Dreizehnte Wahrnehmung.

[325] Alle diese Menschen, welche in den wirbelnden Kreisen des großen Weltstrudels herumgetrieben werden, fühlen sich mehr oder weniger,[325] je nach dem ihr Kopf von Natur schwächer oder stärker war, von einem geistigen Schwindel, von einem Taumel des Leichtsinns ergriffen, der sie zu einer richtigen Beurtheilung sittlicher Gegenstände, zu einem warmen Mitgefühle und zu einer herzlichen Teilnahme an Dingen, welche ihren eigenen Vortheil oder Nachteil nicht unmittelbar betreffen, in hohem Grade unfähig macht. Die Seelen dieser feinen Leute gleichen einem trüben wirbelnden Wasser, in welchem auch die nächsten und hellsten Gegenstände sich nur auf eine dunkle Weise und mit verzerrten Zügen spiegeln. Sie gleichen einem solchen Wasser auch darin, daß die Eindrücke, welche sie erhalten, eben so flächlich, unstätt und vorübergehend, als die Bilder der Gegenstände sind, welche von jenem abgespiegelt werden. Da ist alles schwankend, schwebend, unbestimmt und schnell vorübergehend; da ist nichts Tiefeindringendes, nichts Festes und nichts Dauerhaftes! Jede Bemühung, ihre Aufmerksamkeit von dem Aeußern auf das Innere zu lenken, sie dabei festzuhalten, und ihre verworrenen Begriffe darüber zu berichten, ist meistentheils umsonst. Man muß dem Biedermanne, der in der wohlmeinenden Einfalt seines Herzens so etwas unternimmt, mit Rousseau's Tischnachbarinn zuflüstern: schweig Hans Jacob; man versteht dich nicht![326]

Und, frage ich abermahls, wie könnt' es anders sein? Jeder Stand in der gesitteten Welt, jede nur einigermaßen beträchtliche Berufsart, ist, bei der immer zunehmenden Verwickelung der menschlichen Verhältnisse, schon an sich mit so vielen, mannigfaltigen und fremd-artigen Geschäften und Rücksichten verbunden, daß eine Art von Allgegenwart unserer Vorstellungskraft dazu gehörte, wenn man sie alle mit gleicher Aufmerksamkeit umspannen wollte. Und dazu kommen nun noch die zahllosen Bedenklichkeiten über die nichtswürdigsten, für wichtig gehaltenen Kleinigkeiten, und alle die unaufhörlichen Unterbrechungen und Zerstreuungen, welche das Weltleben mit sich führt! Dazu kommt die Beschaffenheit dieser Zerstreuungen, welche nicht etwa darauf abzwecken, dem von Geschäften ermüdeten Geiste eine heilsame Erholung zu gewähren, sondern vielmehr durch eine ununterbrochene Aufmerksamkeit auf tausend armselige Kleinigkeiten, die in diesen Kreisen für Gegenstände von Wichtigkeit gelten, ihn noch stärker zu spannen, und zugleich seinen irdischen Gefährten, den Körper, durch mannigfachen unnatürlichen Zwang und durch den Genuß starkreizender Speisen und Getränke völlig aufzureiben. Und eine so getheilte, so nach allen Seiten hin unablässig gezerrte Seele sollte am Ende nicht einen großen Theil ihrer Federkraft verlieren? Sollte bei dem unendlichen Wirrwarr von Vorstellungen, die sich in ihr durchkreuzen, noch im Stande sein, die eine[327] von der andern gehörig zu unterscheiden, und jede, nach Maßgabe ihrer Wichtigkeit, gehörig zu würdigen und zu beherzigen? Sollte einer ernsten, anhaltenden und gründlichen Ueberlegung fähig sein? Sollte besonders über sittliche Gegenstände, welche so weit außerhalb ihres täglichen Wirkkreises liegen, ein gesundes und reifes Urtheil fällen können? Sollte an den allgemeinen Angelegenheiten der Menschheit, sollte an dem, was mich und dich betrifft, in sofern wir nicht etwa Stoff zum Tadel oder Lachen gewähren, einen wahren, herzlichen Antheil nehmen können? Erwarte und hoffe das von ihnen, wer da kann und mag! Ich für meinen Theil habe das Gegentheil davon so oft erfahren, daß ich mich länger nicht darüber täuschen kann. Wie oft, wenn ich Sachen, die von ihrer sittlichen Seite betrachtet sein wollten, in das hellste Sonnenlicht gestellt zu haben glaubte, mußte ich Antworten oder Einwendungen hören, die da klar bewiesen, daß man von alle dem Gesagten nichts verstanden, nichts begriffen hatte? Wie oft, wenn es darauf ankam, etwas Gemeinnützliches befördern zu helfen, oder ein Werk der Menschenliebe zu verrichten, hatte ich das Mißvergnügen zu bemerken, daß ich zu Leuten redete, denen für so etwas schon lange Sinn und Herz fehlten? Eine flüchtige Aufmerksamkeit, eine schwache schnellvorübereilende Theilnahme – in Worten versteht sich und ohne Folgen – war in solchen Fällen gemeiniglich die ganze ärmliche[328] Steuer, die der Schwindelgeist der großen Welt der Menschheit, dem Vaterlande oder der Freundschaft zu entrichten noch gestattete. Wärme und wahres Menschengefühl, welches sich durch Handlungen äußert, fand ich unter dieser Klasse von Menschen – selten.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 325-329.
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