9. In Bezug auf die zehnte Wahrnehmung.

[480] Diese Wahrnehmung enthält den Grund zu folgenden Klugheitsregeln:


1. Man schone her Vorurtheile der Menschen überhaupt so sehr man kann, d.i., so lange wir weder als Menschen, noch als Staatsbürger eine Verpflichtung zum Gegentheile haben. Eine solche Verpflichtung aber kann nur dann Statt finden, wenn 1. ein Vorurtheil gemeinschädlich ist, wenn wir äußerlichen und innerlichen Beruf haben, es zu verdrängen; äußerlichen durch die Steile, die wir in der menschlichen Gesellschaft einnehmen; innerlichen durch die Fähigkeiten, die Gott dazu in unsere Seele gelegt hat, und 3. wenn Wahrscheinlichkeit da ist, daß unsere Bestreitung mehr Gutes als Böses stiften werde. In diesen Fällen ist es nicht nur Recht, sondern auch Pflicht, sich dem Strome her Vorurtheile muthig entgegenzustellen, und sollte man auch in dem edlen Bestreben, ihn aufzuhalten, zu Grunde gehn. Wo hingegen diese innern und äußern Gründe einer Verpflichtung fehlen, da ist es Vorwitz, nicht Edelmuth, sich unberufen in einen Krieg einzulassen, der alsdann nicht anders als zu unserer Schande und zum Schaden der guten Sache ausschlagen kann. Frauenzimmer sind in der Regel zu keinen, also auch zu diesem[481] Kriege nicht berufen. Sie thun daher auch in der Regel wohl, sich desselben zu enthalten, und sich auf die friedlichen und ruhigen Geschäfte ihrer Bestimmung einzuschränken. Von außerordentlichen weiblichen Seelen, die eben dadurch, daß sie außerordentlich sind, eine Ausnahme von der Regel machen, kann hier nicht die Rede sein. Solche Ausnahmen aber sind sehr selten, und nicht Jede, die sich eine zu sein dünkt, ist es wirklich.


2. Man verfahre besonders, mit äußerster Schonung und Behutsamkeit, gegen diejenigen Vorurtheile, welche noch für viele Menschen die einzige Stütze ihrer Sittlichkeit sind, und hüte sich, sie ihnen zu benehmen, bevor man in ihren Seelen anderweitige Gründe zum Wohlverhalten befestiget hat, von welchen man versichert sein darf, daß sie das Gebäude ihrer Sittlichkeit hinreichend unterstützen werden. Es ist hart und grausam, zur Zeit einer Hungersnoth dem Armen sein letztes Stück verschimmeltes Kleienbrodt aus der Hand zu reißen, wenn man seinem dringenden Bedürfnisse nicht erst durch eine gesündere und nahrhaftere Speise abgeholfen hat: aber noch härter und grausamer ist es, einer dürftigen, nur mit Vorurtheilen sich nährenden und stärkenden Seele,[482] dieses ihr einiges Beruhigungs- und Stärkungsmittel zu rauben, so lange man noch nicht darauf bedacht gewesen ist, sie mit einen bessern zu versehn. Das müsse also fern von uns sein!


3. Was die minder bedeutenden und minder schädlichen Vorurtheile der Völkerschaften, Stände u.s.w. anbetrifft: so kann der Unbefangene freilich nicht umhin, sie oft in hohem Grade lächerlich zu finden; aber wenn er klug ist, so wird er sich hüten, denen, die daran krank liegen, ins Gesicht zu lachen und darüber zu spotten; er wird vielmehr mit ihrer Schwachheit Geduld haben, ihnen ihre Lieblingsgrille lassen, und, wann er einen Kitzel, darüber zu spötteln, in sich fühlt, sich erinnern, wie es dem armen Sancho ging, so oft er den Einfall hatte, sich über seines Herrn Riesen und Dulcineen luftig zu machen. Man kann sicher annehmen, daß selbst die aufgeklärtesten und besten Menschen von dergleichen Vorurtheilen nie ganz frei sind, und keinen Spaß darüber verstehen, auch wenn sie selbst darüber spaßen zu wollen scheinen. Es ist damit, wie mit verschiedenen andern Thorheiten, worüber der, welcher damit behaftet ist, wol zuweilen selbst zu lachen pflegt, aber böse wird, wenn Andere[483] mitlachen wollen. Laß uns also ernsthaft darüber bleiben, und indem wir uns bemühen, von dergleichen Vorurtheilen uns selbst loszumachen, sie an Andern nicht nur dulden, sondern auch den Ansprüchen, die sie darauf gründen, den eingeführten Gebräuchen gemäß, gern ein Genüge leisten.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 480-484.
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