Meine Kellnerlaufbahn

[134] Nun kam Ostern heran, mein Bruder Felix wurde konfirmiert und er sollte nun ein Handwerk lernen, was mir zwei Jahre früher nicht vergönnt war. Nach langem Hin- und Herreden entschloß er sich, Kellner zu werden. Meine Mutter fuhr mit ihm nach Leipzig. Beim Kellnerbund in der Wintergartenstraße wird ihr »Bauers Brauerei«, Täubchenweg zugewiesen. Sie stellte den Burschen vor und er gefiel den Wirtsleuten. Allein, wir bekamen keine definitive Zusage. Der Wirt wollte meine Mutter schriftlich benachrichtigen Ostern kam näher und näher und der Bescheid von Leipzig blieb aus, sodaß mein Bruder schon nicht mehr darauf rechnete. Es hieß nun, sich schleunigst um etwas anders zu kümmern. In der Zeitung wurden Lehrlinge nach Gera gesucht. Einer für Gelbgießereien, einer für einen Gärtner in Debschwitz. Am darauffolgenden Sonntag fuhr deshalb mein Vater mit dem Jungen nach Gera. Gleich in der ersten Stelle beim Gelbgießermeister Tittelbach in der Neustadt klappte es. Und alle waren mit dem Ersatz zufrieden. Aber am Montag darauf kam ein Brief aus Leipzig an, in dem mein Bruder auch als Kellner fest angenommen wurde. Nun war guter Rat teuer. Was tun? Da, am Abend, frug mich mein Vater, ob ich nicht noch als Kellner lernen wolle? Ich überlegte nicht lange; froh, einmal aus den dumpfen Knopfbuden hinauszukommen, sagte ich Ja. Wir schrieben nun einen Brief an den Pächter des Leipziger Restaurants, daß mein Bruder geglaubt habe, weil er solange ohne Nachricht blieb, es würde nichts aus der Sache, und daß er sich deshalb schon eine andere Lehrstelle gesucht habe, daß aber noch ein älterer, jetzt 16 1/2[134] Jahre alter Knabe da sei, der eventuell an dessen Stelle zu treten gewillt wäre, wenn der Herr einverstanden sei. Wir bekamen postwendend Antwort, daß ich mich am folgenden Sonntag vorstellen solle. Mein Vater fuhr nun mit mir nach Leipzig. Gegen 10 Uhr Vormittags begaben wir uns in das Kolonnadenrestaurant und wurden daselbst vom Wirt empfangen. Seine Frau, die trotz ihrer Jugend einen riesigen Leibesumfang hatte, gesellte sich mit hinzu und mein Vater wurde bald mit den Leuten handelseinig. In Anbetracht meines Alters sollte ich nur 2 Jahre lernen, während alle anderen 3 Jahre abschrauben mußten. Wir blieben zu Mittag und bekamen jeder eine tüchtige Portion Roastbeef vorgesetzt, was ich mir munden ließ, zumal da es umsonst gegeben wurde. Es wurde noch vereinbart, daß ich als Lohn 1/2 Prozent vom Bierumsatz bekommen sollte, wovon ich indes nie etwas gesehen habe, und dann wurde der Kontrakt unterzeichnet. Am dritten Osterfeiertage Morgens 1/2 9 Uhr sollte ich antreten. Es sollten auf lange meine letzten Feiertage sein, die ich als freier Mensch genießen konnte. Ich nahm von allen, mit denen ich irgendwie befreundet oder bekannt war, Abschied. Meine Mutter kaufte etwas Wäsche und Kragen, mein Vater machte schnell ein paar Gummihalbschuhe, und der Schneider Striegnitz mußte noch eine Kellnerjacke anfertigen. Eine zweite erstand ich von unsrem Logisburschen Sehmisch, dem ehemaligen Kellnerburschen aus dem Wartburghotel. Dann baute mein Vater noch einen mit starker Leinwand überzogenen Holzkoffer, der mit Eisenreifen umkleidet wurde, vielleicht einige hundert Jahre alt wird und bei Mädler in Lindenau seine 50 Mark gekostet hätte Und nun konnte die Reise abgehen. Es fiel mir schließlich doch schwer, das Elternhaus zu verlassen. Als wenn ich in ein scharfgeschliffenes Messer springen müsse, so graute es mir, von den Meinen fortzugehen, Doch half es nichts. Ich hatte A gesagt, nun mußte ich mich auch zum B bequemen.

Punkt 8 Uhr am dritten Osterfeiertag traf ich auf dem Bayrischen Bahnhof ein. Ein Dienstmann brachte mir meinen Koffer nach dem neuen Bestimmungsort. Fünfzig Pfennige mußte ich dafür abladen. Dabei sollte es noch billig gemacht sein. Die Herrschaft[135] schlief noch, als ich ankam, nur die drei Küchenseen, der Oberkellner und mein zukünftiger Kollege, der »Stift«, aus Eisleben gebürtig, nahmen mich in Empfang. Mit den Worten »Hier Hans, ein Kollege« führte mich der aus Bitterfeld stammende »Ober« dem letzteren zu. Ich muß nämlich vorausschicken, daß wir auch nicht mehr bei unserem Namen gerufen wurden. Der Oberkellner wurde Franz, jener Hans und ich von nun an Karl gerufen. Der Betrieb war sehr rege. Gleich am Mittag mußte ich bedienen, aber nur die Brauburschen aus der anstoßenden Bauerschen Brauerei, denn diese aßen zum größten Teile ihr Mittagsessen da. Das Restaurant gehörte ja auch zur Brauerei. Es war nur an meinen Herrn verpachtet. Dieser, ein Hüne von Gestalt, Westfale von Geburt, zeigte sich schnell als streng und unfreundlich gegen die Untergebenen. Er selbst war Brauer gewesen, schien sich aber in der Restaurateurslaufbahn sehr viel besser zu stehen; denn nicht nur, daß er elegant gekleidet und wohlfrisiert herumlief, wie es auch seine Pflicht als Wirt war, hatte er auch noch eine Jagd hinter Eilenburg gepachtet. Meine tägliche Beschäftigung war nun folgendermaßen eingeteilt. Morgens gegen 8 Uhr wurde aufgestanden. Zunächst harrten gegen 400 Gläser und 75 Stammseidel meiner, die gewaschen und geputzt werden mußten, was gut 2 1/2 Stunde in Anspruch nahm. Dann empfingen wir den Morgenkaffee von der Köchin und ein Brötchen. Von diesem einen Brötchen wurden wir aber nicht satt, deshalb wurde gleich früh nach dem Aufstehen, während die Mädchen die Kolonnaden und die Gaststube reinigten und die Küche unbeaufsichtigt ließen, ein Diebstahl ausgeführt, d. h. wir stahlen uns vorher bereits 2 Brötchen und einige Stück Würfelzucker, damit wir wenigstens einigermaßen gesättigt waren. Nach den Gläsern hatte ich die Bierhähne am Apparat im Büfett zu putzen, die Likörflaschen abzuwischen und das ganze Büfett mit dem Schrupper auszuscheuern. Dann wurde ein Schlauch an die Wasserleitung geschraubt und die Retirade gründlich ausgespritzt. Hierauf mußten Messer und Gabel sein geputzt werden, was ich meistens im kleinen Gesellschaftszimmer vornahm, in dem Mittags die Brauer speisten. Dann aber war auch der Mittag da. Schnell[136] wurde noch gedeckt und dann zogen wir uns zum Bedienen an. Der Kellner hatte Tischgäste in der Gaststube und den Kolonnaden, während der erste Stift Studenten zu bedienen hatte. Ich war bei den Brauer-Proleten. Wir hatten nämlich auch eine Studentenverbindung Variscia. Ein riesiges Blechschild mit dem Monogramm der Verbindung war über dem Eingange zum Restaurant befestigt, daneben noch eine kleine Porzellantafel mit der Inschrift »Verein voigtländischer Studenten«. Um 12 Uhr erhielten wir unser Frühstück, bestehend aus einer »Schmalzstulle«. Dann wurde feste bedient. Meine Gäste mußten um 1 Uhr wieder in die Arbeit treten und ich wurde deshalb zuerst fertig. Dafür hatte ich dann in der Zwischenzeit Messer und Gabel in heißem Wasser zu spülen und trocken abzuwischen. Dann mußte ich noch heißes Wasser zum Aufwaschen in der Brauerei holen, wobei ich aber jedesmal ein Maß Bier trank; denn die Brauburschen wollten mich trinkfest machen und zeigten mir jede »Pietsche«. So werden nämlich die Kannen und Krüge genannt, die hier und da in den Ecken stehen und von dem Arbeitspersonal der Brauerei »gefüllt« und »geleert« werden. Ich kannte ein jede. Manchmal begab ich mich auch nach dem Schalander, das ist der Aufenthaltsraum des Arbeitspersonals, in dem Frühstück und Vesper eingenommen wird. Dort gibt es ebenfalls stets etwas zu trinken. Allzulange durfte ich mich indes nicht in der Brauerei herumdrücken, denn sobald es der »Alte« merkte, gab es einen Mordskrach. Wenn ich mit dem Wasserholen fertig war, dann bekamen wir gegen 3 Uhr Nachmittags das Mittagessen. Aber ich muß das dem Wirt, oder vielmehr der Köchin rühmlich nachsagen, wir bekamen stets reichlich und gutes Mittagessen und nicht, wie es in anderen Lokalen vielfach üblich ist, nur die von den Gästen übrig gelassenen Fleischstücke. Nach dem Mittagessen hatte ich wieder Löffel und Messer zu putzen. Dann mußte ich die Lampen reinigen und endlich die Gesellschaftszimmer zum Abend fertig machen. Jede Gesellschaft oder Verein, und wir hatten deren jeden Abend einen anderen, war die Stellung der Tische anders gewohnt. Bei manchen wurde gedeckt, bei manchen auch nicht, wie es eben eingeführt war. Hierauf machten wir uns[137] wieder »schön«, dann empfingen wir das Abendbrot, das gewöhnlich aus einer Portion des gerade vorhandenen »Stammes« bestand. Den Oberkellner fragte die Köchin stets vorher: »Franz, was wollen Sie essen?« Mitunter fragte sie auch meinen Kollegen, den ersten Stift, der in der Körperlänge gegen mich ein Zwerg war. Er konnte ganz gut unter meinem ausgestreckten Arm stehen. Mich frug sie nie. Gegen 8 Uhr kamen dann gewöhnlich meine ersten Gäste. Ich muß nämlich noch nachholen, daß ich nur Gesellschaften bedienen durfte. Um die anderen Gäste mit Ausnahme derer im Garten, hatte ich mich nicht zu kümmern. Der erste Stift hatte nur die Studenten, und des Kellners Rayon waren eben Gaststube und Kolonnaden, die die meisten Gäste faßten. Ließ der Durst bei meinen Gästen nach und griff mehr die Unterhaltung Platz, so stellte sich immer gewöhnlich der Wirt ein und ich mußte inzwischen in der Küche die Menagen fertig machen, d. h. frischen Mostrich nachfüllen, den Rand des Glases sauber abwischen, Pfeffer und Salz nachfüllen und glatt streichen mit dem Messerrücken, dann eine kleine Sonne hineindrücken usw. Gewöhnlich waren dann auch die Studenten längst fort und die Köchin saß in der Küche und schlief, auf ihrem Schoße saß dann regelmäßig mein Kollege, der erste Stift, und nickte ebenfalls. Diese waren mir beinahe zu vertraut miteinander; obgleich der Stift 15 und die Köchin 25 Jahre zählte. Dabei war diese auch noch von einem Brauburschen, der aber nicht mehr in Leipzig, sondern auf der Brauschule in Augsburg war, schwanger. Die übrigen beiden Mädchen, die noch in der Küche beschäftigt waren, waren dann auch schon zu Bett. Wurde dann durch mein Hantieren mein Kollege auf dem Schoße der Küchenfee munter, dann nahm er sich ein Brötchen, durchschnitt und bestrich es und legte dann Kalbsbraten, Schweinsbraten, Zervelatwurst, Schweizerkäse und noch mehr darauf. Ich folgte gewöhnlich seinem Beispiele. Die Speisehüterin schlief ja, und ihr Schnarchen verriet, daß sie wirklich fest schlief. War das Menagemachen von mir getan, dann mußte ich in die Kolonnaden, um die Streichholzbehälter und Aschenbecher, welche meist aus Neusilber und Alfenide waren, sauber zu putzen. Wenn ich damit zu Ende kam, war es[138] gewöhnlich 2 Uhr Morgens. Gegen 1/2 3 Uhr konnten wir dann gewöhnlich zu Bett gehen, manchmal wurde es aber auch 1/2 4. Um 8 Uhr hieß es dann wieder heraus und die geschilderten Arbeiten waren wieder dieselben, nur mit dem Unterschiede, daß Abends stets andere Leute von mir zu bedienen waren, aber immer jede Woche ein und dieselben.

So vergingen die Tage und Wochen. Aber mit jeder Woche stellte sich bei mir immer stärker eine Schwachheit ein. Ich will keine großen Umschweife machen, sondern es frei heraus sagen: ich hatte Heimweh bekommen. Alle 2 Tage schrieb ich einen Brief nach Hause, bis ich dann endlich einmal die Mitteilung erhielt, daß mich der Vater nächsten Sonntag besuchen würde. Niemand, der nicht in ähnlicher Verfassung war, kann sich eine Vorstellung machen, was für eine Freude mich überkam, daß ich nun endlich wieder einmal ein liebes Gesicht sehen sollte. Die Tage bis zu diesem Sonntag wurden sehr lang. Trotzdem mich die Herrschaft nicht gerade liebreich behandelte, wurde mein Vater, als er ankam, mit größter Zuvorkommenheit empfangen, Er bekam eine ordentliche Portion Mittagessen, und ich erhielt für den nächsten Tag Erlaubnis, ihn bis zur Abreise, die Nachmittags 4 Uhr erfolgte, zu begleiten. Am Sonntag selbst konnte ich des Geschäftes wegen nicht abkommen. Während der Nacht schlief mein Vater mit mir in einem Bett. Nie war ich glücklicher als in jener Nacht, als ich gegen 3 Uhr Morgens schlafen ging. Der Oberkellner lag längst im Bett und hatte sich mit meinem Vater unterhalten. Am nächsten Tage gingen wir spazieren, besuchten das erst vor kurzem eröffnete Café Bauer und viel zu schnell für mich kam die Zeit der Abreise heran. Ich konnte mich gar schwer trennen. Während der dann folgenden Pfingsttage besuchte mich mein Bruder Felix. Da war es dasselbe. Die Trennung auf dem Bahnhofe trieb mir Tränen in die Augen. Ich bin eben auch heute noch weichherzig und sentimental; dafür kann ich nicht.

Am Himmelfahrtstage wurde ich des Nachmittags nach dem Delikatessengeschäfte Cäsar Pighetti auf dem Grimmaischen Steinweg geschickt, um Spargel zu holen. Mein Weg führte mich durch[139] den Brauereihof und vor dem Schalander vorbei. Da riefen mich der Obermälzer Winkler und der Braubursche Neydhold hinaus. Ich folgte auch, und die Auskunft, die sie von mir wünschten, war bald gegeben. Dafür mußte ich einige tüchtige Züge aus der »Pietsche« nehmen. Dann brachte der Kellermeister Splitthoff noch ein bis an den Rand gefülltes Litermaß, das ich ohne abzusetzen leeren mußte. Natürlich wußte ich mich groß darauf. Der Bursche Ney trank mir auch noch einmal zu, und ich bot ihm Bescheid. Dann aber merkte ich den Braten. Die wollten mich einseifen. Schnell machte ich mich aus dem Staube und holte meinen Spargel. Da hatte mir die Leute aber eingelegten gegeben. Ich bekam Schelte und mußte noch einmal fort, um frischen Spargel zur Stelle zu schaffen. Als ich dabei an der Bierstube der Brauerei durchs Tor wollte, schrie es plötzlich wieder »Karl«, diesmal rief der Bierfahrer Meydham aus dem Kutscherschalander. Dem mußte ich für 5 Pfennige Speckstein aus der Hirschapotheke mitbringen. Natürlich mußte ich auch hier erst einmal gründlich in die Kanne schauen, bevor ich ging. Auf dem Rückweg, als ich den Speckstein abgab, leuchtete ich noch einmal hinein, und fröhlich und wohlgemut lieferte ich dann meinen Spargel ab. Das konnte so gegen 6 Uhr Abends sein. Ich war wohl ein bißchen angeheitert, aber sonst fehlte mir nichts. An dem Abend hatte ich gerade keine Gesellschaft, sondern nur im Garten zu bedienen. Gegen 8 Uhr saß aber der etwas kühlen Witterung wegen auch da niemand mehr. Ich aß deshalb Abendbrot und hielt mich dann in der Küche auf, damit ich dem Alten nicht zu oft in den Weg kam, und er nicht merkte, daß ich nichts zu tun hatte. Der warme Küchendunst wirkte aber so auf mich, daß ich ganz benebelt wurde. Als die Mädels durch die Fenster mit den Brauburschen scherzten, wollte ich der Köchin, die am Herd beschäftigt war, etwas zureichen. Im Taumel greise ich dabei mit der Hand auf den halbglühenden Herd und verbrenne mich schrecklich; da war ich gleich wieder nüchtern. So ziemlich eine Stunde lang stand ich nun vor der Wasserleitung und ließ Wasser auf die verbrannte Handfläche laufen. Dabei machte ich mir die bittersten Vorwürfe, daß ich mich in der Küche herumgedrückt und[140] nicht dafür lieber in der frischen Luft des Gartens aufgehalten hatte. Nun war doch auch der Alte auf mich aufmerksam geworden, Da hagelte es ein ordentliches Donnerwetter auf mich herab. Gegen 12 Uhr schickte er mich zu Bett. So früh war ich noch nie, seit meinem Antritt, in die Federn gekommen! Aber schon um 6 Uhr Morgens stand er selber, noch im Negligé, vor meinem Bett, und mit den Worten: »Du Swein steh auf, und mache schleunigst die Menasen,« leuchtete er mich heraus. Auch sonst kannte er keine Rücksichten. Einmal hatte ich die Korridorlampe gereinigt. Um zu ihr zu gelangen, mußte man ein Faß darunter wälzen und hinaufsteigen. Als ich die Lampe wieder hinein hatte, wollte ich die Scheiben der Laterne noch etwas abputzen und holte zu diesem Zweck noch einen Lappen. Mittlerweile war der »Alte« gekommen und das Faß war ihm aus irgend einem Grunde im Wege. Ohne weiteres setzte es Hiebe. Wieder einmal vergaß ich einem Gaste, der schnell fort wollte, eine Zigarre auf dem Teller zu reichen. Ich trug sie zwischen den Fingern. Da wollte mich der Alte auch gleich auffressen. Und so ging das fort, aber ich hätte schließlich alles hingenommen, wenn nicht noch etwas andres gewesen wäre.

Etwa in der zweiten Woche nach meinem Antritt hatte die »Gnädige« für ungefähr 2 Mark Biermarken auf ein Brett gezählt gehabt. Sie hatte dann vom Büfett weggemußt, und als sie wiederkam, waren die Marken verschwunden. Es war während dieser Zeit niemand anders am Büfett gewesen als der »Bitterfelder«, der Oberkellner, der dann 8 Tage später »Schicht machte«. Nur er konnte die Marken haben. Wer aber sollte der Spitzbube sein? Natürlich ich! Der Alte hat mirs nicht nur einmal gesagt: »Du bist der Spitzbube gewesen.« Mich wurmte das bitterlich. Dazu kamen die andern Schimpfereien und die ewigen Ohrfeigen. Dabei war ich bereits ziemlich 17 Jahre alt, und hatte schon sozialdemokratische Versammlungen besucht. Ich hatte die Entwickelung des Proletariats aus der römischen Sklavenzeit her in Vorträgen gehört. Ich wußte die Aussprüche der römischen Patrizier: »Wehe uns, wenn unsre Sklaven anfangen, sich zu zählen.« Ich dachte[141] immer für mich: »Hättest Du gleich etwas gelernt, wärst Du nun längst Geselle.« Mit einem Worte, ich wollte nicht die Hand küssen, die mich fortwährend schlug. Ich wollte mich nicht drangsalieren lassen. Und schließlich diese immer wiederholten Verdächtigungen, obgleich man willig und ehrlich war! Das brachte erst recht Groll in mich hinein.

Eines Freitags Mittags beim Bedienen befahl mir der Bierfahrer Meydham, einmal den Wirt ins Brauerzimmer zu holen. Gesagt – getan. Als ich mit dem »Alten« eintrat, sagte der stämmige Arbeiter: »Herr Wirt! Ich will Ihnen nur das eine sagen, wir müssen unser Essen bezahlen so gut wie andere, wenn wir auch nur Arbeiter sind, wir verlangen auch gutes Essen und nicht das, was den Studenten nicht paßt; was die stehen lassen, ist für uns auch nicht gut genug. Und wenn Ihnen das nicht gefällt, so bekommen wir auch wo anders zu essen!« Der Alte war wie vom Donner gerührt. So etwas wagte so ein niedriger Proletarier ihm zu bieten, ihm, der früher zwar auch nur Brauer gewesen, der sich aber zum Wirt und Bürger der Stadt Leipzig emporgeschwungen hatte. Er ging in die Höhe. »Das gibts bei uns nicht.« Ich mußte ihm nach bestem Wissen und Gewissen auch beistimmen. Aber Meydham blieb weg und nahm, glaube ich, auch noch ein paar meiner Tischgäste mit. Wer aber trug auch daran die Schuld? Ich mußte wieder der Sündenbock sein! An mir wurde die Wut ausgelassen. Ich mußte dem Bierfahrer gesagt haben: »Ihr bekommt das, was den Studenten nicht paßte.« Da ergrimmte ich förmlich über diese Ungerechtigkeit. Denn auch die Frau, die bisher so gut zu mir gewesen war, hackte und schimpfte jetzt auch auf mich hinein. Und alles hatte sich gegen mich verschworen. Der neue Oberkellner Böckemaier beschimpfte mich und machte mich lächerlich. Mein Kollege, der Dreikäsehoch, rümpfte die Nase über mich. Die Küchenmädel nannten mich Kilian, weil ich sonst William heiße. Der Alte blamierte mich vor den Gästen. Nur die Brauereiarbeiter waren die einzigen, die menschlich mit mir verkehrten. Da war es eines Nachts wieder nach 1/2 4 Uhr geworden, als wir zu Bett kamen und am andern Vormittag, als ich im Brauerzimmer gerade[142] beim Messerputzen war, hatte ich mich mit dem linken Arm aufgestemmt und den Kopf darauf gestützt und mit dem rechten putzte ich gerade Gabeln. Da guckte der Alte zur Tür hinein, und als er sah, daß ich es mir bequem bei der Arbeit gemacht hatte, trat er ein und sagte: »Du Swein, kannst Du nicht gerade stehen, Du Frozzel,« und hieb mir ein paar Ohrfeigen herunter. Da wurde ich wütend und schrie: »Nun ist es aber genug! Nun gehe ich.« Da sagte der Alte: »Immer mache, daß Du aus meinem Hause kommst, Dir gebe ich doch so wie so das Essen umsonst, Du Spitzbube Du!«

Wäre er nicht ein Riese von Gestalt gewesen, ich hätte ihn gepackt, so aber war ich ohnmächtig gegen ihn. Ich weinte bitterlich, machte meine Arbeit und sagte am Mittag der Frau, daß ich am andern Morgen abreisen würde. Da meinte sie: »Du kannst ja bleiben, aber bessern mußt Du Dich.« Ich entgegnete jedoch: »Nein, ich habe genug. Bei mir ist es übergelaufen.«

Als ich mich am Nachmittag angezogen hatte, holte ich im Delikatessengeschäft noch 3 Schock Eier. Unterwegs begegnete mir ein Dienstmann, den bestellte ich für den andern Tag früh 6 Uhr nach unserem Ding. Er sollte meinen Koffer zum Thüringer Bahnhof bringen. Ich hatte mich entschlossen, vorerst zu meinem Bruder nach Gera zu fahren. Vielleicht, dachte ich, bekäme ich in Gera eine Stelle. Als ich mich nach Feierabend gegen 2 Uhr Nachts zur Ruhe begeben wollte, rief mich die Frau: »Nun mache einmal erst Deine Arbeit für morgen, wir wollen Dir die Faulheit nicht hegen,« sagte sie. Da mußte ich noch die ganze Arbeit für den folgenden Tag machen, trotzdem ich hundemüde war. Die Frau nahm einen Mantel um, setzte sich auf einen Stuhl und sah zu, daß nichts beschädigt oder gar gestohlen wurde. Da mußte ich noch einmal sämtliche Gläser waschen und putzen, die Studentenseidel, das Büfett reinigen, Hähne putzen, die Retirade ausspritzen usw. usw. Da war es wohl so 1/2 5 Uhr, als ich zu Bett gehen konnte. Ich zog mich nun gar nicht erst aus, sondern warf mich gleich in den Kleidern aufs Bett. Auch hatte ich natürlich nicht genügend Zeit gehabt, meine Sachen ordentlich zu packen. Ich nahm mein Geld aus dem Koffer und stopfte die Sachen einfach hinein. In den wenigen Wochen meiner[143] Lehrzeit hatte ich mir immerhin einige 40 Mark an Trinkgeldern erspart. Bei alledem war es mir wahrlich nicht leicht ums Herz, und es schlug heftig, als ich auf dem Bett lag. Ich dachte an Vater und Mutter, die froh waren, mir eine bessere Existenz geschaffen zu haben. Punkt 6 Uhr trat der Dienstmann in unser Schlafzimmer. Schnell wusch ich mich und kleidete mich vollends an. Da stand der Oberkellner Böckemaier auf und ging im Hemd zur Türe hinaus, pochte draußen an des Alten Privatwohnung und legte sich wieder ins Bett. Der Dienstmann hatte meinen Koffer aufgehoben. Ich war auch fertig und entfernte mich mit einem halblauten »Adieu!«. Als wir aber zur Türe hinaus wollten, stand der Alte draußen. Er war noch in den Unterhosen und nötigte uns, den Koffer niederzustellen. »Erst will ich es sehen, was aus meinem Haus hinaus geht.« Ich mußte öffnen. »Aha,« dachte ich für mich, »jetzt soll der Spitzbube abgefaßt und womöglich noch dem Schutzmann übergeben werden.« Jedes einzelne Stück, jede Tasche in den Kleidern, jedes Briefkouvert, alles wurde durchgesehen. Da fand er eine Zigarettenschachtel, in der noch 19 einzelne Zehnpfennigstücke steckten. »Was ist denn das?« fragte er, »ach, das habe ich vergessen, herauszunehmen,« entgegnete ich und wollte ihm die Schachtel aus der Hand nehmen. Da meinte er: »Geld vergißt man nie.« In aller Ruhe zählte er die Groschens durch und ließ sie in seiner Tasche verschwinden. Auf mein Protestieren dagegen erwiderte er mir: »Ich will das gleich für das Krankengeld rechnen, daß ich für Dich Spitzbuben bezahlt habe.« Solch ein Mensch! Und ich hatte das Quittungsbuch der Ortskrankenkasse der Stadt Leipzig in Händen. Nicht ein einziger Beitrag war darin abgestempelt. Sollte er aber wirklich etwas bezahlt haben, so war es doch seine Pflicht! Und er hatte mich doch so wie so ausgebeutet genug! Außerdem hatte er mir noch die 1/2 Prozent vom Bierumsatz vorenthalten! Dennoch war ich nun erst recht froh, den Klauen dieses Habichts entronnen zu sein, als ich im Eisenbahnwagen 4. Klasse saß, der mich nach der reußischen Residenz brachte. Gegen 9 Uhr kam ich dort an und eine halbe Stunde später stand ich neben meinem Bruder Felix, der im Hofe Rotgußteile putzte. Er erschrak, als ich im Hofe erschien, deshalb[144] sagte ich alles auch nicht gleich frei heraus. Meinen Koffer hatte ich einstweilen auf dem Bahnhof stehen lassen. Ich tat zuerst, als ob ich auf einer Besuchsreise begriffen sei. Als Meister Tittelbach hörte, daß ich der Bruder von Felix sei, bekam dieser sofort frei, und wir durften miteinander spazieren gehen. Erst auf dem Wege durch Untermhaus, über den Hainberg nach dem Martinsgrund schüttete ich dem Bruder mein Herz aus und setzte ihn von allem Vorgefallenen in Kenntnis. Aber er billigte meine Entfernung nicht, weil sie ohne Einwilligung des Vaters geschehen sei. Zwei Abende blieb ich bei meinem Bruder über Nacht; seine Meistersleute hatten nichts dagegen. Sie gaben mir vielmehr noch Abendbrot. Der dritte Tag war ein Sonntag. Wir hatten beschlossen, an diesem zu den Eltern zu fahren. Hier war das Erstaunen natürlich noch größer. Der Mutter war es schmerzlich, als sie von meinem Weggange in Leipzig erfuhr. Der Vater aber war einfach wütend. Er wollte mich nicht sehen. Am andern Tage fuhr ich mit meinem Bruder wieder nach Gera zurück und suchte mir dort Arbeit in einer Pappspulenfabrik. Quartier fand ich in der großen Kirchgasse bei einer Familie Renckiwiez. Dort logierten auch zwei meiner Schulkameraden aus Schmölln, die beide in Gera als Kaufleute lernten. Im Hotel Viktoria daselbst befand sich weiter mein Schulkamerad Nagel als Oberkellner, der in Leipzig im Hotel Bavaria gelernt hatte. Es war also ein ziemlicher Bekanntenkreis vorhanden. Nagel aber war schon tief herabgesunken; er gehörte bereits zur Sorte der leichtsinnigen Kellner, die, was sie Tags verdienen, in Nachtcafés und Bordellen durchbringen. Schließlich prügelte er sich auch noch mit seinem Wirt und als Schlaginstrumente dienten dabei Billardqueue. Daraufhin hatte er die Abkehr erhalten und erst recht leichtsinnig gelebt. Das Geld vermöbelt, seine Sachen versetzt. Als er einmal Sonntags in Bad Ronneburg als Lohnkellner arbeiten konnte, pumpte er mir meine schwarzen Hosen ab. Einige Monate später traf ich ihn in Schmölln wieder; da hatte er wieder Stellung gehabt und war noch in »Kluft« hochfein, besonders die Weste, und da kannte er mich beinahe nicht mehr. Solche Lumpen gibt es leider genug.[145]

Obgleich ich mich in Gera hätte so leidlich durchschlagen können, wollte ich doch noch einmal mein Glück als Kellner versuchen. In der Pappspulenfabrik war es auch nichts Genaues. Der Lohn betrug im Höchstfalle 10 Mark. Es arbeiteten dort nur junge Burschen und Mädchen. Lediglich der Werkführer war verheiratet. Die Spulen, auf die das zum Weben nötige Garn gewickelt wurde, wurden aus ganz geringem Papier aufgerollt, nachdem daraus Streifen geschnitten und diese mit Leim bestrichen waren. Ich hatte die fertig gedrehten Spulen mit Sandpapier zu glätten und mit Stärkekleister zu polieren. Also viel war nicht los. Außerdem gab es einige Wochen später auch in meines Bruders Lehrzeit einen Krach. Die Gelbgießerei war an sich äußerst ungesund; namentlich das Formen entwickelte einen fürchterlichen Staub. Zudem war der alte Meister Tittelbach immer leidend und man sprach stets von Geschäftsaufgabe. Wenn Nachts der Ofen brannte, durften mein Bruder und der andere Lehrling nicht ins Bett. Kurz, auch mein Bruder gab seine Gelbgießereilehrzeit auf, und wir beide fuhren nach Leipzig, uns etwas anderes zu suchen. Nach langem Hin- und Herlaufen und Studieren der Tageblätter erhielt mein Bruder in einer Drogerie an der Elisenstraße eine Stellung als Markthelfer. Er bewohnte da ein kleines Kämmerchen und auch sonst war es, ausgenommen der Umgang mit den Giftfarben, ganz erträglich für ihn. Ich begab mich auch zu einem modernen Sklavenhändler, einem sogenannten Vermittelungsbureau, das Gesinde für Land- und Gastwirtschaft unterbrachte. Dafür mußte dann nicht nur der Stellesuchende, sondern auch der Stellungsanbietende eine Gebühr bezahlen. Es wurden also gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Man verfuhr dabei ganz skrupellos. Es war ganz gleich, ob der Dienstsuchende am anderen Tage wieder auf der Straße lag. Ich habe da z. B. in den Bedürfnisanstalten am Bayrischen Bahnhof in großen Buchstaben an die Wände geschrieben gelesen: »Fremde Kellner, hütet Euch vor dem Stellenvermittler Schimpf. Das ist der größte Sklavenhändler, Blutsauger und Schwindler, den es gibt!« Ich war nicht bei Schimpf gewesen. Als Kellner konnte ich noch nicht nach der Vermittlungsstelle des Kellnerbundes[146] gehen, weil ich kein Lehrzeugnis hatte, obgleich ich mir sogar schon das Serviettenbrechen und alles Nötige angeeignet hatte. Mir blieb also nur eine Stelle als Kellnerbursche übrig. Freilich habe ich später auch Kellner getroffen, die auch nicht ausgelernt hatten und weiter nichts gekonnt haben, als Bierschleppen. Aber sie hatten sich auf der ersten besten Penne von einem »Flebbenfabrikanten« ein Lehrzeugnis ausstellen lassen, mit dem sie dann die besten Stellen bekommen hatten. Doch ich war noch zu ehrlich. Ein Agent beorderte mir schließlich nach Reichenbach im Voigtland. Dort wurde ich mit monatlich 15 Mark engagiert.

An einem regnerischen Sommertage, gegen 6 Uhr Abends, kam ich in Reichenbach an. Man hat vom Bahnhof ein ziemliches Stück nach der Stadt zu gehen. Ich weiß nicht mehr, ob ich mir zur Beförderung meines Koffers einen Dienstmann nahm, oder ließ ich ihn von einem Geschirrführer mitnehmen. Im Hotel zum blauen Engel wurde ich vom Oberkellner, Ölsner mit Namen, einem ziemlich wohlbeleibten, etwa 40 Jahre alten Mann, empfangen, der, wie ich am nächsten Tage erfuhr, verheiratet war und als Nebenberuf in der Stadt noch ein Grünwarengeschäft betrieb. Im übrigen war er freundlich und hatte humane Umgangsformen. Ich erhielt von ihm eine Bodenkammer angewiesen, legte schnell mein Kellnerhabit an und begab mich in die Gaststube, die zwar sehr geräumig aber etwas winkelig war. Ursprünglich mußten das 3 Stuben gewesen und erst später die Verbindungswände herausgebrochen sein. Die vordere und hintere waren etwa gleichgroß, die mittlere hingegen klein. In diesem Raum standen auch 3 Stammtische, vorn bestanden die Gäste derselben aus Garnagenten und wohlsituierten Bürgern, in der Mitte aus Fabrikanten und Kapitalisten und im hintern Teile stand der sogenannte Jagdtisch, an dem Lebemänner und Kommis teilnahmen. Neben diesem war die Mittagstafel aufgestellt, denn täglich fand Table d'hote statt. Nachdem ich einige Gäste bedient hatte, bekam ich mein Abendbrot, bestehend aus drei Spiegeleiern und Kartoffeln. Gegen 9 Uhr kam auch der Besitzer nach Hause. Ich traf mit ihm an der Türe zusammen. Er war ein Mann von etwa 30 Jahren, der erst kurze Zeit verheiratet war[147] und das Hotel vom Vater übernommen hatte, der seinerseits sich auf die Bewirtschaftung der angeschlossenen Ökonomiewirtschaft beschränkte.

Die Frage meines neuen Chefs, ob ich aus Leipzig komme, bejahte ich. Das war die ganze Begrüßung gewesen. Ich versah meinen Dienst weiter und war ganz verwundert, als gegen 1/2 12 Uhr Nachts der Oberkellner zu mir sagte, ich könne zu Bett gehen. Das war wenigstens human von dem Mann. Er setzte hinzu, daß ich früh 6 Uhr aufstehen müsse und vom Hausknecht geweckt würde. Er käme für gewöhnlich erst gegen 9 Uhr ins Geschäft. Morgen würde er aber zur Stelle sein, damit er mich in meinen Obliegenheiten unterweisen könne. Das war mir eine Wohltat, vor Mitternacht im Bett liegen zu können. Ich öffnete beide Flügel des Kammerfensters, sog in kräftigen Zügen die reine Nachtluft ein und legte mich dann froh, wieder in einer angenehmen Stellung zu sein, ins Bett. Am andern Morgen früh zu der angegebenen Zeit rüttelte mich einer am Kopfe. »Fritz, es ist Zeit zum Aufstehen,« rief er. Ich öffnete verwundert über die unbekannte Stimme die Augen. Ein etwa 24jähriger junger Mann stand vor mir und stellte sich als der Hausknecht vor. Schnell sprang ich aus dem Bett, schlüpfte in meine Kleider, band die zum Reinemachen nötige blaue Schürze vor und stand nun zur Verfügung des Friedrich. Dieser hatte ruhig gewartet bis ich fertig war. Er hatte es sich einstweilen auf meinem Bett bequem gemacht. Als ich zum Gehen drängte, erhob er sich und begleitete mich. An der ersten Tür links öffnete er und winkte mir mit den Worten: »Liegen die nicht da wie die Schmerlen.« Ich wußte gar nicht, was er meinen konnte, trat näher und sah 3 Betten in der Kammer stehen. Das eine war leer, in dem andern lagen noch 2 Küchenmägde. »Vorwärts raus«, donnerte Friedrich drin, gab der einen noch einen herzhaften Schlag auf den hintersten Körperteil und dann begaben wir uns an unsere Plätze. Er führte mich nur vor das Büfett und entfernte sich dann. Dort hatte er bereits eine Spülwanne mit reinem Wasser hingestellt und ich war schon in voller Tätigkeit beim Gläserwaschen, als der Oberkellner eintraf. Es waren im Verhältnis zu Leipzig eine ganz geringe[148] Zahl von Gläsern, die ich dann auch schnell geputzt hatte. Als ich nach dem Messerputzen fragte, meinte der Oberkellner: »Das ist Sache des Hausknechts.« Wieder ein Arbeit weniger, dachte ich für mich. Dann unterwies mich Herr Ölsner im Table d'hote-Decken. Und das hat er mir nur einmal zu zeigen nötig gehabt. Am andern Tage deckte ich die 10 Kuverts zu seiner vollsten Zufriedenheit ganz selbständig. Er lernte mir auch mehrere kunstvolle Serviettenbrüche, so den »Schwan« und den »Fächer«. Es war alles keine Hexerei. Wenn ich Vormittags die Tafel gedeckt hatte, erhielt ich mein Frühstück, bestehend aus einer Tasse Bouillon und 3 Semmeln. Dann deckte ich die übrigen Tische, machte die Menagen fertig, putzte Aschenbecher und Streichholzbehälter, und zog mich dann an. Ich war für den Vormittag fertig. Ich will hier beifügen, daß hier der Essig in den Menagen mit Rotwein gefärbt wurde, und daß der Oberkellner öfter über dies Essigfärben schimpfte, weil zuviel Rotwein dabei verbraucht wurde. Er wußte schon, daß sich dann immer der Hausknecht etwas bei mir zu tun machte und dabei einige Male in die Rotweinflasche schaute. Ich habe ihm aber auch nicht gesagt, daß ich selber froh war, einmal einen Schluck Wein nehmen zu können; war es doch der erste in meinem ganzen Leben! Schließlich hätte er ja auch gar nichts gesagt, wenn er nicht alles auf Rechnung gehabt hätte. Das heißt, der Wirt kümmerte sich um gar nichts. Sämtliche Getränke bekam der Oberkellner in Rechnung gestellt, dem Wirt selber konnte also niemals etwas verloren gehen. Für die Küche hatte natürlich die Frau Wirtin zu haften, welche jede Tasse Kaffee und jede Art Speise in einer Strazze eintrug. Der Herr war dadurch so unabhängig, daß er sich oft tagelang nicht zu Hause sehen ließ. Er reiste in der Welt herum und spielte den Lebemann. Mittags hatten wir außer den jeweilig anwesenden Reisenden, einige Kommis, die in den Kontoren der weltberühmten Reichenbacher Tischtuchfabriken beschäftigt waren, mit an der Tafel. Dann wohnte in Zimmer 5 ein Architekt bei uns. Dieser speiste aber à la carte. Ich habe mich gewundert, daß der Mann abseits aß; denn an der Tafel war oft noch genügend Platz und Weinzwang gab es auch nicht. Eines[149] Tages frug ich den Oberkellner, warum für den Herrn Architekten nicht mit an der Tafel serviert würde. Der meinte darauf: »Um Gottes willen, der wischt sich die Hände immer an dem Tischtuch ab, da könnten wir nicht genug Wäsche schaffen!« Der Herr hatte auch sonst noch kuriose Eigenschaften. So ging er regelmäßig gegen 4 Uhr Nachmittags spazieren, meist nach seinem zukünftigen Arbeitsfeld, dem Bauplatz für den Schlachthof. Dabei fiel es ihm aber niemals ein, sein Zimmer zu verschließen, in dem sämtliche Blanquets und Zeichnungen auf den Tischen umherlagen. Kam er vom Spaziergang zurück, so mußte ich ihm das Abendbrot, bestehend aus Bemmchen und Tee, aufs Zimmer bringen. An jedem ersten im Monat bekam er sein Honorar, von dem ich 50 Pfennig Trinkgeld erhielt. Auch von den 2 Kaufleuten, die mit an der Tafel speisten, bekam ich monatlich 50 Pfennige Trinkgeld.

Doch ich will jetzt erst einmal meine Tagesarbeit fertig beschreiben. Nachdem ich die Tafel abgeräumt und die Tischgäste sich entfernt hatten, erhielt ich in der Küche mein Mittagessen. Das war gewöhnlich gegen 3 Uhr Nachmittags. Hierbei muß ich aber bemerken, daß dabei gerade umgekehrt verfahren wurde als in Leipzig. Wie oft erkannte ich auf meinem Teller Fleischreste, die die Gäste liegen gelassen und die ich 1/2 Stunde vorher erst mit dem Abräumen in die Küche gebracht hatte! Einmal war ich des Vormittags mehrere Male in der Küche gewesen und jedes Mal hatte mich ein ganz niederträchtiger Geruch fast zurückgeworfen. Schließlich ergründete ich die Ursache des Gestankes in einem Fisch, der im Ausguß der Wasserleitung lag und auf den die Köchin schon den ganzen Vormittag das Wasser hatte laufen lassen. In die Gaststube zurückgekehrt, stand auf dem Menu: »Schnitzel mit Blumenkohl, Schleie mit Butter und Kraut, Kompott und Salat, Butter und Käse.« Aha, da war das also eine Schleie gewesen, die am Mittag mit verwendet werden sollte. Guten Appetit ! – Beim Abräumen der Table d'hote setzte ich die Speisen erst an einem Wandtischchen nieder. Dabei ließ ich ein halbes Stück Butter, je ein großes Stück Schweizer- und Roquefortkäse und einige Semmeln in die Ecke verschwinden und warf meine Serviette darauf. Ich dachte,[150] wenn Ihr mich mit meinem Mittagessen wieder auswischen wollt, so schlage ich Euch auch ein Schnippchen. Der Alte war nicht anwesend. Der Oberkellner ging von 2 bis 5 Uhr nach Hause zu seiner Familie und somit konnte niemand meine Speisekammer in der Ecke des Wandtischchens entdecken. Ich war alleiniger Chef der Gaststube. Gegen 3 Uhr, als kein Gast mehr anwesend war, erbat ich in der Küche mein Essen. »Hier, Fritz, haben Sie auch mal was Gutes,« meinte die Frau des Hoteliers und reichte mir meine Portion zu. Potztausend! Welcher Geruch! Das war also die stinkige Schleie im Ausguß. Mit einem schnellen Ruck öffnete ich das Fenster am Jagdtisch, unter dem sich die Aschengrube befand und: »Eins, zwei, drei – da lag die Schlei – im Aschenbrei!« Ich aber holte meine Semmeln, mein halbes Stück Butter, den herrlichen Schweizer-, Roquefort- und Schloßkäse und delektierte mich daran. Das schmeckte prachtvoll.

Wenn ich meine Mahlzeit beendet hatte, begab ich mich täglich nach dem Postamt und holte die neuesten Zeitungen. »Dresdner Nachrichten«, »Leipziger Tageblatt«, »Berliner Tageblatt«, »Zwickauer Kreisblatt«, »Voigtländischer Anzeiger« und »Reichenbacher Lokalblättchen« – Arbeiterzeitungen gab es nämlich weder in meiner Leipziger, noch in der Reichenbacher Stelle. Da war mir nun das »Berliner Tageblatt« noch das freieste und namentlich seine Beilage, den »Ulk«, verfolgte ich aufmerksam; denn ich hatte auch sämtliche Blätter in den Zeitungshalter zu spannen, und da konnte mir nichts Bemerkenswertes entgehen.

Eines Tages wurden plötzlich unsere sämtlichen Zimmer besetzt; bisher waren außer dem Architekten nur noch ein Zigarren- und ein Weinreisender abgestiegen. Nun aber war Leben in der Bude. Denn es war »die große Woche« von Reichenbach, das Schützenfest angebrochen. Da wohnten denn bei uns der Theateragent Sigmund Kohn vom Krystallpalast in Leipzig, mit Damen und Begleitung, ferner der Hippodrombesitzer Schaale mit Tochter und Personal und auch noch einige andere Reisende. Das Personal des Hippodrombesitzers nächtigte allerdings nicht im Hotel selbst, sondern in der Kutscherstube und im Pferdestall. Es waren 2 ledige[151] Burschen und ein verheirateter »Stallmeister«, dessen leidende Frau mit 2 Kindern unter den ärmlichsten Verhältnissen eben in der Kutscherstube kampierten. Die ganze Familie schlief in einem Bett! Allerdings, wenn der Mann gegen Morgen nach Hause kam, hatte die Frau schon ausgeschlafen und stand dann gewöhnlich auf. Der Stallbursche schlief direkt zwischen den Pferden im Stall. Diesen letzteren hatte ich bald auf dem Halse; leider konnte ich nicht ein einziges Mal auf den Festplatz hinaus, um Revanche für meine Gefälligkeiten zu finden. Für Bier und Zigarren wollte der Bursche überhaupt nichts bezahlen. Er besaß ja auch in der Tat nichts, und ich gab ihm schließlich auch gern eins umsonst, denn er hatte mir gleich am ersten Tage einen großen Gefallen getan. Ich hatte nämlich am Abend vorher wie gewöhnlich an meinem Kammerfenster nach frischer Luft geschnappt und um es bequemer zu haben, mich gleich auf die Fensterbrüstung geschwungen. Dabei war mir mein Schlüsselbund aus der Tasche gefallen und bis in die Dachrinne gerutscht. Am andern Morgen machte ich mit dem Hausknecht vergebliche Versuche, das Verlorene zurückzuerlangen. Da meinte der Friedrich: »Ich werde 'mal den Hippodrommenschen heraufzitieren; vielleicht holt der die Schlüssel!« Gesagt – getan. Als der Bursche zur Kammertüre hereintrat, war ich schon froh. Freilich, es war drei Stock hoch über der Straße und die Dachrinne war auch noch ein wenig unter dem Dachrand. Aber der Bursche sagte als ich um ihn bange wurde: »Nur keine Angst, ich bin bei Zirkus Schumann gewesen. Das ist mir gar nichts.« Dann mußten wir ihn jeder an einem Bein festhalten und er kroch auf den Händen zur Dachrinne hinab. Als er die Schlüssel ergriffen hatte, zogen wir ihn an den Füßen zurück. Natürlich mußte ich für diesen Dienst ein, »Echtes« ausgeben, Ich gab es gerne und war heils froh, daß ich meine Schlüssel wieder hatte.

Der vornehmste Schützenfestgast war jedenfalls der Theateragent Kohn, der ein »Variété-Ensemble« auf dem Festplatz dirigierte. Zunächst empfing er die meisten Briefschaften und dann wurde er auch vom Herrn Hotelier selbst mit größter Zuvorkommenheit behandelt. Er schien nicht nur ein Lebemann, sondern auch ein Feinschmecker[152] zu sein. Bei seinem Eintreffen hatte er sich eine Flasche Rüdesheimer bestellt, aber nur ein Gläschen davon getrunken. Ich weiß nicht mehr, mußte ich ihm Portwein, Steinwein oder Champagner dafür bringen. Die angebrochene Flasche Rüdesheimer kam zum Abraum nach der Küche. Ich dachte aber unterwegs »komm Pauline, mich frierts«, trat einen Moment in die Kellertüre und schlürfte in vollen Zügen den Inhalt hinunter. Nun wußte ich wenigstens auch, wie Rüdesheimer schmeckt. Da hatte Herr Kohn auch eine volle Brünette in seiner Gesellschaft, die täglich mit an der Tafel speiste. Am nächsten Mittag erzählte sich die Tischgesellschaft allerlei von den europäischen Großstädten, und die erwähnte Dame führte das Wort: »Ich bin in Wien gewesen, bin in Paris gewesen, bin in Beeerlin gewesen, habe auch Petersburg gesehen, aber Beeerlin bleibt mir doch die schönste von allen.« »Was, Berlin schöner als Paris?«, warf der Wirt dazwischen. »Ja, in Beeerlin herrscht viel mehr nächtliches Leben und Treiben als in Paris. Das ist nach Mitternacht tot. In Beeerlin aber fängt dann das Leben erst an.« Ich servierte gerade junge Taube und hatte die erwähnten Sätze mit angehört, natürlich war das so einem alten Geographiefexen wie mir auch von Interesse. Ich war ganz abwesend und reichte der Dame von der rechten Seite das Tablett zu anstatt von der linken. Da sollten Sie aber einmal sehen, was die mir für einen Blick zuwarf. »Dummer Dösel,« meinte das Ding, »ich soll mir wohl meine Robe besudeln. Von der anderen Seite wird serviert.« Unterdessen stand ich aber schon längst auf der andern Seite. Das Weib durchbohrte mich aber erst noch einige Male mit ihren funkelnden Augen, und brauchte einige französische Schimpfwörter, die sie aber noch dazu falsch aussprach, bevor sie sich herbeiließ, ein Stück Taube zu nehmen. Ich dachte in meinen Gedanken, was Du bist, hast Du ja gleich in Deinen Städteansichten kundgegeben. Diejenigen Weiber, für die das Leben erst nach Mitternacht anfängt, rangieren unter die Damen der Halbwelt. Na, das Zeug hatte sie auch dazu. Sie konnte meiner Ansicht nach schon »einen Puff vertragen«. Ich hatte übrigens auch die Funktionen eines Zimmerkellners mit zu verrichten. Am kommenden Sonntag[153] hatte Herr Kohn noch 2 Herren und 3 Damen als Gäste. Zusammen also 3 Paare. Da wurde mir geklingelt. Ich mußte Paprikaschnitzel und Wein bringen. Sämtliche Gäste nebst Herrn Kohn selbst schienen mir aber sehr mangelhaft gekleidet zu sein. Ich habe mir beim Verlassen auch gedacht, eigentlich möchte ich da eine Tarnkappe besitzen und einmal den Zuschauer spielen. Da war der alte Hippodrommensch Schaale schon solider; der verlangte meist Gemüse zur Mittagskost. Er trank auch ein Fläschchen Wein, aber nur leichten. Aber diese ganze Herrlichkeit dauerte nur 8 Tage; dann war alles wieder verschwunden. Allein lange Zeit währte es nicht, da war schon wieder Jahrmarkt in Reichenbach, und da bekamen wir auf 3 Abende eine süddeutsche Singspielgesellschaft, oder wie es im Volksmunde heißt, ein »Tingeltangel«. Es waren 4 Damen und 2 Herren außer dem »Direktorehepaar«. Unter den Damen war aber nur eine verheiratet und der Schlangen- und Kautschukmensch Herr Iwolitzki war ihr Gatte. Dann war noch ein Komiker dabei. Das war auch ein Hungerleider, der bettelte mich um 1 Glas Bier an. Als wir an diesem Marktmontag abrechneten, machte ich große Augen wie noch nie. Ich hatte 21 Mark Überschuß. Das ließ ich mir gefallen, so hold war mir Fortuna noch nie gewesen.

Am meisten amüsierte sich an diesem Jahrmarkt der Fabrikantenstammtisch über die »Damen«, Da wurde manches Glas Bier, manche Flasche Selters und manche Tasse Kaffee spendiert. »Fritz«, riefen die Chansonetten immer, »der Herr dort hat für mich einen Kaffee bestellt«, und so ging das fort bis zu Kaviarsemmeln. »Wenn die Abendsterrrne funkeln« sang die eine immer, und sie brachte das so trollig heraus, daß sie das Ding wohl ein dutzendmal herunterleiern mußte. Es war ein großes stämmiges Mädchen, diese Chansonette, ich erwähne das nur deshalb, weil ein gerade bei uns wohnhafter Buchreisender, der das Mossesche Reichsadreßbuch vertrieb, rein verschossen in das Weib war. Am nächsten Tage nach der Table d'hote benutzte mich dieser liebeglühende »commis voyageur« als »postillon d'amour«. Ich mußte mich nach den Zimmern der »Schönen« begeben und »die große blonde« herunterbitten. Sie kleidete sich an und erschien nach wenigen Minuten.[154]

Der Herr fragte sie zunächst nach den Wünschen ihres Gaumens. Auf dem Menu stand Sauerbraten und Hähnchen. Sie wählte das letztere. Nachdem sie sich satt gegessen, mußte ich 2 Täßchen Mokka bringen; eine Flasche »Grand vin de Cabinett«, so hieß unsere Champagnermarke, beendete das Diner. Dann ging das Pärchen spazieren; vielleicht haben sie sich im grünen Wald amüsiert. Ich war nur froh, daß der Adreßbuchmensch sein Glas gar nicht berührt, sondern die ganze Flasche der Schönen überlassen hatte. So war doch wenigstens ein Gläschen für mich übriggeblieben. Und so habe ich also in meinem Leben auch einmal Champagner gekostet. Es ist niemals wieder vorgekommen.

Die Tage schlichen nun wieder eintönig hin. Die einzige Abwechslung war einmal ein Krebsessen, das der Fabrikantenstammtisch veranstaltete. Da hörte ich nun die Philosophie des Krebsessens. Der eine sagte; »Ein richtiger Krebsesser der ißt den Krebs aus und legt die Scheeren beiseite; dann hat er, wenn die andern fertig sind und sich nach mehr sehnen, noch ein anständiges Quantum der besten Krebsdelikatesse zu vertilgen.« Ich dachte für mich, der Mann hat Recht. Übrigens, die Gespräche am Fabrikantentisch konnten sich drehen, um was sie wollten: mit dem »Plebs«, das heißt, mit ihren Arbeitern beschäftigten sich die Herren nie; höchstens, daß dann und wann einmal die Sozialdemokratie vernichtet und verächtlich gemacht wurde.

Eines Tages hatten wir wieder einmal viele Gäste zur Tafel, und das Abräumen mußte sehr schnell gehen. Ich setzte deshalb gleich die Teller zusammen, ohne Knochen oder Speisereste daraus zu entfernen und faßte einen ca. 30 Zentimeter hohen Stoß Teller in den Arm. Bis zur Küchentüre war ich unversehrt gekommen. Als ich diese jedoch öffnen wollte, rutschte mir von oben ein Suppen- und ein Dessertteller herab, die selbstverständlich zerbrachen. Das sollte die Ursache zu meinem Weggange von Reichenbach sein. Am nächsten Tage mußte ich wie fast allwöchentlich einmal des Nachmittags mit einem Zimmermädchen nach der Wäschemangel und dort »Rolle drehen«. Diese machte mir dabei Mitteilung, daß die Frau Wirtin ihrem Gemahl über die beiden zerbrochenen Teller[155] berichtet hatte. Ich dachte schon längst nicht mehr daran, als eines Tages der Hotelier selbst auf den vereinbarten Monatslohn von 15 Mark zu sprechen kam und diesen gleich für gezahlt erklärte, indem ich doch von 2 Weingläsern die Füße abgebrochen und 2 Teller zerbrochen hätte. Die Teller seien echtes Meißner Porzellan und auch die Weingläser bestes böhmisches Fabrikat gewesen, und er büßte noch ein, wenn er sie mir für 15 Mark Monatslohn anrechne. Da machte ich wieder eine Dummheit; denn ich sagte: »Herr Wirt, ich bin jetzt 1 1/2 Monate hier, da zahlen Sie mir 8 Mark zum Fahrgeld und ich reife ab. Fünfzehn Mark haben diese zwei Teller und Gläser im ganzen Leben nicht gekostet. Im Höchstfalle 15 Groschen; das müssen Sie einem erzählen, der die Hosen mit der Beißzange anzieht.« Da willigte er ob dieser dreisten Sprechweise ein, gab mir aber nur 6 Mark. Am andern Tage schaffte mir der Friedrich meinen Koffer zur Bahn. Er hatte auch keinen Lohn und mußte nur von Trinkgeldern leben, deshalb mußte ich ihm fünfzig Pfennig geben. Nun, wo ich in der Eisenbahn saß, ärgerte ich mich über mein rasches Handeln. Wäre ich doch geblieben, schon um des Vaters willen! Ich hatte ja doch in den 6 Wochen beinahe 54 Mark an Trinkgeldern zusammengespart, brauchte also die 15 Mark des Wirtes gar nicht. Warum war ich eigentlich so halsstarrig? Warum bestand ich, wie der Jude Shylock im »Kaufmann von Venedig« auf meinen Schein? Die Hoteliers wollen nun einmal keinen Lohn zahlen. Und es war ja doch immerhin eine ganz schöne Stellung gewesen! Was nun? Ich entschied mich dahin, dem Vater vorerst gar nichts von der Sache zu sagen, den Koffer auf dem Bahnhof stehen zu lassen und zwei Tage nur »auf Besuch« nach Hause zu gehn. Dann wollte ich nach Leipzig reisen, meinen Bruder besuchen und mir um jeden Preis andere Stellung verschaffen, sei es nun, was es wolle.

Auf dem Bahnhofe wurde ich von Paul Bauer empfangen und wenige Minuten später war ich wieder zu Hause. Ich kann es nicht sagen, wie ich mich innerlich schämte, eine Lüge zu machen. Allein um einer scharfen Züchtigung seitens des Vaters zu entgehen, blieb mir nichts anderes übrig. Ganz konnte ich es jedoch nicht über das[156] Herz bringen, und ich entdeckte mich der Mutter am Abend kurz vor dem Schlafengehen. Obgleich es ihr wehe tat, versprach sie, dem Vater nichts zu sagen. Ich solle nur sehen, bald etwas anderes zu erlangen. Am nächsten Morgen reiste ich ab. Um billig wegzukommen, fuhr ich 4. Klasse nach Leipzig. Da hatte ich aber den Schinken nach der Bratwurst geworfen; denn mein Koffer kostete mich beinahe 4 Mark als Passagiergut zu befördern. In den Wagen konnte ich ihn nicht mitnehmen, da war er zu groß und zu schwer. So mußte ich denn auf Freigepäck verzichten und wurde so ausgewischt. Wäre ich 3. Klasse gefahren, so hätte ich 1 Mark weniger gebraucht. In Leipzig angekommen, ließ ich vorläufig meinen Koffer stehen und begab mich zu meinem Bruder, der ganz in der Nähe wohnte. Am ersten Tage war noch nichts zu wollen. Ich hatte an mehreren im Tageblatt stehenden Stellen angefragt; es war aber schon alles besetzt. Abends blieb ich bei meinem Bruder über Nacht. Das mußte aber ganz geheim geschehen. Ich mußte mich richtig bei ihm hinein schmuggeln. Ein Gespräch im Bett durften wir nicht riskieren, außer im Flüstertone; denn nebenan schlief der Kommis. Mein Bruder wollte um keinen Preis, daß meine nächtliche Anwesenheit verraten würde. Früh 1/2 5 Uhr, wenn noch alles im tiefen Schlaf lag, begleitete er mich bis zur Straße, Dann ging ich vor irgend eine Gastwirtschaft und wartete auf die Zeitungsweiber. Die Zeitungen wurden nämlich früh 5 Uhr ausgegeben, und man traf um diese Zeit nur Bäckerjungen und Zeitungsfrauen auf der Straße. Kam dann so eine Frau, so bat ich, einmal die offenen Stellen nachsehen zu können. In den meisten Fällen wies man mich nicht ab. Nun glaubte ich, so früh ist niemand da, eilte nach der Arbeitsstelle und war enttäuscht; denn da standen gewöhnlich schon 80–100 Mann. Einmal wurde ein Arbeitsbursche bei der bekannten Papierfirma Flinsch am Augustusplatz gesucht. Um 7 Uhr war ich dort, da warteten richtig an die 60 Mann, und um 8 Uhr wurde erst geöffnet. Es war mir jedoch gelungen, mich in die ersten Reihen zu drängen. Wir mußten eine Etage hoch zur Vorstellung ins Kontor. Die ersten 7 Mann kamen alle resultatlos zurück. Jetzt war ich an der Reihe. Ein noch junger[157] Buchhalter fertigte mich ab. Ich brachte alles mögliche vor, um die Stelle zu erhalten; sagte sogar, daß ich in der Schule Latein und Französisch gelernt habe. Aber das war ein Fehler von mir; denn während der Mann sich erst zu überlegen schien, sagte er dann kurz: »Mit Latein und Französisch können wir kein Papier machen.« Ein Wink, und ich war entlassen, um eine Erfahrung reicher und eine Hoffnung ärmer. So gingen die ersten Tage hin, noch ohne Sorgen. Ich ließ es noch nicht an Essen und Trinken fehlen; als ich aber merkte, daß mein Geld zu Ende ging, wurde die Sache kritischer. Da kaufte ich mir bei einem Bäcker in der Bayrischenstraße gewöhnlich Morgens und Abends ein Fünfpfennig-Brot und des Mittags ging ich nach der Speiseanstalt auf dem Johannisplatz und aß dort für 17 Pfennige Mittagbrot. Aber schließlich mußte ich auch das aufgeben und dann bildeten die 2 Brötchen die ganze Tageskost. Manchmal blieb ich auf der Herberge zur Heimat in der Ulrichsgasse über Nacht; denn mein Bruder war sehr ängstlich geworden. Der Kommis sollte uns belauscht und dem Herrn davon erzählt haben. Deshalb konnten den Bruder manchmal die besten Worte nicht bewegen, mich mit hineinzunehmen. Nur wenn der Kommis einmal ausgegangen war, riskierte er es noch. An einem besonders heißen Tage konnte ich meinen Hunger und meinen Appetit nach einem warmen Mittagsbrot nicht mehr bezwingen. Es gab Klopsbraten auf der Herberge zur Heimat und ich legte 40 Pfg. an, um wieder einmal etwas Vernünftiges in den Magen zu bekommen. Nach dem Essen fragten mit 2 Kunden, ob ich nicht mit baden gehen wolle. Ich bejahte, und wir pilgerten die ziemlich weite Strecke nach dem Freibad hinaus. Als wir draußen angekommen waren, lagen hunderte von Knaben auf dem Gelände, die alle gebadet hatten oder baden wollten. Aber das Bad war eigentlich nicht frei, es kostete vielmehr 6 Pfennige, um eine Badehose zu leihen; ohne diese durfte man nicht hinaus ins Wasser. Die beiden Kunden hatten natürlich kein Geld und ich mußte auch noch für sie bezahlen. Am Abend sollte ich es zurückerhalten. Der Abend soll aber heute noch kommen. Auf dem Rückwege ließ ich mich zu einer weiteren Dummheit hinreißen. Ich kaufte mir für 10 Pfennige[158] Kirschen. Sie erschienen mir bei der drückenden Hundstagshitze etwas zu Köstliches. Lieber wollte ich auf ein Brötchen zum Abend verzichten. Als wir dann auf der Herberge saßen, war die Temperatur so schwül, daß ich auch noch ein Glas Bier trank. Um 1/2 10 Uhr mußten wir dann, nach der vom Herbergs-Vater gehaltenen Andacht, ins Bett. Der eine Gehilfe »biente« uns durch, und wer »rein« war, konnte passieren. Sämtliche Kleidungsstücke kamen auf einen Haken im Vorflur. Das Bett mußten wir nackend aufsuchen, Plötzlich wurde ich mitten in der Nacht munter. Obwohl Sommer, war es doch stockfinster. Wahrscheinlich waren Läden vor den Fenstern oder dunkle Zuggardinen. Eine drückende Angst umfing mich beim Erwachen. Die Kirschen, das kalte Wasser und das Bier hatten ihre Wirkung getan. Sie konnten sich in meinem Darm nicht vertragen und drängten mit aller Gewalt nach außen. Doch wohin sollte ich? Ich hatte keinerlei Kenntnis, wo sich der Raum befinden möge. Nackend mußte ich mit den Händen tastend umherirren. Mich fröstelte, denn die Temperatur war ziemlich tief gefallen. Endlich fand ich eine Türe, nachdem ich beim Tasten erst ein Gesicht befühlt hatte. Nun hinaus. An mehrere Türen klinkte ich. Sie waren verschlossen, oder es waren auch Schlafräume. Weiter tastete ich an der Wand herum. Ich war an den Kleiderhaken. Jeden Augenblick mußte eine Eruption bei mir erfolgen. Plötzlich faßte ich wieder eine Türklinke. Ein wohlbekannter Geruch, den man für gewöhnlich abscheulich findet, drang in meine Nase. Endlich gefunden! Ein weiteres Tasten – und dann atmete ich erleichtert auf! Aber wie nun den Weg zurück ins Bett finden? Ich tastete wieder herum. Da endlich hatte ich ein Bett. Als ich mich aber hineinlegen wollte, schrie einer mich an: »Was soll denn das werden, Du bist wohl ein warmer Bruder?« Ich wußte noch nicht, was er meinte. Denn von Homosexualität hatte ich damals noch nichts gehört. Weil er mich aber festhielt, beichtete ich ihm alles; da lachte er und ließ mich los. Wer es gewesen war? Wir hatten beide keine Ahnung, denn keiner hat das Gesicht des andern gesehen. Nachdem ich noch einige Gesichter unter meinen Fingern gefühlt hatte und mehrere »Ochsen«, »Rindviecher«, »Spitzbuben«,[159] »Lauserettiche«, »Mondsüchtige« eingeheimst hatte, fand ich endlich mein leeres Bett. Ein Griff unter das Kopfkissen: Gottseidank, das Portemonnaie ist noch da. Am andern Morgen gegen 7 Uhr mußten wir raus. Niemand war froher als ich. Diese nächtliche Wanderung werde ich im Leben nicht vergessen. Am Morgen erzählten auch verschiedene, daß ein »Mondsüchtiger« die Nacht umhergelaufen sei. Ich war ruhig und verriet mich nicht. Nachdem ich meinen Kaffee getrunken, rückte ich ab, wie der auf die Suche nach Arbeit. Und – im »Invalidendank«, so nennt sich auch ein Vermittlungsbureau, wurde ein Arbeitsbursche gesucht. Ich meldete mich sofort, mußte 1 Mark zahlen und ward zu einem Geflügelhändler geschickt. Dieser hatte seinen Geflügelhof weit draußen in Reudnitz glaube ich. Zunächst empfing mich ein Fräulein. Sie stellte sich als Tochter des Hauses vor, glaubte vielleicht, ich wolle einige Dutzend Tauben oder Hähnchen bestellen. Als sie dann mein Begehr erfahren hatte, teilte sie mir mit, daß ich wohl ankommen könne, aber vorläufig sei der alte Bursche noch da, Dasselbe bestätigte mir auch der hinzukommende Chef. Er meinte, nachdem er sich nach meinen Verhältnissen erkundigt hatte, sobald der Bursche fort sei, würde er mich brieflich benachrichtigen, ich solle nur meine Adresse hinterlassen. Vierzehn Tage würden sicher noch vergehen. Er habe ihm noch gar nicht gekündigt!

Am Abend schlief ich wieder einmal mit meinem Bruder zusammen. Meine Kasse war bedenklich geschwunden. Nur noch 3 Mark nannte ich mein eigen. Was sollte jetzt werden? Mein Bruder riet nichts; aber wenn er an meiner Stelle gewesen wäre, so gäbe es für ihn kein Überlegen: er wäre gewandert. Ich dachte nicht daran, sondern entschloß mich vielmehr, meinen Onkel und Tante in Meuselwitz aufzusuchen und mich einige Tage bei ihnen aufzuhalten. Als Vorwand gab ich dort an, daß ich krank gewesen wäre und mich noch etwas erholen sollte. So ungefähr 8 Tage habe ich mich dort herumgedrückt, allein ewig konnte ich dort auch nicht bleiben. Das Geld war nun bis auf 20 Pfennige zusammengeschmolzen. Jetzt hieß es, ungeachtet der väterlichen Prügel, nach Hause laufen. Es waren reichlich 5 Stunden Wegs. Eines Freitags,[160] gleich nach dem Mittagessen, trat ich den Rückmarsch an. Mein Kousin Oswald gab mir bis Neuzoderschau das Geleit. Es war wieder ein heißer trockener Tag. In den Dörfern, die ich zu passieren hatte, Dielzig, Mehna, Rodameuschel, mußte ich überall meinen Durst löschen. Als ich Rodameuschel hinter mir hatte, ging auch ein ordentliches Regenwetter los. Ich war durchnäßt bis auf die Haut und um nur einige Zeit ins Trockene zu kommen, kehrte ich in Schwanditz, in einer an der Straße liegenden Restauration ein. Hier verzehrte ich das von der Tante erhaltene Brot und trank ein Glas Bier dazu. Mein letztes Geld war dahin. Als der Regenguß etwas nachgelassen hatte, lief ich weiter. Gegen 1/2 8 Uhr Abends kam ich vor Schmölln an. Ich schämte mich, hinein zu gehen und wartete die Dunkelheit ab. Zuerst ging ich dann zur Mutter in die Küche. Gegen 9 Uhr erst, als die Kostgänger zu Bett gingen, trat ich dem Vater unter die Augen. Doch den Empfang will ich lieber nicht beschreiben. Er war tief beschämend für mich, und nur soviel will ich bemerken, daß er von »handgreiflichster« Wirkung war.[161]

Quelle:
Bromme, Moritz Th. W.: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. Frankfurt a. M. 1971, S. 134-162.
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