7. In Bezug auf die acht und zwanzigste Wahrnehmung.

[474] Da alle Menschen, besonders die verfeinerten, der Eine mehr, der Andere weniger, in ihren Empfindungen, Urtheilen, Neigungen und Abneigungen von der Veränderlichkeit ihres Körpers und von den Eindrücken abhängen, welche derselbe von außen her erhält; so macht der Weise sich zum Gesetz:


1. Nie eine vollkommene Beständigkeit oder Unveränderlichkeit der Gesinnungen von Menschen überhaupt, und am wenigsten von den durch Ueppigkeit und Verfeinerung geschwächten Menschen zu erwarten. Er ist daher auch gar nicht betroffen, wenn er Veränderungen in denselben gewahr wird; er begnügt[474] sich vielmehr in solchen Fällen, nur über die menschliche Schwachheit und Unflätigkeit die Achseln zu zucken, und zu sich selber zu sagen: auch dieser Gemüthszustand deines armen wandelbaren Bruders wird nicht ewig währen! Alles hat seine Zeit, alles rollt in ewigen Kreisen herum, und kehrt zu dem Orte, den es jetzt verlassen hat, einst wieder zurück, um ihn von neuen zu verlassen. Diese und ähnliche Betrachtungen, welche ihm die Kenntniß der menschlichen Natur an die Hand gibt, macht ihn gleichgültiger und duldsamer gegen die Launen seiner Mitmenschen, die er als etwas Unwillkürliches anzusehn sich gewöhnt hat; und indem er sich selbst bemüht, ihrer so wenig als möglich zu haben, so erträgt er diejenigen, denen Andere unterworfen sind, mit möglichgrößter Nachsicht. –

Er macht sich ferner zur Regel:


2. Die Launen der Menschen mit Klugheit und Wohlwollen zu benutzen, und jeden jedesmahl so zu behandeln, wie er ihn jedesmahl gestimmt findet. Er spaßt also, z.B., nicht, sobald er merkt, daß der Andere sein böses Stündlein hat, wo er keinen Spaß ertragen kann. Will er von ernsthaften Dingen mit jemand reden, welche eine ruhige und anhaltende Ueberlegung erfodern, so wählt er dazu nicht gerade den Augenblick, da er ihn ausgelassen lustig findet.[475] Hat er ein verdrießliches Geschäft mit jemand abzuthun, so hütet er sich, wofern die Sache Ausschub leidet, es gerade zu einer Zeit zu thun, wo jener durch und durch verstimmt ist, weil er entweder schlecht geschlafen oder schlecht verdaut hat, oder durch irgend eine Unannehmlichkeit verdüstert worden ist. Er wartet vielmehr, so weit es von ihm abhängt, in allen diesen und ähnlichen Fällen, diejenige Laune ab, die dem Gegenstande seiner Verhandlung jedesmahl am allergünstigsten ist.

Aus vielfältigen Beobachtungen, die er auch in diesem Stück über die Menschen angestellt hat, ist es ihm ferner zum Grundsatze geworden:


3. Die Menschen nie nach derjenigen Stimmung zu beurtheilen, worin er sie bei der Entstehung seiner Bekanntschaft mit ihnen findet; sondern allemahl erst Zeiten und Umstände abzuwarten, welche zu andern Launen Anlaß geben werden. Er hat es nämlich so oft erfahren, daß die Menschen unter verschiedenen Umständen und bei verschiedenen Gemüthsstimmungen sich selber gar nicht ähnlich sind, daß er es mit Recht viel zu gewagt findet, über sie zu urtheilen, bevor er sie in mehren Lagen und in mehr als Einer Laune zu beobachten Gelegenheit gehabt hat. Erst dann, wann er diese Beobachtung[476] in hinreichender Anzahl gesammelt hat, ist er im Stande, den gewöhnlicheren Seelenzustand des Beobachteten von dem ungewöhnlichen zu unterscheiden, und ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Daß dieser gewöhnliche Zustand kein außerordentlicher, weher im Guten noch im Bösen sein würde, vermuthete er schon vorher, weil das Außerordentliche selten von Dauer zu sein pfleget.

Endlich macht er sich, was das geschäftige Leben betrifft, zur unabänderlichen Nichtschnur:


4. Sich, insofern es von ihm abhängt, zu solchen Geschäften, welche eine einförmige, regelmäßige Handlungsweise und ausdauernde Stetigkeit und Geduld erfodern, nie mit Menschen zu verbinden, welche den Abwechselungen der Laune mehr als gewöhnlich unterworfen sind. Was für Menschen sich hierin besonders auszuzeichnen pflegen, habe ich schon oben anzugeben gewagt. Der Grund aber, warum man mit solchen Leuten sich zu solchen Geschäften niemahls einlassen müsse, leuchtet jedem von selbst ein.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 474-477.
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