Neunzehnte Wahrnehmung.

[349] Am meisten zeichnen sich die Menschen dieser Klasse durch einen hohen Grad von verlarvter Eitelkeit aus. Daß alle andere Menschen, in allen andern Ständen, ihre Eitelkeit und ihren Ehrgeiz auch haben, das ist schon eingeräumt worden. Der Unterschied besteht also nur, theils in dem Grade, bis zu welchem dieser Trieb bei denen, von welchen wir jetzt insbesondere reden, angewachsen ist, theils in der Art, wie er sich äußert und wie man ihn zu verbergen sucht.

Was den Grad desselben betrifft, so ist er hier zu einer Höhe angewachsen, die er bei Personen aus niedrigeren Ständen nur in ungewöhnlichen Ausnahmen zu erreichen pflegt. Bei diesen nämlich, ist seine Wirksamkeit in der Regel nur auf gewisse Zeiten und auf gewisse Umstände eingeschränkt; bei jenen hingegen wirkt er unablässig. Das Dienstmädchen, die junge Bäuerinn und der Handwerksgesell lassen[349] ihrer Eitelkeit gewöhnlich nur an Sonn- und Festtagen, wenn sie müßig sind und an sich selbst denken dürfen, den Zügel schießen; und die ehrbare Bürgersfrau, welche bei ihrem häuslichen Leben schlecht und recht einhergeht und keine merkliche Ansprüche äußert, fühlt die Wichtigkeit ihrer kleinen Person, ihres vornehmen Standes, und ihres prächtigen Putzes gemeiniglich nur erst bei Kirchgängen, Gevatterschaften und Hochzeitsgelagen, wann sie die Frau von Stande macht. So wie aber diese Feierlichkeiten vorbei sind, so wie Jeder wieder zu seiner häuslichen Einfachheit und zu seinem Berufsleben zurückkehrt: so wird von den Meisten auch Putz und Eitelkeit zugleich abgelegt und bis zu einer ähnlichen Gelegenheit in Koffer und Schrank verschlossen. Nicht so bei Personen von höherem Stande. Bei diesen ist das, was bei jenen nur vorübergehend und abwechselnd war, anhaltender Zustand, fortdauernde Gemüthsbeschaffenheit, welche in alle ihre Empfindungen und in alle ihre Handlungen Einfluß hat. Bei ihnen behauptet die Eitelkeit gewöhnlich das Uebergewicht über alle andere, edle und unedle Triebe, welche das menschliche Herz in Bewegung setzen können. Alle andere Leidenschaften und Begierden – sogar die Begierde nach Reichthum und Macht, sogar der Hunger und Durst nach sinnlichen Vergnügungen, sogar die Liebe zum Leben selbst – pflegen ihr hier untergeordnet zu sein. Denn wo ist das Opfer, es sei so groß und so beschwerlich, als es wolle, welches man[350] diesem Götzen zu bringen noch wol Bedenken trüge? Geld und Gut? Man sei auch noch so begierig danach, sobald die Eitelkeit es heischt, wird sich keiner ihrer Sklaven weigern, es mit vollen Händen auszuwerfen. Gemächlichkeit und Wohlbehagen? Eine Mode, welche für schön gehalten wird, sei noch so beschwerlich, sei noch so peinigend: die Eitelkeit verlangt Unterwerfung, und man unterwirft sich ohne Murren. Gesundheit und Leben? Sie sind uns theuer; aber zehnmahl theurer noch sind unsern feinen und schönen Weltmännern und Weltfrauen die angaffende. Bewunderung der Menschen; und sie sind daher bereit, auch von diesen, alles andere überwiegenden Gütern, so viel zu verschwenden, als die Eitelkeit durch das Zwanggesetz der Mode jedesmahl von ihnen verlangt. Dis ist das Heldenthum unserer Zeiten. Was der Spartaner und Römer ihrem Vaterlande, was die Weisen des Alterthums der Tugend aufopferten, das legen wir mit eben so großer Selbstverläugnung auf den Altar der Eitelkeit hin. Ich sage zu wenig; wir legen noch mehr darauf. Denn selbst unsere Tugend, unsere Rechtschaffenheit und Gottesfurcht sind Vielen unter uns nicht so sehr ans Herz gewachsen, daß sie sich nicht von ihnen trennen könnten, sobald die Eitelkeit es ihnen befiehlt.

In Ansehung der Aeußerung dieser Seelenkrankheit durch Blicke, Mienen, Worte und Handlungen herrscht[351] zwischen den niedern und höhern Ständen nur der Unterschied, daß man sie in den letzten geschickter und feiner, als in den ersten, zu übertünchen versteht. Der rohe ungebildete Mensch rennt auch hier, wie immer, mit der Thür ins Haus, und zeigt sich, wie er ist: seine Weltleute hingegen treten auch hier, wie in jedem andern Betracht, so leise einher und wissen ihr Inneres so geschickt zu verbergen, daß der Unerfahrne dadurch getäuscht wird, und das Spiel ihrer Eitelkeit für etwas ganz anders nimmt, als es ist. Hier erscheint diese Untugend nicht selten in der Gestalt und Farbe ihres Gegentheils, der Demuth und der Bescheidenheit. Statt der plumpen Pracht, wodurch sie sich nur verrathen und ihres Zwecks verfehlen würde, bedient sie sich hier, um Beifall einzuärnten, oft einer Einfachheit, die so wohl ausgesonnen ist und so geschickt angewandt wird, daß man sie für etwas ganz Ungesuchtes und Natürliches halten muß. Wird sie gelobt, so ergießt sie sich in Selbsttadel, und nennt uns zwanzig Untugenden her, die sie an sich hat, die aber, beim Lichte besehen, lauter Tugenden sind. Sie hat, z.B., die böse Eigenschaft, gar nicht heucheln zu können, sondern immer mit der Wahrheit rein heraus zu gehn! Sie hat die Schwachheit, leicht mitleidig und gerührt zu werden! Sie hat den schlimmen Fehler, in allen Stücken so pünktlich zu sein und fast schulsüchtig auf Ordnung zu halten! u.s.w. Sie will es durchaus nicht an sich kommen lassen, daß sie irgend[352] einen Vorzug, irgend ein Verdienst besitze, und setzt uns dadurch auf eine geschickte Weise in die Nothwendigkeit, ihr und denen, die zugegen sind, das Dasein ihrer Vorzüge und Verdienste unumstößlich zu beweisen. Dann erröthet sie, gleich der bescheidenen Unschuld, beschuldiget uns der Schmeichelei, und rächt ihre beleidigte Bescheidenheit durch einen sanften Fächerschlag. Hätte der Lobende, um der Gefahr dieser Züchtigung auszuweichen, geschwiegen: so würde er freilich keinen Fächerschlag, aber sicher, so wie er den Rücken gekehrt hätte, etwas anders, – einen Zungenstich erhalten haben.

Nur Eine Art von Eiteln, welche diese Umschweife verschmähen und für das, was sie sind, sich geradezu ankündigen, findet sich auch in der großen und feinen Welt. Das sind diejenigen, welche eitel und entweder stolz oder eingebildet zugleich sind. Der Unterschied, der durch diese besondere Schattenmischung entsteht, ist folgender. Der Eitle, welcher nur eitel, und nicht zugleich stolz oder eingebildet ist, kennt seinen Mangel an Vorzügen oft recht gut; weiß, daß ihm, nach abgewaschner Schminke, weder äußere noch innere Schönheit und Trefflichkeit beiwohnen, und seine ganze Sorge geht daher nur dahin, zu verhüten, daß man ihn nicht im Nachtkleide sehe, nicht gewahr werde, was für körperliche und geistige Häßlichkeit hinter dem Filtterstaate, womit er[353] sein Inneres und Aeußeres zu schmücken weiß, verborgen liege. Der Stolze hingegen ist sich einiger Trefflichkeiten, die ihm wirklich eigen sind, sehr lebhaft bewußt, und verlangt, daß jeder Andere sie gleichfalls wahrnehme und anerkenne. Der Eingebildete endlich glaubt, in seiner Gestalt, in seinem Wesen, in seinen Fähigkeiten und Geschicklichkeiten unterscheidende Vorzüge zu besitzen, die er entweder gar nicht, oder doch nicht in dem Grade, wie er meint, besitzt; und er begnügt sich daher nicht, unsere Bewunderung zu erschleichen, sondern er fodert sie, als eine schuldige Steuer, als eine Huldigung, welche seinen seltenen Verdiensten von Rechts wegen gebührt. Eine schwer zu befriedigende Menschen-art! Beuge ihnen aus, wenn du kannst; und wenn du dies nicht kannst, so sorge wenigstens dafür, daß die Berührung zwischen dir und ihnen so leicht und behutsam, als möglich, geschehe!

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 349-354.
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