Die konventionelle Lüge.

[265] Wir sagten im Beginn dieses Buches, daß eine Form, die nicht aus einem ethischen, ästhetischen oder Nützlichkeitsprincipe hervorgehe, leer und deshalb überflüssig sei. Es gibt aber Formen, die nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich sind, verderblich wirken: das sind die Unwahrheiten, welche wir uns im geselligen Verkehr erlauben und die man übereingekommen ist, für erlaubt zu halten. Sehen wir doch, inwieweit dies zulässig ist.

Nun, antwortet man, soweit eben die Höflichkeit es verlangt. Einer häßlichen Dame zu sagen, man finde sie häßlich, einen langatmigen Professor, der uns mit einer weitläufigen Auseinandersetzung quält, zu unterbrechen, indem wir ihm versichern, die Sache sei uns höchst gleichgültig, oder beim Empfang eines schlecht gewählten Geschenkes unser Bedauern auszusprechen, daß wir den Gegenstand gar nicht brauchen können – solche und ähnliche Wahrheiten verbietet die Höflichkeit allerdings. Vor allem sind wir nicht nur nicht verpflichtet, sondern nicht berechtigt, jemanden unaufgefordert eine unangenehme Wahrheit zu sagen. Wer mit sauersüßer Miene zu mir kommt und unter der Versicherung »nun einmal eine so gerade Natur zu sein« oder mir »einen Freundschaftsdienst leisten zu wollen«, mich darauf aufmerksam macht, daß ich doch eine[265] gar zu gute Meinung von mir selbst zu haben scheine, oder daß er sich über den Aufwand wundere, den ich in meiner Wohnung, in meiner Toilette treibe – den würde ich, und vielleicht nicht »freundlichst«, ersuchen, sich nicht in Angelegenheiten zu mischen, die ihn nichts angehen. Diese unberufenen Wahrheitsverkünder sollten doch bedenken, daß, was ihnen als Wahrheit erscheint, es durchaus nicht immer ist, und daß eine entsetzliche Anmaßung und Ueberhebung darin liegt, andern unaufgefordert unsere Meinung als eine positive, unwiderlegliche Wahrheit aufnötigen zu wollen!

Nein, nur auf den Wunsch eines andern oder eigentlich nur eines Freundes sollen wir diesen auf etwaige Fehler aufmerksam machen, und auch dann in der schonendsten, liebevollsten Weise, stets eingedenk, daß wir auch nicht unfehlbar sind. Aber, wenn wir durchaus nicht immer zu sagen brauchen, was wir denken, so sollen wir nichts sagen, was wir nicht denken. Das bezeichnet die Grenzlinie, über welche die Höflichkeitsformen womöglich nicht hinausgehen sollen, – eine Grenzlinie, die freilich gar nicht leicht einzuhalten ist.

Wir sahen kürzlich ein Lustspiel, das den Titel: »Die Wahrheit« führt. Ein junger Mann wettet mit seinem Freunde, einem Maler, daß der letztere nicht drei Tage lang stets die Wahrheit sprechen könne, ohne ein Duell zu bekommen, oder für verrückt gehalten zu werden. Der Maler besucht nun seinen Onkel, der ihn erzogen und zu seinem Erben bestimmt hat. Dieser klagt, daß er ihn, der leidend ist, vernachlässige, meint, der Neffe würde sich wohl nicht zu Tode grämen, wenn der alte Onkel stürbe. Ersterer muß dies, der Wahrheit gemäß, zugeben. Heftiger Streit, Enterbung!

Eine mittelalterliche Dame kommt, sich malen zu lassen. Sie fragt, ob ihr Kostüm (ein höchst jugendliches, auffallendes)[266] für den Zweck passend gewählt sei? Der Maler muß, der Wahrheit gemäß, ihr sagen, daß es mit ihrem Alter und ihrem Aeußern nicht harmoniere. Zorn der Dame, welche ihren Gatten auf den Maler hetzt, um mit Blut die tödliche Beleidigung abzuwaschen.

Das Duell ist also schon da; und als der unglückliche Wahrheitsapostel seine Braut, die an übertriebene Schmeicheleien von ihm gewöhnt ist, einfach mit »liebes Kind« anredet, und auf ihre Klage über seine Kälte meint, sie sei doch weder ein Engel, noch dürfe er, als guter Christ, sie anbeten, – da bricht sie empört das Verhältnis ab. Verlassen, von aller Welt verkannt, wütet der junge Mann gegen sich selbst und gegen den Freund, der die unheilvolle Wette veranlaßt hat, und wird von dem alten Hausarzt bereits für verrückt gehalten, als der Freund das Rätsel löst.

Aber wie löst er es? Selbstverständlich würde er das Unheil nur vergrößern, wenn er gestände, daß der Maler gewettet habe, aller Welt die Wahrheit zu sagen. Er rettet ihn, indem er vorgibt, jener habe sich verpflichtet gehabt, einen Tag lang stets das Gegenteil von dem zu sagen, was er denke, rettet ihn also durch – eine Lüge.

Diese Lösung ist sehr sein. Sie beweist, wie wenig die Gesellschaft, so wie sie nun einmal ist, die Wahrheit vertragen kann. Nehmen wir die weiteren Beweise, statt von der Bühne, aus dem täglichen Leben.

Wir bekommen Besuch. Unglücklicherweise haben wir im Haushalt zu thun und sind noch nicht angezogen. »Sag', ich sei nicht zu Hause,« flüstern wir dem Mädchen zu, das uns Frau von X. anmeldet.

»Ja, aber die Anna spielt auf dem Vorplatz,« erwidert das Mädchen »und sie sagte schon, ihre Mama sei zu Hause.«

»Wie dumm! Nun, dann führe Frau von X. in den Salon.«[267]

Wir machen schnell ein wenig Toilette und eilen dann zu unserm Besuch, der uns mit der üblichen Phrase begrüßt: ob er auch nicht störe?

»Durchaus nicht – im Gegenteil – freue mich außerordentlich, Sie zu sehen...« etc. Die Unterhaltung entspinnt sich, und schließlich nötigt man die Dame wohl noch länger zu bleiben. So häuft man Unwahrheit auf Unwahrheit und hätte sich gar kein Gewissen daraus gemacht, auch das Mädchen zu einer Lüge zu veranlassen, während man es doch für eine Unwahrheit, die es sich gegen uns erlaubt, ernstlich schilt oder straft.

Ist das notwendig? Läßt es sich nicht vermeiden?

Wir glauben doch! Ist die Besuchende eine verständige Frau, so wird sie es nicht übel nehmen, wenn wir ihr sagen lassen, wir seien durch häusliche Arbeiten verhindert, sie zu empfangen; und nehmen wir den Besuch trotzdem an, so ist die richtige Antwort auf die Frage: ob man nicht störe? (eine sehr überflüssige Frage, denn irgendwie ist der oder die andere doch immer beschäftigt gewesen!) »die Arbeit sei nicht so eilig, um sie nicht unterbrechen zu können.«

Freilich, Damen, die stets viele Redensarten machen, die immer im Superlativ sprechen, dürfen eine solche Antwort vielleicht nicht wagen; wer aber dem Grundsatz folgt: »Deine Rede sei ja, ja, nein, nein, – was darüber ist, das ist vom Uebel«, wer in seinem Kreise bekannt ist, aufrichtig und wahr zu sein, der kann auch in diesen Dingen sich selbst treu bleiben, ohne zu verletzen. »Sie ist nun einmal so grade aus, man darf es ihr nicht übel nehmen,« hört man hier und da von einer Person sagen. Man lobt sie nicht etwa, daß sie den Mut hat, wahr zu sein, aber man nimmt es ihr gnädigst nicht übel, weil sie »nun einmal so ist«.

Nehmen wir ein anderes Beispiel. Wir befinden uns[268] in einer Gesellschaft; es wird musiziert. Die Tochter vom Hause, nachdem sie sich lange hat nötigen lassen, spielt ihren sämtlichen Notenvorrat herunter. Ding, dang, ohne Gefühl und Verständnis, – es ist zum Davonlaufen! Wir sitzen unglücklicherweise in der Nähe, man weiß, daß wir musikalisch sind, und die junge Dame wendet sich nach der dritten Piece zu uns mit der Frage: ob es auch nicht zu viel werde?

Was sollen wir antworten? Wenn wir unserm Gefühle folgten, würden wir sagen: »Laß, Tochter, genug sein des grausamen Spiels.« Aber das wäre ja unhöflich; so versichern wir ihr statt dessen, daß wir mit großem Interesse zuhören und bitten sie fortzufahren. Unsere Nachbarin wirst uns einen wütenden Blick zu; aber hätte sie es besser gemacht?...

»Nun,« fragen Sie, »und was hätte die wahrheitsliebende Dame geantwortet, der man nichts übel nimmt?«

Ich vermute, sie wäre zu dem jungen Mädchen hingegangen und hätte ihr leise und freundlich gesagt, es sei vielleicht ganz gut, jetzt eine Pause eintreten zu lassen. Dann hätte sie auch wohl über die vorgetragenen Stücke mit ihr gesprochen, sie in zarter Weise auf dies oder jenes aufmerksam gemacht. Freilich, ein eitles, eingebildetes Mädchen würde das möglicherweise übelnehmen, ein vernünftiges, strebsames aber nicht, und der Zorn des erstern würde aufgewogen durch den Dank der ganzen Gesellschaft, der man einen Dienst geleistet hätte.

Wir könnten die Beispiele der konventionellen Lügen noch sehr vermehren: könnten an alle die Komplimente mahnen, welche der Mund ausspricht, ohne daß das Herz etwas davon weiß; an die Versicherungen, sich einer Person vollkommen zu erinnern, während man im stillen sich verzweifelt fragt, wer sie sein kann? an alle die Zusagen,[269] jemand besuchen zu wollen, während man doch fest entschlossen ist, diesen Umgang niemals zu pflegen! In allen diesen und ähnlichen Fällen glauben wir, daß man, ohne unhöflich zu sein, doch nicht direkt das Gegenteil von dem zu sagen braucht, was man denkt. Nur etwas weniger Phrase, etwas mehr Eingehen auf die Verhältnisse, die uns veranlassen, so und nicht anders zu handeln; und vor allem Wahrheit und Geradheit in unserm Leben überhaupt – dann wird die Gesellschaft uns zwar vielleicht als etwas »originell« verschreien, aber sie wird uns deshalb nicht weniger achten und schätzen.


Die konventionelle Lüge

Also huldigen wir immerhin der erhabenen Göttin der Wahrheit, selbst auf die Gefahr hin, daß ihr Dienst uns in Konflikt mit der Gesellschaft bringen könnte, und denken wir, wenn diese uns in Versuchung führt, jener untreu zu werden, an den trefflichen Spruch Bodenstedts:


»Wer die Wahrheit liebt, der muß schon sein Pferd am Zügel haben,

Wer die Wahrheit denkt, der muß schon den Fuß im Bügel haben,

Wer die Wahrheit spricht, der muß statt der Arme Flügel haben,

Und doch, singt Mirza-Schaffy: wer da lügt, muß Prügel haben.«


Fußnoten

1 Siehe S. 107.


2 Siehe S. 140.


3 Siehe S. 241.


4 Siehe S. 75.


Quelle:
Calm, Marie: Die Sitten der guten Gesellschaft. Stuttgart 1886.
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