinem Gelde.« Ich hatte zwar sehr große Luft, solch einen Wechseltaler zu erhalten. Aber ich bin nie an der Kirchentüre gewesen und Bauer ist wohl auch nicht hingekommen.

Im März dieses selben Jahres erhielten wir plötzlich eine Freudenbotschaft. Mein Vater würde noch im Laufe des Monats entlassen werden, weil er sich sehr gut geführt habe; es werde ihm seitens der Anstalt das letzte halbe Jahr geschenkt werden. Die Korrespondenz mit ihm hatte ich während seiner ganzen 2jährigen Abwesenheit allein besorgt. Nachdem ich ihm zuletzt noch eine Arbeitsbescheinigung geschickt hatte, aus der hervorging, daß er sofort Beschäftigung erhielt, wurde die Entlassung perfekt. An einem Märzabend begab ich mich mit meinem Bruder nach dem Bahnhof. Wir stellten uns in der Nähe des Perrons, und nachdem der Zug eingefahren, war der Moment des Wiedersehens gekommen. Der Vater sah fast unverändert aus und hatte für uns einen Korbstuhl mitgebracht. Im Tunnel, der unter dem Bahnhof wegführte, küßte er uns und wir waren glücklich, daß uns unser Vater wiedergegeben war. Unsere Logisleute hatten sich aus Pietätsgefühl sämtlich entfernt, aber dem Wiedersehen mit meiner Mutter konnte selbst ich nicht beiwohnen. Ich ging hinaus. Mein kleines Schwesterchen aber staunte den für sie ganz fremden Mann an. Nach etwa einer Stunde war die ganze Familie, einschließlich der Kostgänger, versammelt und am zweiten Abend nach der Rückkehr erzählte mein Vater seine Erlebnisse im Gefängnis.

Ostern rückte nun immer näher heran und Ende März fanden die Schulexamen statt. Für mich die letzte Prüfung meiner Kenntnisse. Während des Examens schnitt ich in meinen Antworten gut ab. Am Schlusse kam der Superintendent Wolf auf mich zu und gab mir ein Fünfmarkstück. Im Jahre vorher hatte er mir einen Anzug aus einer Wohltätigkeitskasse verschafft. Am Sonntag nach der Schulprüfung fand dann noch das Kirchenexamen von uns Konfirmanden statt, und an Palmarum die Konfirmation selbst. Von einer Patin hatte ich 10 Mark als Geschenk erhalten. Die[88] Tante Böttger aber schickte 2 alte, auf der Auktion erstandene Gehrockanzüge und 2 runde Hüte, einen schwarzen und einen grauen. Aus den Anzügen sollte mir mein Vater den Konfirmationsanzug zurecht schneidern. Er löste denn auch seine Aufgabe in höchst befriedigender Weise. Ein paar Roßlederstiefeletten, die ebenfalls die Tante spendiert hatte, und ein wenig weiße Wäsche vervollständigten meine Konfirmationsausrüstung. Nach der Konfirmationsfeier war ich mit einer Anzahl anderen Kameraden zum Mittagsessen bei Bäcker Vierheld eingeladen. Das ist noch eine alte Schmöllner Sitte, daß zu Palmarum von den Geschäftsleuten die eben Konfirmierten, Kinder ihrer Kunden, zum Mittagsessen eingeladen werden. Es gibt Rinderbraten und Klöße. Mir schmeckte es ganz vortrefflich. Nachmittags fand noch ein Ausflug nach Zschamitz statt, den ich mit 30 Pfennigen in der Tasche mitmachte. Und abends war Familienabend im »Deutschen Kaiser«.

Mit alledem aber war nun die große Lebensfrage an mich herangetreten: Was soll ich werden? Im »Leipziger Tageblatt« wurden verschiedene Lehrlinge gesucht. Eine Buchhandlung mit Antiquariat in der Halleschenstraße suchte einen Lehrling. Ich schickte meine Sachen ein, erhielt aber zur Antwort, daß ihr Lehrling auch Griechisch verstehen müsse. Die Vereins-Buchhandlung von H. G. Wallmann in der Roßstraße suchte ebenfalls einen solchen. Für Bücher hatte ich von jeher geschwärmt und so hätte ich auch am liebsten in einer Buchhandlung gelernt. Von Herrn Wallmann wurden wir auch zur Vorstellung gebeten. Um 11 Uhr wäre er im Geschäft zu treffen. Wir beschlossen daher, am Charfreitag in Gemeinschaft mit meinem Vater nach Leipzig zu reisen und hofften, die Angelegenheit würde in befriedigender Weise für mich beigelegt werden. Guten Mutes reiste ich denn auch mit dem ersten Zuge mit meinem Vater ab. Um 8 Uhr waren wir schon in Leipzig und hatten deshalb noch 3 Stunden Zeit. In der Roßstraße lag neben der Vereinsbuchhandlung ein Lehrlingsheim. Wir sprachen dort vor und ich hätte daselbst wohnen, sogar vielleicht eine Freistelle erhalten können, wenn die Sache klappen würde. Gegen 3/4 11 Uhr begaben wir uns endlich an Ort und Stelle. Mit Herzklopfen[89] sah ich dem Kommenden entgegen. Nachdem wir angemeldet waren, ließ Herr Wallmann uns zu sich bitten. Ein in den dreißiger Jahren stehender, sehr elegant gekleideter Mann, mit kurzem dunklen Vollbart und schwarzem oder goldenem Kneifer auf der Nase stand vor uns. Seine Prüfung meiner Person schien auch günstig für mich ausgefallen. Dann fragte er meinen Vater nach den Mitteln. Als er hörte, daß wir vermögenslos waren, schien ihm die Sache plötzlich ganz aussichtslos zu sein, nach seinem Mienenspiele zu schließen. Und richtig, mit einem Achselzucken entgegnete er: »Da würde ich aber leider faktisch nicht dazu raten können Geben Sie Ihren Sohn dann in ein Bankgeschäft als Schreiber. Vielleicht kann ich ihn später einmal als Schreiber beschäftigen.« Mir drohten die Sinne zu schwinden. Mein Lieblingswunsch war zu Wasser geworden. Mit betrübten Herzen fuhren wir nach Hause. Ich ging nun die Knopffabriken durch, um eine Lehrstelle als Kaufmann zu erhalten Überall wies man mich ab. Nur ein Knopfkommissionär hatte sich schließlich bereit erklärt, mich als Lehrling zu nehmen, zog aber sein Wort auch wieder zurück. Man wollte den Sohn eines Sozialdemokraten nirgends einstellen. Was aber nun? Mein Vater hatte eine Arbeitsstelle als Nußausleser in der Schreckschen Knopffabrik erhalten; da verdiente er 5 Mark pro Woche. Später durfte er Nüsse an der Kreissäge schneiden und ausbohren. Bei dieser Arbeit brachte er es auf 12 und 13 Mark. Bei diesem Lohne mich ein Handwerk lernen zu lassen, war auch undenkbar. Ich mußte also sofort selbst verdienen. Und was blieb mir da übrig? Weiter gar nichts, als Fabrikarbeit anzunehmen! In der Zeitung suchte die Firma Bechler, Schramm und Co. einige »Aufleger«. Das ist eine Beschäftigung, die meist von Mädchen und Frauen ausgeübt wird. Man hat da weiter nichts zu tun, als den ganzen Tag ungefärbte Knöpfe auf mit Sägespänen bestreute Bretter zu legen, die dann vom »Melierer« und »Spritzer« mit Farbe besprengt werden. Ich begab mich zu Herrn Schramm in die Wohnung und fragte nach solcher Stelle. Gegen einen Wochenlohn von 4,50 Mark wurde ich eingestellt.[90]

Quelle:
Bromme, Moritz Th. W.: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. Frankfurt a. M. 1971, S. 28-91.
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