in der Kirche

[340] zu sprechen? Wenige Andeutungen werden jedenfalls genügen, da wir es ja nur mit Aeußerlichkeiten zu thun haben.

Im Gotteshause gilt vor allen anderen Orten der Grundsatz, nicht aufzufallen. Eine extravagante oder nur sehr reiche Toilette ist da am wenigsten am Platz, wo die Unterschiede von Rang und Stand aufhören, und der Arme nicht daran erinnert werden soll, daß andere vom Glücke mehr begünstigt sind als er. Ebenso ist alles Störende zu vermeiden: Flüstern, häufiges Umherschauen, lebhaftes Zunicken unter Bekannten, besonders auch das Zuspätkommen, welches oft längeres Umherwandern in den Gängen zur Folge hat. Läßt man sich letzteres zu schulden kommen, so muß man schon mit dem ersten besten Platz, der sich bietet, fürlieb nehmen. Dagegen sollten die Sitzenden mehr Bereitwilligkeit zeigen, ein wenig zusammenzurücken, um den Nachzügler bei sich aufzunehmen.

Ueberhaupt wäre größere Zuvorkommenheit der Kirchenbesucher untereinander sehr zu empfehlen. In einem englischen[340] Gotteshaus wird uns, wenn wir es ohne Gebetbuch betreten, unfehlbar von irgend einem Herrn oder einer Dame ein solches angeboten, wenn der Kirchendiener uns nicht bereits damit versehen hat. Unser Nachbar schlägt uns dann die richtige Stelle auf oder läßt uns mit in das seine sehen. Bei uns spielt freilich das Gesangbuch keine so große Rolle wie das Gebetbuch im englischen Gottesdienst; allein es anzubieten, wo es fehlt, einer kurzsichtigen Person die Nummer des zu singenden, an der Wandtafel angeschriebenen Liedes mitzuteilen – solche und ähnliche Aufmerksamkeiten sollte man nicht unterlassen, sich gegenseitig zu erweisen.

In katholischen Kirchen gibt das Weihwasser noch Gelegenheit zur Höflichkeit. Der Herr reicht es der Dame, die jüngere der älteren Person ohne Unterschied des Standes. Es abzulehnen, wenn es angeboten wird, würde eine Kränkung sein. Bei Kollekten soll man sich beteiligen, jedoch nicht in prahlerischer Weise, vielmehr lege man sein Scherflein, sei es nun eine Gold- oder eine Kupfermünze, möglichst ungesehen auf den Teller. Wird das Sammeln einer Dame übertragen, wie dies bei dem katholischen Kultus öfter geschieht, so hat sie in sorgfältiger aber einfacher Toilette zu erscheinen. Die Sammlerin pflegt dann von rechts nach links zu gehen und drückt ihren Dank für die gespendete Gabe nur durch ein leichtes Neigen des Kopfes aus.

Reisende pflegen in einer fremden Stadt Kirchen, welche als Bauwerk berühmt sind, zu besuchen, um sie zu besehen. Findet zu der Zeit, wo sie sie betreten, ein Gottesdienst darin statt – z.B. in einer Seitenkapelle eines großen Domes –, so haben sie darauf Rücksicht zu nehmen, ihre Stimme, ihre Schritte zu dämpfen und lieber ein Denkmal, ein Bild ungesehen zu lassen, als die Andächtigen zu stören. Daß alle religiösen Gebräuche, wie fremdartig sie auch erscheinen[341] mögen, dem wirklich gebildeten Menschen immer heilig sind, versteht sich von selbst; dieselbe Ehrerbietung, die wir von Andersgläubigen für unsere Konfession verlangen, haben wir auch der ihren zu erweisen.


Wenn wir auch auf manche Verstöße, die in der Kirche vorkommen können, aufmerksam machten, so sind diese im allgemeinen doch selten. Mit dem Sonntagskleide ziehen die Menschen meist auch die Sonntagsmiene, die Sonntagsmanieren an und hüten sich wohl, das darunter verborgene Alltagsgesicht zu zeigen. Dieses aber, der wahre Charakter des Menschen, tritt weit mehr, ja oft zu sehr hervor


Quelle:
Calm, Marie: Die Sitten der guten Gesellschaft. Stuttgart 1886, S. 340-342.
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