die erwachsenen Söhne und Töchter

[81] sich auch zu ihrer Freude und Befriedigung weiter entwickeln werden.

Der Knabe tritt schon früh aus dem engen Kreis des Hauses hinaus. Die kleine Vaterstadt bietet ihm vielleicht nicht die für ihn nötige Bildungsanstalt, etwa das Gymnasium; da müssen die Eltern ihn einer fremden Familie oder einem Pensionate anvertrauen. Wie sorgfältig man bei der Wahl einer oder eines solchen zu Werke gehen muß, weiß wohl ein jeder; wenn irgend möglich, sollte der Vater oder die Mutter selbst das fragliche Haus kennen lernen, um sich zu überzeugen, daß der Geist wahrer Bildung, edler[81] Sitte darin herrscht und daß auch der körperlichen Pflege genügend Rechnung getragen wird. Kräftige und reichliche Nahrung ist in diesen Jahren des Wachstums notwendig für den Knaben, und ein Mangel nach dieser Richtung rächt sich oft schwer durch das ganze Leben hindurch.

Lange aber kann die elterliche Fürsorge den Sohn nicht begleiten. Es kommt die Lehrzeit – ob für einen industriellen, gelehrten oder künstlerischen Beruf, – es kommt die militärische Dienstzeit, der junge Mann muß »hinaus ins feindliche Leben«, muß lernen auf eigenen Füßen stehen. Da zeigt es sich denn, ob im Vaterhause ein guter Grund gelegt worden und ob diese Grundlage stark genug ist, dem Bau des Charakters, der sich nun entwickelt, die Richtung zu geben, trotz der mannigfachen feindlichen Einflüsse, die sich da geltend machen. Mit welch' gespannter Erwartung sehen da die Eltern dem ersten Besuch des Sohnes von der Universität, der Handelsschule oder dem auswärts verbrachten Freiwilligenjahr entgegen! Wie studieren sie sein Aussehen, sein Wesen, seine Manieren! Kommt er ihnen rein, unverdorben zurück? Klingt in seinen Reden nicht der burschikose Studententon oder gar die allzu freie Ausdrucksweise des Soldaten durch? Zeigt er den Eltern noch dieselbe ehrerbietige Unterordnung, den Geschwistern die herzliche Zuvorkommenheit wie früher?

Wohl ihnen, den sorgenden Angehörigen, wenn ihre Beobachtungen ein befriedigendes Resultat ergeben, denn gerade in dieser Zeit ist das Benehmen des jungen Mannes zu Hause maßgebend für seinen Charakter. Bei seinen Kameraden mag er sich beliebt zu machen wissen; in Gesellschaft ist er höflich und galant; daheim aber spielt er sich vielleicht als, »Weltmann« auf, die häuslichen Einrichtungen verspottend, eine Atmosphäre von Tabak und Bier um sich verbreitend, die elterliche Autorität mißachtend und[82] rücksichtslos das Behagen der Seinen den höchsteigenen Ansprüchen opfernd. Ein solches Benehmen, selbst wenn es mehr aus Uebermut als aus Böswilligkeit hervorgeht, sollte nie geduldet werden; will man es sehr milde auch nur als Mangel an Lebensart bezeichnen, so ist diese doch gerade von dem jungen Manne zu verlangen, im Hause nicht minder als in der Gesellschaft.

Selten aber wird der unehrerbietige Sohn, der rücksichtslose Bruder in der Gesellschaft den wirklich seinen Kavalier zu spielen verstehen. Unter den Genossen wird der rohe Stoff gar leicht die dünne Politur durchbrechen, den Damen gegenüber wird seine Galanterie leicht zu weit gehen. Wer das weibliche Geschlecht in seiner Mutter, seiner Schwester nicht achtet, der wird ihm in der Fremden auch nur in sehr fraglicher Weise huldigen. Seine Bewunderung wirkt verletzend, seine Aufmerksamkeiten werden zudringlich; während einem wahrhaft gebildeten Mann das leiseste Zeichen von seiten einer Dame genügt, um ihm zu zeigen, daß seine Annährung nicht erwünscht ist, bildet jener in seiner Arroganz sich ein, jedes weibliche Wesen müsse vor seiner Liebenswürdigkeit die Waffen strecken. Dazu kommen gewisse Manieren: das flüsternde Sprechen, das tiefe Herabbücken oder nahe Hinrücken zu den Damen, das feste Ansichdrücken derselben beim Tanzen, – alle diese Dinge kennzeichnen den ungebildeten, unfeinen jungen Mann, zeigen, daß er mit den Sitten der guten Gesellschaft nicht vertraut ist.

Mehr noch wird der Mangel an Bildung – sei es auch nur an gesellschaftlicher Bildung – sich älteren Damen gegenüber bekunden. Es ist bedauerlich, es aussprechen zu müssen, allein die Wahrheit verlangt es, daß nämlich unsere jungen Leute in dieser Hinsicht gar viel zu wünschen übrig lassen. Die Höflichkeit der alten, guten Schule ist ausgestorben.[83] »Jeder für sich!« »Kampf ums Dasein!« das sind die Schlagwörter unserer Zeit. Ungerührt wird der oben geschilderte junge Mann – und er hat leider gar viele Genossen! – eine ältere Dame in einem Konzert, einem Tramwagen stehen sehen, während er einen bequemen Platz innehat, rücksichtslos sein Faust- oder Ellenbogenrecht geltend machen, um zu dem Eisenbahnschalter zu gelangen. Erschrocken weichen die Damen, obwohl sie früher dort waren, zurück; da erbietet sich jemand, ihnen das gewünschte Billet zu lösen, er thut es in mangelhaftem Deutsch – es ist ein Engländer.

Ich bitte um Verzeihung, wenn ich meine lieben Landsleute durch diese Darstellung beleidige; aber es ist ein nicht zu bestreitendes Faktum, daß der Deutsche, und zumal der junge Deutsche, in dieser Hinsicht von dem Engländer, dem Amerikaner und Franzosen viel lernen könnte. Wüßten unsere jungen Leute, wie gut ihnen eine solche Dienstfertigkeit steht, wie wohlthuend sie berührt, und zwar nicht nur die, welchen sie erzeigt wird, sondern alle, welche Zeuge derselben sind, sie würden die etwa damit verbundene Unbequemlichkeit leichter auf sich nehmen.

Daß der junge Mann sich in Gesellschaft, zumal in Gegenwart von älteren Personen, stets bescheiden zu benehmen hat, daß er in der Unterhaltung nicht das große Wort führen, nicht oder doch nur in sehr zurückhaltender Weise widersprechen darf, daß er in Haltung und Mienen sich achtungs- und rücksichtsvoll zu zeigen hat – das sollte eigentlich keiner Erwähnung bedürfen. Leider aber ist die bekannte Persiflage von der Bescheidenheit als schönstem Schmuck der Jugend:


»Bescheidenheit ist eine Zier,

Doch weiter kommt man ohne ›ihr‹,«
[84]

nicht nur ein Scherz, sondern wird nur zu häufig im Leben angewandt. Möglich, daß man äußerlich, »ohne ihr« weiter kommt, daß man leichter den besten Bissen beim Diner, den besten Platz in einer Versammlung erlangt, ja daß der junge Mann auch bei gewissen Damen mit einer Portion Kühnheit – um kein stärkeres Wort zu gebrauchen – besser reüssiert als mit einem seinen, bescheidenen Wesen; allein in der guten Gesellschaft wird er kein Glück damit machen, dort weiß man, daß wahre Bildung und wirklicher Wert nie mit Anmaßung und Impertinenz, sondern stets mit edler Bescheidenheit Hand in Hand gehen.

Diese Tugend, die Bescheidenheit, ist natürlich dem jungen Mädchen, der erwachsenen Tochter, ebenso notwendig wie dem jungen Mann, und das darüber Gesagte gilt meist für sie mit. Nichts berührt unangenehmer als eine anspruchsvolle junge Dame, die mit lautem Wesen und herausfordernden Blicken einen Salon betritt, sich mit der Assúrance einer erprobten Weltdame in einen Sessel wirst und mit einer gnädigen Bewegung ihres Fächers einen ihrer Trabanten herbeiwinkt. Mag sie dann noch so schön, so geistreich und talentvoll sein, sie wird nicht gefallen; man nennt sie »unweiblich«, und das ist der schlimmste Vorwurf, den man einer Dame machen kann.

Indessen liegt die Gefahr für das junge Mädchen nicht so nahe, wie für den jungen Mann. Sie bleibt länger in der schützenden Umfriedung des Hauses, unter dem erziehlichen Einfluß der Eltern, zumal der leitenden Hand der Mutter. Auf diese letztere fällt deshalb am schwersten die Verantwortung für die Entwickelung der Tochter, und sehr wohl hat sie zu überlegen, was dieser Entwickelung förderlich, was ihr schädlich sein kann.

Die erste Frage, welche nach der Konfirmation der Tochter an die Eltern herantritt, ist die: soll sie nun daheimbleiben,[85] oder für einige Zeit einem Pensionate übergeben werden? Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich von den Verhältnissen ab. Man hat zu überlegen: bietet das Haus dem jungen Mädchen in diesem Alter, wo sie für alle Eindrücke doppelt empfänglich ist, wo sie mit oft überraschender Schärfe alles sieht und versteht, wo ihr Charakter sich entwickelt, bietet das Haus ihr da einen passenden Aufenthalt? ... Zuweilen bringt es das Geschäft des Mannes mit sich, daß junge Leute im Hause wohnen, an den Mahlzeiten teilnehmen, deren täglicher Verkehr mit der Tochter den Eltern nicht erwünscht ist; oder die Stellung des Mannes erheischt eine sehr lebhafte Geselligkeit, späte Stunden, kurz einen Zuschnitt des äußeren Lebens, der für das zarte, eben erblühende Mädchen physisch wie psychisch nicht zuträglich erscheint. Da ist denn ein Aufenthalt in einem guten Pensionate oder einer fremden Familie, in welcher für ihre Gesundheit wie für ihre Geistes- und Herzensbildung treulich Sorge getragen wird, ohne Zweifel sehr ratsam.

Auch noch aus anderen Gründen ist ein solcher Aufenthalt wünschenswert. Das Mädchen ist zwar nicht wie der Mann bestimmt, den Kampf mit der Welt aufzunehmen, aber ob auch in engerem Kreise sich bewegend, wird dieser Kampf ihr doch selten erspart bleiben, und auf alle Fälle ist es notwendig, daß sie diese Welt einigermaßen kennen lerne. Ein fremdes Haus, neue Menschen, neue Verhältnisse erweitern ihren Gesichtskreis, ihre Erfahrungen, und, was sehr wichtig ist, sie lernt auch in der fremden Umgebung sich selbst besser kennen. Daheim, getragen, verwöhnt von der Liebe der Ihrigen, hat sie sich gehen lassen, man war an ihre Fehler gewöhnt, beurteilte sie mit Nachsicht; in der Fremde dagegen – und zumal unter gleichalterigen Gefährtinnen – wird jede Verkehrtheit, jede[86] schlechte Gewohnheit mit wunderbar scharfem Auge erspäht, und mehr als die Ermahnung der Eltern und Lehrer hilft das spöttische Lachen oder das Beispiel der Genossinnen zur Besserung.

Daß bei der Wahl des Instituts oder der Familie die größte Sorgfalt walte, daß man nicht in höchst verkehrter, und gottlob! veralteter Weise ein oberflächliches französisches Pensionat wähle, in dem die jungen Mädchen selten mehr als ein wenig parlieren, musizieren und vielleicht auch kokettieren lernen – das versteht sich von selbst. Natürlich gibt es auch gute französische Pensionate, besonders in der französischen Schweiz; im ganzen aber würden wir einer guten deutschen Anstalt – in der ja gewöhnlich auch eine Engländerin und eine Französin als Lehrerinnen fungieren – den Vorzug geben. Schickt man die Tochter nur auf ein Jahr fort, so sollte man dies nicht gleich nach absolvierter Schulzeit thun, sondern erst ein Jahr später; das junge Mädchen hat dann Zeit, sich erst von der Arbeit der Schule, die in den Oberklassen ziemlich anstrengend ist, zu erholen, Zeit, sich im Hause wieder einzuleben, die häuslichen Beschäftigungen kennen zu lernen, und der Aufenthalt in der Fremde wird ihr mit sechzehn oder siebzehn Jahren mehr nützen, als mit fünfzehn Jahren.

Mehr und mehr breitet sich jetzt die Sitte aus, die Töchter nach zurückgelegter Schulzeit das Lehrerinnenexamen machen zu lassen, auch dann, wenn sie nicht beabsichtigen, sich dem Lehrberuf zu widmen. Gewiß hat dieser Gebrauch große Vorteile. Das zweijährige Studium im Seminar – leider nur zweijährig auf Kosten der Gesundheit der Aspirantinnen, die in der kurzen Zeit so viel lernen müssen! – vertieft und erweitert die Kenntnisse des jungen Mädchens, von denen die Schule ja nur die Basis geben kann, und die dadurch erlangte größere Klarheit, die Uebung[87] des Verstandes in dem Alter, wo dieser erst wirklich beginnt, selbständig zu werden, die gebotene Nahrung richtig zu verarbeiten, in dem Alter, wo Gefühl und Phantasie sonst eine nur zu große Rolle spielen, – alles das verleiht dem Mädchen einen Halt, eine Festigkeit, die ihr für das ganze Leben von Nutzen ist. Zugleich werden ihre Gedanken und Bestrebungen dadurch auf Dinge gelenkt, die in diesen Jahren sonst in den Hintergrund zu treten pflegen und welche doch weit höher stehen, weit bildender wirken, als die oberflächlichen Interessen, die Vergnügungs- und Toilettenfragen, welche nur zu leicht die jungen Köpfchen und Herzen ausschließlich beschäftigen.

Ueberhaupt kommt man in unserer Zeit, wo die Ansprüche an das Leben immer größer, die Ehen nachgewiesenermaßen immer seltener werden, mehr und mehr dahin, auch dem Mädchen nach der Schulzeit eine Lehrzeit zu gewähren für irgend einen Beruf, der ihr die Möglichkeit biete, im Notfall sich selbst erhalten zu können. In der That, eine solche Mitgabe für das Leben ist wertvoller als die paar tausend Mark, welche der Vater etwa der Tochter hinterlassen kann und die, selbst wenn kein Unglücksfall sie verschlingt, ihr weder einen genügenden Unterhalt noch wirkliche Befriedigung gewähren können – jene Befriedigung, die nur aus einem treulich erfüllten Berufe fließt. An Anstalten zur Vorbereitung für einen solchen Beruf fehlt es jetzt nicht mehr. In allen größeren Orten finden sich jetzt Fach-, Fortbildungs- und Kunstschulen für junge Mädchen, kaufmännische Institute, Kindergärtnerinnen-Seminare, Kochschulen und dergleichen Anstalten mehr, welche unter billigen Bedingungen den Eltern Gelegenheit bieten, ihre Töchter in der angedeuteten Weise ausbilden zu lassen. Ihnen selbst muß es ja die größte Beruhigung gewähren, zu wissen, daß diese, auch wenn ihnen die gehoffte Versorgung[88] durch die Ehe nicht zu teil wird, dereinst doch nicht halt- und hilflos im Leben stehen werden.

Die »gehoffte Versorgung durch die Ehe« – es ist begreiflich, daß sie die gehoffte, die am meisten gewünschte ist; denn die Ehe ist und bleibt stets wie der natürliche, so auch der beglückendste Beruf für das Mädchen; ihren schönsten Wirkungskreis wird sie immer im Hause, in der Familie finden. Falsch aber ist es, zu glauben, daß die Naturanlage der Frau, gewissermaßen der Instinkt für die Erfüllung der mit jenem Berufe verbundenen Pflichten genüge. Nein, auch dazu bedarf es einer Vorbereitung.

Das Jahr nach absolvierter Schulzeit, also vor der Erlernung eines Erwerbsberufes, eignet sich unserer Ansicht nach am besten dazu, mit dieser Vorbereitung zu beginnen. Die Tochter sollte dann durch die Mutter – die Kochschule würden wir erst später anraten – in das Hauswesen eingeführt werden und alle dazu gehörenden Arbeiten systematisch und gründlich erlernen. Es genügt durchaus nicht, daß sie gelegentlich einen Kuchen backen hilft, eine Crême verziert oder abends im zierlichen Schürzchen den Thee serviert; nein, von der Pike auf muß sie dienen, jede Arbeit verrichten lernen, um sie, wenn nötig, zeigen und jedenfalls beurteilen zu können. Dabei sollte man ihr einzelne Obliegenheiten allein übertragen, z.B. die Pflege der Blumen, die Sorge für den Wäscheschrank oder irgend eine Arbeit, von der kein Spaziergang, kein, »Kränzchen« sie dispensiert; sie lernt dann früh den heilsamen Zwang der Pflicht, sowie den Segen selbständigen Schaffens kennen und gewöhnt sich an regelmäßige Arbeit und Gewissenhaftigkeit.

Ein Jahr in dieser Weise gut angewendet wird das junge Mädchen zwar nicht zur perfekten Haushälterin machen, aber ihr doch genügendes Verständnis für die häuslichen[89] Arbeiten geben, um später darauf weiter bauen zu können. Diese Kenntnis derselben aber sollte jedes Mädchen sich aneignen; mögen die Eltern noch so reich sein, mag sie selbst sich noch so früh einem Berufe widmen, mag sie Lehrerin, Künstlerin oder was sonst werden, mag sie sich verheiraten oder nicht, sie kommt sicher gelegentlich in die Lage, im Hause mithelfen, mitleiten zu müssen. Dann wird ihr und anderen das früh Gelernte und Geübte den größten Nutzen gewähren, während es höchst peinlich ist, wenn sie solchen Anforderungen gegenüber gänzlich unwissend und unerfahren dasteht und das Versäumte auf eigene und fremde Kosten erst erlernen muß.

Aber freilich, wenn die Tochter in der angegebenen Weise im Hause beschäftigt wird, dann bleibt ihr nicht viel Zeit übrig für alle jene zierlichen Handarbeiten, welche unsere jungen Mädchen jetzt mit so viel Vorliebe betreiben. Diese Stickereien, dieses point-lace, diese komplizierten Kombinationen von stilisierten Menschen-, Tier- und Pflanzenformen, in allen Farben und allen Arten von Stichen ausgeführt, diese Nachahmung der unendlich mühsamen Nadelarbeiten des Mittelalters, welche die Frauen in den Klöstern damals in langen Jahren ihres einförmigen Lebens anfertigten, sie sind zum Teil sehr hübsch, sehr bewundernswert, aber für unsere vielseitige, schnelllebige Zeit erscheinen sie uns nicht geeignet. Haben die Maschinen uns deshalb so viel von unseren Handarbeiten abgenommen, damit wir die glücklich gesparten Stunden, das kostbare Augenlicht nun wieder anderen, noch mühevolleren Arbeiten widmen, die überdies nur dem Luxus dienen? Diese zahllosen Decken und Deckchen mögen ja unsere Zimmer schmücken helfen, ihre Anfertigung mag auch recht unterhaltend sein, aber die Zeit und Mühe, welche man auf sie verwendet, sind sie nicht wert. Notwendige Handarbeiten sind diejenigen,[90] welche die Anfertigung und Erhaltung der Garderobe und Wäsche zum Zweck haben. Diese zu erlernen sollte kein Mädchen versäumen; jene bunten Sächelchen aber sollte man nicht unter die, »Arbeiten« rechnen, sondern unter die Erheiterungen, und sie demgemäß nicht während der Arbeitszeit, sondern nur in den Mußestunden vornehmen.

Doch nicht nur die Mußestunden, auch die Mußeaugenblicke soll ein junges Mädchen benutzen; nie sollte sie müßig sein. Die Mutter hat ihr das Beispiel darin zu geben. Ihr Auge muß lernen, rasch zu erkennen, wo es im Hause etwas zu thun gibt, ihre Hand, rasch und geschickt zuzugreifen. Für die freien Momente, die sich stets zwischen den häuslichen Beschäftigungen finden, halte sie immer eine Handarbeit bereit, freilich keine sehr schwierige oder zarte, sondern eine einfache und waschbare Stickerei oder Häkelei; auch während des Besuches einer Bekannten braucht sie dieselbe nicht fortzulegen. Unbeschäftigt sein verleitet zum Träumen, und das Träumen ist zwar süß, aber gefährlich!

So stellt unsere Epoche auch an das junge Mädchen höhere Ansprüche als die frühere, und sie muß diesen Ansprüchen genügen, wenn sie nicht hinter der Zeit zurückbleiben will. Aber bei aller Arbeit – ob für den Kopf, ob für die Hand – läßt sie ihr immer noch Zeit für die Freuden der Jugend, und wahrlich, diese möchten wir ihr nicht rauben! Wer wollte dem Frühling seine Blumen und seinen Vogelsang nehmen? Sie vertragen sich sehr gut mit dem Pflügen, Säen und Pflanzen. So gönnen wir auch unserer Jugend von Herzen alle die Genüsse, welche ihrem Alter angemessen sind; mögen sie spielen und tanzen, mögen sie ihren Frühling genießen – nur vergessen sie darüber nicht die Frühlingsarbeit und genießen die Lust mit Maß.

Dieses Maßhalten ist es, was in unserer schnelllebigen[91] Zeit so oft versäumt wird. Nicht vor dem achtzehnten Jahre sollte das junge Mädchen in die Gesellschaft eingeführt werden, und nie sollte man ihr gestatten, die Freuden derselben so übermäßig zu genießen, daß ihre Gesundheit darunter leidet. Was ist denn die Ursache der Nervosität, der Bleichsucht und Schwächlichkeit so vieler unserer jungen Damen an ders als dieses übermäßige Tanzen, dieses allzu häufige Nachtschwärmen? Drei, vier Bälle in einer Woche, dazwischen eine Gesellschaft, une petite sauterie, keinen Abend vor Mitternacht ins Bett, da ist es kein Wunder, daß unsere Kurorte den Sommer über von blassen, leidenden jungen Mädchen überfüllt sind. Sie suchen in Stahl und Eisen Hilfe gegen die in der letzten Saison angerichteten Verwüstungen ihrer Gesundheit und Kraft für die Anstrengungen der nächsten. Nein, keine Mutter, die ihre Tochter wirklich liebt, wird solche Unmäßigkeit im Genusse der Jugendfreuden dulden; und wenn auch das liebe Kind hin und wieder über das unwillkommene Veto zürnt, einst wird es der treuen Hüterin Dank dafür wissen!

Von dem Benehmen des jungen Mädchens in der Gesellschaft ist in dem die Geselligkeit behandelnden Abschnitt noch die Rede; wir verlassen sie also hier und wenden uns zu einem anderen Gliede des weiblichen Geschlechts, das, ob sich einer Familie anschließend, ob einem eigenen Hausstand vorstehend, doch einer besonderen Kategorie angehört; wir meinen


Quelle:
Calm, Marie: Die Sitten der guten Gesellschaft. Stuttgart 1886, S. 81-92.
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