Verheiratet

[219] Den ganzen Winter hindurch war mir meine Braut sehr verdächtig vorgekommen. Im Frühjahr schien es mir Gewißheit zu sein, daß ich ein Unglück angerichtet hatte. Ich wartete immer auf eine Erklärung, aber sie blieb stumm, bis ich eines Abends selbst darauf zu sprechen kam. Sie gab es zu, hatte mir aber vor meiner letzten Militärmusterung nichts davon sagen wollen. Wenn ich Soldat geworden wäre, meinte sie, hätte sie sich ein Leids angetan; denn nach Hause hätte sie nicht in solchem Zustande kommen dürfen. Selbstverständlich gab ich nun zur letzten Musterung jeden Fehler an und wegen meines linken Ohres, das nur noch ein stark durchlöchertes Trommelfell aufzuweisen hatte, kam ich zur Ersatzreserve der Infanterie. Meiner Verheiratung stand also nichts mehr im Wege, doch soviel steht fest, hätte ich meine Braut nicht geschwängert gehabt, ich hätte noch lange nicht geheiratet und wäre vielleicht Soldat geworden.

So zogen wir denn im Juli 1895 zusammen und bewohnten das Erkerlogis in dem kleinen Häuschen des Schwiegervaters. Schon am ersten Tage kamen mir die Ausgaben für den eigenen Haushalt wie spanische Dörfer vor. Was war da eine Mark? Ich hatte mir rein gar nichts gespart, nur dem Schneider hatte ich für meinen Hochzeitsanzug den Macherlohn geben können. Von zu Hause konnte ich erst recht nichts haben, und so war es denn ein Glück, daß meine Frau wenigstens das Nötigste hatte: ein Bett, eine Kommode, und die allernötigste Wäsche. Ein Sofa kaufte sie noch in bar und einen Tisch mit 4 Stühlen bekam sie von ihren Eltern. Ich bekam einen Regulator von meinem Vater. Dann nahmen[219] wir noch 1 Sofatisch, 1 Kleiderschrank, 1 Küchenschrank, 1 Spiegel, 1 Waschtisch und eine Bettstelle auf Abzahlung vom Tischler Müller, einem guten Freunde, der aber später nach Süddeutschland gezogen ist.

Am 10. August fand die Hochzeit statt, die ziemlich nett gefeiert wurde. Schon am Polterabend ging es laut her. Meine Freunde, Robert und der Tischler, machten Leben genug in die Bude. Ein Fäßchen Bier ging schon an diesem Abend drauf. Am nächsten Tage waren auch meine Eltern und drei Geschwister, die beiden Zeugen, zwei Freunde aus dem »Verein zur Wahrung der Interessen der Arbeiter«, die drei Schwestern meiner Frau, eine davon mit ihrem Zukünftigen erschienen, und da war denn die Stube voll. Es war gerade ein herrlicher Sommertag; an Essen und Trinken – da muß ich meine Schwiegereltern loben – hat es nicht gefehlt, und jeder hat sich in der besten Weise amüsiert. Freilich hatten die alten Weiber uns gewarnt, während der Hundstage zu heiraten. Aber wir mußten eben. Denn am 28. desselben Monats kam meine erste Tochter an, die ich Hedwig genannt habe. Frühmorgens war meine Frau noch mit mir zur Arbeit gegangen, gegen 10 Uhr mußte sie die Arbeit verlassen und als ich Mittags nach Hause kam, war alles vorüber. Mir war es sehr lieb, daß sie mich nicht hatten holen lassen. Zum Ball des Arbeitervereins am 20 Oktober machte ich Kindtaufe und als Paten hatte ich meine Freunde Wilhelm Kuhl, den Tischler Müller und Roberts Frau für meine Tochter gewonnen. Von ersterem lag auch eine hübsche Widmung, zierlich in Rundschrift geschrieben, dem Patenbriefe bei; sie soll hier Platz finden: »Als Kind des Proletariats bist Du geboren, – Besitzlos und bedrückt nennt sich auch Dein Geschlecht, – Drum tritt auch Du dereinst in reisen Jahren – Ein für die Freiheit, Wahrheit und das Recht.« Auch diese erste Taufe war noch ein fröhliches echtes Familienfest. Wir hatten Freude, was bei späteren Gelegenheiten nicht der Fall war. Übrigens habe ich nur drei Taufen ausgerichtet, bei den andern dreien ist die Hebamme allein mit dem Kind zur Kirche gegangen, und die Namen der Paten sind nur eingeschrieben worden.[220]

Meine Frau ging dann wieder mit auf Arbeit und das Kind behielt die Schwiegermutter, wenn ich nicht irre, für 4 Mark wöchentlich. Nun hatte aber meine Frau schon vorher ein Kind gehabt von einem Kaufmann, der in einem Geschäft als Buchhalter beschäftigt war, wo meine Frau als Dienstmädchen diente. Der Mann ist jedoch bald bei einer Gondelpartie auf der Unstrut bei Roßleben ertrunken und das Mädchen bekam weder einen Mann noch Alimente. Dieser Knabe, den meine Schwiegereltern auch behalten hatten, war kränklich, weil ihm seine erste Ziehmutter als kleines Kind immer auf die Haussteine gesetzt hatte, wo das Kind auch bei unfreundlichem Wetter oft den ganzen Tag verbringen mußte. So hatte es sich immer von neuem erkältet, und daraus war ein Nierenleiden entstanden, das in jenem Herbst besonders stark zum Ausbruch kam. Die Schwiegereltern, denen der Kleine aus Herz gewachsen war, taten alles Mögliche, um ihn kurieren zu lassen, und er hat ihnen einige hundert Mark gekostet; allein nichts wollte helfen, weder medizinische, noch naturgemäße Behandlung. Vier Jahre hat der arme kleine Kerl zugebracht, ehe ihn der Tod von seinem Leiden erlöste. Durch ihn entstanden leider auch die ersten Stürme in unserer Ehe. Denn es kam mitunter vor, daß die Schwiegereltern, die auch hart arbeiten mußten und mittellos waren, von meiner Frau für den Jungen einen Beitrag verlangten, gewöhnlich 10 Mark. Davon sagte mir meine Frau nun aber nie etwas. Sie wollte offenbar jeden Anlaß zum Zwist vermeiden. Barmittel aber waren nicht da, weil wir auf unsere Möbel usw. abzahlen mußten; ich verdiente nur 13 Mark die Woche und meine Frau 9 Mark. Sie brachte deshalb oft Abends noch ein Webstück, Cachemir oder Coating, mit nach Hause und nähte dasselbe manchmal die halbe Nacht noch »aus«. Die Schuß- und Fadenbrüche an diesen Stücken müssen nämlich mit dem gleichen Garn wieder eingenäht werden, und dadurch verdiente sie oft noch 2 bis 5 Mark mehr, aber zu Barmitteln kam man trotzdem nie. Kamen nun die Eltern und stellten Anforderungen in finanzieller Beziehung an sie, so lieh sie sich manchmal Geld, so einmal 15 Mark vom Fleischer. Sie hatte das auch schon bis auf 10 Mark wieder abgezahlt, aber[221] dann kam etwas anderes dazwischen, und der Fleischer, der nicht warten wollte, sagte es dann mir. Dadurch entstand der erste Zwist, weil sie mir keine Mitteilung davon gemacht hatte.

So hatten wir zu würgen, daß wir durchkamen und wenn das Jahr um war, war man auch mit herum. Dazu war man noch jung und stellte Anforderungen an das Leben. Ich vor allem wollte meine Gesellschaft nicht ganz missen, und dadurch entstand wieder Zank. Der Schwiegervater, der harte Forstarbeit, wie Bäume fällen, ausputzen, pflanzen, Stöcke roden, gegen niedrigsten Lohn verrichtete, ginge ja auch nicht zum Vergnügen; da sollte ich mich auch einschränken. Und er verdiente viel weniger noch als ich! Das Einzige, was ein Vorteil bei seiner Arbeit war, bestand darin, daß jeder Holzmacher Abends einen Handwagen voll Abraumholz mit nach Hause nehmen konnte. Aber was gehört auch dazu für eine Schinderei, bei oft grundlosen Wegen den vollbepackten Wagen tief aus dem Forstinnern heraus und dann noch eine halbe, dreiviertel, ja selbst anderthalb Stunden nach Hause ziehn! Das ist eine Arbeit, die anstrengender nicht zu finden ist. Ich wäre Abends halbtot, müßte ich diese schwere Fron verrichten. Zu Hause mußte dann das Holz noch gesägt, gespaltet und dürr gemacht werden, ehe man es verkaufen kann; und auf eine Klafter gehört viel. Für diese gibt es dann gewöhnlich 9 Mark. Und 10 Klaftern bringt man kaum das Jahr über zusammen. Außerdem wollen sie doch auch selbst heizen; dafür werden dann noch Stöcke gekauft und ausgerodet. Dabei ist die Schinderei noch ärger. Ein ausgemergelter Fabrikproletarier kann da überhaupt nicht antreten. Der Schwiegervater aber ist ein hoher Sechziger und leistet es noch. Freilich hat er sein Lebtag nur im Freien hantiert; erst Landarbeit verrichtet, dann diese Forstfron. Im Sommer, wo im hiesigen Forst auch nichts zu tun ist, muß er noch heute bei den Bauern oder auf dem Rittergut die Ernte mitmachen. Wie gesagt, ich könnte seine Arbeit nicht leisten. Aber auch ihm vergeht dann Sonntags die Luft, auszugehen. Er ruht dann. Wenn aber unsereiner die ganze Woche hindurch im dumpfen Fabrikraum gesteckt hat, so will man Sonntags frische Luft schnappen und sich mit den[222] Kollegen unterhalten und wohl auch belustigen. Auch stellt jene alte ländliche Generation keine Ansprüche weiter an das Leben, als zu essen, zu schlafen und zu arbeiten; höchstens daß sie das Lokalblättchen noch durchsehen, – das ist jedenfalls ihre ganze geistige Nahrung. Der moderne Arbeiter aber verlangt mehr. Er fordert wenigstens, teilzunehmen an den Genüssen des Lebens. Er will sich weiter bilden. Mir waren von der Schulzeit her die Bücher besonders lieb und wert, und ich habe heute noch fast sämtliche Bücher von den drei letzten Schuljahren. Ich wollte stets mehr wissen. Schaffte ich mir aber wieder einmal ein Buch an, so wurde geschimpft. Zum Bücherkaufen und zum Vergnügen, zum Weglaufen am Sonntag, da gibt es Geld! Das predigte dann auch die Frau mit, und als ich später in der Metallbranche in Gera arbeitete, und dort mehr Geld verdiente, mir deshalb gelegentlich auch wieder ein Buch kaufte, wurde weiter darüber geschimpft. Sie haben es aber nicht hindern können, daß im Laufe der Zeit doch eine ganz stattliche Bibliothek entstanden ist. Auch von meinem alten Schulfreund Dietzmann, von dem ich noch nachholen muß, daß er gezwungen war, vom Gymnasium abzugehen, weil sein Vater sich einer Zungenoperation unterziehen mußte und dadurch sein Predigeramt nicht mehr ausüben konnte, sondern pensioniert wurde, habe ich zahlreiche gute Bücher geschenkt erhalten. Er ist dann Lehrer geworden und in Meuselwitz angestellt. Er ist heute noch Junggeselle, und wegen seiner freundlichen Umgangsformen der beliebteste Lehrer der Stadt, wie mir meine dortigen Genossen versichert haben. Also wie gesagt, weil ich höhere Ansprüche an das Leben stellte, wurde ich von der Familie meiner Frau beredet: man solle sich lieber ducken, man solle mit seinem Lose zufrieden sein. Warum denn diese Partei- und Gewerkschaftsgeschichten? Wählen könne man ja den Sozialdemokraten, aber im übrigen solle man ruhig sein. Es müsse doch einmal Arme und Reiche geben. Ach, der geistige Horizont dieser armen, vom Lande stammenden alten Arbeitsleute reicht eben nicht weiter! Doch ich behielt meine eigene Meinung. Auch mit meiner Frau hatte ich unzählige Auseinandersetzungen darüber. Die Arbeiter geben uns doch[223] nichts, wenn die Fabrikanten nicht einmal etwas geben, so meinte sie oft. Merkwürdig! Mir hat noch niemals ein Fabrikant etwas gegeben, als meinen kärglichen Lohn; und der war immer viel weniger, als was ich eigentlich verdient hätte. Ich habe meiner Frau auch immer meine Meinung ordentlich darüber gesagt. Im Anfange wollten freilich alle Belehrungen nichts helfen, doch mit der Länge der Zeit ist auch sie gescheiter geworden. Jetzt hat sie sich sogar ohne mein Zutun organisiert, trotzdem sie nur in der Heimarbeit tätig ist. Sie ist Mitglied des Textilarbeiterverbandes geworden. In den ersten Ehejahren aber war sie noch nicht zu solcher Einsicht gelangt.

Im März 1897 schenkte sie einem zweiten Töchterchen das Leben. Erna wurde diese genannt. Jetzt hieß es schon »Ohren steif halten!« Sollten wir nun 7 oder 8 Mark für die Pflege der beiden Kinder ausgeben? Das wäre doch Unsinn gewesen. Meine Frau mußte also nun zu Hause bleiben. Sie nähte nun zu Hause weiter aus. In der ersten Zeit ging es dabei noch mit dem Verdienst. Dann aber kam ein neuer Putzmeister, der von ihrer früheren Tätigkeit in der Fabrik nichts wußte. Sie bekam schlechtere Stücken und der Verdienst ging zurück. Jetzt hieß es, noch mehr aufpassen, denn die Kinder kosteten immer mehr Geld. Meine Frau ward manchesmal ärgerlich! In solcher Laune schlug sie auch öfters Mittags die Kleine auf die Hände, weil sie nach den Tassen griff und eine derselben umwarf. Schließlich schlug sie gleich mit dem Löffel auf die kleinen Finger. Das erste Mal hatte ich es ruhig angesehen und ihr's verboten; denn ich wußte ja, warum sie es tat: nur aus Ärger über den elenden Mammon, der nicht ausreichen wollte. Es mußte jetzt immer ein Loch aufgemacht werden und das andere zu. Sollten nun noch mehr Kinder kommen? Es wurde mir schon Angst, wenn ich daran dachte. Eines Tages brachte unser Chef Pariser Artikel mit in die Arbeitsräume, von denen ich da zum ersten Male hörte. Vorher hatte ich noch nichts über Schwangerschaftsverhütung vernommen. Der Chef schwatzte auch mir eine Dose Pessare für 1,20 Mark auf. Ich nahm später sogar noch eine zweite. In Verfolg davon unterhielten sich die verheirateten[224] Kollegen noch öfter über solche »Verhütungen«. Mitunter hörte man da Sachen, die man schriftlich nicht wiedergeben kann. Als sicherstes Mittel wurde außer der völligen Enthaltsamkeit das »Vorortsgeschäft« bezeichnet. »Coitus interruptus« ist der medizinische Ausdruck dafür. Erst später erfuhr ich, daß dies höchst schädlich für Mann und Weib ist. Trotzdem ich die Pessare und ebenfalls auch das letztgenannte Mittel anwandte, war mir ein Jahr später mein Sohn Ernst beschert. Leider ist er sehr kränklich veranlagt, sehr schwächlich und von blasser Gesichtsfarbe; ob nicht diese verwünschten Sachen die Schuld daran tragen? Die große Empfänglichkeit meiner Frau scheint übrigens in ihrer Familie zu liegen; denn alle ihre Schwestern haben sich als gleich fruchtbar erwiesen.

Meine Familienverhältnisse aber wurden dadurch immer mißlicher. Ich wollte fort, mir lohnendere Beschäftigung zu suchen. In einer Harmonikafabrik im Geraer Vorort Leumnitz hatte ich Beschäftigung er halten, wo ich 17 Mark verdienen konnte. Dort sollte ich die Fabrikation von Pantoffelhölzern mit einrichten helfen, die ich mir inzwischen perfekt angeeignet hatte. Ich hatte aber wieder Schwierigkeiten mit meinen Papieren. Der Chef bestand auf 14tägiger Kündigung. Gleichzeitig bot er mir eine Mark Zulage. Meine Frau redete mir auch mehr ab als zu, wegen des Weges; jeden Tag 3 Stunden zur Arbeitsstelle zu laufen, außer der elfstündigen Arbeitszeit, das sei zu viel. Ungezählte andere müssen es aber auch tun. So blieb ich denn und arbeitete nun für 14 Mark. Was aber bedeutet eine Mark Zulage? Das ist doch nur ein Tropfen Wasser auf einen heißen Stein. Jetzt waren wir zu fünfen. Die Hedwig schlief beim Schwiegervater im Bett, von den beiden andern Kindern je eins bei Vater und Mutter. So brauchten wir wenigstens noch kein neues Bett anzuschaffen. Doch geschehen mußte auch das einmal, und so wurden die Aussichten für die Zukunft immer schwärzer, die Frau immer mißgestimmter, so daß ich die Ehe jetzt, schon nach kaum 2 Jahren, verwünschte.

Dazu kam wieder eine Krankheit von mir, die durch Unfall entstanden war. Ich hatte mit einem jungen Burschen rotbuchene[225] Pfosten abgekürzt. Dieselben maßen etwa 5 Meter in der Länge und 1/2 bis 3/4 Meter in der Breite, waren also für zwei Mann beinahe zu schwer. Der Bursche faselte und quasselte eines Tages hinter mir herum, hatte keinen Gedanken auf die Arbeit und warf den Pfosten kurzer Hand weg, als wir ihn auf die große Kreissäge heben wollten. Ich konnte nicht zurückweichen, der Pfosten war blitzschnell in die Höhe geschnellt und fiel mir dann auf den linken Fuß. Ich trug Holzschuhe und dadurch war die große Zehe breit gequetscht. Der »Tuitam« trug mich auf dem Rücken nach Hause. Der Arzt kam erst am nächsten Tage und verordnete Lysolbäder. Was ich aber in der ersten Nacht für Schmerzen ausgestanden habe, kann ich niemandem erzählen. Ich habe damals die Engel wieder einmal singen hören. Ich habe aber in diesen Tagen doch einen Jahrgang »Buch für Alle« durchgeschmökert. Besonders hat mir darin der Zobeltitzsche Roman »Heilendes Gift« gefallen, in dem erzählt wird, wie durch ein javanisches Pflanzengift Epilepsie geheilt wurde. Drei Wochen lag ich zu Hause, dann schnallte ich mir eine von meinem Vater verfertigte primitive Holzsandale an und humpelte auf Arbeit. Vierzehn Tage dauerte es dann immer noch, ehe ich wieder einen Schuh anziehen konnte. Kaum war ich gesund, als meine Tochter Erna, die sich bis dahin kräftig entwickelt hatte, infolge des Impfens erkrankte. Vor dem Impfen war sie fidel, blühend und voll, nach dem Impfen wurde sie so krank, daß wir alle halben Stunden eiskalte Umschläge anwenden mußten. Dann ward sie spindeldürr, von blasser Gesichtsfarbe und still. Sie hat dann noch die Lungenentzündung zweimal gehabt, die auch der folgende Ernst in zwei Jahren allein sechsmal durchmachen mußte. Nun hieß es also auch noch, einen ziemlichen Teil des kargen Lohnes in die Apotheke schaffen! Es lag dies auch mit an den Ärzten. Der eine Doktor verordnete meist nur Umschläge und Bäder, während der andere nur Medizin gab. Mit den finanziellen Mitteln war es also nun noch schlimmer, und die Laune meiner Frau besserte sich nicht, sondern verschlechterte sich noch. Wenn ich mir so viele Gedanken hätten machen wollen, wie sie, so wäre es traurig um uns bestellt gewesen. Zur Butter langte es schon[226] gar nicht mehr, es mußte Margarine sein. Und doch, war ein Vereinsvergnügen, so machte man trotzdem einmal mit; denn meine Frau war und ist heute noch tanzlustig, wofür ich allerdings jetzt gar kein Interesse mehr habe. Dann schimpften wieder die Schwiegerleute und ihre noch ledige Tochter Selma. Dann hieß es: »Bleibt zu Hause und bezahlt erst Eure Schulden!« Darüber ärgerte sich meine Frau und ich wurde trotzig und lief noch mehr zu den Freunden. Und dann kam es manchmal zu Auftritten zwischen uns, die mir wirklich das Leben verbitterten und die mich sogar einmal mitten in der Nacht an den Baderteich trieben. Ich wollte allen Ernstes ins Nasse. Aber da fielen mir meine Kinder ein. Was sollte aus ihnen werden? Und meiner Kinder wegen nahm ich dies freudenlose Leben von neuem auf; aber die Sorge und die Not ist geblieben, wie wir später weiter sehen werden.

Unsere Chefs, d. h. die späteren, hatten allmählich das Pantoffel- und Holzschuhgeschäft gut in die Höhe gebracht. Wir konnten nicht genug Hölzer schaffen, so daß noch aus der Luckaer Holzindustrie und von Stettin her solche bezogen werden mußten. Alljährlich hatten wir eine Kommission von einigen tausend Paar Holzschuhen nach Kapstadt zu liefern. Wir mußten deshalb sogar mit Überstunden arbeiten, um nur die nötigen Holzsohlen fertigzustellen. In dem engen Arbeitsraum herrschte dann erst recht ein ungeheurer Staub, der mich für meine Lunge das Schlimmste befürchten ließ. Meine Mutter war an Tuberkulose gestorben. Ich hatte deshalb immer eine geheime Angst in mir. Bei dürrem Holz, dessen Staub infolge der Leichtigkeit sich nicht zu Boden senkte, und ebenfalls, wenn ich den Schleifstein abdrehen mußte, band ich deshalb einen Respirator vor Mund und Nase, den ich von einem Apotheker in Frankenstein in Schlesien bezogen hatte. Von den ungebildeten ländlichen Arbeitern wurde ich natürlich deswegen verlacht und verspottet. Als junger Mensch will man das auch nicht immer haben und so benutzte ich eben das Dings nur in den nötigsten Fällen. Doch hatte ich schon öfter mit den Kollegen Austausch gepflogen, daß in dem Betriebe eine ordentliche Ventilationsanlage[227] sehr nötig sei Wie aber diese erlangen? Ein kleiner Flügelventilator war wohl vor den Schleifscheiben angebracht, der genügte aber in keiner Beziehung. Hier war ein Kanalisationsexhaustor am Platze, der den Staub direkt von der Maschine wegnahm. Schon 2 Jahre vorher hatte ich nun in Gemeinschaft mit Wilhelm Kahl, der zu jener Zeit schon Kartellvorsitzender in Gera war, versucht, eine Zahlstelle des Holzarbeiterverbandes zu gründen; denn unsere Schuhmacherzahlstelle war längst selig entschlummert. Ich und mein Vater waren die letzten beiden Mitglieder gewesen, Obgleich ich seitdem mehrmals den Versuch wiederholt hatte, wollte es immer nichts werden. Auf einem Stiftungsfest des Textilarbeiterverbandes kam ich dann im Sommer 1897 mit dem Tischler Rössel zusammen, und mit ihm wollte ich noch eine Kraftanstrengung machen, die Ronneburger Holzarbeiter zu organisieren. Wir gingen Haus für Haus zu den Tischlern und Korbmachern. Ich selbst agitierte, soviel ich konnte, in der Fabrik. Aber nur die Mehrzahl der Nagler, der Schneidemüller Barofski und einige Mausefaller, darunter Karl Brüger, erklärten ihren Beitritt. So konnten wir denn endlich die Gründung perfekt werden lassen. Nach einem Referat des Leipziger Holzarbeiterführers Franz Mensch traten sofort 32 Kollegen dem Verband bei. Darunter waren fast alle Tischler in Ronneburg. Leider hielten sie nur kurze Zeit aus: die Beitragsleistungen veranlaßten die Frauen der Kollegen, darüber zu schelten und zu schimpfen. Und da die weibliche Ehehälfte in Geldsachen meistenteils »die Hosen an hat«, so mußte ihrem Wunsche Folge geleistet werden. Bald waren es wieder nur noch 15–20 Mitglieder, die aber dafür fest und treu zur Organisation standen. In einer Mitgliederversammlung dieses neuen Verbandes nun, die sich mit Mißständen in den einzelnen Werkstätten befaßte, brachte ich auch meine alte Klage wegen der starken Staubentwickelung in unsrer Bude vor und forderte die unbedingte Anschaffung eines Exhaustors. Es wurde deshalb beschlossen, den altenburgischen Fabrikinspektor Gewerberat Böhnisch zu benachrichtigen, damit dieser bei einer vorzunehmenden Revision des Betriebes den Übelstand abschaffen könne.[228]

An einem Donnerstag, gerade als die beiden Chefs abwesend waren, erschien der Fabrikinspektor und revidierte nicht nur den Kessel, sondern den ganzen Betrieb recht eingehend. Er frug den an einer Bandsäge beschäftigten Barofski nach allem aus und kam dann zu uns in die Schleiferei. Ich mußte die Schleifscheiben in Betrieb setzen. Er erklärte die Ventilation für durchaus ungenügend und ordnete eine Exhaustoranlage an. Am nächsten Morgen ist dann der eine Chef zu Barofski gekommen und hat diesen nach den Anordnungen des Aufsichtsbeamten gefragt. »Wo wohnt denn der Affe von Inspektor?« hatte er dabei geäußert. Er lief dann in der Stadt herum, verhörte alle Arbeiter und wollte um jeden Preis die unzufriedenen Elemente herausbringen. Die Schleiferei wurde auf seine Anordnung hin ins Hauptgebäude verlegt, der Exhaustor aber wirklich aufgestellt.

In jenen Tagen des Jahres 1898 hatte auch wieder die Landtagswahl in unserem Ländchen stattgefunden. Ich hatte natürlich unaufhörlich unter den bei uns beschäftigten ländlichen Arbeitern agitiert, damit sie zur Wahl gehen sollten Ich selbst wählte zum erstenmal in meinem Leben. Ich war damals gerade 25 Jahre alt geworden. Die Wahl dauerte bis 6 Uhr und von unseren »Kaffern«, wie die Leute vom Lande gewöhnlich betitelt werden, waren nur zwei zur Wahl gegangen. Da gelang es den Bemühungen meines Vaters und mir, noch 10 Minuten nach 5 Uhr 3 Mann zu bewegen, nach Hause zu gehen und zu wählen, Sie sollten den Ausschlag geben: denn unser Genosse Schüler wurde mit nur einer Stimme Mehrheit gewählt. Selbstverständlich freuten wir uns herzlich, daß wir so »direkt« zum Siege beigetragen hatten. Zwar wollten dann die Regierungsmänner die Wahl für ungültig erklären, weil ein Wahlzettel mit Schiller beschrieben war. Allein der Landtag beschloß die Gültigkeit, weil aus dem Zettel nur die Absicht des Wählers hervorzugehen brauche, wem die Stimme gehören soll. Seitdem sind auch die Altenburger Bauern moderner geworden und lassen die Stimmzettel nicht mehr schreiben, sondern geben seit 1904 gedruckte Zettel ab, obgleich es viel Mühe gekostet hat, ehe sie dieser Wahlmethode zugestimmt[229] haben. Unter anderen Argumenten dagegen hatten sie befürchtet, daß dann die Wähler das Schreiben ganz und gar verlernen würden. Wenige Wochen nach der Landtagswahl fand auch die Reichstagswahl statt, für die ich mich wiederum bei der Agitation gehörig ins Zeug gelegt habe. Leider mußten wir dem Agrarier von Blödau das Feld räumen, der 15000 Stimmen auf sich vereinigte, während unser Buchwald es nur auf knapp 15000 brachte. Ich sehe noch heute unsere beiden Chefs lachen; sie freuten sich natürlich, daß der Geldsacksvertreter in den Reichstag einzog. Doch später haben auch wir einmal gelacht.

Etwa 4 Wochen nach der Wahl, als der Exhaustor ziemlich fertig war, ließ mich der eine Chef eines Sonnabends Vormittags zu sich ins Kontor rufen. Schon vorher konnte er sich nicht mehr ungezwungen mit mir unterhalten, und als ich eines Tages mit einem andern Arbeiter eine Minute lang stand, schnauzte er uns wegen angeblicher Faulheit dermaßen an, daß es sich ausnahm, als ob wir uns in der Kaserne befänden. Vielleicht war die Wut des Herrn durch einen Zeitungsartikel entstanden. Denn in dem damaligen Parteiblatt »Der Wähler« war damals eine Notiz aus Ronneburg zu lesen, nach der ein Schuhwarenfabrikant in der Nacht den Apotheker herausgeklingelt und für 5 Pfennige Lausesalbe verlangt habe. Also, wie ich schon erwähnte, ließ mich der Unternehmer rufen und kanzelte mich ganz gehörig ab. »Nun, Bromme,« begann er, »Sie sind doch derjenige, der uns die Suppe mit dem Inspektor eingebrockt hat. Sie haben es gerade nötig, bekümmern Sie sich um Ihre Familie, anstatt um die Partei- und Verbandsgeschichten. Natürlich hören Sie in 14 Tagen auf und haben auf jeden Fall mehr Schaden als ich. Solche undankbare Leute wie Sie, dem wir Zulage gewährten und die uns dann die Aufsichtsbeamten auf den Hals hetzen, wollen wir nicht beschäftigen. Machen Sie, daß Sie 'naus kommen; in 14 Tagen ist es zu Ende. Schmieren Sie mich immer im »Wähler« herum. Ich pfeife darauf.«

Also sollte ich arbeitslos werden, was seit 7 Jahren nicht der Fall gewesen war, jetzt, wo ich verheiratet und Vater von 3 Kindern[230] war. Es war mir wirklich nicht leicht ums Herz. Doch einen Trost hatte ich, den ich nun nicht genug loben konnte – den Verband. Der Gauvorsteher Werner aus Gera, dem ich meinen Fall sofort unterbreitete, sagte mir unbedingt die Gemaßregeltenunterstützung zu; ich war ja nur durch die Verbandstätigkeit arbeitslos geworden. Jedoch riet er, noch einen Versuch zu unternehmen, die Kündigung rückgängig zu machen. Am darauffolgenden Sonntag kamen wir in unserm Verbandslokal zusammen und berieten über meine Lage. Einer schlug vor, in einem Briefe die Firma um Weiterbeschäftigung zu bitten. Er schrieb ihn nieder und forderte mich dann auf, ihn ins Reine zu schreiben, weil ich die beste Handschrift von den Anwesenden aufzuweisen hatte. Obgleich es mir widerstrebte, in eigener Angelegenheit die Feder zu ergreifen, tat ich es trotzdem, galt es doch, meiner Familie das Brot zu erhalten. In dem Schreiben wurde die Firma gebeten, die Kündigung aus folgenden Gründen zurückzunehmen: Erstens weil ich verheiratet und Vater von 3 Kindern wäre; zweitens weil ich nur zum kleinsten Teile schuldig gewesen und der wirklich Schuldige (der Bevollmächtigte Tischler Rössel) gar nicht in unserem Betriebe beschäftigt würde; drittens weil das soziale Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und -nehmer bisher sehr gut gewesen sei und auch in Zukunft so bleiben solle; und viertens, weil bei einer eventuellen Boykotterklärung auch für die Fabrikanten wie für die übrigen Arbeiter großer Schaden erwachsen würde. Unterzeichnet wurde das Schreiben vom Kollegen Rössel, und außerdem hatte uns der sozialdemokratische Vertrauensmann, Genosse Schüler, die Erlaubnis gegeben, seinen Namen mit darunter zu setzen. Er bezog nämlich von der Firma seinen Bedarf an Holzschuhen und Pantoffeln, und glaubte deshalb, auf die Herren für die Zurücknahme der Kündigung einwirken zu können. Es sollte aber anders kommen und der Brief für uns verhängnisvoll werden. Die Herren Unternehmer fühlten sich durch ihn beleidigt und in ihrer Existenz bedroht. Nachdem sie mit einigen Referendaren und Rechtsanwälten beraten hatten, wurde gegen uns Anklage wegen versuchter Erpressung erhoben, weil durch den Brief für mich ein »Vermögensvorteil«[231] herausgeschlagen werden sollte. Natürlich bekamen wir seitens des Verbandes einen Verteidiger gestellt und die Befürchtungen meiner darüber aufgeregten unverständigen Frau, daß ich 3 bis 6 Monate hinter die schwedischen Gardinen kommen würde, waren jedenfalls verfrüht. Doch hat sie mir damals viel Schmerz zugefügt. Bei jeder Gelegenheit sagte sie da zu den Kindern: »Es dauert nicht mehr lange, dann werdet Ihr Euren »Alten« 3 bis 6 Monate nicht sehen können, weil er ins Kittchen kommt.« Oder: »Andre Leute, wie die Dorfkaffern, lachen sich eins, daß sie nun einen gesunden Arbeitssaal haben und keinen Staub mehr einzuatmen brauchen, und Du mußt brummen« Inzwischen hatte der Verbandsvorstand dem Antrage, mir die Gemaßregeltenunterstützung zu bewilligen, zugestimmt, und als wöchentlichen Unterstützungsbetrag 12 Mark festgesetzt. In Ronneburg war für mich nun keine Arbeit im Holzgewerbe zu erhalten; ich mußte mich nach Gera wenden, und dort Arbeit zu erlangen suchen. Doch es wollte nicht klappen und wollte nicht klappen. Weder in den Harmonikafabriken noch in den Bau- und Möbeltischlereien konnte ich Arbeit erhalten. Auf ein Inserat hin meldete ich mich bei einem Glasermeister in Grimma zur Bedienung der Holzbearbeitungsmaschinen. Ich sollte 18–20 Mark Lohn erhalten, aber meine Frau wollte durchaus nicht in eine so ungewisse und ferne Stellung, denn, meinte sie, möglicherweise würde ein eventueller Umzug nur von Schaden sein. Andere Arbeit hätte ich wohl sofort erhalten können, als Handlanger bei den Maurern; aber die konnte ich meines schwächlichen Körperbaues wegen auf die Dauer kaum verrichten; ich wollte zunächst, wenn irgend möglich, Beschäftigung im Holzgewerbe suchen. Als drei Wochen vergangen waren, kam eines Tages der Bevollmächtigte zu mir und meinte: »Höre, wir wollen aber nicht auf Verbandskosten herumbummeln. Du hättest doch Arbeit beim Maurermeister Lange erhalten können, warum nimmst Du sie nicht an?« Das war mir nun allerdings starker Tabak. Ich entgegnete zunächst, daß ich mich nicht organisiert habe, um als Handlanger zu rackern. Den nächsten Tag fuhr ich zum Gauvorsteher nach Gera, der für unsere nächste Mitgliederversammlung[232] sein Erscheinen zusagte. Da wurde denn ganz klar gestellt, daß niemand ein Recht hätte, mich zur Annahme jeder beliebigen Arbeit zu zwingen. In derselben Versammlung war auch so viel Licht in meine Angelegenheit gekommen, daß unser bisheriger Schriftführer als mein Denunziant gelten konnte. Er hatte an den Bandsäger Kranzritter verraten, wer der Antragsteller gewesen. Dieser hatte dem Maschinenbauer Schnabel davon erzählt, und der hatte dann natürlich nichts Eiligeres zu tun gehabt, als dem Herrn Mitteilung zu machen. Übrigens war der eine derselben in Anbetracht meiner praktischen Kenntnisse gegen meine Entlassung gewesen, aber der andere hatte ihm geantwortet: »Wenn er gestorben wäre, müßten wir auch einen andern haben.« In der Versammlung wurde der klatschsüchtige Denunziant aus dem Verband ausgeschlossen und festgesetzt, daß ich solange Unterstützung erhalten würde, bis ich Arbeit bekäme.

Wenige Tage später bestellte mich der Oberwachtmeister Prager zu sich und stellte ein Verhör mit mir an. Er wollte den Briefschreiber wissen; denn Rössel und Schüler waren wohl unterschrieben, konnten aber an ihren Handschriften nicht als die Autoren festgestellt werden. Es mußte also noch ein dritter im Bunde sein. Ohne viel Federlesens gestand ich meine Mittäterschaft ein, betonte auch, daß die Kollegen mir den Brief diktiert hätten und bemerkte ferner, daß es mir zwar zuwider gewesen sei, in eigener Angelegenheit die Feder zu führen; im Interesse meines weiteren Fortkommens aber doch schließlich zum Abschreiben bereit gewesen sei. Der Obergendarm suchte mir dann noch die Partei- und Gewerkschaftstätigkeit als nutzlos hinzustellen und vertraute mir auch an, daß ihm von einem der beiden Fabrikanten erklärt worden sei, daß ich einer ihrer besten Arbeiter gewesen wäre. Die Sache schien Eile zu haben; denn es dauerte nun wiederum wenige Tage, bis wir vor den Untersuchungsrichter geladen wurden. In den Worten »eventuelle Boykotterklärung« wurde, wie schon gesagt, ein Erpressungsversuch erblickt. Schüler sagte aus, daß er das Wort gestrichen haben würde, wenn er bei Abfassung des Briefes zugegen gewesen wäre. Infolge seiner Aussage wurde das Verfahren[233] gegen ihn eingestellt und nur gegen mich und Rössel das Hauptverfahren eröffnet. Schüler wurde lediglich als Zeuge vorgesehen.

Inzwischen hatte ich wieder Arbeit erhalten und zwar in der Werkzeugfabrikant Wesselmann Bohrer & Co., Aktiengesellschaft zu Gera. Damals befaßte sich diese Firma nur mit Anfertigung von den in allen Ländern patentierten Doppelspiralbohrern und den dazu gehörigen Spezialfuttern. Durch einen Freund, welcher bei dieser Firma beschäftigt war, bin ich auf sie aufmerksam geworden. In der Holzbranche paßte es mit Arbeit einmal nicht. Ich ging also zur Metallbranche über. Der Werkmeister Beeger, der mich angenommen hatte, war ein sehr freundlicher Mann von etwa 30 Jahren. Er stellte mich an eine Zapfenfräsmaschine, an der ich mich auch ganz leicht einrichtete. Nebenbei mußte ich Butzen abfeilen und zentrieren. Das letztere bedeutet das Anbohren der Stahlstücken, damit diese in den Kernspitzen der Drehbank laufen können, in der sie dann die Formen als Bohrer erhalten.

In der ersten Zeit kam mir das Arbeiten auswärts sehr eigentümlich vor. Bisher war ich stets sogar zum Frühstück und Vesper zu Hause gewesen und jetzt bekam ich den ganzen Tag die Familie kaum zu sehen. Früh 1/2 6 Uhr fuhr der Arbeiterzug nach Gera ab, und Abends 8 Uhr kam ich erst wieder zurück. Früh schliefen die Kinder noch, und Abends, wenn ich nach Hause kam, waren sie so müde, daß ihnen die Augen während des Abendbrotes zufielen. Über dem Essen schliefen sie ein und mußten zu Bett gebracht werden. Mittags aß ich nur Brot und Wurst und trank ein Glas Bier dazu. Abends vor dem Schlafengehen bekommt das Mittagsessen nicht so wie am Mittag. Kurz und gut, die Ordnung im täglichen Leben fehlte von nun an. Im Anfange erhielt ich einen Stundenlohn von 25 Pfennigen, zu Weihnachten bekam ich zwei Pfennige Zulage. Davon ging 1 Mark für Fahrgeld ab, das der Bahnfiskus allwöchentlich für unsere Beförderung einzog. Meine Frau mußte also auch jetzt noch tapfer mitarbeiten. Sie hat oft die ganze Nacht hindurch vor dem Webstück gesessen und ausgenäht. Zwar schnitt es mir ins Herz, daß ich ihr keine frohe und sorgenfreie Existenz bieten konnte; aber was wollte man tun, wenn man[234] leben wollte? Ein Glück, daß mein Weib gesund und kräftig war. Später als ich mich mehrmals in der Lungenheilanstalt befand, gereichte mir das zum besonderen Trost. Ein starker, fester Mensch wachte in meiner guten Frau über meine Kinder. Sie ist oftmals freilich verbittert gewesen, weil ihr fast jede Erholung und Ausspannung versagt blieb. Andere Frauen, die keine Kinder hatten, konnten an jeder Festlichkeit teilnehmen und sie, die so gern auch manchmal sich die Sorgen auf wenige Stunden vom Halse getanzt hätte, mußte zu Hause sitzen und ausnähen, ausnähen, oder Kinderkleider flicken und Strümpfe stopfen.

Gerade an meines Bruders Geburtstag, am 28. November fand dann die Hauptverhandlung in meiner Boykottsache vor dem Landgericht Altenburg statt. Wir hatten den Rechtsanwalt Dr. Höfer aus Altenburg als Verteidiger gewonnen, der den Herrn Gewerbeinspektor Böhnisch, der vom Gericht zugleich als Sachverständiger bestellt war, noch als Entlastungszeugen lud. Auch der Maschinenbauer Schnabel wurde von der Verteidigung geladen, um die stattgehabte Denunziation genau feststellen zu können. Ohne Schererei hatte mir Herr Beeger den Tag freigegeben. Ich machte natürlich eine Notlüge und bezeichnete mich als Zeugen, anstatt als Angeklagten. Mit klopfendem Herzen verabschiedete ich mich an dem frühen Morgen von meiner Frau, die mir eine hohe Strafe voraussagte, hatte sie doch erst wenige Tage vorher in der Zeitung gelesen, daß ein Dresdner Maurer wegen des gleichen Deliktes und unter ähnlichen Umständen zu 6 Monaten Gefängnis verdonnert worden war!

Auf dem Bahnhof traf ich mit meinem Leidensgefährten Rössel zusammen und die Belastungszeugen, darunter einer meiner ehemaligen Chefs, fuhren mit dem gleichen Zuge wie wir. Schüler befand sich bereits an Ort und Stelle; denn der Landtag war gerade zu einer neuen Session zusammengetreten. Wir sprachen nach Ankunft in der Residenz noch einmal auf der Redaktion unseres Parteiblattes vor, das seit einem Monat in »Altenburger Volkszeitung« umgetauft worden war. Die Redakteure schärften uns nochmal ein, streng bei der Wahrheit zu bleiben und versprachen,[235] selbst der Verhandlung beizuwohnen. Nachdem wir noch eine Tasse Kaffee eingenommen, begaben wir uns in Justizgebäude. Dort fand eben noch eine Verhandlung statt, der Rössel und die Übrigen zuhörten. Ich war nicht fähig dazu. Mein Herz klopfte so stark, und ich war so nervös, daß ich immer im Korridor auf. und abgehen mußte. Endlich kam der Fabrikinspektor. Ich grüßte ihn. Er musterte mich und sah mir mein Angstgefühl an. Auf seine Frage, ob ich Rössel sei, berichtigte ich ihn. Dann sagte er weiter: »Sie haben wohl gar Angst?« Ich bejahte und teilte ihm mit, daß dies in meinem Naturell liege. Er beschwichtigte mich und meinte: »Sagen Sie nur alles, was Sie wissen. Die Brüder wollen wir schon kriegen. Angst dürfen Sie auf keinen Fall haben.« Allmählich kehrte dann die Ruhe wieder zurück, und ich sah gefaßt den Dingen entgegen, die da kommen sollten. »In Sachen gegen Rössel und Genossen« rief jetzt der Gerichtsdiener. Wir zwei Angeklagten wurden in die bekannte Bank geschoben. Vor uns ließ sich unser Verteidiger nieder, der uns noch ein letztes Mal einschärfte, zu erklären, daß es gar nicht in unserer Macht gestanden hätte, einen Boykott zu inszenieren. Mein Ex-Chef kam neben den Gewerbeinspektor zu sitzen, lächelte ihn an und wollte anscheinend ein Gespräch anknüpfen. Er kam aber an die falsche Adresse; denn der Beamte kehrte ihm den Rücken zu. Die Anklageschrift wurde verlesen und zunächst wir Angeklagten um unsere Gegenäußerungen befragt. Während Rössel den Hergang der Sache erläuterte, betrachtete ich mir unsere Richter. Sichtlich atmete ich auf, als ich zwei bekannte Gesichter darunter erblickte, nämlich den Stiefsohn unseres ehemaligen Verbandswirtes und den bei meinem Kirschenprozeß erwähnten Ronneburger Amtmann Dr. Schubert. Als Rössel geendet, kam ich zum Worte; viel hatte ich nicht hinzuzufügen. Hauptsächlich schilderte ich das Benehmen des Fabrikanten, nachdem der Inspektor den Betrieb revidiert hatte. Der Sachverständige Gewerberat Böhnisch wurde ganz rot und verfärbte sich, als ich erzählte, daß der Chef den Barofski, meinen Denunzianten, gefragt hatte: »Wo wohnt denn der Affe?« Ferner wie er zu Schnabel gesagt: »Wenn aber nun der Kerl von Inspektor[236] wiederkommt und schikaniert uns?« Freilich wollten die Herren sich nicht mehr erinnern können. Der Chef, der mit seiner ungeheuren Fleischmasse Heiterkeit beim Publikum erregte und dieses zu Rufen wie: »Der frißt keinen Holzstaub« veranlaßte, erklärte sogar, daß er den Inspektor für einen seinen Mann gehalten habe, mit dem sich anständig verkehren ließ. Schnabel wollte sich an gar nichts weiter erinnern, als daß er von dem Säger Kranzritter gehört habe, daß ich der Antragsteller in jener Mitgliederversammlung gewesen sei und davon dem Fabrikanten Mitteilung gegeben habe. »Nun, Herr.....,« fragte ihn der Vorsitzende darauf, »im übrigen ist aber doch wohl Bromme stets ein fleißiger und tüchtiger Arbeiter gewesen.« Der Zeuge entgegnete: »Fleißig war er nie; gegen die Tüchtigkeit will ich nichts sagen, aber er war ein großer Hetzer, der namentlich zur Zeit der Land- und Reichstagswahl nur immer mit Zeitungen zu tun gehabt hat und unter meinen Arbeitern stets und ständig für die Wahlen, für die sozialdemokratische Partei und den Verband agitierte.« Das sagte der Mann vor Gericht, und mir war vom Oberwachtmeister Prager versichert worden, daß ich als fleißiger und tüchtiger Mensch gegolten habe! Nachdem wurde Schüler aufgerufen, der nach seiner Aussage um Entlassung bat, weil er einer wichtigen Kommissionssitzung im Landtage beizuwohnen habe. »Ach, Sie sind der Landtagsabgeordnete Schüler?« äußerte sich der Präsident. Auf die Bejahung frug er Verteidiger und Sachverständigen, ob diese noch eine Frage an den Zeugen richten wollten. Als diese verneinten, wurde Schüler mit einer Verbeugung des Vorsitzenden und »Bitte sehr« entlassen. Hierauf wurde Gewerberat Böhnisch aufgefordert, seine Zeugenaussage und Sachverständigen-Gutachten abzugeben. Er führte etwas Folgendes aus: »Die Klagen dieser Arbeiter waren vollständig berechtigt. Es ist mir eine Freude gewesen, daß sie sich an mich gewendet haben. Ich selbst kann nicht überall sein. Die Arbeiter sollen deshalb zu mir kommen. Das war ihr gutes Recht. Ich habe gerade diesen Betrieb schon unter dem früheren Besitzer im Auge gehabt, aber bei diesem fehlte das Geld und wo das fehlt, muß selbst der Fabrikinspektor schweigen. Aber gerade anläßlich[237] des Firmenwechsels hatte ich es mir zum Prinzip gemacht, eine Änderung in sanitärer Beziehung herbeizuführen, das wäre auch ohne Anregung dieser Arbeiter geschehen. Ich kam bei meiner letzten Revision hinein in den Schuppen, einen wahren Stall; dort steht Maschine an Maschine, und eine ungeheure Staubentwickelung herrscht vor, so daß ganz kurze Zeit genügt, diese Arbeiter an der Schwindsucht erkranken zu lassen. Ich kann nur das Eine sagen, daß die Angeklagten in keiner Beziehung übertrieben haben. Sie sind vollständig in ihrem Rechte gewesen.« Dann kam nun unser Verteidiger mit seinem Plaidoyer an die Reihe. Er zerpflückte namentlich auf Grund der Aussagen des Sachverständigen das Material vollständig und wies nach, daß es gar nicht in unsrer Macht gestanden haben, einen Boykott zu erklären. Er forderte Freisprechung beider Angeklagter und Übernahme der Kosten auf die Staatskasse.

Gespannt blickten aller Augen nun nach dem ersten Staatsanwalt. Er hielt nach seinem Plaidoyer die Merkmale der versuchten Erpressung aufrecht und beantragte gegen beide Angeklagte je 8 Tage Gefängnis und Tragung der Kosten. Der Gerichtshof zog sich zur Beratung zurück. Bange Minuten folgten. Eine halbe Stunde mochte verflossen sein und noch immer kehrten die Richter nicht zurück. Eine unheimliche Stille herrschte im Gerichtssaale. Fragend blickte ich auf die Redakteure, welche sich unter dem Publikum befanden. Dann wandte ich mich zu meinem Mitangeklagten Rössel und flüsterte ihm ins Ohr, daß wir uns wohl auf 3 Tage gefaßt machen können. Eine Viertelstunde später kam indes der Staatsanwalt zu unserem Verteidiger herüber und flüsterte leise: »Ihre Chancen steigen.« Wie unendlich lang die Zeit wurde! Die Uhrzeiger krochen wie Schnecken vorwärts – mir fielen die Worte ein: »Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.« Was würde jetzt mein Weib zu Hause denken?

Endlich nach einer Stunde und 10 Minuten erschienen die Richter wieder: »Im Namen des Herzogs.« Was würde dieser Mund uns jetzt verkünden? »Das Gericht erkennt auf Freisprechung und übernimmt die Gerichtskosten auf die Staatskosten.« Welch jubelndes[238] Gefühl in mir! Der Präsident fährt fort: »Doch konnte sich das Gericht nicht von der völligen Unschuld der Angeklagten überzeugen, deshalb müssen sie ihre eigenen, resp. die äußeren Kosten selbst tragen.« »Sie sind freigesprochen – Sie können gehen,« rief uns der Präsident noch zu. Dann begaben wir uns ins Zeugenzimmer, wo der Chef-Zeuge bereits seinen Überrock anlegte. In dem Augenblicke erschien auch schon unser Zeitungsverleger in der Tür und rief: »Na, kommt, jetzt wollen wir mal zum Affen gehen.« Der Fabrikant verfärbte sich, sagte aber nichts. Wir verabschiedeten uns darauf herzlich vom Fabrikinspektor und unserm Verteidiger. Dann aßen wir zu Mittag und tranken mit einander noch einige Glas Bier. Gegen Abend fuhren wir nach Hause, nachdem ich schon Mittags ein Telegramm an meine Frau aufgegeben hatte: »Beide kostenlos frei.« Der Verband hat uns jeden Pfennig unserer Ausgaben und jede Stunde Arbeitsversäumnis entschädigt, sogar diejenigen während der Voruntersuchung. Nur der, der in ähnlicher Lage gewesen ist, kann sich eine Vorstellung von unserer Freude machen. Der Fabrikant war einen Zug früher als wir zurückgefahren. Er ließ, in seinem Kontor angekommen, meinen Vater rufen, der bereits durch meine Frau unterrichtet gewesen, und teilte ihm den Freispruch mit. Es hatte ihn gedauert, wenn ich verurteilt worden wäre, soll er hinzugefügt haben.

Dann kamen wieder etwas ruhigere Zeiten. Damals kam auch mein Bruder nach langer Wanderschaft als Maurer wieder nach Hause zurück, um als Winterarbeit Pantoffeln zu nageln. Später hat er dann stets während des Sommers in Leipzig als Maurer gearbeitet, bis er sich vor einigen Jahren verheiratet hat. Seine Frau besitzt ein kleines Häuschen mit einem hübschen Obst- und Gemüsegarten als großväterliches Erbe. Er steht sich dadurch nicht schlecht und lebt glücklich, zumal er, im Gegensatz zu mir, keine Kinder besitzt. Mich dagegen beschenkte meine Frau in den letzten Tagen des letzten Jahres im alten Jahrhundert, und zwar gerade am Weihnachtsabend, abermals mit einem Töchterchen, unserm vierten Kinde, das wir Elisabeth tauften. Es waren traurige Weihnachtsfeiertage, und machen mich noch traurig, wenn ich daran[239] denke. Die drei anderen Kinder wollten besorgt sein, und die Frau lag im Wochenbette. Wenn mir meine Schwiegermutter nicht das Nötigste in der Wirtschaftsarbeit gemacht hätte, wäre ich verzweifelt. Ich schätzte mich aber dennoch nicht ganz unglücklich, denn wir konnten uns immer noch aus einem Achtel Zentner Mehl Kartoffelkuchen und Stollen backen und einen »Hafen« als Festbraten auftischen. Das heißt ein Kaninchen aus dem schwiegerväterlichen Bestande. Allerdings, Wochensuppen und ähnliche kräftige Nahrungsmittel hat meine Frau niemals bei ihren vielen Wochenbetten erhalten. Das Kräftigste, was ich ihr bieten konnte, war eine Tasse Kakao; im übrigen begnügte sie sich mit Kaffee und Semmel, und hütete sich streng vor Gebäck und Kuchen, weil diese viel Hefen enthielten und eine ihrer früheren Freundinnen nach dem Genuß von Konditoreiwaren mitten in dem Kindbett gestorben war. Stets krabbelte meine Frau schon am zweiten Tage nach ihrer Niederkunft einmal aus dem Bett, und am dritten, spätestens aber vierten Tage stand sie wieder auf und versorgte ihre Wirtschaft wie zuvor. Nach 8 Tagen nähte sie auch wieder aus. Leider war sie nach ihrem zweiten Kindbett nicht wieder einer Krankenkasse beigetreten, obgleich ich immer darauf gedrängt hatte. Erst neuerdings ist sie wieder Mitglied der Betriebskasse ihrer Fabrik geworden. Welch ein Glück, daß sie inzwischen niemals bettlägerig geworden ist, wie das bei mir desto öfter der Fall war! Denn obgleich sie viel schlechter und kärglicher lebt als ich, ist sie kräftiger und stärker als ich. Ihr Körpergewicht belief sich stets auf 75 Kilo und mehr. Dazu trug ihr sicher die totale Mäßigkeit und Enthaltsamkeit von jedem Alkoholgenuß bei; denn sogar leichtes einfaches Bier verschmäht sie. Bei den jüngsten Kindern hat sie leider stets eine schlechte Nachtruhe gehabt. Am Tage schliefen sie und in der Nacht schrieen sie stundenlang, wodurch natürlich die Mutter unwillig wird, aufgeregt und nervös, und sich dann leicht zu schlimmen Redensarten, zu Flüchen und Verwünschungen gegen die Kinder hinreißen läßt. Leider konnte sie die Kinder stets nur 6 bis 8 Wochen stillen; dann war ihre Milch zu Ende. Wie oft klagte sie mir dann ihr Leid, das ihr durch den reichen Kindersegen[240] verursacht worden sei. Mir schnitt es jedesmal tief ins Herz, wenn sie im Blatt las, daß der und jener kinderarmen Familie wieder ein kleines Kind gestorben sei, und dann ausrief: »Nee, haben diese Leute Glück, haben es die schön, jetzt ist denen das Kind schon wieder gestorben, das wäre nun das sechste, wenn sie bei denen noch alle lebten; die können alles mitmachen und unsereins ist geplagt, muß alles an die Kinder wenden und kann sich gar nichts bieten. Nicht rechtschaffen einen lumpigen Rock kann man sich auf den Leib schaffen, die Kinder reißen zuviel nieder, vorige Woche erst habe ich zwei Mark beim Schuster bezahlt, diese Woche werden der Heddel ihre Schuhe besohlt, dem Ernst seine sind auch wieder runter, die müssen gemacht werden und der Walter hat überhaupt keine anzuziehen. Dann brauchen sie alle Filzschuhe und ein Bett müssen wir so notwendig haben, lieber will ich nichts mehr essen, aber das Schlafen zu drein ist kein Schlaf.« Dazwischen Verwünschungen, harte Redensarten gegen die Kinder, Flüche und am Schlusse Tränen. Sie ist unter den Bauern aufgewachsen, unerzogen, hat mit ihrer Schwester zu Hause nur harte Worte und schmale Kost, meist Kartoffeln, Brot und Zichorienbrühe geteilt. Eine Anschauung von einem höheren geistigen Leben war ihr fremd. Sie hielt alle meine Bücher für unnütze Verschwendung. Ich vergab ihr, denn sie ist doch herzensgut und ertrug viel Leid. Ich verglich sie mit einer mater dolorosa, wenn sie auf dem Kohlenkasten saß und über unsere traurige Lage bitterlich klagte. So ging das fort, jahr ein – jahraus. Und doch – noch mehr Kinder kamen. Ich verdiente zwar auch etwas mehr in der Fabrik, verschaffte mir auch Nebeneinnahmen, so eine Feuerversicherungsagentur, die aber herzlich wenig abwarf. Dann korrespondierte ich für die »Chemnitzer Volksstimme«, denn die »Altenburger Volkszeitung« konnte als Kopfblatt der »Leipziger« nicht alles gebrauchen. Auch für die »Berliner Volkszeitung« lieferte ich öfters Beiträge. Durch diese Arbeiten, zu denen später noch eine Vertretung einer Thuner Firma in Manufakturwaren kam, verdiente ich wenigstens nebenbei die Miete sowie mein Taschengeld und konnte zur Befriedigung meines Geistes dann und wann auch noch ein[241] Buch, eine Zeitschrift oder sonst etwas kaufen. Auch novellistisch habe ich mich versucht, aber meist noch ohne großen Erfolg; jedoch gleich die erste Erzählung war geglückt, vom »Wahren Jakob« akzeptiert und mit 15 Mark honoriert worden. Meine Frau hatte darüber räsonniert, daß ich die halbe Nacht saß und schrieb. Als ich aber die drei blauen Fünfmarkscheine brachte, lachte auch sie. Sie war damals gerade zum ersten Male aus einem Wochenbett heraus geklettert und freute sich, daß ich ihr von dem Gelde Kakao und eine Taube verschaffen konnte. Auch der »Postillon«, der »Vorwärts« und die »Neue Welt« haben schon Beiträge von mir veröffentlicht. Diese meine Geisteskinder lassen ja alle mehr oder weniger viel zu wünschen übrig. Jedoch sie haben mir wenigstens einige Mark Nebeneinnahme gebracht. Wenn ich dann, wie es oft später der Fall war, krank zu Hause lag, wurde freilich eine Haupteinnahme aus diesen Sachen. Weitere Einkünfte gab es dann, außer den wenigen Groschen Krankengeld, nicht und Schmalhans wurde Küchenmeister zu Hause. Man geriet dadurch immer mehr in die Schulden hinein.

Im Juli 1901 schenkte meine Frau wiederum einem zweiten Sohne, unserem fünften Kinde, das Leben. Meine Frau wollte ihn Walter genannt haben, natürlich erfüllte ich den Wunsch. Auch er wurde von der Hebamme allein zur Kirche getragen. Ein Kindtaufsfest wurde auch ihm nicht ausgerichtet, dazu fehlten natürlich die Moneten. Ich ließ meinen Kousin, den Ingenieur Oswald Böttger, meinen alten Jugendfreund, den Lehrer Ernst Dietzmann in Meuselwitz und einen liebgewonnenen Kollegen Richard Grau als Paten für ihn eintragen. Sie erlaubten mir das und die Geschichte war erledigt. Aber es war nun abermals ein Esser mehr in der Familie und es hieß sich noch mehr einschränken. Selbstverständlich wurde auch ich dadurch nicht fetter. Shakespeare sagt an irgend eine Stelle seiner Werke: »Die Magerkeit des Plebejers ist der Gradmesser, an dem der Patrizier sein Kapital mißt.« Unsere Arbeitgeber müssen demzufolge riesige Besitztümer einheimsen, während auf unserer Seite eine Unsumme von Not, Elend, Kummer und Sorge immer von neuem erzeugt wird.[242]

Quelle:
Bromme, Moritz Th. W.: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. Frankfurt a. M. 1971, S. 219-243.
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