Die Krankheit,

[178] diese bleiche, hohläugige Gestalt, ist ein nur zu häufiger Gast im Hause; keine Familie bleibt von ihm verschont. Wie nun der Mensch dasjenige am tiefsten mit empfindet, was er selbst schon erlebt, so sind die meisten gern bereit, ihre Teilnahme einem leidenden Freunde zu widmen, und wissen auch aus eigener Erfahrung, wie wohl diese Teilnahme thut. Deshalb werden sie in leichteren Fällen den Kranken besuchen, in schweren täglich nach seinem Hause schicken, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Selbst wenn wir auf anderem Wege Nachricht darüber erhalten haben, sollten wir dieses letztere nicht unterlassen, da die Angehörigen des Patienten diese Aufmerksamkeit gern entgegen nehmen. Natürlich hüten wir uns wohl, in den Fehler zu verfallen, den eine bekannte Anekdote erzählt: daß nämlich der Diener, welcher sich nach einem Kranken zu erkundigen kam, die Erwiderung mit den Worten abschnitt: »Eine Antwort ist nicht nötig, die gnädige Frau fragt doch nie danach.«

Ist die Krankheit eine ansteckende, so wird die Familie des Patienten nicht erwarten, daß man jemand in das Haus schickt, sondern Sorge tragen, daß man bei einem Verwandten, einem Freunde sich erkundigen kann. In diesem Falle haben besonders die Angehörigen des Kranken selbst, die mit ihm in Berührung kommen, die größte Rücksicht zu nehmen, kein fremdes Haus zu betreten, ohne Not mit niemand zu verkehren. Es wird ihnen nie übel gedeutet[178] werden, wenn sie in dieser Beziehung eher zu viel als zu wenig thun.

Bei nicht ansteckenden Krankheiten werden die Freunde öfter sich selbst nach dem Befinden des Patienten erkundigen, aber besser bei jemand aus seiner Umgebung, als bei ihm selbst. Letzteres ist nur in ganz leichten, oder in lang andauernden Krankheitsfällen ratsam; im allgemeinen liebt weder der Arzt noch der Kranke selbst solche Besuche. Erst wenn der letztere sich auf der Besserung befindet, sucht man die Einförmigkeit seines Krankenzimmers auf diese Weise zu erheitern, bringt ihm, resp. ihr, auch wohl Blumen mit, oder sendet irgend eine Erfrischung, die ihm erlaubt und angenehm sein mag. Natürlich dürfen solche Besuche aber nicht lange dauern; man darf den Konvalescenten nicht zu vielem Reden veranlassen, ihn nicht durch unsere Mitteilungen aufregen. Manche Menschen glauben, der lieben Freundin, die so lange von der Welt fern war, ein Vergnügen zu machen, indem sie ihr die neuesten Skandalgeschichten erzählen; andere schlagen einen larmoyanten Ton an und bedauern sie, wie entsetzlich bleich und mager sie aussieht. Alles das ist nicht richtig: ein ruhiges, heiteres Wesen wird am besten den Zweck erfüllen, den Genesenden durch unseren Besuch zu erfreuen.

Bei dieser Gelegenheit möchten wir noch erwähnen, wie falsch es ist, auch bei solchen Kranken, die dauernd an das Zimmer, wohl gar an das Sofa gefesselt sind, ihnen das Mitleid, welches sie uns einflößen, gar zu sehr zu zeigen. Mitleid hat immer für den, der es empfängt, etwas Demütigendes, Bedrückendes, und die steten Fragen nach seinem Ergehen, die Klagen: es sei doch gar zu traurig, daß er so viel leiden müsse, machen ihm sein Unglück nur doppelt fühlbar. Statt dessen sollen wir suchen, es ihn möglichst vergessen zu lassen. Freilich werden wir nicht[179] versäumen, uns nach seinem Befinden, seinem Schlaf, seinem Appetit zu erkundigen, – solche Details zeigen mehr Teilnahme, als die allgemeinen Fragen; allein wir werden nicht allzulange dabei verweilen, sondern nach einigen ermutigenden Worten zu anderen Dingen übergehen: zu Mitteilungen von dem, was draußen vorgeht, von Ereignissen, die er nicht mehr selbst mit erleben kann, an denen er aber noch teilnimmt. So stellen wir die Verbindung zwischen seinem einsamen Leben und der Welt draußen her, ziehen seine Gedanken von seinem eigenen traurigen Lose ab, zerstreuen, erheitern ihn. Ein solcher Besuch ist ein Sonnenstrahl in einem Krankenzimmer, während die Leichenbittermiene den Leidenden nur noch trüber stimmt.

Doch es kommt der Tag, wo der Kranke für keinen Besuch, weder frohen noch traurigen, mehr zugänglich ist; der Tod hält seinen Einzug bei ihm und macht allem Leiden, allem Hoffen und Fürchten ein Ende.


Quelle:
Calm, Marie: Die Sitten der guten Gesellschaft. Stuttgart 1886, S. 178-180.
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