Siebente Wahrnehmung.

[302] Alle Menschen haben Gefühl für Ehre und Schande, d.i., es gibt unter ihnen Keinen dem es völlig gleichgültig wäre, was Andere von ihm denken, von ihm reden, und wie sie sich gegen ihn benehmen; Keinen, der nicht lieber Aufmerksamkeit und Achtung auf sich ziehen, als mit Geringschätzung und Verachtung behandelt sein will. Auch dieser menschliche Karakterzug leidet keine Ausnahme, weil der Mangel desselben eine Unempfindlichkeit gegen Wohl und Weh, das so sehr von der Meinung Anderer über uns abhängt, voraussetzen würde, die ohne gänzliche Ertödtung der menschlichen Natur unmöglich Statt finden kann. Wirklich findet man auch Aeußerungen[302] dieses Triebes überall, wo Menschen sind, in unsern ärmlichsten Bauernhütten, wie in den Pallästen der Großen, auf Grönlands Eis- und Schneegefilden, wie in den gemäßigten Erdgürteln und unter der brennenden Mittellinie; bei dem rohen Indier, der seinen Leib aus Eitelkeit beröthelt, bepunkt oder aufschlitzt, wie bei der feinen Europäerinn, die ihr Antlitz mit Karmin bemalt. Ueberall Trieb zu gefallen; überall Wunsch, bemerkt, geachtet und geehrt zu werden!

Ich finde nicht nöthig, mich über diese allgemein bekannte und angenommene Beobachtung weiter auszudehnen. Aber folgende, den Ehrtrieb der Menschen betreffende Bemerkungen scheinen hier nicht übergangen werden zu dürfen.


Erstens: dieser Trieb wirkt bei vielen Menschen noch viel stärker, als der der Sinnlichkeit, der aber freilich allemahl dabei zum Grunde liegt oder mitwirkt. Bei vielen Menschen richtet man daher mehr aus, wenn man sich an jenen, als wenn man sich an diesen wendet; doch muß man, um sicher zu gehn, seinen Mann erst recht beobachtet haben, um zu wissen, wie das Verhältniß dieser beiden Triebe in ihm beschaffen sei, um sich an den von beiden zu wenden, der das Uebergewicht in ihm hat. In der Regel da, wo man keine Zeit oder Gelegenheit[303] zu Beobachtungen über die besondere Gemüthsstimmung eines Menschen hat, dürfte es am sichersten sein, bei verfeinerten Menschen vorzüglich auf den Ehrtrieb, bei rohern und ungebildetern hingegen vorzüglich auf die Sinnlichkeit zu wirken.


Zweitens: es gilt von diesem Triebe eben das, was wir vorher von dem Triebe der Sinnlichkeit anmerkten; jede Befriedigung desselben öffnet uns den Verstand und das Herz der Menschen, macht sie geneigt, unsern Vorstellungen Gehör und Beifall zu geben, und sich zu dem zu entschließen, was wir von ihnen wünschen. Es ist daher recht sehr wichtig, so oft wir auf den Verstand und auf das Herz der Menschen wirken wollen, erst den Ansprüchen ihres Ehrgeizes oder ihrer Eitelkeit, so weit es ohne Arglist und Niederträchtigkeit geschehen kann, ein Genüge zu thun, und auch während der Unterhandlung alles sorgfältig zu vermeiden, was sie in der guten Meinung, die sie von sich selbst und von unserer Achtung gegen sie haben, nur im mindesten stören kann.


Drittens: dieser Trieb hat bei verschiedenen Menschen eine ganz verschiedene Richtung genommen, und es ist daher, um auf ihn zu wirken, nicht genug, ihn überhaupt vorauszusetzen, sondern man muß auch erst die besondern Eigenthümlichkeiten erforschen, die er bei Jedem insbesondere angenommen hat. Der[304] Eine will durch Verstand, der Andere durch Witz, Laune und Munterkeit, der Dritte durch Sprachkenntniß und Gedächtnißwerk glänzen. Der sucht die Achtung und Ehrfurcht der Menschen durch Einfluß und Gewalt, Jener durch Pracht und Aufwand zu erzwingen. Die Eine sieht am liebsten, wenn ihre körperliche Schönheit, die Andere wenn ihre Kunstfähigkeiten, die Dritte wenn ihr Putz, die Vierte wenn ihre Nervenschwäche und ihre Empfindsamkeit, die Fünfte wenn ihre Belesenheit, oder gar ihre Gelehrsamkeit, oder gar – wehe uns! – ihre Schriftstellergaben anerkannt und bewundert werden. Der beweist dir die Rechtmäßigkeit seiner Ansprüche auf Ehre durch angefüllte Geldbeutel, die er entweder geerbt oder durch ehrlose Handlungen erfrevelt hat; und Jener will, daß du eine Reihe verdienter Vorfahren in ihm ehren sollst, von denen er nur den Namen und das Familienwappen, nicht aber ihre Tugenden und Verdienste geerbt hat. In wiefern der verständigere und bessere Mensch diese Thorheiten nicht nur dulden, sondern auch zur Erreichung guter Zwecke benutzen dürfe, davon nachher.


Viertens: es ist sehr häufig der Fall, daß Leute nicht durch diejenigen Verdienste, die sie wirklich besitzen, und welche wirklich achtungswürdig sind, sondern entweder durch den Schein anderweitiger Vorzüge, die sie in der That nicht haben, oder gar durch[305] nichtswürdige Geschicklichkeiten und Vollkommenheiten, welche kein Vernünftiger bei ihnen erwartet, kein Vernünftiger an ihnen schätzen würde, Beifall und Ehre zu erwerben suchen. Und sehr merkwürdig ist die Erfahrung, daß der Ehrgeiz oder die Eitelkeit dieser Leute gerade in Ansehung solcher eingebildeten Vorzüge, die sie entweder nicht besitzen, aber doch zu besitzen scheinen wollen, oder die beim Lichte besehn ganz und gar keinen Werth und Nutzen haben, viel empfindlicher zu sein pflegt, als in Ansehung aller ihnen wirklich beiwohnenden wahren Verdienste. Ich habe treffliche Geschäftsmänner gekannt, welche die Schwachheit hatten, lieber in der Gottesgelehrsamkeit oder in der Dichtkunst pfuschen, als sich auf dasjenige Fach einschränken zu wollen, worin sie wirklich verdienstvoll und ehrenwerth waren. Es hat Feldherren gegeben, welche lieber ihre Geschicklichkeit im Tanzen oder Spielen, als ihre Tapferkeit und Kriegsthaten rühmen hörten; und ich habe mehr als Einen wackern Mann gesehn, der ein Wort der Bewunderung über die wohlgewählte Farbe seines Kleides oder über andere dergleichen Nichtswürdigkeiten weit dankbarer annahm, als ein Lob seiner Rechtschaffenheit und seiner wahren Verdienste um das Vaterland. – Auch von dieser Bemerkung werde ich die Anwendung weiter unten machen.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 302-306.
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